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Alexander W. Tschajanow - Reise meines Bruders Alexej ins Land der bäuerlichen Utopie (1920)
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Fünftes Kapitel

das überaus lang, aber unbedingt notwendig ist, damit Kremnew das Moskau des Jahres 1984 kennen lernen kann.

»Ich werde Sie durch die ganze Stadt fahren«, sagte der Bruder Paraskewas, Nikifor Alexejewitsch Minin, während er Kremnew beim Einsteigen ins Automobil behilflich war, »und Sie werden unser heutiges Moskau sehen.«
Das Automobil setzte sich in Bewegung.
Die Stadt schien ein einziger Park zu sein, in dem rechts und links Gebäudekomplexe auftauchten, die an kleine, abgelegene Städtchen erinnerten. Hin und wieder, in einer unerwarteten Kurve, eröffnete sich vor den Augen Kremnews der Ausblick auf bekannte, vorwiegend im XVII. und XVIII. Jahrhundert errichtete Gebäude.
Herbstlich färbten sich die Ahornbäume, und hinter ihren dichten Kronen blitzten die Kuppeln der Baryschi auf; auseinandertretende Linden gaben den Blick frei auf die prunkvolle Silhouette des von Rastrelli errichteten Bauwerks, in dem Kremnew als Gymnasiast täglich ein- und ausgegangen war. Kurz gesagt: sie durchfuhren eine utopische Pokrowka. »Wieviel Einwohner hat euer Moskau?« fragte Kremnew seinen Begleiter.
»Diese Frage lässt sich nicht so leicht beantworten. Wenn man das Gebiet zur Zeit der großen Revolution als Stadtterritorium zugrunde legt, so umfasst die ständig hier übernachtende Bevölkerung heute möglicherweise bereits 100000 Menschen. Vor 40 Jahren jedoch, unmittelbar nach dem berühmten Dekret, in dem die Vernichtung der Städte angeordnet wurde, gab es maximal 30000 Einwohner. Während der Tagesstunden überschreitet die Bevölkerung aber, wenn man alle Reisenden und Hotelgäste berücksichtigt, die fünf Millionen.«
Das Automobil verlangsamte seine Fahrt. Die Allee wurde schmaler; die Gebäudekomplexe rückten immer enger zusammen, Straßen vom alten
städtischen Typus kamen zum Vorschein. Tausende von Automobilen und Pferdekutschen strebten auf mehreren Fahrspuren in ununterbrochenem Strom dem Stadtzentrum zu; über die breiten Trottoire bewegte sich eine dichte Menge von Fußgängern. Das fast völlige Fehlen schwarzer Farbe verblüffte; leuchtend blaue, rote, dunkelblaue, gelbe und fast immer einfarbige Herrenjacketts und Kittel mischten sich mit außerordentlich bunten Frauengewändern, die an die aus Sarafan und Krinoline bestehende Tracht der russischen Bäuerinnen erinnerten, aber dennoch eine Vielfalt an Formen erkennen ließen.
Zeitungsjungen, Blumen-, Sbiten- und Zigarrenverkäufer eilten in der Menge hin und her. Über den Köpfen der Menschen und Equipagen funkelten in der Sonne die Spruchbänder der Flaggen und fähnchengeschmückten Zugriemen.
Fast unmittelbar unter den Rädern der Kutschen flitzten Lausbuben hin und her, die irgendwelche Blättchen verkauften und aus Leibeskräften »Endkampf!! Wanja aus Wologda gegen Ter-Markeljanez! Zwei zu eins im Knöchelspiel!« schrieen.
In der Menschenmenge wurde erregt diskutiert. Ausrufe, in denen vor allem immer wieder »Plozka« und Nitschka« wiederkehrten, flogen hin und her.
Erstaunt blickte Kremnew auf seinen Begleiter. Dieser schmunzelte und sagte:
»Ein Nationalspiel! Heute ist der letzte Tag im internationalen Wettkampf um den Sieg im Knöchelspiel. Der Champion im Ziegenschlittenspiel aus Tiflis kämpft mit dem Wologder um den ersten Platz im Knöchelspiel. .. Aber Wanja wird sich nicht beleidigen lassen, und am Abend wird ihn der Theaterplatz zum fünften Mal als Sieger erleben.« Das Automobil hatte seine Fahrt immer mehr verlangsamt. Es passierte den Lubjankaplatz, auf dem noch immer die Mauer der Chinastadt sowie die von Vitali geschaffenen Jünglingsfiguren standen, und fuhr weiter abwärts, vorbei an der »Straße des ersten Druckers«. Auf dem Theaterplatz wogte ein Meer von Köpfen. Wie ein Feuerwerk funkelten und blitzten die hellen Flaggen in der Sonne. Die Tribünen erhoben sich mit vielen
Rängen fast bis zum Dach des Bolschoj-Theaters, und die Luft war erfüllt vom Tosen der Menge. Das Knöchelspiel war in vollem Gange. Kremnew wandte seinen Blick nach links, und sein Herz begann schneller zu schlagen. Das Hotel Metropol war verschwunden. Hier war eine Grünfläche angelegt worden, auf der sich eine gigantische Säule erhob. Sie war aus lauter Kanonenmündungen hergestellt, und ein mit einem Basrelief geschmücktes metallisches Band rankte sich an ihr spiralenförmig von unten nach oben. Drei aus Bronze gegossene, riesige Figuren, die mit dem Rücken zueinander standen und sich freundschaftlich an der Hand hielten, krönten diese kolossale Säule. Kremnew hätte fast laut aufgeschrieen, als er die ihm wohlbekannten Gesichter erblickte. Kein Zweifel: auf den Tausenden von Geschützmündungen standen einander freundschaftlich stützend Lenin, Kerenski und Miljukow. Das Automobil bog scharf nach links ab, so dass sie ganz nahe am Sockel des Denkmals vorbeifuhren.
Trotz der schnellen Fahrt gelang es Kremnew, einige Gestalten auf dem Basrelief zu unterscheiden: Es waren Rykow, Konowalow und Prokopowitsch, die sich malerisch um einen Amboss gruppierten, Sereda und Maslow, die mit Säen beschäftigt waren, und Kremnew konnte einen Ausruf der Verwunderung nicht unterdrücken. Ohne die rauchende Pfeife aus dem Mund zu nehmen, brummte sein Begleiter zur Antwort: »Ein Denkmal unserer berühmten Revolutionäre.« »Aber ich bitte Sie, Nikifor Alexejewitsch, schließlich haben diese Männer zu ihren Lebzeiten nun wirklich nicht so friedlich beieinander gestanden!«
»Nun, aus der historischen Perspektive erscheinen sie für uns als Kollegen ein und derselben revolutionären Tätigkeit, und glauben Sie mir, ein heutiger Moskauer kümmert sich herzlich wenig um die Meinungsverschiedenheiten, die zwischen ihnen bestanden. Hoppla! Teufel auch, da hätte ich doch um ein Haar das Hündchen überfahren... !« Das Automobil wich ruckartig nach links aus, eine Dame mit Hündchen sprang nach rechts; nach einer Kurve tauchte das Automobil in eine unterirdische Röhre ein, schoss für einige Augenblicke mit enormer Geschwindigkeit durch einen hell erleuchteten Tunnel unter der Erde dahin, raste auf das Moskwaufer zu und kam neben einer Terrasse zum Stehen, auf der kleine Tische aufgestellt waren.
»Kommen Sie, trinken wir zur Erfrischung einen Kokasaft«, sagte Minin und stieg aus dem Auto.
Kremnew blickte sich nach allen Seiten um. Vor ihm erhob sich eine riesige Brücke, die so täuschend ähnlich der Steinernen Brücke aus dem XVII. Jahrhundert nachgebildet war, dass sie wie ein Stich von Picard wirkte. Und hinter ihm ragte in seiner ganzen Pracht mit golden funkelnden Kuppeln der Kreml auf, von allen Seiten eingehüllt in das Gold des herbstlichen Waldes.
Ein Kellner in der traditionellen weißen Berufskleidung brachte ein mit kandierten Früchten gemischtes Getränk, das an Gogol-Mogol erinnerte, und beschaulich schwiegen unsere Reisenden für einige Zeit. »Verzeihen Sie«, unterbrach Kremnew das Schweigen, »mir als Ausländer ist die Organisation Ihrer Stadt nicht ganz verständlich. Wie kam es eigentlich zu dieser dezentralisierten Ansiedlung?« »Anfangs haben politische Ursachen auf den Umbau Moskaus eingewirkt«, antwortete sein Begleiter. »Im Jahre 1934, als die Macht fest in den Händen der Bauernparteien lag, entschloss sich die Regierung Mitrofanow zu einer revolutionären Maßnahme, nachdem sie sich nach langjähriger Praxis davon überzeugen konnte, welche Gefahr die riesigen Ansammlungen städtischer Bevölkerung für ein demokratisches Regime darstellen, und sie setzte auf dem Sowjetkongress - wie auch Ihnen in Washington bekannt sein dürfte - das Dekret über die Vernichtung aller Städte mit mehr als 20 000 Einwohnern durch.
Natürlich erwies es sich vor allem in Bezug auf Moskau, das in den 30er Jahren mehr als 4 Millionen Einwohner zählte, als überaus schwierig, das Dekret in die Tat umzusetzen. Aber die unnachgiebige Beharrlichkeit unserer Führer und die technische Leistungsfähigkeit unseres Ingenieurkorps machten es möglich, diese Aufgabe im Verlauf von 10 Jahren zu bewältigen.
Die Eisenbahnwerkstätten und Warendepots wurden auf die Linie des fünften Stadtringes verschoben, die Eisenbahnarbeiter der zweiundzwanzig Radiallinien und ihre Familien entlang der Linie eben dieses fünften Gürtels angesiedelt, d. h. an den Stationen Ramenskoje, Kubinka, Klin und anderer. Die Fabriken wurden nacheinander an neue Eisenbahnknotenpunkte in ganz Russland evakuiert.
Etwa ab 1937 begannen die Straßen von Moskau leerer zu werden. Nach der Verschwörung Warwarins wurden die Arbeiten selbstverständlich noch beschleunigt. Das Ingenieurkorps machte sich an die Planung eines neuen Moskaus, zu Hunderten wurden die Moskauer Wolkenkratzer eingerissen, und nicht selten verwandte man hierfür Dynamit. Mein Vater erinnert sich, wie im Jahre 1939 die kühnsten unserer Führer, als sie durch die Stadt der Trümmer streiften, bereit waren, sich selbst als Vandalen zu bezeichnen, ein solches Bild der Zerstörung bot Moskau. Doch lagen den Zerstörern die Zeichnungen Scholtowskis vor, und die hartnäckige Arbeit wurde fortgeführt. Zur Beruhigung der Bevölkerung und auch Europas wurde 1940 der erste Sektor ganz fertig gestellt, der alle in Erstaunen versetzte und die Gemüter besänftigte. 1944 dann erhielt alles sein jetziges Aussehen.«
Minin holte aus seiner Tasche einen kleinen Stadtplan und entfaltete ihn. »Heute allerdings sitzt das Bauernregime so fest im Sattel, dass dieses für uns heilige Dekret bereits nicht mehr mit der früheren puritanischen Strenge eingehalten wird. Die Bevölkerung Moskaus wächst so stark an, dass unsere Stadtväter, um dem Buchstaben des Gesetzes gerecht zu werden, nur noch das Gebiet der alten Weißen Stadt, d. h. das Gebiet innerhalb der Boulevards der vorrevolutionären Epoche, als die Stadt Moskau betrachten.«
Kremnew, der die Karte aufmerksam studiert hatte, hob die Augen. »Entschuldigen Sie«, sagte er, »was ist denn das für eine Sophistik! Das Gebiet um die Weiße Stadt herum ist ja schließlich schon so groß wie eine Stadt. Ja, und überhaupt ist es mir völlig unbegreiflich, wie diese eure Agrarisierung des Landes reibungslos vonstatten gehen konnte und welche klägliche Rolle eure Stadt-Pygmäen in der Volkswirtschaft spielen können.«
»Es fällt mir sehr schwer, mit wenigen Worten auf Ihre Frage zu antworten. Sehen Sie, früher genügte die Stadt sich selbst, das Land war nichts mehr als sein Piedestal. Heute, wenn Sie so wollen, gibt es überhaupt keine Städte im eigentlichen Sinne mehr, sondern nur noch Orte, die als Knotenpunkte sozialer Verbindungen dienen. Jede unserer Städte ist nichts anderes als ein Versammlungsort, ein zentraler Platz des Verwaltungskreises. Das ist kein Ort, an dem man lebt, sondern ein Ort für Feierlichkeiten, Versammlungen und einige andere Anliegen. Ein Punkt, aber kein soziales Wesen.«
Minin hob das Glas, leerte es in einem Zug und fuhr fort: »Nehmen Sie zum Beispiel Moskau: auf hunderttausend Einwohner kommen Hotels für 4 Millionen Menschen, in den Kreisstädten kommen auf 10000 Einwohner Hotels für 100000, und sie stehen fast nie leer. Die Verkehrsverbindungen sind so ausgebaut, dass jeder Bauer seine Stadt innerhalb einer oder anderthalb Stunden erreichen kann, und er hält sich oft in ihr auf. Doch jetzt ist es an der Zeit, wieder aufzubrechen. Wir müssen einen beträchtlichen Umweg machen und Katherina in Archangelskoje abholen.« Das Automobil machte sich wieder auf den Weg und bog in den Pretschistenski-Boulevard ein. Voller Verwunderung blickte sich Kemnew um: statt der goldenen, wie ein Samowar aus Tula glänzenden Erlöserkirche erblickte er riesige, von Efeu umrankte Ruinen, die offensichtlich sorgfältig gepflegt wurden.

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