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Alexander W. Tschajanow - Reise meines Bruders Alexej ins Land der bäuerlichen Utopie (1920)
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Achtes, historisches Kapitel

Katharina deckte für Kremnew das Bett auf, legte eine Handvoll Pfefferkuchen und Datteln auf den Tisch, blickte dann sehr aufmerksam Kremnew an und fragte unvermittelt:
»Sind bei Ihnen in Amerika eigentlich alle Menschen so wie Sie?« Der verwirrte Alexej geriet in Verlegenheit, und das nicht minder verwirrte junge Mädchen lief fort, schlug die Tür zu, und an den angelaufenen Fensterscheiben huschte das kleine Licht der sich entfernenden Laterne vorüber.
Kremnew war allein.
Lange ließen die Eindrücke dieses ungeheuerlichen Tages ihn nicht zu sich kommen. Doch alle Wunder, die er geschaut hatte, wurden von der bezaubernden Gestalt der Schwester Paraskewas verdrängt. Als er wieder zu sich kam, zog er sich aus und schlug das Geschichtsbuch auf.
Anfangs konnte er überhaupt nichts verstehen: weitschweifig wurde die Geschichte des Jaropolsker Amtsbezirks abgehandelt, danach die Geschichte von Wolokolamsk, des Moskauer Gouvernements, und erst die letzten Seiten des Buches enthielten eine Darstellung der russischen und Weltgeschichte.
Mit wachsender Erregung verschlang Kremnew eine Seite nach der anderen und aß zu den historischen Ereignissen die Pfefferkuchen Katharinas. Als er bei der Darstellung seiner Epoche angelangt war, erfuhr Kremnew, dass sich die Welteinheit des sozialistischen Systems nicht lange gehalten und zentrifugale soziale Kräfte die herrschende Eintracht recht schnell wieder zerrissen hatten. Die Idee einer kriegerischen Revanche war mit keinerlei Dogmen des Sozialismus aus der deutschen Seele auszumerzen, und aus nichtigem Anlass, wegen der Verteilung der Kohle aus dem Saargebiet, hatten die deutschen Gewerkschaften ihren Präsidenten Radek dazu gezwungen, die deutschen Metallarbeiter und Bergleute zu mobilisieren und das Saarland mit militärischer Gewalt zu besetzen, noch bevor
eine Entscheidung in dieser Frage auf einem Kongress des Mirsownarchos herbeigeführt werden konnte.
Europa war erneut in seine Bestandteile zerfallen. Das Gebäude der Welteinheit stürzte ein, und ein blutiger Krieg begann, in dessen Verlauf es dem alten Herve in Frankreich gelang, einen sozialen Umsturz herbeizuführen und eine Oligarchie verantwortlicher Sowjetfunktionäre herzustellen. Nach sechsmonatigem Blutvergießen wurde durch die vereinten Bemühungen Amerikas und des Skandinavischen Bundes der Friede wiederhergestellt, jedoch um den Preis einer Aufteilung der Welt in fünf geschlossene volkswirtschaftliche Systeme: das deutsche, das englisch-französische, das amerikanisch-australische, das japanisch-chinesische und das russische. Jedes isolierte System erhielt in allen Klimazonen verschiedene territoriale Anteile, die einen rundum vollkommenen Aufbau des volkswirtschaftlichen Lebens garantierten, und in der Folgezeit begann jedes System unter Aufrechterhaltung eines gegenseitigen kulturellen Austausches ein in seiner politischen und wirtschaftlichen Ordnung völlig andersartiges Leben.
In England-Frankreich artete die Oligarchie der Sowjetfunktionäre sehr schnell in ein kapitalistisches Regime aus; Amerika, das den Parlamentarismus wieder einführte, reprivatisierte seine Produktion teilweise, hielt jedoch den staatlichen Betrieb in der Landwirtschaft aufrecht; Japan-China kehrte in seiner politischen Entwicklung zur Monarchie zurück, bewahrte aber eigentümliche Formen des Sozialismus in der Volkswirtschaft; einzig und allein Deutschland trug immer noch in völliger Unversehrtheit das Regime der zwanziger Jahre mit sich herum. Die Geschichte Russlands aber war folgendermaßen verlaufen. In unverbrüchlicher Treue zur Gesellschaftsordnung der Sowjets war es Russland nicht gelungen, die Landwirtschaft gänzlich zu nationalisieren. Die Bauernschaft, die ein riesiges soziales Potential darstellte, fügte sich nur mühsam in die »Kommunisierung«, und 5 oder 6 Jahre nach Beendigung des Bürgerkrieges begannen die bäuerlichen Gruppen sowohl in den örtlichen Sowjets als auch im WZIK imponierenden Einfluss zu gewinnen. Ihre Kraft wurde durch die versöhnlerische Politik der fünf Sozialrevoluionären-Parteien
empfindlich geschwächt, die mehr als einmal den Einfluss der rein klassengebundenen bäuerlichen Vereinigungen schmälerten. Zehn Jahre lang verfügte keine andere Richtung auf den Sowjetkongressen über eine stabilere Mehrheit, und die Macht lag praktisch in den Händen zweier kommunistischer Fraktionen, die es in kritischen Augenblicken immer wieder verstanden, sich untereinander zu einigen und die Arbeitermassen zu eindrucksvollen Demonstrationen auf die Straße zu schicken.
Der Konflikt jedoch, der zwischen ihnen anlässlich des Dekrets über die zwangsweise Einführung der »Eugenik«-Methoden entbrannte, ließ eine Lage entstehen, aus der die rechten Kommunisten um den Preis einer Koalitionsregierung und Abänderung der Verfassung zugunsten des gleichen Wahlrechts von Bauern und Städtern als Sieger hervorgingen. Neuwahlen zu den Sowjets ergaben einen neuen Sowjetkongress, in dem die rein klassengebundenen bäuerlichen Gruppierungen das absolute Übergewicht bekamen; seit 1932 blieb die bäuerliche Mehrheit im WZIK und auf den Kongressen unverändert, und das Regime wurde durch langsame Evolution immer bäuerlicher und bäuerlicher.
Aber die heuchlerische Politik der SR-Intelligenz und die Methode, Straßendemonstrationen und Aufstände zu inszenieren, erschütterten mehr als einmal die Grundlagen der sowjetischen Verfassung und zwangen die Bauernführer, sich bei der Organisation des Sownarkom an die Koalition zu halten, was durch mehrere Versuche gewisser städtischer Elemente, einen reaktionären Staatsstreich herbeizuführen, noch begünstigt wurde. Im Jahre 1934, nach dem Aufstand, der die Einführung einer Intelligenzoligarchie nach französischem Muster zum Ziele hatte und der aufgrund taktischer Erwägungen von den Metall- und Textilarbeitern unterstützt wurde, gründete Mitrofanow zum ersten Mal einen rein klassengebundenen bäuerlichen Sownarkom, und sein Dekret über die Vernichtung der Städte wurde vom Sowjetkongress gebilligt.
Im Aufstand Warwarins vom Jahre 1937 zeigte sich ein letztes Aufflammen der politischen Bedeutung der Städte. Danach lösten sie sich im bäuerlichen Meer auf.
In den vierziger Jahren wurde der Generalplan über die Landorganisation bestätigt und verwirklicht, und es wurden Meteorophoren, ein Netz magnetischer Elektrizitätswerke errichtet, die das Wetter nach den Methoden A. A. Minins steuerten. Die sechziger Jahre waren gekennzeichnet durch starke religiöse Unruhen und den Versuch der Kirche, im Gebiet von Rostow die weltliche Macht zu erobern.
Kremnew fielen die Augen zu, und das übermüdete Gehirn weigerte sich, noch irgend etwas aufzunehmen.
Er löschte das Licht und schloss die Augen. Doch noch lange glaubte er, die Augen Katharinas vor sich zu sehen, und konnte erst spät in der Nacht einschlafen.

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