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Alexander W. Tschajanow - Reise meines Bruders Alexej ins Land der bäuerlichen Utopie (1920)
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Siebtes Kapitel

das alle, so sie es wünschen, davon überzeugt, dass eine Familie eine Familie ist und immer eine Familie bleiben wird.

»Schneller, schneller, meine Freunde«, Nikifor Alexejewitsch, der die Reisekoffer und Bündel Katharinas im Automobil verstaute, trieb seine Begleiter zur Eile an. »Auf 9 Uhr ist heute der Beginn des Generalregens angesetzt worden, und in einer Stunde werden die Meteorophoren richtige Wirbelstürme entfesseln.«
Obwohl Kremnew, als er diese Worte vernahm, sich eigentlich hätte wundern und nachfragen müssen, tat er dies nicht, denn er beobachtete voller Verzückung, wie sich die Schwester Paraskewas in ihre Schals einhüllte. Dann aber, als das Auto lautlos über die Fahrbahn der Neujerusalemer Chaussee dahinglitt und zu beiden Seiten Felder auftauchten, auf denen sich Tausende von Bauern darum bemühten, vor dem Regen schnell noch die letzten Schober Hafer einzubringen, da konnte sich Alexej nicht enthalten, seinen Begleiter zu fragen:
»Zum Teufel auch, wozu vergeudet ihr eine solche Menge an menschlicher Arbeitskraft auf die Feldarbeit? Ist eure Technik, mit der sich so leicht das Wetter steuern lässt, denn wirklich zu schwach, um die landwirtschaftliche Arbeit zu mechanisieren und die Arbeitskräfte für qualifiziertere Tätigkeiten freizustellen?«
»Sieh mal einer an, da kommt der echte Amerikaner zum Vorschein«, rief Minin aus. »Nein, verehrter Mister Charlie, gegen das Gesetz der sich verringernden Bodenfruchtbarkeit kann man nicht viel ausrichten. Unsere Ernten, die von einer Desjatine mehr als 500 Pud ergeben, sind nur dadurch zu erklären, dass bei uns nahezu jede einzelne Ähre individuell gepflegt wird. Niemals zuvor war die Landwirtschaft in solchem Maße auf Handarbeit eingestellt wie heute. Und das ist kein Spleen, sondern eine Notwendigkeit bei der heutigen Bevölkerungsdichte. Jawohl!«
Er schwieg und beschleunigte die Fahrgeschwindigkeit. Der Wind pfiff, und Katharinas Schals wehten über dem Automobil. Alexej betrachtete ihre Augenwimpern, ihre Lippen, die durch die Falten des Schals hindurchschimmerten, und sie erschien ihm unendlich vertraut... Ein zärtliches Lächeln erfüllte seine Seele mit Freude und Behaglichkeit. Es dunkelte, und schwere Wolken türmten sich am Himmel, als das Automobil die kleinen Häuser erreichte, die an den Steilhängen des Flusses Lama lagen.
Die zahlreichen Familienmitglieder der Minins bewohnten einige kleine Häuschen, die im einfachen Stil des XVI. Jahrhunderts erbaut und mit einem Staketenzaun umgeben waren, was dem Wohnsitz das Aussehen eines altertümlichen Städtchens verlieh. Hundegebell und Stimmengewirr empfing die Ankommenden am Tor. Ein kräftiger Bursche umarmte Katharina. Zwei Mädchen und ein Junge stürzten sich auf die Pakete mit den aus Moskau mitgebrachten Vorräten, ein junges Mädchen im Gymnasiastenalter fragte nach irgendeinem Brief, und ein weißhaariger Alter, der sich als das Oberhaupt der Familie herausstellte, Alexej Alexandrowitsch Minin, nahm seinen Namensvetter unter seine Obhut, um ihm ein Zimmer zuzuweisen, und wunderte sich über seine korrekte Sprache und den Zuschnitt seiner amerikanischen Kleidung, die ihn lebhaft an die Mode seiner frühen Kindheit erinnerte.
Etwa zehn Minuten später betrat ein gewaschener und gekämmter, durch und durch verlegener Alexej das Speisezimmer. Am gemeinsamen Tisch, der mit Blumen überschüttet war, wurde über irgendein Thema heiß diskutiert, und sein Erscheinen auf der Schwelle genügte, um als »völlig unparteiischer« Mensch sogleich zum Schiedsrichter in dieser Sache erkoren zu werden. Seiner kompetenten Entscheidung wurden zwei flache Schüsseln vorgeführt, wovon die eine mit Krebsen und schwarzen Weintrauben dekoriert war, während die andere eine Komposition aus Zitronen, roten Weintrauben und einem geschliffenen, mit Wein gefüllten Pokal darstellte. Die zwei Konkurrentinnen, Meg und Natascha, forderten ihn mit dem vollen, helltönenden Klang ihrer fünfzehnjährigen Stimmbänder auf, zu entscheiden, welches Stilleben »holländischer« sei. Nur mit Mühe gelang es Alexej, aus dieser schwierigen Lage herauszukommen, indem er die eine Komposition als ein vergessenes Original Jakob Puters, die andere als ein Plagiat Willem Kalfs anerkannte, und zum Dank wurde er mit Beifall und einem riesigen Stück Sahnetorte bedacht, die, wie man ihm mitteilte, von einer Professorin der Kochkunst selbst, der abwesenden Paraskewa, erfunden worden war. Der kleine Antoschka wollte vom Amerikaner erfahren, ob es wahr sei,
dass in der Hudsonbucht Pottwale an der Angel anbeißen, wurde jedoch auf der Stelle zu Bett geschickt. Eine ältere Dame erkundigte sich bei Alexej, als sie das dritte Glas Tee einschenkte, ob er Kinder habe, und konnte es nicht fassen, dass seine Frau ihn über den Atlantischen Ozean hatte fliegen lassen. Es betrübte sie außerordentlich, als ihr Alexej versicherte, dass bei ihm keinerlei Anzeichen einer Ehefrau zu erkennen seien, doch als sie ihre Ausforschung fortsetzen wollte, verdeckten fremde Hände Alexejs Augen mit einem Tuch, und er begriff, oder besser erfühlte, dass hinter ihm Katharina stand.
»Blindekuh, Blindekuh« schrie der Kinderschwarm, zog ihn in den Saal, und er musste gehörig herumlaufen, bis er Katharina schließlich umarmen konnte.
Alexej Alexandrowitsch erschien und stellte die Ordnung wieder her, und nachdem er Kremnew aus der Gefangenschaft befreit und am Kamin hatte Platz nehmen lassen, sagte er:
»Heute, so direkt nach der Reise, will ich Sie nicht mit geschäftlichen Gesprächen behelligen. Doch sagen Sie mit bitte das eine: wie ist der erste Eindruck eines isolierten Amerikaners von unserem Vaterland?« Überschwänglich versicherte ihm Kremnew, dass er voller Staunen und Entzücken sei, doch die Klänge des Klavichords unterbrachen ihre Unterhaltung. Katharina bat ihren Bruder, sie zu begleiten, und sang eine Romanze Alexandrows nach den Worten Derschawins:
Goldener Sterlet aus der Scheksna, Sauerrahm und Borschtsch stehen bereit, Wein in den Karaffen, glitzernder Punsch locken mal wie Eiskristalle, mal wie Funken.
Daraufhin folgte »Der Pfau«, dann das Duett »Einzugsfeier der jungen Leute«, und Kremnew fühlte, dass sie für ihn allein sang und dass sie seine Aufmerksamkeit mit niemandem teilen wollte.
Draußen ergoss sich in Strömen der von 9 bis 2 Uhr nachts angesetzte »Generalregen«. Das Zimmer wurde dadurch noch gemütlicher, und das ausglühende Feuer im Kamin erwärmte die Eintracht familiärer Stille. Tante Wassilissa legte Natascha die Karten, und die Jugend schmiedete Pläne, wie man dem Amerikaner am besten »Jaropolez« und »Belaja Kolp« zeigen könne. Doch Alexej Alexandrowitsch erklärte kategorisch, dass er Mister Charlie für den gesamten Morgen in Beschlag nehme und dass es nun für alle an der Zeit sei, schlafen zu gehen.
Kremnew erbat sich von Meg als Bettlektüre ein Lehrbuch der Weltgeschichte und zog sich dann unter der Führung Katharinas durch den Platzregen laufend in den ihm zugewiesenen Flügel zurück.

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