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Ernst Glaeser - Der letzte Zivilist (1935)
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9. Kapitel

Der Postsekretär Dern dröhnt durch das Zimmer. Mit der Reitpeitsche schlägt er auf den Tisch, auf die Stühle, auf das Büfett, sogar auf die Topfpalme neben dem Sofa. Jetzt bleibt er stehen. Regungslos steht er da. Ein Gebirge aus Muskeln und Fleisch. Seine wasserblauen Augen starren auf den Tisch. Da liegt der Brief. Aus München. Ein Freund hat ihn geschrieben, einer, der ganz nah beim Führer ist und Bescheid weiß.
„Ich kann's nicht hindern. Der Träger kommt im Januar zu Euch. Offizielle Kontrolle. Ist ein verdammter Reinlichkeitsapostel. Habt Ihr Dreck am Stecken, dann putzt schnell blank!" Dern sieht weg. Es wird ihm rot vor den Augen. Der schwere, massige Mann ringt nach Atem. „Dir werd ich's", keucht er, „dir werd ich's..." Aber wieder drängt es ihn zu dem verfluchten Papier dort auf dem Tisch. Was steht da noch? Was?
„Postskriptum: Muss Euch einer verpfiffen haben in Siebenwasser."
„Der Doktor", brüllt Dern, „der Hinkepoot... der Krüppel... der bucklige Hund..." Die Reitpeitsche klatscht auf den Stuhl, sie fegt wider die Wand, mit einem Hieb fliegt die grünliche Glasbowle von dem Büfett und zerspringt mit lautem Knall auf dem Boden.
Erleichtert atmet der Postsekretär auf. Er horcht. Niemand kommt. Er hat sie hinausgejagt aus dem Haus, Frau, Sohn, auch die Herta darf ihm nicht unter die Augen. Nein, das macht er allein durch. Nur mit Hungrich wird er sprechen, denn den geht's auch an, weiß Gott.
Und wieder stapft er durch das Zimmer. Die Scherben der Bowle knirschen unter seinem Schritt. Kontrolle... Kontrolle... Ja, damit ihr's wisst, zwölftausendsechshundert Mark fehlen in der Kasse, zwölftausendsechshundert, über die ich keine Belege hab. Er hat es ganz laut gesagt. Und schon brüllt er: „Bin ich ein Koofmich? Bin ich ein Buchhalter? Ein Soldat bin ich! Dein Soldat!" Er steht vor dem Bild des Führers. Er sieht die handschriftliche Widmung. Er sieht die Augen, und plötzlich muss er lachen, fürchterlich lachen muss er. Was dieser Doktor sich einbildet. Stänkert da in München herum. Der da ist treu, ja, treu ist er. Dreizehn Jahre dien ich dir wie ein Hund, und jetzt glaubt da so ein Hinkepoot, der noch nicht mal ein Weib fertigmachen kann, du würdest mich wegen der lumpigen Kröten...
Dern ist fröhlich. Ein Blick in die Augen des Führers, und alle Sorgen schwinden.
Er genehmigt sich einen Kognak. Es ist das achte
Gläschen an diesem Nachmittag. Aber was vorher der Zorn und die Wut verschlang, das fällt jetzt wie Öl auf die Seele.
Hungrich findet den Postsekretär in einem glücklichen Rausch. Er sitzt am Tisch, die Kognakflasche neben sich und malt auf einem Papier. „Zwölftausendsechshundert lumpige Mark Defizit, demgegenüber stehen allein in Siebenwasser elftausenddreihundertundsiebenundneunzig   Seelen", liest Hungrich auf dem Schreibblock. Was das bedeute? fragt Hungrich. Lächelnd gibt ihm Dern den Brief. Aber sein Lächeln erstirbt, als er Hungrichs Gesicht sieht. Grünlich ist es angelaufen, alles Blut ist aus den Lippen gewichen. „Was ist dir?" schreit Dern und gießt rasch einen Kognak ein. Hungrich lehnt ab. „Der Krüppel", zischt er, „das hat der Krüppel getan!" Dern lacht. Vergnügt lehnt er im Sessel. „Was der sich einbildet", lacht er, „morgen fahr ich nach München!" „Sinnlos", antwortet Hungrich, „du wirst nicht vorgelassen."
Jetzt ist Dern aufgesprungen. „Ich nicht vorgelassen?" brüllt er, „ich... bei meiner Vergangenheit?" „Nützt dir gar nichts. Die haben jetzt andere Sorgen."
„Mein Führer ist immer für mich da!" Stolz steht Dern vor dem Tisch.
„In drei Wochen vielleicht... aber gerade jetzt? Du weißt doch, die verhandeln eben!" „Verhandeln? Ein Adolf Hitler verhandelt nicht!" Der Gauleiter wendet sich ab und schreitet ernst und feierlich durch das Zimmer.
Hungrich putzt sich den Zwicker. „Du bist ein Kind", sagt er, „glaubst nur, was da in den Parteiblättchen steht. Aber ich sag dir: sie verhandeln. Und damit du's genau weißt, erstens, weil dieser verdammte Schleicher uns fast zwei Millionen Stimmen abgenommen hat, zweitens, weil kein Geld mehr da ist. Logisch, nicht wahr? Und es ist richtig, dass sie verhandeln. Denn du weißt es ja selbst — es muss etwas geschehen, und zwar rasch. Wir können die Leute nicht von Halbjahr zu Halbjahr vertrösten, und wie es um einen Putsch bestellt ist, solange der olle Hindenburg noch oben ist, das weißt du auch. Also verhandeln... mit den Kapitalisten, mit der Reaktion, mit den Junkern, meinetwegen, wenn es nur klappt. Denn die Sache ist verdammt eilig. Noch so eine Schleicherwahl, und wir sind die SPD. von rechts. Aus ist der Traum."
Regungslos steht der Gauleiter im Zimmer. Er starrt Hungrich an. Hinter den Fenstern neigt sich der Tag. Schiefergrau senkt sich die Dämmerung über die Stadt.
„Ja, ja, lieber Otto, jetzt denk einmal ganz scharf mit und lass den Kognak beiseite. Also, nicht wahr, wenn sie eben verhandeln, dann brauchen sie doch die Leute in der Partei, die Beziehungen zu den andern haben, also, ich meine zur Reichswehr, zur Industrie, zu den Kohlköppen dort im Osten... etcetera... etcetera... Das ist doch logisch, nicht? Und jetzt denk mal wieder ganz scharf mit, nur einen Moment, und dann wird dir ein Licht aufgehen. Der Träger, nicht wahr, der gehört doch zu diesen Leuten, der hat doch höllisch viel Fäden laufen nach der Armee, und hinter dem Träger, da steht eine ganze Clique in der Partei, und diese Clique, Otto, die ist Leuten wie uns nicht grün. Für die sind wir halt immer noch die Feldwebel von früher, und es hat gar keinen Wert, dass du herumtobst, das ist einmal so."
Die beiden Männer sehen sich kaum. Das Zimmer liegt im Dunkel. Nur der unruhige Schein der Straßenlaternen fleckt die Wände.
„Das weiß der Kalahne genau. Das Aas kalkuliert gar nicht schlecht. Seit Wochen gehen geheime Berichte über uns nach München. Uber unsern Lebenswandel, wie oft du besoffen bist, Otto... braus nur nicht auf... wie hoch deine Rechnungen sind beim Schneider, im ,Blauen Bären', bei Mutter Döring... und dass du dir einen Flügel angeschafft hast, und den kleinen Opel, und dass die Herta Diefenbach sich hat Goldkronen einbauen lassen, und mit dem Grab deiner Mutter, weißt du, das neue Denkmal mit der ergreifenden Figur aus Marmor... vor nichts schreckt der Bursche zurück, nicht einmal vor der kleinen Jagd, die ich mir geleistet hab..." „Kleine Jagd?" tönt es da aus dem Dunkeln, „klein nennst du die? Und die Gewehre und das Motorrad und der neue Gasbadeofen und das Hakenkreuz aus Vergissmeinnicht im Garten und nur noch Pilsner?" „Ich gönn dir ja auch deine Erholung." Sie schweigen. Ihre Blicke suchen sich im Dunkel. Ohne dass es der eine vom anderen weiß, haben beide die Arme verschränkt.
Es dauert lange, bis sich der Postsekretär bewegt. „Und du meinst also, der Träger kommt her?"
„Leider ja." „Und dann?"
„Feierlicher Rüffel, alle Parteigelder gehen an Kalahne, dann hat er uns in der Hand." „Du meinst also... wir... sind... dann... wieder..."
„Feldwebel wie früher", lacht Hungrich. „Und wenn es losgeht?"
„Dann wird der Krüppel bestimmen, ob du vielleicht nach dreizehn Jahren Kampf Postdirektor wirst."
Drei Schritte durch die Dunkelheit. Hungrich fühlt sich an der Schulter gepackt. „Du", schreit Dern, „der Träger muss weg. Schaff mir den Träger weg." Er fällt in den Sessel zurück. „Postdirektor", murmelt er, „ihr seid wohl wahnsinnig... Postdirektor, weiter nichts als Postdirektor?"

Müde ist Schickedanz von der Redaktion nach Hause gekommen. Bis zum Abend hatte er an Vater Allwohns Aufsatz „Der nordische Mensch und die Vivisektion" herumredigiert — es war ein abscheuliches Gemisch aus Tierliebe und Judenhass, aber Kalahne bestand darauf, dass die Arbeit erschien. Man war in den letzten Wochen sehr zahm geworden in der politischen Redaktion des „Alarm". Die herrlichen Attacken, die Kalahne noch im Sommer gegen diesen Herrn von Papen ritt, waren verstummt — der großartige Kampfruf gegen die Junker und gegen die Schwerindustrie wurde über Nacht abgeblasen. Oh, damals war Schickedanz mit dem Herzen dabei. Es war eine Lust zu leben, als Kalahne in jeder Nummer die Reaktion zu Paaren trieb, und niemals hatte die Partei so revolutionäre Tage erlebt wie in jenem Juli, als sie aufzustehen schien gegen die alten Mächte des Besitzes und des Kapitals. Millionen waren zu ihr gestoßen, Millionen von kleinen Bauern, Arbeitern und vor allem die Jugend. Ja, sie stand da, bereit aufzubrechen gegen die Burgen im Land und sie niederzulegen, wie ihre Vorfahren, die Bauern vom Bundschuh es taten, bevor sie verraten wurden. Aber dann, im November, war der furchtbare Abfall geschehen. Ein General war aufgestanden gegen die Welle, und die Bürger waren in Scharen zu ihm gelaufen, aus Angst vor der antikapitalistischen Sturmflut. Und plötzlich schwieg Kalahne, plötzlich war nichts mehr zu lesen von der hauchdünnen Oberschicht, die das Volk ausbeute — plötzlich war es wieder die jüdische, die marxistische, die bolschewistische Gefahr, die man brandrot auf die Seiten malte.
Schickedanz hatte geschwiegen. Er verstand nichts von Politik, und außerdem hatte er Schulden. Schweigend gab er die Leitartikel in Satz — diese geschickten Verbeugungen vor dem deutschen Unternehmerfleiß, vor dem preußischen Schwertadel, vor dem Gutsbesitzer von Neudeck. Er dachte nicht nach, er biss sich auf die Zunge, er soff, und er war glücklich über jede fünf Mark, die ihm Kalahne über sein Gehalt hinaus bewilligte. Ach, undurchsichtig war der Doktor, undurchsichtig wie das neue Jahr, das langsam emporstieg, undurchsichtig wie der Nebel dort vor dem Fenster.
Schickedanz nimmt das kochende Wasser vom Primuskocher, er übergießt den Tee, ein Achtel Schinken hat er sich heute geleistet, trotz der drei Monate Mietrückstand und der langen Latte bei Mutter Döring.
Er schlürft den Tee und beginnt zu essen. Mit kauendem Mund geht er zum Sofa. Er fasst unter den orientalischen Behang und holt die Flasche mit dem Rumverschnitt. Das wärmt. Die alte Naumann hat natürlich wieder nicht geheizt wegen der restlichen hundertfünfundvierzig Mark. Und die Bücher dort sind gepfändet, und der Koffer und der Fotoapparat und die kleine Empireuhr, die noch von der Großmutter stammt, sind es auch. Schickedanz hüllt sich in eine Decke und liest. Jeden Abend nimmt er sich von der Redaktion einen Pack Zeitungen mit: die „Frankfurter", die „Voß", das „Berliner Tageblatt" und den „Völkischen Beobachter". Das Wortgeklingel tut ihm wohl. Wie die Herren da auf ihren Pferdchen traben — die „Frankfurter" kommt immer auf dem weißen Zelter der Vernunft. Zum Lachen, wenn die zum Beispiel die Jugend apostrophieren... Eine Persönlichkeit werden, nach der Verantwortung leben... Schickedanz überlegt, ob er die zweite Scheibe Schinken essen oder für morgen aufheben soll, dann rechnet er nach. 1914 war ich zwölf Jahre alt, da kam der Krieg. 1918 war ich sechzehn Jahre alt, dann kam die Niederlage, Kaiser futsch, die Franzosen rücken in Rheinhessen ein. 1920 Inflation, Schieberei, Schmuggel von Kaffee und Seife ins unbesetzte Gebiet... achtzehn Jahre. 1923 Ruhrkampf, Billionen in der Hand, Hunger auf der Universität... einundzwanzig Jahre. 1924/25 aus mit den Billionen, Hunger geblieben... dreiundzwanzig Jahre. 1926/27 Doktor gemacht über das Drama der Roswitha von Gandersheim, Kalahne kennengelernt, stellungslos. 1928 nach Siebenwasser, „Fröhlicher Weinberg", vierhundert Mark im Monat, davon zweihundert für Schuldenabzahlung an die Winzerbank wegen des Studiumdarlehens... 1929 weg von der Zeitung, freier Schriftsteller, eije... 1930 Krise... 1931 Krrrrise... 1932 Krrrrrise... „Alarm", hundertzwanzig im Monat, Schulden... gepfändet... dreißig Jahre alt. Schickedanz trinkt. Er wirft die „Frankfurter Zeitung" auf den Boden. So, also eine Persönlichkeit sollst du werden, Verantwortung sollst du haben. Meine Herren! Wir haben ja bis heute überhaupt noch nicht gelebt! Eine Zeitung nach der andern fliegt zu Boden. Ein fürchterlicher Hass sitzt in dem dreißigjährigen Mann. Da lag seine Jugend, ein Hin- und Hertaumeln zwischen unbezahlten Rechnungen, Gerichtsvollziehern, ungeheizten Zimmern und hochtrabenden Zeitungsartikeln. Eine Persönlichkeit? Oh, er war zu anständig gewesen, in Phrasen zu leben und das Stroh einer abgelebten Welt zu dreschen. Er soff lieber, er log lieber, er gehorchte Kalahne, obwohl er ihn hasste, er wollte von sich nichts mehr wissen, er war nicht im Krieg, er war nicht im Frieden, er stolperte durch geistiges Niemandsland. Nur einmal hatte er geglaubt. Das war in diesem Sommer gewesen, als Kalahne gegen die Junker und die Kapitalisten vom Leder zog. Da hatte es in seinem Blut rumort, und oft sah er, wenn er träumte, das Land brennen und die Bauern und die Arbeiter
unter der schwarzen Fahne marschieren. Aber das war vorbei. Das Schiff trieb woanders hin. So dumm bin ich ja nicht, dass ich das nicht merke. Fünfhunderttausend tote Juden machen noch keinen deutschen Sommer... Und gegen die Pfaffen allein, das geht auch nicht. Er nimmt den „Alarm" hoch, es ist die Nummer von morgen. Morgen ist Sonntag. „Die deutsche Wandlung" steht da. Er liest, zum zehnten Mal liest er das heute: „Die Wandlung des deutschen Menschen lässt die Jahrhunderte tanzen. Das römisch-jüdische Christentum in Deutschland war eine Pseudomorphose des germanischen Geistes, eine schreckliche, aber sie verbrennt wie Zunder auf der stählernen Haut der jungen, erwachten Generation. Dies ist das Wunder von Versailles. Die Niederlage hat uns bis zu den Wurzeln gestoßen. Ein ganzes Volk kehrt zu seinem Urgrund zurück." „Lieber Kalahne", brüllt da der Schickedanz, „mit Herrn von Papen zu den Wurzeln zurück. Viel Vergnügen, du Lump!"
Schon aber duckt er sich, greift nach der Flasche und trinkt.
Es schellt.
Die Wirtin, ein siebzigjähriges Geheimratstöchterlein, das sich zäh gegen den Tod verteidigt, weil unser Herr Hitler die Juden und die Roten noch nicht besiegt hat, öffnet. Der Pg. Hungrich sei da — und als sie hinausgeht, flüstert sie: „So, Schinken können Sie sich leisten, ei, wie interessant, ei, ei..." Bevor ihr Schickedanz, der nur rasch den Rum unter das Sofa verstecken konnte, antwortet, ist Hungrich schon im Zimmer.
Was ist denn nur? Der schaut sich ja um wie ein Bürger im Absteigequartier. „Halten die dicht?" fragt er und klopft an die Wände. Schickedanz lacht. „Die Alte draußen ist fast taub", sagt er, „die hört erst wieder, wenn die Glocken läuten und der Adolf
„Du bist wohl angenockt, he?" grinst der Hungrich. „Jawoll, ich sauf!"
Er holt den Rum. Jetzt trinken sie ihn pur. Nach einer halben Stunde nickt Schickedanz. Hinter der glasigen Wand seiner Betrunkenheit sitzt Hungrich und starrt ihn an. Ratte, verdammte. „Also, du kennst den Jungen, ich meine, so, dass er nichts wittert?"
„Natürlich, er war oft bei Jürgen, netter Kerl." „Und von den Briefen hat er erzählt?" „Ja, du Halunke!" „Danke... also du wirst?"
„Wie viel?" Schickedanz springt auf, er haut auf den Tisch:
„Erst will ich wissen, wie viel, du Schuft?" „Zweihundert."
„Nee... meine Seele ist mehr wert." „Pathetischer Hammel... hundert sofort und hundertfünfzig beim Abliefern."
„Her mit den hundert!" Der Schein flattert auf den Tisch.
Fünfzig Flaschen Verschnitt, denkt Schickedanz, und viertausend Jahre Fegfeuer. Er nimmt das Geld. „Ich bin ein Schwein", sagt er laut, „eine Sau bin ich..." Aber dann lacht er los. Der Alkohol hat ihn am Kragen; Hirn, Seele und Herz fliegen
ihm durcheinander. Ein höllischer Brei. „Der Träger, das geschieht dem Träger recht... Haha... der verrät, du verrätst, alle verraten... um was geht's denn überhaupt, sag, Ratte, um was?" „Um die Sauberkeit der Moral", antwortet Hungrich, „damit du es weißt!"
Sie trinken und sie lachen, und Hungrich holt plötzlich eine Flasche Kognak aus der Tasche... wie das läuft, wie das brennt... 'raus mit der Seele aus dem armseligen Leib. Es ist spät in der Nacht, als sie nach unten gehen. Schickedanz schwankt. „Ich hab so runde Füße", lallt er, „kugelrund, sag ich dir, das macht glücklich, weißt du, glücklich macht das..." Hungrich jedoch antwortet nicht. Er fasst Schickedanz am Genick, zweimal stößt er ihm den Kopf wider die Mauer, nicht fest und nicht leicht. „Du weißt, was dir passiert, wenn du nicht dichthältst?" „Natürlich", antwortet Schickedanz, „ich kenne dich doch", aber plötzlich, da wird es ihm kalt in der Brust. „Du", fragt er den Privatgeometer, „sag, warum kommt ihr eigentlich immer zu mir, wenn ihr einen Halunken..."
Er steht allein im Regen. Kalt und grau ist die Nacht. „He?" ruft der Schickedanz noch, dann rennt er nach oben. Auf dem Tisch liegt der Hunderter. Braun steht der Kognak in der Flasche. Er gießt sich ein Wasserglas voll. Dann löscht er das Licht. Er zieht sich im Dunkeln aus. Denn es ekelt ihn vor seinen Knochen.

Weit über den Hügeln des württembergischen Landes liegt der Schnee. Das Märchen des Rauhreifs verzaubert den Wald. Die Äcker schlafen. Nur die Spuren des Wildes unterbrechen manchmal das endlose Weiß.
Hans ist früh am Morgen in die Werkstatt gegangen. Er hat die Fenster verhängt und die Tür verschlossen. Dann hat er die Farbtöpfe auf die Drehbank gestellt, Violett und Karmin und ein zartes Orange. Das wird der Himmel werden, denkt er, ja, ich mache den Himmel aus Violett und Karmin. Er setzt die Farben an. Dann beginnt er das Holz zusammenzufügen. Es waren vier Teile, zwei seitliche und eines für den Kopf und eines für die Füße. Die seitlichen Teile waren flache Bretter. An ihren Enden hatte er Zähne angebracht, indem er das Holz auskerbte. Sie griffen in den Kopf- und in den Fußteil, die geschwungen waren wie eine Lyra, aber nicht ganz so, eher wie ein Blumenkelch, der sich nach unten verdickt. Wo er sich aber verdickt, da fassten ihn geschwungene Kufen, so dass man das Ganze, wenn es stand, auf dem Boden hin und her bewegen konnte, bis es von selbst zu schaukeln begann.
Lächelnd beugte sich Hans über die Wiege. Nackt und strähnig war das Holz. Er nahm den Hobel und begann es zu glätten. Eine Stunde stand er so. Die zarten Späne flogen über seine Finger. Draußen, hinter dem Fenster, fiel der Schnee in leichtem Aufschlag vom Dach in den Hof.
Nachdem Hans die Wiege geglättet hatte, begann er sie zu beizen. Dreimal musste er das Holz mit nussbraunem Firnis bestreichen. Bis zum Abend wird es trocken sein. Dann kann er die Bilder darauf malen
— den Himmel aus Violett und Karmin, und später die Gottesmutter aus zartem Orange. Er setzt die Wiege zu Boden. Er stellt sie in die Nähe des Ofens. Dann geht er zur Werkbank, wo die Farben stehen. Ob das Karminrot wohl reicht? Er hebt den Topf. Er wird nach dem Essen mit den Skiern nach Siebenwasser fahren und frische Farben besorgen.
Nach Siebenwasser? Seit jenem furchtbaren Nachmittag hat er die Stadt nicht mehr betreten. Er denkt nach. Er kann sich kaum noch erinnern. Hinter einem Schleier liegt das alles, was mit ihm geschah. Er wendet den Kopf. Er mag nicht hinsehen. Er will diese Wochen vergessen. Er schämt sich vor ihnen.
Er war am Morgen, als er neben Irene erwacht war, still und ruhig zur Arbeit gegangen. Er hatte das Futter für das Vieh gerichtet. Er hatte in der Meierei die Zentrifuge repariert und im Keller ein viertel Stück Wein in Flaschen gefüllt. Niemand störte ihn mit Fragen. Es wäre ihm auch gleichgültig gewesen. Er hätte doch nicht geantwortet. In der Nacht jedoch, als er allein war und die Lichter im Haus erloschen, da hatte er das alte SA.-Hemd aus dem Schrank genommen, er hatte es angezogen — vor ihm auf den Knien lag das zerknitterte Liederbuch—, und er sang. Ja, er hatte gesungen. Alle Lieder, in deren Takt er marschiert war, abends durch die Wälder, über die Wiesen und am Tag durch die Stadt. Und es war ein Zucken in seine Füße gekommen, er war aufgestanden, im Zimmer war er hin und her geschritten, die Hand hatte er gehoben, und neben sich, vor ihm, hinter ihm lebte plötzlich der Atem der Kameraden. Da war es über ihn gekommen. Er stürzte aufs Bett, dort lag er und weinte. „Was hab ich getan?" rief er, „ach, ich habe mein Leben verloren." Und es geschah, dass er die Schande vergaß, die sie ihm angetan. Es geschah, dass er Hungrichs Hand nicht mehr sah, nicht mehr die bleiche Kälte der Mutter — nur den Gesang hörte er, die Fahnen im Wind und das große Rufen unter dem blauen Zelt, das Deutschland hieß. In seiner Verstörung flüchtete er zu den Briefen des Offiziers. Er holte die Kassette aus ihrer Verbannung im untersten Fach des Schranks. Und plötzlich hatten ihn wieder die Worte gepackt, und er zerbrach unter ihrer Gewalt.
„Mitleid ist die Religion der Schwachen", da stand es und lohte ihn an. „Lasse Dein Herz kalt werden und schnalle den Sturmriemen fester. All das, was wir in uns niederknüppeln, wird einst belohnt werden. Schau nicht hin, was auf der Strecke bleibt, denn das Ziel ist größer als das Unrecht, das wir tun müssen. Wir haben kein Privatleben mehr. Es gibt nur blinden Gehorsam. Hans, Wachs in den Ohren, den Leib an den Mastbaum geschnallt — so segeln wir durch die Zeit..." Wie hatte er da aufgeschrien, als er diese Sätze wieder las. Ach, Gerhard, das ist es ja, ich habe furchtbar geirrt... ich wollte ein einzelner Mensch werden!
Und es war geschehen, dass er in seiner Verwirrung Briefe an den Offizier schrieb, in denen er ihn anflehte, sie sollten ihn doch wieder zurücklassen. Die niedrigste Arbeit wollte er tun. Ja, er wolle lieber ein Verbrecher werden, als Deutschland verlieren. Und wenn dann die Briefe im Feuer verbrannten, da wäre er am liebsten hinterher gestürzt. Nächtelang lag er wach. Er dachte nicht an Irene. Er verbarg alles vor ihr. Aber wenn er allein war, da öffnete er sich hemmungslos. Seine Sicherheit, seine Bescheidung in ein bäuerliches Leben — sie waren dahin, und nichts war geblieben als die fürchterliche Angst, ausgestoßen zu sein und im Dunkel zu sterben. Viele Tage und Nächte wütete er gegen sich selbst. Wie ein Hund, der die Koppel sucht, winselte er. Er empfand keine Scham mehr, und sein Stolz war niedergebrannt bis auf den letzten Stumpf. Dann aber war jener Morgen gekommen, da Irene in der Halle zusammenbrach. Kreideweiß saß sie im Stuhl, und sie krümmte sich, als stieße der Schmerz mit tausend Dolchen auf sie ein. Sie hatten sie hinaufgetragen in ihr Zimmer. Sie hatten sie entkleidet, und dann lag sie im Bett, bleich wie eine Tote. Bäuerle war keuchend und fassungslos auf Hans gestürzt. Seinen Kopf hatte er gepackt. Hin und her hatte er ihn gerissen, und geschrien hat er: „Was hast du meinem Kind getan... was hast du meinem Kind getan?" Da hatte sich Irene im Bett hochgerichtet — oh, der Schmerz zersägte fast ihr Gesicht — aber sie antwortete: „Geliebt hat er mich... wie kein anderer Mensch." Dann war sie zurückgesunken. Ruhig lag ihr Kopf im Dunkel des Haars. Ja, sie versuchte zu lächeln, und sie streckte die Hand aus. „Hans", sagte sie, „Hans, bleibe bei mir..." Und er war bei ihr geblieben. Und er hatte ihre Hand gehalten. Und als sie schlief, da wagte er nicht, sich zu bewegen. In dieser Stunde war es geschehen, dass er wieder Mut in sich spürte. Es war nicht die frühere, drängende Kraft seiner Jugend — es war eine stille, lautlose Erhöhung seiner Seele. Es war die Geburt des Mannes in ihm. Als Bäuerle mit Dr. Wachtel das Krankenzimmer betrat, wunderte er sich über die ernste Ruhe des Jungen. Er ging zu ihm und gab ihm die Hand. Vierzehn Tage nach diesem Anfall wurde Irene nach Heidelberg gebracht. Dr. Wachtel erklärte sie außerhalb jeder Gefahr. Aber er riet zu einer Beobachtung in einer Klinik. Mit Nierenattacken sei nicht zu spaßen. Es sei besser, man beuge rechtzeitig vor. Ruhig und voller Sicherheit hatten sich Hans und Irene getrennt. Er war bis zur ersten Brücke mitgefahren. „Hab keine Angst um uns", hatte Irene gesagt, dann hatte sie ihn geküsst, und er war still die verschneiten Hügel hinaufgegangen, zu seiner Arbeit auf dem Gut.
Weihnachten war vorüber. Ein neues Jahr begann. Irene war immer noch in Heidelberg. Täglich fuhr Bäuerle in die Klinik. Er dachte an nichts mehr als an sein Kind. Er bestürmte die Ärzte, aber er konnte kaum mehr erfahren, als dass keine akute Gefahr bestehe, nur Vorsicht müsse man üben und Geduld. Wenn er abends mit Hans zusammensaß, sprach er nur von Irene. Er sprach auch von Juana. Aber das war dasselbe. „Wenn ich sie noch einmal verlieren müsste", sagte er, „das würde ich nicht ertragen." Hans nickte. Auch er würde es nicht ertragen. Das wusste er. So lebten die beiden Männer im Stillen Einverständnis vor der Gefahr. Die Bedrohung Irenens war die einzige Wirklichkeit, die sie noch kannten.

Nach dem Mittagessen hatte sich Hans auf den Weg gemacht. Er hatte die Skier angeschnallt und fuhr den Serpentinenweg hinab. Die Sonne hatte die Wolken durchstoßen. Ein eisiger Wind trieb über den grellen Schnee. Hans erreichte den Fluss nach wenigen Minuten. Beim Stauwerk stellte er die Skier ein, dann ging er zu Fuß. Nach der ersten Schleife sah er die Stadt. Im weichen Pelz des Schnees, unter einem strahlenden Himmel stuften sich die Dächer; und die taubengrauen Dächer von Sankt Andreas ragten stark und ernst hinauf in das Licht. Als Hans die Drogerie betrat, war sie leer. Er blieb vor dem Farbenkasten stehen. Das kreisrunde Gehäuse war in viele Gefächer geteilt, in der Form von Dreiecken, deren Spitzen sich im Mittelpunkt des Kastens trafen. Es war drehbar, und wenn es in Bewegung geriet, verschmolzen die Farben zu einer phantastischen Fläche. Langsam begann Hans, seine Farben auszusuchen. Er betrachtete die Pulver wie geheimnisvolle Elixiere; auf eine rätselhafte Art schienen sie ihm dem Menschen verbunden, wie Beschwörungen gegen den Tod. Nach einer Viertelstunde hatte er zehn neue Farben ausgewählt, vom tiefsten Schwarz bis zum hellsten Weiß, und er sieht es schon, wie er unter den Himmel die Erde malen wird und auf sie die Jahreszeiten, ja, das ganze menschliche Leben.
Hans hatte sich nicht umgedreht, als die Ladentür ging. Er war so in den Anblick der Farben vertieft, dass er auch das Lachen des Verkäufers nicht sah.
„Wie hoch ist die Latte, die ich noch bei euch stehen hab?"
„Elf Mark fünfundsiebzig."
„Also hier — das wäre erledigt!"
Geld springt auf den Tisch. Dicht vor Hans klirren die Stücke.
Der Verkäufer streicht verwundert in seinem Kassenbuch herum.
„Ich könnte noch links auf die Seitenwand einen kleinen Garten malen und darinnen einen Baum, an dem furchtbar viel zu essen hängt, und die Mutter steht davor und pflückt es den Kindern ab... Ob das Grün da wohl giftig ist? Aber ich könnte die Wiese auch ockergelb malen — das wäre vielleicht lustig."
„... und jetzt also, lieber Rehbein, holen Sie einmal einen Korb. Nein... zwei Körbe... und packen Sie mir fünfundzwanzig Flaschen Rumverschnitt und zehn Flaschen Kognak ein. Deutschen natürlich!" Auf der Theke landet im Gleitflug ein Hunderter. Der Verkäufer hält ihn fest. „Geerbt?" fragt er und bleckt die Zähne. „Ja... vom ollen Rothschild!" Jetzt lachen sie schallend. Hans dreht die Scheibe mit den Farben. Der Rehbein klappt die Bodentür auf und steigt pustend in den Keller. Plötzlich spürt Hans sich leicht am Arm gefasst. Er wendet sich um. Schickedanz. In Uniform. Schickedanz streckt ihm die Hand entgegen. „Kannst schon einschlagen. Rasch, eh der Rehbein kommt.
Pah! Im Übrigen, ich mach mir gar nichts draus. Erkläre das klipp und klar überall, wenn du willst." „Danke", sagt Hans, „es ist wirklich nicht nötig. Ich lebe auch so."
Er packt die Farben zusammen. Der Rehbein keucht die Treppe herauf. Hans zahlt, und wie er die Münze in die Tasche steckt, spürt er, wie eine Hand sich an ihn tastet und einen Zettel zwischen seinen Fingern zurücklässt. Rasch geht er aus dem Laden. „Guten Tag", sagt er, und er hört den Schickedanz „Servus!" rufen. Zweihundert Meter weiter zieht er den Zettel aus der Tasche. „Erwarte Dich gleich in dringender Angelegenheit in Petermanns Lokal." Hans bleibt stehen. Er überlegt kurz. Dann geht er in die innere Stadt.

Schickedanz kam eine halbe Stunde später in Zivil. Auf seinem dicken, gedunsenen Kopf trug er einen Kalabreser, unter dem Kragen eine Turnvater-Jahn-Krawatte. „So", meint er, „hier können wir uns endlich richtig guten Tag sagen. Die Bude ist dicht. Der olle Petermann hält die Schnauze. Nicht wahr?" ruft er, worauf sich Petermann hinter dem Büfett verbeugt und meint, das sei immer das Beste für einen deutschen Mann.
Schickedanz sitzt neben Hans und betrachtet ihn. „Etwas blass", sagt er, „aber du, mach dir nix draus." Was es denn gebe, fragt Hans. Schickedanz verschränkt die Arme und stemmt sie auf den Tisch. „Du musst nämlich wissen, dass du noch viele Freunde hast." „Ei..." „Und dass diese Freunde deinetwegen in München vorstellig geworden sind, weil sie es nicht dulden, dass ein so feiner Kerl wie du einfach von dem Postsekretär zerstampft wird..." „So?" „... und diese Freunde haben klipp und klar alles Gerhard Träger vortragen lassen, und er lässt dir ausrichten, du solltest nicht schlapp machen. Es bereiten sich große Veränderungen vor, riesengroße, weißt du, in ganz Deutschland... und wenn es soweit sei, sorge er dafür, dass dein Fall kassiert wird."
Hans schweigt. Er möchte am liebsten wegrennen. Aber dann sagt er: „Was du da erzählst, ist mir wirklich ganz egal."
Schickedanz legt seinen Kopf auf die verschränkten Arme. „Das glaube ich nicht, dass dir das gleichgültig sein kann."
Lange reden sie kein Wort. Sie haben Grog vor sich stehen. Sie betrachten den Zucker, der langsam im Glas zerfällt.
„Und was hast du mir sonst noch zu sagen?" fragt Hans nach einer Weile. Seine Stimme ist abweisend und hart.
„Nichts", antwortet Schickedanz, „nur dass ich gern öfters mit dir zusammen wär."
„Du kannst mich ja einmal besuchen", sagt Hans, und das klingt nicht ohne Hohn.
„Mach ich gern", nickt der Schickedanz, „ich bin nämlich nicht wie die andern."
Sie trinken den Grog leer. Dann trennen sie sich.
Als Hans eine halbe Stunde später am Stauwerk die Skier anschnallte und in ruhigem Gang den Hügel
hinaufstieg, überholte ihn bei der dritten Kurve Johann Kaspar mit dem Wagen. Er stoppte.
„Du", rief er, und seine Stimme klang hell in der glasigen Januarluft, „in zehn Tagen darf sie nach Haus!"

Es ist Nachmittag. Der Firnis ist trocken. Hans hat die Wiege auf die Drehbank gestellt. Unter die Kufen hat er Klötzchen geschoben. Jetzt kann sie nicht schaukeln, wenn er malt. Er nimmt einen Stift und beginnt ein Schema zu zeichnen. Aber die Wolken, die er schuf, wurden schwer und dick wie ein Gewitter. „Nein", sagt er, „ich werde nichts tun, was uns ängstlich macht." Und schon beginnt er kleine leichte Wölkchen zu zeichnen, lustige Himmelsschäfchen, auf denen die Gottesmutter steht wie eine Blume im Mai.
Jetzt legt er die Farben an. Das Violett tupft die Wiege, und der Himmel blüht auf zu einem Traum. In schweren Bögen untermalt Hans Karmin. Es ist die Grenze zwischen Himmel und Erde. Ein ernstes Rot. Wesen um Wesen wächst auf der Wiege. Hier ist der Garten, ein schwarzer Baum auf einer ockergelben Wiese. Dort ist eine Blume, in deren Kelch ein Kindergesicht schläft. Hier zieht ein Flieger über das Meer, und auf seiner Tragfläche steht: Der Mut. Hier wogt ein Kornfeld, dort fließt zwischen Wiesen der Neckar, ein Zug verschwindet im Tunnel, Häuser stehen am Ufer mit roten Dächern und dunkelblauen Balkonen, und auf den Hügeln ringsum flattern kleine Fahnen, und aus der gelben Sonne schwingt sich ein Band. Darauf steht: Die Heimat. Und neben ihr, da stuft sich ein Weinberg hoch, und aus einem kleinen Stück Himmel sieht der liebe Gott, und darunter steht: Ich freue mich.
Viele Stunden malte Hans. Längst war der Ofen erloschen, und die Kälte kroch durch die Ritzen, als er die Gottesmutter betrachtete. Sie trug keine Krone. Sie trug kein Kind auf dem Arm. Es war eine schwangere Frau.
Über der Stadt Siebenwasser ruht die eisige Stille des Januar. Kobaltblau wölbt sich der Himmel, und das Land unter ihm ist bedeckt mit einem königlichen Weiß.
Schickedanz hat den Fußweg benutzt. Bis über die Knie bricht er oft in die Wächten. Ein elender Weg. Schickedanz seufzt. Er nimmt den Kalabreser vom Kopf. Das reflektierte Licht der Schneemassen blendet ihn. Er kommt sich sehr lächerlich vor inmitten des leuchtenden Schweigens mit seinem verschabten Ulster und der Aktentasche unter dem Arm. Vor ihm, auf der Kuppe des Hügels, glänzt das Gut. Schickedanz zieht seine Reiseflasche mit Kognak aus der Tasche und trinkt. Dann stapft er weiter. Verfluchte Sauerei! denkt er. Gestern Abend war Hungrich wieder da. „Na und?" hat er gefragt. Ob der Schickedanz vielleicht glaube, das mit dem Hunderter sei ein Bierulk gewesen? Ach, ich konnte der Ratte sagen, was ich wollte. Es ständen doch jetzt wirklich andere Sachen vorm Klappen, sagte ich. Und den Hunderter wolle ich in monatlichen Raten zurückzahlen. Da kam ich schön an. Um halb sechs stände ein Motorradfahrer bei der Wirtschaft „Zum grünen Baum" in Weißenfels. Dem habe ich die Briefe zu übergeben. Er führe mich zum Bahnhof, und dort habe ich in den Abendzug nach Frankfurt einzusteigen. Näheres erführe ich am nächsten Morgen in Frankfurt bei der Dienststelle 1. Wenn ich jedoch nicht pariere, dann bartab, mein Lieber. Da hab ich ihn angebrüllt. Er solle mich in Ruhe lassen, und wenn er so weiter quatsche, dann melde ich einfach die Chose. Aber da hat er mich am Handgelenk genommen, ganz nahe kam sein Gesicht: „Wer glaubt denn dir, du Säufer?" hat er gesagt, und weg war er.
Schnaufend bleibt Schickedanz stehen. Vor ihm breiten sich die Schneefelder. Ach, denkt er, sich einmal da drauf schmeißen und sich so lange herumwälzen, bis der ganze Dreck herunter ist. Seufzend greift er zum Kognak.
Lange hat sich Hans gefragt, wer das sei, der den Berg hochkomme. Ein Bauer ist das unmöglich. Denn so geht kein Bauer. Er muss lachen über die ulkige Figur. Vielleicht ist's ein Gerichtsvollzieher oder jemand, der sammelt für die Innere Mission. Er holt Bäuerles Feldstecher aus dem Gewehrschrank und erkennt Schickedanz.
Nach zwanzig Minuten steht Schickedanz im Hof. Er schaut sich um und macht ein freundliches Gesicht. Was der nur von mir will? Ob der auf Veränderungen spekuliert wegen Gerhard und so? Gestern hat Bäuerle erzählt, Schleicher sei gestürzt, und jetzt käme wohl Hitler. Das ließ mich ganz kalt. Und als Bäuerle sehr ernst im Zimmer hin und her ging und fragte, was denn jetzt aus Deutschland werden solle, da hab ich geantwortet: „Ich weiß es nicht." Ich weiß es auch nicht. Ich seh gar nicht mehr hin. Ich kann einfach nicht mehr. Aber Irene soll leben.
Freundlich geht er Schickedanz entgegen. Er führt ihn in die Garderobe. Da sitzt er jetzt, und der Schnee schmilzt von den Galoschen. „Mensch, du hast keine Ahnung, wie gut du es hast. Diese Ruhe hier. Unten in Siebenwasser, na, ich kann dir sagen, wie in einem Irrenhaus. Der Vater Allwohn zum Beispiel isst seit zwei Tagen nichts mehr, nur weil er wartet, wie das in Berlin ausgeht. Und bei der Mutter Döring, da sitzen sie am Radio bis zwei Uhr in der Nacht, und die SA. hat höchste Alarmstufe, und der Hungrich" — Schickedanz beugt sich vor — „teilt schon Revolver aus."
„Willst du lieber Wein oder Schnaps?" fragt Hans. „Wenn du vielleicht Mosel..." Sie gehen in den Keller. Lange bleibt Schickedanz vor den Weinspinden stehen. „O Gott", sagt er, „wenn ich das hier so sehe, kann mir der ganze Schwindel gestohlen bleiben." Zärtlich liest er die Namen. Er streicht voller Ehrfurcht über den Staub. Er horcht an den großen Fässern. Er hebt die irdenen Krüge. „Unsereiner säuft Verschnitt — na, ich bin auch danach!"
Später sitzen sie in der Halle und trinken. Schon liegen blaue Schatten draußen über dem Schnee. „Hast du einmal darüber nachgedacht, wegen Gerhard... Du weißt ja?" fragt Schickedanz. Hans schüttelt den Kopf. „Ich habe nicht darüber nachgedacht."
„Du willst also gar nichts mehr davon wissen...
überhaupt nichts mehr?"
„Überhaupt nichts mehr", antwortet Hans.
„Und wenn es jetzt losgeht?"
„Auch dann nicht."
„Versteh schon. Dir haben sie ja auch verdammt übel mitgespielt."
Schickedanz trinkt. Er kaut den Wein auf der Zunge. Dann trinkt er wieder. Lautlos fällt Minute um Minute.
„Was macht denn das Mädel?" „Wen meinst du?" fragt Hans. „Na, wie heißt sie doch... Irene." „Irene bekommt ein Kind."
„He?" Der Schickedanz vergisst den Mund zu schließen. Seine großen, gelben Zähne klaffen sprachlos auseinander. Schließlich gelingt es ihm „Mensch!" zu sagen, worauf er hastig sein volles Glas leer trinkt.
„Weißt du jetzt genug von mir?" lächelt Hans. „Du meinst wohl, ich wär ein Spion?" Schickedanz haut auf den Tisch. „Weißt du, was ich bin?" schreit er plötzlich, „ein ganz armes Luder, jawoll... ein ganz armes, elendes Schwein." Er sieht zu Boden und hält den Kopf in den Händen. Seine Schultern zucken. Hinter dem Hügel versinkt die Sonne. Und der Schnee auf dem Feld wird grau wie Blei.
„Ach, Schickedanz", sagt Hans, „ich weiß, dass du kein Spion bist. Du bist nur ein schwacher Mensch... genau so wie ich... wie die meisten." Schickedanz hebt den Kopf. Sein Haar hängt in die Stirn. „Du weißt gar nichts", antwortet er, „die Schweinerei ist viel zu groß."
Es war in der Dämmerung, als sie in den Hof gingen und die Ställe besichtigten. Hans zeigte Schickedanz das Vieh. Sie halfen bei der Fütterung. Dann gingen sie in die Meierei, in das Pumpwerk und zur Dreschmaschine. Schickedanz konnte nicht genug sehen. Sie durchstöberten das Gut. Sie stiegen auf die Hängeböden der Scheunen, wo das Getreide lag, und sie ließen die trockenen Körner durch ihre Finger gleiten. Sie liefen durch die Keller, zapften Wein aus den Fässern und aßen Käse dazu, und am Schluss führte Hans den Schickedanz vor die Wiege. „Das hast du alles gemalt?" Hans nickte.
„Den Himmel dort und das Meer und den Baum und die Kinder und da den Rebhügel mit dem Herrgott, der sich freut?"
„Das hab ich alles auf einmal gekonnt", sagte Hans. Da umarmte ihn der Schickedanz. „Du bist ein glücklicher Mensch!" rief er. „Du hast recht, dass du nicht mehr dabei bist."
Während des Aufräumens hatte Hans die Kassette auf den Tisch gestellt. „Was ist denn da drin?" fragte der Schickedanz.
„Ach", antwortete Hans, „die letzten Briefe meines Vaters und auch die von Gerhard." Er öffnete die Kassette und entnahm ihr ein Bild seines Vaters. „Ein gütiger Mann", sagte der Schickedanz, „wie alt war er, als er fiel?"
„Achtunddreißig." Lange sahen sie auf das Bild. Dann ging Hans hinunter, um das Vesper zu holen.
Als er zurückkam, ist der Schickedanz im Zimmer auf und ab gegangen und pfiff sich eins. Hans verschloss die Kassette und stellte sie zurück in den Schrank. Dann setzten sie sich an den Tisch und aßen und tranken. Der kleine Ofen brummte. Draußen wurde es Nacht.
Der Schickedanz wurde plötzlich sehr redselig. „Wenn das der Jürgen wüsste", rief er, „aus dem Grab würde er springen. Jetzt sitzen sie in Berlin und verhandeln mit der Reaktion und der Großindustrie. Ach, Hans, das wird ein großer Beschiss werden. Wenn die erst alle mal ihre Posten haben, dann ade, arme Seele. Und der Kalahne, das sag ich dir, der wird noch Minister. Weißt du, was der kann? Der lügt, ohne die Unwahrheit zu sagen!" Schickedanz sah auf. „Weißt du", sagte er, „das ist nämlich so: Wenn ich da ein Stück Holz habe, nicht wahr, und ich leuchte es grün an, dann kann ich sagen, es sei grün. Und wenn ich es später blau anleuchte, dann ist es blau. Aber in Wirklichkeit ist es grau. Und so wird es mit Deutschland. Haargenau wird es so."
Hans lächelte. Er merkte, dass der Schickedanz betrunken war. Und er spürte, dass der Schickedanz reden musste, einfach so, ohne Vorsicht und Disziplin. Deshalb ist er wohl zu mir gekommen? Deshalb...
„Hau ab!" brüllte plötzlich der Schickedanz, „hau ab aus diesem Ländchen! Der Bäuerle hat doch Fabriken drüben in Amerika. Was willst du hier? Erst lassen sie uns ein bisschen am Sozialismus riechen, die Jugend, weißt du, damit wir aufstehen... aber am Schluss, da tritt uns doch der alte Feldwebel in den Arsch! Und wenn der Jürgen in zwei Jahren aus seinem Grab aufstehen würde und das alles hier sähe, ich sage dir, ich geb dir das schriftlich — im selben Moment hüpft er freiwillig wieder zurück." Schickedanz trank. Er trank maßlos. Starr und rötlich wurden seine Augen. Käsig sein Gesicht. „Ich sag überhaupt nichts mehr", murmelte er, „ich sauf nur noch... und dann sterb ich..." Hans ging, um einen Kaffee zu holen. Als er zurückkam, lag der Schickedanz mit dem Kopf auf dem Tisch und schlief.
Hans gab ihm einen Schubs. Schickedanz sah hoch. „Hast du geheult?" fragte Hans. Schickedanz stierte in die Tasse. „Das kommt manchmal so über mich... weißt du, das ganze Elend." Er schlürfte die Tasse leer. „Wie spät ist es denn?" „Zehn vor halb sechs."
Schickedanz stand auf. „Ich muss gehen, ich hab nämlich Nachtdienst."
Hans half ihm in den Mantel. Er tat ihm leid, der Schickedanz, weil er so verzweifelt war. In der Tür blieb der Schickedanz stehen. „Du", sagte er, „darf ich noch mal die Wiege betrachten?"
Hans holte die Wiege. Er stellte sie auf den Tisch. Lange sah der Schickedanz auf die Bäume, auf die Kinder, auf den Fluss und die Reben und auf den lachenden Herrgott. Dann trat er näher. Er hob die Hand. Mit dem kleinen Finger begann er die Wiege zu schaukeln.
„Der hat's gut, der da hineinkommt", sagte er, als er ging, „der kann nämlich von vorne anfangen."
Drei Stunden später vermochte der Redakteur Faulstroh vom sozialdemokratischen Volksrecht endlich den Beweis zu erbringen, wie nützlich seine Querverbindungen, die er zu gewissen Kreisen der SA. unterhielt, sich auswirkten. Vor den Augen seiner erstaunten Kollegen warf er einen Pack Briefe auf den Tisch. „So!" rief er, „jetzt sind die Kerle wenigstens moralisch erledigt!"

Hans ist am Vormittag nach Siebenwasser hinuntergegangen. Er sitzt im „Blauen Bären" und wartet auf das Essen. Um zwölf Uhr dreißig wird er nach Heidelberg fahren. Bäuerle hatte angerufen, er solle Decken und Pelze mitbringen und auch einen Fußsack für Irene. Hans ist froh. Morgen wird er neben Irene im Auto sitzen, und er wird ihr erzählen, von Weißenfels wird er erzählen und von der Wiege, die er gebaut hat.
Hans sieht hoch. Hinter dem Fenster brütet ein grauer Tag. Uber der Straße nieselt der Regen. Es taut, und der Schnee schlägt in nassen Klumpen vom Dach. Es läutet zwölf. Immer, wenn Hans die Glocken von Sankt Andreas hört, fühlt er eine merkwürdige Trauer in sich. Damals, als das Telegramm kam und die Mutter umfiel in der Küche und Hans wusste, dass der Vater tot war, da hatte auch plötzlich die Glocke geklungen. Ernst und schwer war ihr Ton über die Dächer gezogen, und das Kind neben der ohnmächtigen Mutter hatte sich gebeugt unter dem dröhnenden Geläut. Und später, als sie ihn aufnahmen in die Christenheit, da hatte sie auch geläutet, und ihr Klang war es gewesen, der ihn begleitet hatte über all die Stufen seines Lebens. Und heute ist sie ganz nah über ihm. Dort auf dem Platz ragt der Turm, der sie hält. Und wenn er hinaufblickt, sieht Hans den schweren, schwingenden Klöppel.
Die Glocke schweigt. Aus der unteren Stadt dringt Gesang und Musik. In harten, festen Takten zieht es näher heran. Die alten Lieder, von hundert Stimmen getragen, wachsen zwischen den Häusern empor. Auf der Straße ballen sich die Menschen. Da, vor dem Fenster, ist das nicht Henri Jockel, und seine Frau, das Minchen? Sie tragen kleine Papierwimpel mit dem Hakenkreuz, und viele, die um sie sind, haben Fähnchen und lachen. Hans sieht weg. Allein sitzt er in dem trüben Restaurant, immer näher kommt die Musik, oh, er kennt den Marsch — der Fahne gilt er, der Fahne. Und plötzlich ist sie ganz nahe, er spürt es, denn ein brausendes Heil dröhnt die Hausfront entlang, er wendet den Kopf, er sieht die Standarte, und als sie vor ihm mitten im Fenster steht, da erhebt er sich doch. Stumm blickt er auf die tobende Straße. Er sieht die Wimpel flattern und die Arme in starrer Schräge in die neblige Luft stechen, und er sieht Hungrich vor der Standarte marschieren, den Sturmriemen unter dem blassen Kinn. Hinter dem Sturm trabt berittene Polizei.
Hans sieht auf die Uhr. Wo nur das Essen bleibt. Rindfleisch hat er sich bestellt, und der Kellner sagte, es sei in wenigen Minuten serviert. Hans steht auf. Das Büfett ist leer. Auch die Küche ist leer. Alle sind sie auf der Straße. Das Herdfeuer glimmt und droht zu zerfallen.
Hans friert. Allein sitzt er wieder am Tisch. Schal schmeckt der Rotwein. Wenn Henrici nur da wäre oder gar Bäuerle. Und ob sie die Standarte jetzt wohl in Derns Wohnung tragen, und die Mutter wird an der Tür stehen und wird sich vor der Standarte verbeugen? Und dann werden sie warten, warten, bis das Zeichen kommt... und sie werden singen und jubeln, und sie werden rufen, Deutschland gehöre jetzt ihnen.
Er schreckt auf. Was ist das nur? Auf der Straße ballen sich Gruppen. Direkt vor dem Fenster steht Henri Jockel. Er hat ein Zeitungsblatt. Viele Köpfe sind um ihn. Er liest. Was liest er nur? Wie böse plötzlich die Augen sind, ganz dick sind sie... Ist er am Ende doch nicht Reichskanzler? Was hat der Kellner nur? Er stößt den Henri Jockel an. Er flüstert ihm etwas zu. Und plötzlich starrt der Henri Jockel hier in mein Fenster. Ganz weiß ist er im Gesicht. Wie? jetzt winkt er.
Was? Ich soll... versteh ich nicht, nach dem Boden zu winkt er... verrückt, das heißt doch: ducken... der ist wohl betrunken? Ich schüttle den Kopf. „Was haben Sie denn nur, Herr? Sie laufen ja blaurot an? Sie sind wohl..." Jetzt greift er nach den Holzläden, direkt vor meinem Fenster, nach den grünen Läden greift er... Krach! jetzt schmeißt er sie zu... und ich sitze im Duster, als ob Sommer wär...
Hans fasst nach seinem Glas. Er will trinken. Seine Hand zittert. Da fühlt er sich gepackt. Am Arm hat ihn der Henri Jockel. „Kommen Sie", flüstert er, „kommen Sie! Rasch! Rasch!" Und er zieht ihn zwischen den weißen Tischen hindurch über den Gang hinein in sein Kontor. Dort riegelt er ab. Dann fällt er auf einen Stuhl. „Mein Herz", seufzt er, „ach, mein Herz." Hans will zu ihm und ihm behilflich sein, da aber springt der Henri Jockel auf, er stößt den Jungen wider die Wand. „Rühren Sie sich nicht!" brüllt er, „oder ich vergesse, was ich tue!" Und noch bevor Hans zu antworten oder zu fragen vermag, steht der Henri Jockel ganz nahe vor ihm. Er flüstert, er zischt. „Das sage ich Ihnen, wenn nicht der Bäuerle sozusagen mein Jugendfreund wär und noch dazu ein guter Kunde, dann hätt ich Sie schon längst aus dem Haus geprügelt, Sie Dreckhund, Sie!"
Mit zwei Griffen hat Hans den Mann gepackt. Er zwingt ihn auf den Boden. „Was wollen Sie von mir?" keucht er, und die Zunge bricht ihm bald vor Trockenheit. Der Restaurateur windet sich unter dem Griff, doch er kommt nicht hoch. Nach einer Minute schweigenden Kampfes scheint er sich zu beruhigen. Er sieht Hans an. „Hören Sie", sagt er, „in Erinnerung an die alten Zeiten, wo Sie noch ein anständiger Bursche waren, geb ich Ihnen einen guten Rat: verschwinden Sie heut noch aus Siebenwasser, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist. Ein Glück, dass nur ich Sie hinter dem Fenster gesehen habe, sonst wäre hier längst alles kurz und klein geschlagen. Verstehen Sie mich jetzt?"
Hans sieht auf den schwitzenden Mann. „Nein", sagt er, „ich verstehe Sie nicht." „Sie verstehen mich nicht?" Grell lacht der Henri Jockel auf. „Spielen den Unschuldigen, wie?" Und plötzlich nickt er mit dem Kopf nach dem Tisch. „Da... da... da liegt es doch! Da gucken Sie doch hin... da steht es doch schwarz auf weiß!" Mit einem Sprung ist Hans an dem Tisch. Er faltet die nasse Zeitung auseinander:

Aus dem braunen Sumpf
Das wahre Gesicht der Volkserneuerer
„Dass du mir nicht nach Mädchen riechst..."
Tatsachenbericht.


Nie in seinem Leben hatte Henri Jockel einen solchen Schrei gehört wie in dieser Minute. Es war ein Aufheulen, so schrill und unwirklich, als habe man einem Menschen mit einem Griff die Haut heruntergerissen. Dann schlug die Tür zu, und es wurde plötzlich fürchterlich still. Als Minchen in das Kontor gestürzt kam, saß ihr Mann auf dem Boden. Er hielt sich die Ohren zu, und seine Lippen waren weiß.

Laufen... laufen... ach, immer noch Häuser... und immer noch Stimmen... laufen... und jetzt ein Stein... mitten ins Kreuz... weiter... weiter... er stolpert... er stürzt... das war ein Prügel... er ist wieder hoch... er rennt... er rennt... dort öffnet sich die Straße... Schnee... weißer Schnee... und über ihm der Wald.
Hinter dem letzten Haus spürt er, dass ihm niemand mehr folgt. Er hört einen Signalpfiff. Dann hört er eine Stimme: Verreck an dir selbst! Und nochmals: Verreck an dir selbst!
Er läuft den Fußweg hinauf. Sein Atem dampft. In seinem Kopf rollt eine feurige Kugel. Als er den Pavillon erreicht, schlägt es eins. Er lacht. Er lacht ganz unbändig. „Schickedanz", lacht er, „du armseliger Schuft!" Jetzt steht er still. Maßlos ist der Ekel auf seiner Zunge. Unten im Tal pfeift ein Zug. „Irene", ruft Hans. Er stürzt auf den Boden und schreit.
Als er sich erhebt, fährt der Zug in den ersten Tunnel. Lange noch steht der Rauch über dem Land. Dann vergeht er in den Falten der Hügel. Hans horcht. Kein Laut regt sich im Wald. Nur der Schnee fällt leise von den Zweigen. Und die Wolken sinken immer tiefer ins Tal.
Hans beginnt zu gehen. Wie ein Kind setzt er die Schritte. Es ist, als habe er das Gehen verlernt, während der Jagd durch die Stadt und den Hügel hinauf. Vorsichtig hält er sich an den Stämmen. Die glühende Kugel im Kopf ist weg, aber jetzt ist eine helle, lichte Leere da, so leicht macht sie ihn, dass er sich festhalten muss, um nicht zu schweben. Als er zu den sieben Bächen kommt, bleibt er stehen. Er hört das Wasser unter der Schneedecke fließen, das Blut der sieben Ritter, die hier starben im Kampf gegen die Hunnen. Hans bückt sich. Er stößt den Arm durch die Schneedecke hindurch, bis er das Rieseln fühlt. Und während das Wasser durch seine Finger spielt, weiß er, dass Irene gesund bleiben wird. Er weiß das einfach. Ganz genau weiß er das. Und das Kind sieht er auch.
„Das genügt", sagt er und steht auf. Es ist wenig mehr zu tun.
Fünfhundert Schritte sind noch zu gehen, dann ist er in Weißenfels. Er geht sie, ruhig und ernst, als käme er von der Arbeit zurück. Als er den Hof betritt, hört er das Vieh. Er lächelt. Welch eine Gnade, denkt er, die haben keine Seele. In seinem Zimmer öffnet er den Schrank. Die Kassette ist leer. Nur das Bild des Vaters ist noch darin. Hans nimmt es an sich. Dann holt er die Wiege. Er stellt sie neben sich und schaukelt sie.
Lange sitzt er so und bewegt leise die Wiege. Dann erhebt er sich. Die Waffe, Gerhards Geschenk, liegt in der oberen Lade des Waschtischs. Er steckt sie ein. Er schreibt einen Brief. Dann schiebt er den Sessel zum Fenster. Er spricht mit dem Vater. „Ich weiß nicht, wo du bist", sagt er leise, „aber es ist dein Herz, das ich habe. Es ist ein einfältig Herz... ja, und es genügt nicht, dass es gut ist... siehst du, es genügt... heute nicht mehr..." Und plötzlich nimmt er das Bild. Er zerreißt die Fotografie. „Ich könnte ja noch leben", sagt er laut, „aber mich ekelt." Jetzt hebt er die Waffe. Auf dem Hof ist ein Geschrei. Die Degerloch rennt durch die Pfützen. Was schreit sie nur? Ach so... Reichskanzler ist er geworden... jetzt läuten die Glocken, Sankt Andreas... Sankt Andreas! Oh, Sankt Andreas... du kommst noch einmal... ja, und die anderen auch, alle, vom Dorf... von den Hügeln... aus dem Tal... danke... danke...
Aufrecht setzt er sich hin. „Adieu, Irene", sagt er leise, zweimal sagt er es, dann drückt er ab Das Geläut der Glocken aber klang so gewaltig, dass niemand den Schuss hörte. Dröhnend erhob sich das Erz über das Land. Und es war, als rolle die Erde in ehernem Schwung in eine andere Sphäre

 
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