Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Elfriede Brüning - ... damit du weiterlebst (1949)
http://nemesis.marxists.org

VII.

Der September brachte wolkenlose, glasklare Tage. Die Sonne sengte auf die Erde herab. Wie Pulverschnee türmte sich der märkische Sand. Die Bäume, die die Landstraße säumten, standen mit ausgelaugten, welken Blättern, die schon anfingen, an den Rändern gelb zu werden. Die Felder ringsum waren abgeerntet. Vom Kanal, der den Wolziger mit dem Storkower See verband, stieg ein fauliger Geruch, wie von Stuben, die zuwenig gelüftet werden. Wochenlang war kein Tropfen Regen gefallen.
Lotte Burkhardt lag lang ausgestreckt am Ufer, die Hände unter dem Kopf verschränkt, im Schatten eines Weidenstrauches, der sie halb verdeckte. Durch den feinen Windzug, der vom Wasser kam, war es hier fast erträglich. Trotzdem klebten ihr noch die Kleider am Leibe. Sie war eben zu Fuß von Storkow herübergekommen, wo sie wieder einmal nach Briefen gefragt hatte; leider vergeblich. Obgleich Lotte sich sagte, dass das ganz natürlich war, dass sie von Rudolf wirklich noch keine Nachricht erwarten durfte, konnte sie eine gewisse Unruhe nicht verhindern. Er hätte ihr wenigstens eine Karte schreiben können, einen kurzen Gruß: Es geht mir gut. Dann hätte sie gewusst, dass es auch Eva gut ging. So aber tappte sie völlig im Dunkeln. Die knappen zehn Tage, die sie von zu Hause weg war, dehnten sich in ihrer Vorstellung zur Ewigkeit.
Knappe zehn Tage - und trotzdem begann der Boden, auf dem sie sich hier bewegte, schon wieder zu wanken. Nicht, dass sie von dem Bauern, bei dem sie wohnte, etwas zu fürchten gehabt hätte. Bauer Langbehn war ein seltsamer Kauz, immer mürrisch und wortkarg. Aber Lotte wusste, dass seine zur Schau getragene Unnahbarkeit nur Tarnung war; ein Panzer, mit dem er sich umgab, um vor Angriffen geschützt zu sein. Lotte kannte ihn schon lange, von früheren Ausflügen her, die sie mit der jüdischen Jugendgruppe unternommen hatte. Immer hatte Langbehn sie und ihre Freunde ohne viel Worte bei sich aufgenommen, auch später, als es durchaus nicht mehr zum guten Ton gehörte, mit Juden unter demselben Dach zu wohnen. Er hatte einfach immer so getan, als wüsste er gar nicht, dass sie Juden waren. Als Lotte vor kurzem bei ihm aufgetaucht war und ihm als Legitimation ihren falschen Pass vorwies, hatte er nur genickt und ihr die Kammer gegeben. Er war nicht schlecht dabei gefahren. Lotte hatte überall mit angefasst, wo Not am Mann war, im Haus und auf dem Acker - außerdem bezahlte sie für ihre Unterkunft. Was Geld anbetraf, so konnte er nie genug kriegen. Aber er war auch hilfsbereit und auf keinen Fall feige.
Doch heute früh war der Ortsbauernführer bei ihm erschienen und hatte neugierig in alle Ecken geschnüffelt. Lotte war als Landarbeiterin ordnungsgemäß gemeldet. Aber als der Bonze ihren Pass in der Hand hielt und immer wieder mit ihr selbst und mit den Eintragungen in ihrem Arbeitsbuch verglich, fühlte sie den Schweiß aus allen Poren brechen. Schließlich hatte er ihr ihre Papiere unbeanstandet zurückgereicht. Aber er hatte ihr eingeschärft, sich morgen früh, wie alle ortsfremden Arbeitskräfte, bei der Ortspolizeibehörde zu melden. „Eine Formalität - die wollen Ihnen nur einen Stempel aufdrücken", hatte er begütigend hinzugefügt. Lotte wusste genug. Solche Formalitäten mochten harmlos sein für Menschen, die ebenfalls harmlos waren. Dieser „Erna Färber" und ihrer einwandfreien Vergangenheit war sie sich jedoch nicht ganz sicher. Und sie selbst hatte Veranlassung genug, einer näheren Prüfung durch die Behörden aus dem Wege zu gehen.
Sie musste also wieder weg. Zurück nach Berlin. Und zwar noch heute Abend. Aber obgleich sie das wusste und sich die Notwendigkeit einer neuerlichen Flucht mit dem Verstand nüchtern auseinandersetzte, blieb sie regungslos liegen, ganz der Ruhe des Augenblicks hingegeben. Ein leichter Wind hatte sich aufgemacht und bewegte die Zweige über ihrem Kopf. Das Wasser des Kanals schwappte träge. Ein paar Frösche quakten so laut, dass es klang, als hockten sie zu Lottes Füßen. Vom nahen Fliegerhorst scholl ab und zu ein Kommando herüber.
Seit geraumer Zeit war das einschläfernde Geräusch eines hoch am Himmel kreisenden Flugzeugs in der Luft. Lotte blinzelte durch ihre halb geschlossenen Lider. Das Flugzeug glitt ruhig über den Horizont, weiße Kondensstreifen wie Schweife hinter sich herziehend. Plötzlich schien die Maschine auf der Stelle zu stehen, senkte die Schnauze und schoss wie ein Raubvogel, der sich auf sein Opfer stürzt, in die Tiefe. Lottes Herzschlag setzte sekundenlang aus. Doch schon hatte sich das Flugzeug wieder gefangen, gewann erneut an Höhe und zog ruhig seine Bahn. Seine Flügel gleißten und glitzerten in der Sonne, die die Maschine mit ihren Strahlen zu tragen schien.
„Schön sieht das aus - nicht wahr?" fragte plötzlich eine Stimme hinter Lottes Rücken. Sie warf sich herum. Hinter ihr stand ein junger Soldat in der blaugrauen Fliegeruniform. Er verbeugte sich höflich, hob aber nicht den Arm zum Deutschen Gruß, wie Lotte sofort im stillen notierte. Er kam ein paar Schritte auf sie zu. „Gestattet?" fragte er und ließ sich auf dem Boden neben ihr nieder, ehe Lotte Zeit fand, ihn abzuweisen. „Ich beobachte Sie nämlich schon eine ganze Weile. Ich finde es so hübsch, junge Frauen zu betrachten, während sie schlafen..." Er lächelte gewinnend.
„Und ich finde es ungehörig, mir im Schlafen nachzuspionieren", erwiderte Lotte. Unwillkürlich rückte sie ein Stück von dem Flieger weg. Aber es war zwecklos, er kam sofort hinterher.
„Nachspionieren!" sagte er. „Ein hässliches Wort. Leute, die solch gutes Gewissen haben wie Sie, sollten es gar nicht kennen. Denn Sie haben ein gutes Gewissen. Sonst hätten Sie nicht so ruhig schlafen können..."
„Habe ich wirklich geschlafen?" fragte Lotte zurück. Sie wollte Zeit gewinnen. Was will er nur? dachte sie bohrend. Jetzt erst, da er so dicht neben ihr saß, sah sie, dass er gar nicht mehr so jung war, wie es ihr auf den ersten Blick geschienen hatte. Er war mindestens Mitte Dreißig. Sein regelmäßiges, gutgeschnittenes Gesicht war etwas zu nichts sagend, um ihr ein Interesse abgewinnen zu können. Er war blond und blau­äugig, der Prototyp eines Germanen. Aber die Frische und Jungenhaftigkeit, die er zur Schau trug, schienen ihr nicht ganz echt - so, als legte er es mit Gewalt darauf an, vor ihr forsch zu erscheinen. Sie senkte die Lider ein wenig und betrachtete ihn mit Muße unter den halb geschlossenen Lidern hervor: seine gepflegten Hände, den korrekt gezogenen Scheitel, die tadellos sitzende Uniform. Sie verwünschte ihre militärische Unbildung, die es ihr versagte, seinen Rang zu erkennen. Aber es war schließlich gleichgültig. Wichtig war allein, dass sie ihn so schnell wie möglich wieder abwimmeln konnte.
„Sie kommen von drüben?" fragte sie daher, rasch das Thema wechselnd und deutete mit dem Kopf in die Richtung des Fliegerhorstes. Er nickte: „Leider... Ich benutze jede Gelegenheit, um mal auszurücken." Er hatte sich neben Lotte hingestreckt und stützte sich rückwärts auf den Ellbogen. Seine Finger ergriffen, wie unabsichtlich, Lottes Hand. „Ich habe Sie übrigens hier schon öfter bemerkt", sagte er. „Man sieht ja gleich, dass Sie nicht von hier sind. Berlinerin - nicht wahr?"
Lotte schüttelte den Kopf. Ihr immer waches Misstrauen gebot ihr Vorsicht sogar diesem harmlosen Flieger gegenüber. Dabei suchte der offenbar nur ein Abenteuer. Fast unbewusst lächelte sie zu ihm zurück. Sie war dem Reiz des Augenblicks gegenüber nicht unempfindlich. Schließlich, sie war dreißig - eine junge Frau. Seit Jahren hatte ihr Leben nur aus Angst vor Verfolgung und aus Schrecken bestanden, aus illegalem Kampf, der aus ihrem aufgespeicherten Hass und aus der Verachtung ihren Mitmenschen gegenüber geboren war. Liebe hatte in ihrem Dasein schon seit langem keinen Platz mehr gefunden. Und doch war sie eine Frau, mit dem Bedürfnis nach Zärtlichkeit wie alle anderen. Deshalb gab sie sich sekundenlang der Täuschung hin, dass sie wirklich hier ganz unbeschwert im Walde lag, mit einem jungen Mann, dem sie offensichtlich gefiel, und dessen Werben sie allmählich nachgeben konnte... Gewaltsam riss sie sich zusammen. Sie stand auf und hatte sich sofort wieder in der Gewalt.
Der junge Flieger war liegen geblieben. Er nahm die letzte Zigarette aus seiner Schachtel und rauchte sie langsam und mit Genuss. Dabei bekritzelte er aus Langeweile den Pappdeckel. „Mich werden Sie noch nicht los", sagte er gemütlich. „Nicht eher, bis ich weiß,
wann und wo wir uns wieder sehen..." Er warf die Schachtel endlich weg. In seinen Augen, mit denen er Lotte jetzt ansah, stand neben der Erwartung noch etwas anderes - ein Ausdruck, den sie nicht zu deuten vermochte. Ihr war plötzlich unbehaglich, sie wusste nicht, weshalb.
„Gehen Sie jetzt", sagte sie kühl. „Es hat gar keinen Zweck mit uns beiden. Ich bin verheiratet."
„Nein -", sagte er lachend. „Vielleicht haben Sie sogar noch ein Kind?" Er schien das Ganze für einen famosen Witz zu halten. Lotte senkte den Kopf. Plötzlich stand Eva so deutlich vor ihr, dass sie meinte, nach ihr greifen zu können. Und mit dem Gedanken an Eva erhob sich drohend die Wirklichkeit. Sie musste so rasch wie möglich hier weg. Bis sie zum Bahnhof kam, würde es dunkel sein. Und sie hatte noch keine Ahnung, wer sie in Berlin aufnehmen würde. - Sie entschloss sich deshalb, scheinbar auf seinen Vorschlag einzugehen.
„Also gut", sagte sie. „Morgen Abend hier an der gleichen Stelle."
„Und Sie kommen wirklich?" fragte er. Er war aufgesprungen und stand jetzt ganz nahe vor ihr. Sein warmer Atem streifte ihr Gesicht. Seine Hände hielten ihre Schultern so kräftig umklammert, dass es beinahe schmerzte. Sie wand sich los. Er trat einen Schritt zurück und verbeugte sich wieder. „Und schönen Dank für die nette Stunde", sagte er. „Wir werden beide sicher noch recht oft daran denken..." Um seinen Mund stand wieder das gewinnende Jungenlächeln. Aber es passte nicht zu ihm, dachte sie erneut.
Lotte atmete auf, als er endlich ging. Sie wartete noch eine Weile, bis seine Schritte allmählich verhallten. Dabei suchten ihre Augen den Waldboden ab, eine Gewohnheit, die sie noch aus ihrer Wandervogelzeit her beibehalten hatte. Sie hasste es, irgendwelche Lagerspuren zurückzulassen. Da lag noch die weggeworfene Zigarettenschachtel. Sie steckte sie ein und ging rasch nach Hause, wo sie in aller Eile ihre paar Habseligkeiten zusammenpackte. Es war wirklich schon dunkel, als sie zum Bahnhof ging. Und das war gut. Keiner, der nicht unbedingt musste, fuhr um diese Zeit des drohenden Fliegeralarms nach Berlin. Sie war die einzige auf dem Perron. Mit abgeblendeten Lichtern fauchte der Zug heran. Doch im matten Schein der beiden Scheinwerferfinger, die sekundenlang über den Bahnsteig wischten, war es Lotte, als lehne neben dem Eingang noch ein zweiter Mensch. Ein Mann in Fliegeruniform, wenn sie nicht alles täuschte. Ihr Herz schlug rascher. Gleich darauf sagte sie sich, dass der kleine Flieger, wenn er es wirklich war, ihr in diesem Augenblick völlig gleichgültig sein musste. Wichtig war allein, ob es ihr gelungen war, unbeobachtet aus dem Dorf zu entkommen. Sie öffnete das Fenster und mühte sich, mit den Augen das Dunkel der Nacht zu durchdringen. Niemand war jetzt mehr draußen zu sehen außer dem Bahnbeamten, der unmittelbar vor ihrer Abteiltür stand und den Signalstab hob. Der
Zug setzte sich langsam in Bewegung, ging in die Kurve - und das kleine Dorf, das ihr zehn kurze Tage hindurch beinahe ungestörte Ruhe gegönnt hatte, war hinter der Biegung verschwunden.
Aufatmend lehnte sie sich in ihrer Bank zurück. Die Ruhe war vorbei, der Kampf begann nun von neuem, darüber war sie sich völlig klar. Sie griff in die Tasche, um ihre Fahrkarte wegzustecken - dabei stieß ihre Hand auf die Zigarettenschachtel. Sie zog sie hervor. Der arme Junge! dachte sie. Morgen würde er dastehen und auf sie warten und nicht ahnen, dass er sein Gefühl an eine so Unwürdige, wie sie es war, verschwendet hatte. Unwillkürlich musste sie lächeln. Sie drehte die Schachtel um und betrachtete kopfschüttelnd den eng bekritzelten Pappdeckel, bevor sie ihn zusammenknüllte und aus dem Fenster warf. Er war über und über mit kleinen Fischchen bemalt...

Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur