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Elfriede Brüning - ... damit du weiterlebst (1949)
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VI.

Rudolf Burkhardt hatte die Wohnung seiner geschiedenen Frau an jenem Abend, als Eva den Gashahn aufgedreht hatte, gerade in dem Augenblick betreten, als alle Dinge um Eva her anfingen, ein sanftes und freundliches Gesicht zu zeigen. Der rissige Zementfußboden der Küche hörte auf, wie sonst Kälte und Feuchtigkeit auszuströmen. Eine angenehme, schläfrige Wärme umstrich sie. Das Johlen der Kinder auf dem Hof klang nicht mehr feindlich und nah, sondern wie aus weiter Ferne und so gedämpft, als wäre es ein Wiegenlied. Die unwirtliche Küche verwandelte sich langsam. Bündel von Farben spannten sich wie Regenbogen von Wand zu Wand, schaukelten so dicht über ihrem Kopf, dass sie mit den Händen danach reifen konnte. Aber sie war viel zu träge dazu. Dieser Zustand war nicht etwas, das man abschütteln konnte. Im Gegenteil hüllte man sich immer mehr darin ein, wie in ein dichtes, weiches, wärmendes Tuch, das man zum Schutz gegen die Außenwelt um sich zog. Aus diesem Gefühl der Geborgenheit, das sie allmählich durchdrang, rüttelte der Vater sie jäh heraus. Als sie aufwachte, lag sie auf dem Feldbett der Mutter. Sämtliche Türen und Fenster der Wohnung standen sperrangelweit offen, und kalte Nachtluft strömte von allen Seiten herein. Aus der Küche klang aufgeregtes Durcheinander. Mit dem Lauschen auf die Stimmen kam die Erinnerung, die Erinnerung wie an einen bösen Traum, den sie rasch von sich abschütteln wollte. Aber er ließ sich nicht abschütteln, er war Wirklichkeit. Eva rollte sich auf ihrem Bett zusammen, vor Kälte und vor innerer Abwehr. Vielleicht war alles besser, wenn man die Augen schloss. Die tiefe Finsternis hier im Raum, die sie auch mit offenen Augen nicht durchdringen konnte, erhöhte noch ihr Gefühl der Verlassenheit.
Später wollte ihr der Vater einreden, dass die Mutter sie für immer verlassen habe. Das Kind hörte nur heraus, dass die Mutter frei war. Und dann kam sie auch wieder, das wusste Eva. Aber es lohnte nicht, mit dem Vater darüber zu streiten, er kannte die Mutter nicht so gut wie sie. Als zählte er die Mutter schon zu den Verstorbenen, ging er gleich am nächsten Morgen daran, in ihren Sachen zu wühlen, schichtete alles, was ihm wertvoll schien, auf einen Haufen, um es „zu verramschen", wie er sagte. Eva sah sein Treiben stumm und verächtlich mit an. Widerspruch oder gar Aufsässigkeit kannte sie nicht. Keiner von jenen, zu denen sie gehörte, lehnte sich offen gegen die Welt der „anderen" auf. Man führte einen zähen, heimlichen Kampf gegen sie. Auch Eva leistete heimlich dem Vater Widerstand, indem sie sofort, nachdem er für kurze Zeit das Haus verlassen hatte, einige der bereitgestellten Dinge wieder beiseite schaffte. Die große chinesische Vase war dabei, das Teeservice, der große Koffer mit Mutters Kleidern. Eva schleppte alles hinter die eiserne Feuertür, den „Notausgang", hinter dem die Bekannten der Mutter, wenn es unvermutet geklingelt hatte, oft verschwunden waren. Übrigens wurde Evas „Diebstahl" vom Vater nicht mehr entdeckt. Er kam erst am nächsten Mittag angeheitert und lärmend nach Hause und plumpste gleich ins Bett, wo er stöhnend, die Luft schwer durch die Nase ziehend, stundenlang liegen blieb. Eva ging um die übliche Zeit zum Bäcker. Als sie mit dem Brot unterm Arm wiederkam, war die Wohnung leer, alle Schübe und Kästen in wilder Unordnung herausgerissen.
Das Kind erfuhr erst später, was geschehen war. Die Nachbarin - es war dieselbe, die im jüdischen Krankenhaus arbeitete - erzählte es ihr flüsternd im Luftschutzkeller. Fünf SS-Männer hatten nach der Mutter gefragt. Als sie nicht da war, hatten sie den Vater mitgenommen. Das Haus lag seitdem wie unter einer Lähmung. Bisher war die Gestapo immer nur frühmorgens erschienen, wie früher der Milchmann; tagsüber konnte man vor ihr sicher sein. Jetzt aber war jede „Ordnung" über den Haufen geworfen. Jedes unerwartete Klingelzeichen konnte den Tod anzeigen. Bezeichnend für die fortschreitende Nervosität unter den Juden war, dass niemand an Evas Schicksal ernsthaft Anteil nahm. Alle im Hause wussten, dass sie allein in der Wohnung war, dass die Mutter sich der Verhaftung noch rechtzeitig durch die Flucht hatte entziehen können. Aber sie konnten sich nicht sonderlich um das Kind kümmern, jeder von ihnen hatte eigene Sorgen genug. Die Bewohner des Hauses bestanden durchweg aus „privilegierten" Juden, die zu kriegswichtigen Arbeiten eingesetzt waren. Doch keiner wusste, wie lange ihre relative Sicherheit andauern würde. In den Betrieben wurden täglich Transporte zusammengestellt, und niemand ahnte, nach welchen Gesichtspunkten die Auswahl der Opfer erfolgte. Jeder konnte täglich selbst an der Reihe sein.
Nachdem der Vater fort war, fand Eva in der Speisekammer noch das Brot, das sie gerade vom Bäcker geholt hatte. In vier Teile zerschnitten, reichte es vier Tage hindurch.
Am fünften Tag fuhr Eva mit ihrem letzten Geld hinaus in den Vorort, zu dem kleinen Haus mit dem Garten, hinter dessen Hecke sie einmal sorglos mit Puppen gespielt hatte. Auf ihr Klingeln öffnete ein langer Lümmel in HJ-Uniform. Er musterte Eva frech. „Riedels?" fragte er endlich zurück. „Wohnen hier nicht. Das ist jetzt unser Haus." - Eva wusste nun, dass sie keinen von den früheren Bekannten mehr aufsuchen durfte. Allen würde sie nur Unglück bringen. Auch die alten Leute hatte man ihretwegen aus dem Häuschen verjagt. Eva stieg in den Zug und fuhr wieder zurück. Dabei umkreisten ihre Gedanken immer denselben Punkt, wie die Räder ihre Achse.
Um etwas zu essen zu haben, musste sie betteln oder stehlen. Betteln konnte sie aber nicht mit dem Judenstern. Und stehlen wollte sie nicht. Sie wollte nur leben - das wollte sie wirklich. Sterben, den Gashahn aufdrehen, das war vorbei, seit sie wusste, dass die Mutter einmal zurückkommen würde. Auf diesen Tag musste sie warten.
Sie stieg am Wedding aus, aber nur aus Gewohnheit, und ging die paar Straßen bis zu ihrem Haus zurück. Sie konnte genauso gut woanders hingehen. Die Wohnung war kein richtiges Zuhause mehr, wo jemand wartete und für sie sorgte, war nur noch ein kahler Schlupfwinkel, in dem man sich verkriechen konnte wie ein Tier im Bau. Eva ähnelte in diesen Tagen selbst einem kleinen Tier. Das Haar hing ihr ins Gesicht wie zottiges Fell, sie warf es immer wieder mit einer heftigen Kopfbewegung aus der Stirn zurück. Ihre Augen hatten die Fähigkeit, sich weit zu öffnen, die Pupillen rundeten sich dann zu zwei dunklen Seen. Sie schlich stets - klein, geduckt, katzenhaft - im Schatten der Mauern entlang und schlüpfte an den Menschen vorbei, immer bestrebt, keineswegs aufzufallen. Ihre Rechte verdeckte den gelben Stern auf der Brust.
So trat sie der Großmutter entgegen. Die Großmutter - das war nicht die kleine zarte Frau Cohn, die vor den Verfolgungen der Braunen in den Haushalt der Mutter geflüchtet war. An ihr hatte Eva mit zärtlicher Liebe gehangen, bis das nur noch unregel-
mäßig schlagende Herz der verängstigten Frau den Belastungen der Zeit nicht länger standhalten konnte. Die Großmutter, die dem Kind jetzt in der Wohnung entgegenkam - die alte Frau Burkhardt -, hatte Eva nur wenige Male in ihrem Leben gesehen. Das erste Mal war sie mit der Mutter gerade auf der anderen Seite der Straße, in der die Großmutter wohnte, vor­übergegangen, da war die alte Frau drüben aus der Haustür getreten. Sie war ganz in Schwarz gekleidet gewesen, als hätte sie Trauer, und sie trug weithin sichtbar auf der schwarzen Jacke das Hakenkreuz. Die Mutter hatte Eva hastig beiseite gezogen. „Weshalb sieht sie denn so dunkel aus?" hatte Eva gefragt. „Sie trauert, weil dein Vater im Zuchthaus sitzt." Die Mutter hatte sich plötzlich zu ihr hinuntergebeugt und sie geküsst. „Und wir beide sind stolz auf Vater - nicht wahr?"
Eva war damals noch sehr klein, aber sie hatte doch schon deutlich gespürt, dass die schwarze Frau etwas Feindliches war. Später hatte sie die Feindschaft zwischen ihr und der Mutter noch viel stärker empfunden. Der Kampf war plötzlich um sie selbst entbrannt. Nachdem die Eltern geschieden waren, forderte der Vater, dass Eva christlich erzogen würde. Sie sollte ins Haus der Großmutter übersiedeln. Eva sah die Trauer in den Augen der Mutter - und wehrte sich verzweifelt. Die Erinnerung an die lange, hagere Frau mit den wimperlosen Augen und der kahlen Stelle im Haaransatz über der Stirn flößte ihr Schrecken ein. Zu ihr wollte sie nicht. Als der Vater kam, um sie abzuholen, verkroch sie sich auf dem Boden. Den ganzen Tag hockte sie zwischen Gerümpel und alten Schränken, hungrig, mit klopfendem Herzen. Sie wagte sich erst gegen Abend wieder hervor. Der Vater war inzwischen gegangen. Vielleicht war er es satt, gegen Evas Widerspenstigkeit anzugehen, von einem Tag zum anderen verlor er das Interesse an ihr. Auch das Arisierungsverfahren, das er eingeleitet hatte, zog sich hin, und die Großmutter bedankte sich wahrscheinlich dafür, ein Judenkind großzuziehen. So war alles beim alten geblieben. An dies alles musste Eva jetzt denken. Sie war die Treppe in großen Sprüngen hinaufgelaufen und hatte den Schlüssel hastig ins Schloss gesteckt. Sie hatte es immer eilig, in die Wohnung zu kommen, wie ein scheues Tier fürchtete sie jede Begegnung mit Menschen. Doch plötzlich gab die Tür wie von selber nach. Auf der Schwelle stand die Großmutter.
Eva drehte sich um. Im ersten Impuls wollte sie gleich wieder hinunterrennen. Sie hatte die große hagere Frau sofort wieder erkannt. Die war in der Zwischenzeit nur ein wenig älter geworden. Ihr Haar unter dem Hut war weiß, und ihr Gesicht war von tiefen Falten durchzogen, die regelmäßig und sauber, wie frisch gebügelt, nebeneinander lagen. Auf ihrer Jacke prangte wie damals das Hakenkreuz.
„Da bist du ja endlich!" sagte die Großmutter und zog Eva mit ihren langen, dürren Armen zu sich hinein. „Diese Herumtreiberei hört aber auf, verstanden? So was gibt's bei mir nicht."
Sie sah Eva prüfend von oben bis unten an. Ihre Lippen kräuselten sich dabei, eine Rüsche von Runzeln legte sich langsam um ihren Mund. Plötzlich hob sie die Hand, krallte die Finger in Evas Kleid und riss ihr mit einem Griff den Judenstern ab. „Soo -", sagte sie aufatmend, „und nun beeil dich. Wir wollen zum Abendbrot zu Hause sein..."
Eva trug ihre Habseligkeiten zu einem Haufen zusammen.
„Ist das alles?" fragte die Großmutter. Ihre Stimme war kalt und spröde wie Glas. Sie hielt das einzige Nachthemd, das Eva auf den Tisch gelegt hatte, vor sich hin in die Luft. „Das sieht deiner Mutter ähnlich..."
„Da kann die Mutter nicht für", sagte Eva bebend. „Wir haben keine Kleiderkarten. Und überhaupt -"
„Was - überhaupt?" fragte die Großmutter scharf.
Eva ließ die Arme sinken. „Ich kann gar nicht mitkommen", sagte sie. „Was soll denn hier aus der Wohnung werden? Wenn Mutter zurückkommt..." Die Großmutter schüttelte den Kopf. Sie ging mit steifen Beinen auf und ab in dem Raum. „Deine Mutter kommt nicht zurück, Eva. Sie ist tot. Für dich hat sie von heute an tot zu sein. Verstehst du? Ich will nicht, dass du in meiner Gegenwart ihren Namen erwähnst. - Die Wohnung wird übrigens vermietet. Von dem Ertrag ernähre ich dich. Sonst noch etwas?"
In ihren Augen, die Eva musterten, stand blanker Triumph. Diese Augen verzeichneten jede Regung in dem Gesicht des Kindes mit der Ungerührtheit und Objektivität einer photographischen Platte, von der man gleichfalls kein Mitgefühl zu erwarten gewohnt ist. Eva war zuerst unbeweglich vor der Großmutter stehen geblieben, nur ihre Finger zupften unaufhörlich an ihrem Ärmel. Plötzlich drehte sie sich um und ging langsam zum Fenster. Ihre Schultern zuckten, aber man hörte keinen Laut. Von der Nachbarwohnung her klang durch die Rabitzwand dünnes Geklimper, das nach ein paar Takten wieder erstarb. Jetzt war es so still, dass man den eigenen Atem hörte.
„Du hast recht, wenn du weinst", sagte die Großmutter schließlich. „Deine Mutter hat viel Unglück über uns alle gebracht. Sie ist ein Teufel!"
Es folgte eine Reihe von Verwünschungen, denen Eva wie einem Platzregen standhalten musste, stumm, mit gesenktem Kopf, ohne Widerspruch. Es war ja alles nicht wahr, was die Großmutter sagte. Die Mutter sollte schuld sein, dass der Vater verhaftet war? Die Mutter hatte sie selbst leichtsinnig im Stich gelassen? Sie ginge nur ihrem eigenen Vergnügen nach? Eva wusste, dass alles ganz anders war. Ein paar Mal versuchte sie aufzubegehren, die Mutter zu verteidigen, aber die Großmutter schnitt ihr brüsk jede Rede ab. „Erzähle mir nichts!" sagte sie. „Das weiß ich besser. Deine Mutter ist eine schlechte Person. Du tust klug daran, wenn du überhaupt nicht mehr an sie denkst."
Evas Übersiedlung zur Großmutter - das war, als schlüpfe sie in eine neue Haut. Alles um sie her ver­änderte sich. Bisher hatte sie bei aller Abgeschlossenheit, der sie wie alle Juden ausgesetzt war, doch nie das Gefühl des Alleinseins gehabt. Gerade das Bewusstsein, dass sie alle ein und dasselbe Schicksal erleiden mussten, hatte die Juden zueinander getrieben wie das Vieh auf der Weide bei Gewitter. Aber hier bei der Großmutter war sie wirklich allein. Die Großmutter hatte in der Melanchthonstraße, nahe am Kriminalgericht, ein eigenes Haus, das sie aus besseren Zeiten hinübergerettet hatte. In ihrer Achtzimmerwohnung, die früher einmal hochherrschaftlich gewesen war, betrieb sie heute eine kleine Pension. Sieben ihrer Zimmer waren vermietet, an Pensionärinnen, die sich alle zum Verwechseln ähnlich sahen. Eva brauchte mehrere Tage, bis sie gelernt hatte, alle dem Namen nach auseinander zuhalten. Alle Damen trugen die gleichen bis zum Hals geschlossenen Blusen, die gleichen langen wallenden Röcke, die gleichen Schnürschuhe mit den gleichen flachen Absätzen; jede schleppte ständig ein Strickzeug mit sich herum, dessen Knäuel in den gleichen dickbauchigen Pompadours steckten - und keine von ihnen war viel unter Siebzig. Auch die sieben Zimmer, die diese Majors-, Generalsund Hauptmannswitwen bewohnten, glichen einander. Alle waren mit ähnlichen Möbeln und Erinnerungen voll gestopft, mit Glasvitrinen, Truhen, zierlichen Tischchen und Vasen, und die gleichen Ahnengalerien
hinter altmodischen Bilderrahmen schmückten jeden verfügbaren Sims. Im Zimmer der Großmutter hing - neben dem großen Führerbild und neben einem Porträt ihres verstorbenen Mannes im Reitdress - von allen Wänden immer wieder Rudolf. Rudolf als Knabe in seiner ersten Hose, Rudolf auf Schlittschuhen, Rudolf bei der Konfirmation, Rudolf auf dem ersten Schulgang, Rudolf neben seinem Bücherwagen. Aber kein Hochzeitsbild existierte von ihm und kein Bild, das ihn als Vater mit seiner kleinen Tochter Eva zeigte.
Als Eva an der Hand der Großmutter zum ersten Mal das Zimmer betrat, saßen alle Pensionärinnen gerade um das Radio versammelt. Solche Zusammenkünfte fanden mehrmals des Tages statt: bei der Verlesung des Wehrmachtberichtes, beim „Kommentar zur Lage" und in der Viertelstunde, in der Hans Fritsche sprach. Eben gab es eine Sondermeldung: Soundso viele Bruttoregistertonnen versenkt. Die schwerhörigen alten Frauen hatten ihre Stühle dicht an das Gerät gerückt, hielten den Kopf vornübergebeugt und lauschten mit offenem Munde, als ob sie dadurch verhindern könnten, dass ihnen ein Wort entging. Als das Englandlied verklungen war, schaltete die eine Dame das Radio ab. Alle schwiegen eine Minute. Dann standen sie auf.
„Großartig, unsere U-Boote!" schwärmte die Witwe eines Kapitäns der früheren kaiserlichen Kriegsmarine. „Wenn die so weitermachen —"
„England ist vollständig am Ende. Haben Sie heute schon den ,Angriff' gelesen?"
Frau Burkhardt benutzte die allgemeine Aufbruchsstimmung und schob die Enkelin vor sich her. „Eine entfernte Verwandte von mir", sagte sie flüchtig. „Die Mutter ist beim Bombenangriff ums Leben gekommen."
Für Minuten fühlte Eva sich als Ziel aller Blicke. Sie schlug die Augen nieder. Die Traurigkeit hing plötzlich an ihr wie ein Mantel aus Blei. Wenn sie jetzt nicht protestierte, war es, als sei ihre Mutter wirklich gestorben. Weshalb log die Großmutter? Lügen darf man nur bei Gefahr, hatte Eva von der Mutter gelernt, wenn die Nazis hinter einem her sind. Das hatte sie verstanden. Aber hier waren alle selber Nazis. Die alten Frauen lauschten wieder, wie vorhin, mit offenem Mund, wie die Großmutter glatt und ohne zu stocken ein langes Märchen erzählte: von dem schweren Bombenangriff auf Dortmund, und wie Eva wie durch ein Wunder gerettet sei. Eine streichelte flüchtig über Evas Kopf: „Armes Kind - ja, wen es trifft... Aber warte, wir zahlen's ihnen doppelt und dreifach heim!"
Es gab damals nur wenige Menschen in Deutschland, die sich der Brutalität in ihrem Denken völlig bewusst waren. Frauen, deren Herzen bei der Nachricht höher schlugen, dass deutsche Stukas wieder eine englische Stadt ausradiert hatten. Die andererseits bei dem stereotypen Schlusssatz im Wehrmachtbericht:
„Die Bevölkerung hatte Verluste" kaum eine Regung von Mitgefühl und Trauer empfanden, sondern nur den Wunsch nach Rache und tausendfacher Vergeltung in sich wachsen spürten. Die Frauen, die in diesem Augenblick hier in dem altmodischen Zimmer der alten Frau Burkhardt versammelt waren, hatten den größten Teil ihres Lebens mit friedlichen Beschäftigungen ausgefüllt. Sie hatten Kinder zur Welt gebracht und aufgezogen, diese Kinder hatten wieder Kinder gehabt, und die beiden ältesten in dem Kreis waren sogar schon Urgroßmütter. Jede der Frauen hatte Augenblicke in ihrem Leben gekannt, in denen sie über eine Beule am Kopf eines ihrer Kinder verzweifelt waren; es hatte Tage gegeben, an denen sie Krankenbett um das Leben eines Kindes hatten zittern müssen. Immer hatten sie das Leben, das sie gegeben hatten, auch bewahren und schützen wollen, hatten die Kräfte, die es zu vernichten drohten - Krankheit und Tod - bekämpft und gehasst und, soweit es möglich war, ihre Quellen vernichtet. Nur der Krieg verkehrte alle ihre sittlichen Empfindungen ins Gegenteil. Im Krieg sahen sie im Tod nicht mehr ein Unglück, sondern Heldentum, und ihre Trauer um den Verlust eines Menschen trugen sie wie eine Fahne vor sich her. Diese Offizierswitwen des ersten Weltkriegs fühlten sich durch den Hitlerkrieg plötzlich in ihre Jugend zurückversetzt. Die gleiche Marschmusik straffte wieder ihre alt gewordenen Beine, und statt „Die Wacht am Rhein" und „Es braust ein Ruf" war es jetzt das Horst-Wessel-Lied, das ihre Herzen höher schlagen ließ.
Eva hatte einen festumrissenen Pflichtenkreis. Die Großmutter hatte kürzlich das Hausmädchen entlassen und behalf sich seitdem mit einer Scheuerfrau. Das tägliche Säubern der Zimmer musste nun Eva besorgen. Sie machte ihre Arbeit flink und geschickt. Bald kannte sie jeden Fleck im Teppich und jede Nippäsfigur, deren sorgsame Wartung ihr jeden Tag aufs neue ans Herz gelegt wurde. Solche Weisungen und ihr gehorsames Ja waren übrigens die einzigen Worte, die im Laufe eines Tages mit ihr gewechselt wurden. Eva fühlte sich in ihrer neuen Rolle, die ihr die Großmutter zugedacht hatte, immer noch unsicher, und aus Furcht, etwas Falsches zu sagen, schwieg sie ganz. Über das, was sie bedrückte, konnte sie sowieso hier mit niemandem sprechen.
Eva verstand sich oft selber nicht. Weshalb war ihr das Dasein in diesem Hause, in dem sie satt zu essen hatte, wo auf dem Hängeboden ein sauberes Bett für sie stand, und wo sie nicht verfolgt wurde, so verleidet, dass sie jeden Morgen beim Aufwachen schon wieder den Abend herbeisehnte? Äußerlich ging es ihr besser als je zuvor. Aber sie verzehrte sich vor Sehnsucht nach einem guten Wort. Manchmal, wenn die Großmutter starr und abweisend wie immer an ihr vorbeiging, nahm sie sich vor, ihr einfach mal um den Hals zu fallen. Vielleicht wurde alles leichter, wenn sie den Kopf an ihre Schulter legte - wie früher bei der Mutter. Aber dann kam die Großmutter zurück, und sie tat es doch nicht. Sie konnte es einfach nicht. Gerade weil sie dabei so sehr an die Mutter denken musste. Die Großmutter wünschte, dass sie die Mutter vergessen sollte. Das war nicht gut von ihr. Eva fürchtete die Großmutter, weil sie etwas von ihr verlangte, was sie niemals würde erfüllen können.
Zu Evas Obliegenheiten gehörte es auch, für die Pensionärinnen kleine Botengänge zu machen. Als sie einmal auf die Post gehen wollte, wurde sie an der Haustür von einem ältlichen Fräulein zurückgehalten: „Du bist doch die kleine Eva Burkhardt, nicht wahr?" fragte sie.
Evas erste Regung war, wegzulaufen. Es hatte sie lange keiner bei ihrem richtigen Namen genannt. Aber dann blieb sie doch, wie von einer fremden Hand festgehalten. Sie sah zu dem Fräulein auf - ein ausdruckloses, blasses Gesicht, das sie bestimmt niemals gesehen hatte.
Die andere schüttelte den Kopf:
„Kennst du mich nicht mehr, Eva? Ich war doch oft bei euch in der Wohnung. Ich habe dich gleich erkannt..." Sie lachte wie über einen gelungenen Scherz. Dann fasste sie Evas Arm. „Komm, wir gehen ein Stück. Was ich dir zu sagen habe, braucht niemand zu hören. Ich soll dir Grüße bestellen..."
Eva durchzuckte es wie ein Blitz. Aber sie wagte gar nicht, dem Gedanken, der in ihr aufblühte, Raum zu geben. Grüße von der Mutter - war das möglich?
Wieder blickte sie die andere von der Seite an. Nein, sie war sich ganz sicher, sie hatte das Gesicht nie zuvor gesehen. Durch die Verhältnisse gezwungen, hatte Eva, so jung sie war, schon Übung darin, sich Gesichter sehr genau einzuprägen. Und dieses hier war ihr vollkommen fremd. Sie wollte ruhig bleiben, aber sie konnte nicht verhindern, dass ihr Herz bis zum Halse klopfte.
Die Fremde sah belustigt auf sie herunter. „Sehr neugierig bist du scheinbar nicht, kleines Mädchen. Dafür um so misstrauischer, was? Aber du kannst beruhigt sein." Sie legte ihren Arm um Evas Schulter und nahm gleichen Schritt mit ihr. „Deine Mutter und ich, mein Kind, haben uns schon gekannt, als wir beide noch in die Hosen machten. Zuletzt war ich mit ihr zusammen bei Siemens..." Sie fing den verwunderten Blick des Kindes auf und lachte etwas nervös: „Ich sehe zum Glück nicht jüdisch aus - da kann ich es mir schon mal leisten, ohne Stern zu gehen." Plötzlich beugte sie sich dicht an Evas Ohr: „Deine Mutter hat mir geschrieben..." Evas Kopf fuhr herum. „Wo ist sie?" fragte sie mit einer Stimme, die vor Erregung fast klanglos war.
Die Fremde löste ihren Arm von Evas Schulter und fing an, in ihrer kleinen Handtasche zu kramen. „Mein Gott, so ein Pech", murmelte sie. „Jetzt habe ich den Brief zu Hause gelassen. Aber es war ein kleiner Ort, gar nicht weit von hier..." Sie bohrte die Augen in die Luft. „In der Nähe von Storkow, glaube ich..."
„Vielleicht Kummersdorf?" fragte Eva. Ihre Blicke saugten sich an den Augen ihrer Begleiterin fest. Die kniff die Lider zusammen, wie um besser überlegen zu können. „Es ist bestimmt Kummersdorf", bestätigte Eva. „Wir haben da einen bekannten Bauern. Früher sind wir oft zu ihm hingefahren. Er hat Mutter gern... Aber was schreibt sie denn?"
„Es geht ihr gut." Die Fremde schien es plötzlich eilig zu haben. Sie sah sich unruhig um. „Ich glaube, wir werden beobachtet, Eva. Besser, wir trennen uns jetzt. Wenn du den Brief lesen willst -besuch mich doch mal..." Sie nannte ihr Namen und Adresse.
Die nächsten Tage rauschten an Eva vorbei, als hätte sie Fieber. Sie hatte einen genauen Plan gefasst, aber es war nicht ganz leicht, ihn auszuführen. Die unbekannte Frau wohnte in der Wallstraße. Die lag ziemlich weit vom Hause der Großmutter entfernt, und Eva hatte nie so viel Zeit, um einen langen Weg unbemerkt einschieben zu können. Doch am nächsten Montag war die Gelegenheit günstig. Die Großmutter wollte zur Prinz-Albrecht-Straße, um sich nach dem Schicksal von Evas Vater zu erkundigen. Sowie sie aus der Tür war, ging auch Eva fort. Sie ging rasch, mit dem ihr eigenen Gang, immer ein wenig nach vorn fallend, die Straße entlang. Zum ersten Mal seit langer Zeit war sie unbeschwert. In ihrer Tasche steckte ein Brief an die Mutter, und im Arm trug sie ein kleines Kuchenpaket, das sie sich gestern von ihrer Ration
abgespart hatte. Beides sollte die Frau ihrer Mutter schicken.
Aber in der Wallstraße zeigte es sich, dass es gar keine Nummer 63 gab. Auch weit und breit wohnte niemand unter dem angegebenen Namen. Eva begriff schließlich, dass die fremde Frau sie belogen hatte. Aber weshalb hatte sie das getan? Das verstand das Kind nicht. Hatte man mit ihrer Hilfe herauskriegen wollen, wo die Mutter steckte? Das wusste sie doch selbst nicht. Kummersdorf, das hatte sie nur gesagt, weil die Fremde den Namen Storkow erwähnt hatte. War es denn wahr, dass die Mutter geschrieben hatte? Oder war alles nur erlogen, erfunden - nur ausgedacht zu irgendeinem bösen Zweck?
Aufgewühlt kehrte das Kind wieder um, schlich in die Wohnung zurück. Im Flur hingen Hut und Mantel der Großmutter, also war sie schon wieder zu Hause. Die Tür zu ihrem Zimmer stand offen. Eva wollte hastig vorbei - aber irgend etwas in der Haltung der Großmutter gebot ihr, näher zu treten. Die Großmutter saß reglos am Fenster, den Blick starr geradeaus gerichtet. Ihr Gesicht war fahl, als läge der Schein der untergehenden Sonne darauf. Jetzt hob sie den Kopf und blickte in die Richtung, wo Eva stand. Ihr Blick war leer und ausdruckslos wie der einer Blinden.
„Sie haben ihn weggebracht", sagte sie. „Ins KZ..." Sie stöhnte laut, als hätte sie Schmerzen. Ihre Finger fuhren ruhelos auf dem Rock hin und her. Plötzlich fasste ihr Blick die Gestalt des Kindes und haftete auf dem Kuchenpaket, das Eva immer noch, wie eine Kostbarkeit, an ihre Brust gepresst hielt. „Was hast du da?" fragte sie barsch. „Wo kommst du überhaupt her?"
Eva zögerte mit der Antwort. Instinktiv fühlte sie, dass sie den Namen der Mutter jetzt nicht aussprechen durfte. Mehr als je würde die Großmutter gerade diese für das Unglück, das über sie hereingebrochen war, verantwortlich machen. Also musste sie eine Ausrede erfinden. Das war leichter, als sie geglaubt hatte.
„Ich bin dir nachgegangen", log sie. „Du warst aber schon weg. Du solltest Vater den Kuchen mitnehmen."
„Ist das wahr?" fragte die Großmutter. Sie schien gerührt und zog Eva näher an sich. Zum ersten Mal, seit die Enkelin in ihrem Hause war, strich sie zärtlich über den Kopf des Kindes. Eva hielt unter der ungewohnten Berührung ganz still. Man muss also lügen, dachte sie. Hätte sie eben die Wahrheit gesagt, würde die Großmutter sie mit Schimpfworten überschüttet haben. Manchmal, wenn sie sehr böse war, schlug sie sogar. Das würde von jetzt an nie mehr geschehen. Eva wusste nun, wie sie sich davor schützen konnte. Das Rezept war ganz einfach. Die Wahrheit war, dass sie die Mutter liebte und dass ihr der Vater gleichgültig war. Diese Wahrheit musste sie indessen in ihr Gegenteil verkehren. Man muss lügen wie die Erwachsenen, dachte das Kind. Um ihren Mund stand plötzlich eine scharfe Falte, die so aussah, als ob sie nie mehr weggehen wollte. Sie schien für immer dort eingeritzt.

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