Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Alexander W. Tschajanow - Reise meines Bruders Alexej ins Land der bäuerlichen Utopie (1920)
http://nemesis.marxists.org

Sechstes Kapitel

in dem sich der Leser davon überzeugen kann, dass man im Verlauf von 80 Jahren in Archangelskoje nicht verlernt hat, zum Tee Vanillequarkkuchen zu backen.

Inmitten der hochgewachsenen Linden des Twerskoj-Boulevards erhob sich das altertümliche Puschkindenkmal.
Es war an jenem Platz errichtet worden, auf dem einstmals auf Befehl Napoleons die angeblichen Brandstifter Moskaus gehängt worden waren, und des wurde in der Folgezeit ein stummer Zeuge schrecklicher Ereignisse in der russischen Geschichte.
Es erinnerte an die Barrikaden des Jahres 1905, an die nächtlichen Meetings und bolschewistischen Kanonen von 1917, an die Schützengräben der Bauerngarde von 1932, an die Warwarinschen Wasserbombenwerfer von 1937, und es verharrte mit der gleichen stillen, inneren Sammlung in Erwartung zukünftiger Ereignisse.
Nur einmal hatte es versucht, sich in die tosenden Elementargewalten politischer Leidenschaften einzumischen, als es die zu seinen Füßen Versammelten an das »Märchen von dem Fischer und dem Fisch« erinnerte, doch man hörte nicht darauf...
Das Automobil bog in die Großen Alleen des westlichen Stadtteils ein. Hier verliefen einst die stillen und verstaubten Straßen, auf denen die Fuhrwerke nach Twer rollten. An die Stelle der eintönigen Gebäude waren die prächtigen Linden des Westparks getreten, und wie eine Insel inmitten eines wogenden, grünen Meeres tauchten aus dem grünen Dickicht die Kuppeln der Kathedrale und die weißen Fassaden der Schanjawski-Universität auf.
Tausende von Automobilen glitten über den Asphalt der großen Weststrecke dahin. Zeitungs- und Blumenverkäufer eilten auf den von einer bunten Menge belebten Alleen hin und her, es funkelten die gelben Zeltdächer der Kaffeehäuser, in den bewegungslos erstarrten Wolken Schimmer-
ten die schwarzen Punkte von Hunderten großer und kleiner Aeropile, und schwer beladene Passagierflugzeuge stiegen nach dem Start vom Westflughafen auf, um sich auf die Reise zu begeben. Das Automobil raste an den Alleen des Petrowskiparks vorbei, der vom Lärm kindlicher Stimmen erfüllt war, preschte an der Orangerie des Silberwäldchens vorüber, bog scharf nach links und flog wie ein vom Bogen geschnellter Pfeil über die Swenigoroder Chaussee dahin. Die Stadt schien kein Ende zu nehmen. Rechts und links erstreckten sich nach wie vor herrliche Alleen, glänzten einstöckige weiße Häuschen, hin und wieder auch ganze architektonische Ensembles, nur dass sich nun anstelle der Blumen zwischen den Maulbeer- und Apfelbäumen Gemüsegärten, fruchtbare Weiden und dichtgedrängte Getreidefelder ausbreiteten. »Na«, wandte sich Kremnew an seinen Begleiter, »euer Dekret über die Vernichtung städtischer Ansiedlungen scheint sich offensichtlich nur auf dem Papier gehalten zu haben. Die Moskauer Vorstädte erstrecken sich weit über Swerchswjatoje hinaus.«
»Pardon, Mister Charlie, aber das gehört bereits nicht mehr zum Stadtgebiet, das ist das typische russische Dorf des Nordens«, ließ ihn Minin abblitzen und erklärte, dass bei einer solchen Bevölkerungsdichte, wie sie die Bauernschaft des Moskauer Gouvernements erreiche, das Land ein für dörfliche Siedlungen atypisches Aussehen annehme. Das gesamte Gebiet um Moskau stelle heute auf Hunderten von Werst eine durchgängige landwirtschaftliche Ansiedlung dar, die lediglich von den Vierteln der öffentlichen Wälder, den Zonen kooperativer Weiden und riesigen klimatischen Parks unterbrochen werde.
»In den Gebieten der Einzelgehöftsiedlungen, in denen der Landanteil einer Familie noch 3-4 Desjatinen beträgt, stehen die Bauernhäuser auf einer Strecke von vielen Dutzend Werst in einer Reihe nebeneinander, und nur die heute verbreiteten dichten Maulbeer- und Obstbäume trennen ein Gebäude vom anderen. Ja, und eigentlich ist es jetzt an der Zeit, die altmodische Einteilung in Stadt und Dorf aufzugeben, weil wir heute nur einen Siedlungstyp ein- und derselben Agrarbevölkerung haben, der sich lediglich in der Bevölkerungsdichte unterscheiden kann.« »Sie sehen eine Gruppe von Gebäuden«, Minin zeigte weit nach links, »die aufgrund ihrer Ausmaße etwas auffallen. Das ist die >Großstadt<, wie man sie heute üblicherweise nennt. Hier befinden sich die örtliche Schule, eine Bibliothek, ein Theater- und Tanzsaal sowie andere öffentliche Einrichtungen. Ein kleiner sozialer Knotenpunkt. Die heutigen Städte sind nichts anderes als eben solche sozialen Knotenpunkte eines allgemeinen Landlebens, nur größer in ihren Ausmaßen. Ah, da sind wir ja schon.« Der Wald trat zurück, und in der Ferne tauchten die schlanken Mauern des Schlosses von Archangelskoje auf.
Eine scharfe Kurve - und das Auto fuhr über knirschenden Kies, passierte das breite, von Posaunenengeln gekrönte Portal und kam, nachdem es einen ganzen Schwarm mit Reifen spielender junger Mädchen aufgescheucht hatte, neben der Orangerie zum Stehen. Weiße, rosafarbene, hellblaue Kleider umringten die Ankömmlinge, und ein Mädchen von etwa sieben Jahren warf sich mit einem Freudenschrei in die Arme von Alexejs Begleiter.
»Mister Charlie Man, das ist Katharina, meine Schwester!« Auf der Waldwiese des Archangelski-Parks, neben den Büsten antiker Philosophen bat man die Gäste sogleich an den summenden Samowar zu Tisch, der mit linnenen Tischtüchern bedeckt war und auf dem sich Berge purpurroter Quarkkuchen türmten.
Alexej wurde mit Quarkkuchen, verführerischen, lockeren Vanillequarkkuchen und duftendem Tee gefüttert, mit Blumen und Fragen über amerikanische Sitten und Gebräuche und darüber, ob man in Amerika Gedichte schreiben könne, überschüttet. Als er fürchtete, in die Klemme zu geraten, ging er selbst zum Angriff über, indem er auf jede an ihn gerichtete Frage mit zwei Fragen an seine Gesprächspartnerinnen antwortete. Während er einen Quarkkuchen nach dem anderen verschlang, erfuhr er, dass Archangelskoje der »Bruderschaft des heiligen Florus und Laurus«, einem eigentümlichen weltlichen Kloster, gehörte, dessen Brüder begabte Jungen und Mädchen anwarben, die sich in den Künsten und Wissenschaften ausgezeichnet hatten.
In der Zimmerflucht des alten Palastes und den Lindenalleen des Parks, in einer Atmosphäre, die durch die früheren Besuche Puschkins und durch das glanzvolle, galante Leben des Boris Nikolajewitsch Jusupow samt seinem Voltairianismus und seiner kolossalen, der französischen Revolution und Küche gewidmeten Bibliothek verklärt war, lärmte die junge Schar,
die Träger des prometheischen Feuers, indem sie die Arbeit mit den Freuden des Lebens verband.
Die Bruderschaft besaß zwei Dutzend solcher riesigen und wunderbaren Landgüter, die über Russland und Asien verstreut lagen und mit Bibliotheken, Laboratorien und Bildergalerien ausgestattet waren, und sie stellte, soweit zu verstehen war, eine der stärksten schöpferischen Kräfte des Landes dar. Die strengen Regeln der Satzung, die in ihrer Art klösterlich anmutete, und diese strahlende, klingende Freude, von der die ganze Umgebung durchdrungen war: die Bäume und Statuen, die Gesichter ihrer Besitzer und sogar die Fäden der herbstlichen, unter der Sonne wehenden Spinnweben, all das versetzte Alexej in großes Staunen. Und doch war all dies nichts im Vergleich zu dem tiefen Blick und der melodischen Stimme der Schwester Paraskewas. Die positiv-utopischen Frauen brachten Alexej allmählich um den Verstand.

Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur