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Elfriede Brüning - ... damit du weiterlebst (1949)
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III.

Die Eisdiele lag mit der Front zur Straße, unmittelbar neben dem Eingang zur Kleingärtner-Vereinigung „Waldesruh". Gegenüber der Kolonie war die Stra­ßenbahnhaltestelle. Es stimmte alles: niedrige gelbe Baracke, angebauter Schuppen, die Schaufensterscheibe durch Splitterschaden etwas eingedrückt. Der Landser, der auf die Ladentür zusteuerte, hätte alles, ohne hinzusehen, aufzeichnen können, so genau hatte er sich die Beschreibung eingeprägt. Er trat ein.
Drinnen war trotz der vorgerückten Stunde - es war kurz vor Ladenschluss - noch Hochbetrieb. Alle Tische besetzt, vor der Theke eine Schlange Halbwüchsiger. Eine ältere Frau hantierte resolut am Büfett. Der Landser blieb bescheiden im Hintergrund, schob sich nur langsam als letzter in der Schlange heran. „Ich komme wegen der Annonce", sagte er, als er an der Reihe war. „Ich wollte mir den Schreibschrank ansehen."
Die Frau blickte auf, sah ihn scharf an. „Da kommen Sie zu spät", sagte sie. „Der ist schon verkauft." Ihre Augen - in den Winkeln mit vielen Fältchen wie ausgefranst, abgenutzt vom Sehen, die Farbe vom Alter wie ausgeblichen - tauchten in seine hellen, jungen. „Ist die Standuhr noch da?" fragte der Soldat. Die Frau nickte. Sie kratzte die Eisreste, die noch an der Kelle saßen, an die Kübelkante, legte die Kelle weg und trocknete ihre Hände an der Schürze ab. Dann öffnete sie die Tür zum Nebenraum. „Hans!" rief sie. „Hier interessiert sich jemand für deine Standuhr!" Sie schob den Landser mit beiden Händen, wie einen kostbaren Gegenstand, hinein.
Drinnen erhob sich ein langer schlaksiger Mensch, fast zwei Meter groß. Er musste gebückt stehen, um nicht mit dem Kopf gegen die Decke zu stoßen. Er kam auf den Soldaten zu, schüttelte seine Hand: „Ihr lasst mich ja ziemlich lange warten... Was gibt's?"
Der Soldat zog sich einen Stuhl heran, setzte sich. „Nichts Gutes", sagte er kurz. „Keine Nachricht aus Amsterdam."
„Keine Nachricht?" wiederholte Hans. „Das ist doch nicht möglich..." Aus dem Laden kam plötzlich laute Musik. Lilli-Marleen - das Leib-und-Magen-Lied des Belgrader Senders. Gerade das Richtige zum Ablenken für die Kundschaft draußen, dachte der Landser. Die Frau schien in Ordnung. - Er wandte sich an Hans: „Wann ist der Kurier abgefahren?"
„Donnerstag Nacht. Spätestens Sonnabend konnte alles erledigt sein."
Der Landser nickte. „Wir warten seit Sonntag. - Heute ist Dienstag."
Er verstummte. Beide blickten sich eine Minute lang schweigend an, einer prüfend den anderen. Hans sah den Landser zum ersten Mal: ein vertrauenerweckendes, gutes Gesicht. Aber es war nicht richtig, dass sie ihm jedes Mal einen anderen schickten. Sie durften ihn nicht unnötigerweise gefährden, das musste er nächstens den Genossen sagen. - Der andere stand auf. „Wir glauben nicht, dass es etwas Ernstes bedeutet", sagte er. „Immerhin - man musste dich unterrichten. Du wirst dich auf die Möglichkeit einstellen müssen."
Er ging. Der Laden hatte sich inzwischen geleert. Hans stand im Türrahmen und sah seiner Mutter zu, die mit raschen Bewegungen die gewohnten Handgriffe tat: Tische abräumen, verdunkeln, Schnipsel und Papptellerreste zusammenkehren. Erst als sie an Hans vorbei zur Theke ging, sah sie auf und legte Besen und Staubwedel hin. „Junge - ist was passiert?"
Hans überlegte, wieweit er sie einweihen sollte. Er hatte nicht viele Geheimnisse vor seiner Mutter. Sie allein hatte ihn zu dem erzogen, was er war. Aber er wollte sie nicht unnötig mit Wissen belasten. Der Kurier trug den Schlüssel für seine chiffrierten Sendungen bei sich, um ihn durch bestimmte Kanäle ins Ausland zu schmuggeln. Als Angehöriger einer Besatzungstruppe in Holland war das nicht schwer für ihn. Aber er hatte die vorbestimmte Stelle noch nicht informiert. - Das war die Nachricht, die Hans soeben erhalten hatte, eine nur negative, die Raum für vielerlei Vermutungen ließ. Sie konnte alles bedeuten und nichts. Hans neigte dazu, eher das letztere zu glauben.
Ein Soldat war in seinen Entschlüssen nicht frei, irgendeine Laune seines Vorgesetzten konnte alle seine Pläne durchkreuzen. In zwei, drei Tagen würde man schon klarer sehen. Trotzdem war es notwendig, sich auf das Schlimmste gefasst zu machen. - Deshalb sagte er jetzt: „Wir müssen wieder mal ausmisten, Mutter." Frau Steffen nickte. „Das lass meine Sorge sein, Hans. Die Wohnung ist sauber - auch drüben bei euch. Bloß den Boden nehme ich mir noch mal vor. Und den Koffer ins Bootshaus - wie immer?" Hans zögerte. „Ich möchte nicht, dass Hilde beunruhigt wird, Mutter. In ihrem Zustand..."
„Wer spricht denn von Hilde?" unterbrach sie ihn empört. „Ob der Koffer wieder nach Lehnitz soll, will ich wissen. Ich bringe ihn schon selber 'raus..." Sie sah ihn schmunzelnd an. „Besser, so was tun alte Weiber wie ich. Denen steigt wenigstens keiner mehr nach."
Hans bückte sich und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Sie war die allerbeste Genossin; immer zuverlässig und zu jeder Arbeit bereit. Oder war sie eine noch bessere Mutter? Er konnte es manchmal nicht klar unterscheiden. Er sah sie liebevoll an. „Kein unmittelbarer Grund zur Besorgnis, Mutter. Aber es ist besser, wir verschwinden für kurze Zeit. Ich will ein paar Tage aufs Wasser. Du hilfst mir doch, Hilde dazu zu bringen - ja? Sie wird natürlich tausend Einwände haben."
Seine Mutter schüttelte den Kopf. „Sag ihr klipp und klar, was los ist, Junge - das ist das beste. Hilde ist doch eine vernünftige Frau. Du nimmst viel zuviel unnötige Rücksicht auf sie."
„Das verstehst du nicht, Mutter", sagte er und tätschelte ihr welkes Gesicht. „Du weißt nicht mehr, wie man mit werdenden Müttern umgehen muss..."
Sie sah ihm stolz hinterher, als er endlich ging - dem langen Kerl, der bald Vater wurde. Sie machte sich keine Sorgen um ihn. Hans war ein Junge, der wie eine Katze immer auf die Beine fiel. Welcher junge Mann, Jahrgang 1916, konnte es sich heute noch leisten, statt an der Front zu sterben, mit seiner Frau segeln zu gehen? Hans brachte das Kunststück fertig. Er war noch nicht einen einzigen Tag richtig Soldat gewesen, obgleich er gesund war. Zuerst hatte er sich dreimal vom Arbeitsdienst zurückstellen lassen. Als er doch nach Deutsch-Eylau kam, hatte er sich ein hartnäckiges Nierenleiden zugelegt. Für den Dienst untauglich, machte er Schreibstubenarbeit. Der Krieg in Polen zerschnitt die tödliche Monotonie. Die Männer vom Arbeitsdienst wurden einem Baukommando zugeteilt. Sie durften gerade noch die Beute der Herren Offiziere verpacken, dann wurden sie selbst in Richtung Heimat in Bewegung gesetzt. Alle, die noch nicht gedient hatten, sollten von dort aus zur Ausbildung weg. Hans fertigte in der Schreibstube die Entlassungen aus, mit seiner ausdrucksvollsten Schönschrift - das erforderte Zeit. Dann gab es auch noch andere Dinge zu tun. Nie war sein Pflichtgefühl im Beiseiteschaffen unerledigter Postsachen so stark entwickelt gewesen wie jetzt. Als er endlich nach Berlin kam, ging der Transport nach Celle mit seinen Kameraden gerade ab. Er blieb als einziger zurück. Zu seinem Leidwesen konnte er sich auch jetzt noch nicht bei seinem Bezirkskommando stellen, weil er sich unterwegs den Fuß verstaucht hatte. So reichte er seinen Wehrpass nur schriftlich ein - und erhielt ihn wenige Tage später zurück, ordnungsgemäß ausgefüllt und mit dem Meldestempel versehen. Das war jetzt über zwei Jahre her. Seitdem hatte er nie mehr etwas von der Wehrmacht gehört.
„Hans ist vergessen worden", sagten die Bekannten. „Er hat eben mächtigen Dusel." - Frieda Steffen wusste, dass es nicht bloß Dusel war; sie war stolz auf Hans, weil er sich so erfolgreich drückte. Er war fürs Massensterben zu schade. Er hob sich für wichtigere Dinge auf. Hans ging die wenigen Schritte bis zu seiner Laube. Seine eigene Parzelle grenzte an die der Mutter, ein ausgetretener Pfad verband beide. Hans gab seinen Begrüßungspfiff, als er über die Schwelle trat: tatü - tata... Mittendrin hielt er inne. Auf der Diele standen, fix und fertig gepackt, ihre Wochenendtaschen. Bevor er sich noch darüber klar wurde, was das bedeuten sollte, woher Hilde seine geheimsten Gedanken hatte erraten können, erschien sie selbst. Sie war im Mantel, die Baskenmütze lose aufs Haar gestülpt. Ihr Gesicht über dem dunkelblauen Trenchcoat war sehr weiß.
„Gut, dass du da bist, Hans", sagte sie leise. „Lotte hat angerufen. Herbert Busch ist verhaftet!"
Hans duckte sich unwillkürlich, als hätte sie ihn geschlagen. Seine Augen blickten Hilde erschrocken an. Wenn ihr nur die Aufregung nicht schadet, war sein erster Gedanke. Dann erst fasste er langsam die ganze Bedeutung der Nachricht.
„Lotte?" fragte er beklommen.
„Bringt sich in Sicherheit", sagte Hilde ruhig. „Wenn es ihr gelingt..." Sie stockte, sprach den Gedanken nicht aus. Aber Hans wusste auch so, was sie meinte. Solange sie Lotte noch nicht hatten, bestand für sie kaum Gefahr. Lotte war ihre einzige Verbindung zur Siemens-Gruppe. Aber Herberts Verhaftung war eine Warnung. - Die zweite schon heute, dachte Hans im stillen.
Hilde drehte sich um und schaltete in der Stube die Lampe aus. Die Schatten fielen jetzt flacher und verdeckten halb ihr Gesicht. Hans sah nur noch ihr Kinn und den Mund, der ein wenig zuckte. Aber ihre Stimme klang gelassen wie immer. „Wir haben Proviant für mindestens eine Woche", sagte sie. „Bis dahin werden wir wissen, ob die Verhaftung noch weitere Kreise zieht. Sechs aus Herberts Gruppe sind schon hochgegangen."
Sie sahen sich schweigend an, aufgewühlt von demselben Gedanken. Herberts Verhaftung war ein ungeheurer Schlag für die illegale Arbeit. Herbert hatte als leitender Ingenieur der Patentabteilung Einblick in die interne Planung gehabt. Seit über einem Jahr benutzte er seine Kenntnisse zum aktiven Kampf gegen die Nazis. Seine Informationen wurden von Hans verschlüsselt ins Ausland gesendet. Gelang es der Gestapo je, die Sendungen zu entziffern, so war Herberts Schicksal besiegelt; und das wusste er auch. Die Quelle der Nachrichten war zu eindeutig.
Wieder dachte Hans an die erste Warnung, die er heute erhalten hatte. Bestand zwischen beiden Nachrichten ein Zusammenhang? Er verständigte Hilde kurz, sie kannte Karl, den Verbindungsmann zum Kurier, fast genauso gut wie er. Er war ein guter Freund von ihnen; durch und durch zuverlässig, ein Mann mit Überlegung und Menschenkenntnis. Es war undenkbar, dass er einen so wichtigen Auftrag wie diesen leichtsinnig vergeben hatte. Aber auch ältere und erfahrenere Genossen als Karl waren gelegentlich einem Spitzel ins Garn gegangen. Wie, wenn er nun ebenfalls dem Falschen vertraut hatte?
Er sah, dass Hilde angestrengt nachdachte. Wie immer, scheuerte sie dabei mit den Zähnen die Oberlippe. Als sie jetzt den Blick zu ihm hob, sah Hans einen Ausdruck von Angst, den er bisher noch nicht an ihr kannte. Er zog sie auf einmal an sich und küsste sie. Sie war immer noch mädchenhaft schmal, trotz ihres Zustandes, und fast einen Kopf kleiner als er. Ihre Handgelenke waren zart wie bei einem Kind. Man muss sie beschützen, dachte er. Statt dessen tat er genau das Gegenteil. Sie war aus einer inselhaft isolierten Welt, in die sie sich mit einem rassisch verfolgten Freund geflüchtet hatte, zu ihm gekommen. Ungeachtet der Gefahr hatte sie mit diesem Freund Not und Elend geteilt und ihn bei seinen wissenschaftlichen Arbeiten unterstützt. Sie hatte leidenschaftlichen Anteil daran genommen, weil sie überzeugt davon war, dass alles einmal wieder Geltung finden würde.
Jetzt stand sie bei ihm, mitten in der Gefahr und schwamm mit ihm gemeinsam gegen den Strom und wurde selbst von Tag zu Tag kühner. Aber fühlte sie sich bei dieser Art zu leben wirklich glücklich? Er bezweifelte es. Hilde war eine durchaus mütterliche Natur, die ihr Glück in der Fürsorge für andere Menschen fand. Die Krönung ihres Daseins war jetzt das Kind. Während sie jedoch das neue Leben in sich wachsen fühlte, war sie gezwungen, stündlich das eigene aufs Spiel zu setzen.
Er streichelte ihr Haar. Er versuchte, die Gedanken, die ihn bewegten, auszudrücken. „Ich habe ein schlechtes Gewissen", sagte er endlich. „Ohne mich würde dir das alles erspart bleiben."
Sie richtete sich auf. „Was würde mir erspart bleiben?" fragte sie zurück. „Die gemeinsame Arbeit..." Sie sah ihn ruhig mit ihren großen, jetzt immer etwas verschatteten Augen an. „Wir wissen doch beide, worum es geht."
Hans nickte. „Um unseren Kopf", sagte er ernst. Ein Windstoß kam durchs offene Fenster und bauschte die Verdunklung auf. Hilde zog, wie vor Kälte, ihren Mantel enger. Plötzlich durchzuckte es sie, das Blut schoss ihr heiß bis in die Fingerspitzen. Unwillkürlich griff sie mit beiden Händen an ihren runden, gewölbten Leib.
„Eben hat es sich bewegt", flüsterte sie. Sie trat zu Hans und schmiegte sich an seine Schulter. „Es lebt", wiederholte sie leise, fast andächtig. „Hans - da dürfen wir auch nicht ans Sterben denken..."
Er nickte. Er dachte an seine Mutter, die vielleicht in diesem Augenblick mit dem Sendegerät im Koffer auf dem Weg ins Bootshaus war. Doch diesmal würde sie den Weg umsonst getan haben. Er wollte nicht mehr senden. Hildes wegen konnte er es nicht länger verantworten. Sie musste sich schonen.
Doch in diesem Augenblick sagte Hilde: „Ich denke, wir segeln diesmal in Richtung Mecklenburg, dort ist es am ungefährlichsten. Aufgeben können wir die Arbeit auf keinen Fall." Sie hob ihre Tasche auf und ging ihm voran durch die Tür. Hans folgte ihr beklommen, aber ohne Widerspruch. So geht es immer, dachte er, die Arbeit lässt uns nicht los, und sie erfordert den ganzen Menschen. Aber Hilde hat neben dieser noch eine andere Aufgabe... Der Gedanke machte ihm Angst, dass sie sich mehr zutraute, als ihre schwachen Kräfte bewältigen konnten, dass sie sich übernahm und dass sie eines Tages vielleicht daran zerbrechen würde.

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