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Alexander W. Tschajanow - Reise meines Bruders Alexej ins Land der bäuerlichen Utopie (1920)
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Viertes Kapitel

das eine Fortsetzung des dritten ist und nur deshalb von jenem getrennt wurde, damit die Kapitel nicht zu lang werden.

Die Tür ging auf, und die junge Wirtin trat ins Zimmer. Über dem Kopf trug sie ein Tablett mit dampfenden Tassen eines morgendlichen Frühstücks.
Alexej war entzückt von dieser utopischen Frau, ihrem fast klassischen, auf dem festen, geraden Hals ideal sitzenden Kopf, ihren breiten Schultern und der vollen Brust, die bei jedem Atemzug den Ausschnitt der Bluse anhob.
Die Schweigsamkeit erster Bekanntschaft wechselte alsbald in ein lebhaftes Gespräch über. Kremnew, der es vermeiden wollte, die Rolle eines Erzählers spielen zu müssen, lenkte das Gespräch auf die Kunst, in der Annahme, das Mädchen hiermit nicht in Verlegenheit zu bringen, zumal es in Zimmern lebte, an deren Wänden herrliche Exemplare der Malerei hingen.
Das junge Mädchen, es hieß Paraskewa, berichtete mit der ganzen Glut jugendlicher Begeisterung über seine Lieblingsmaler: den alten Breughel, Van Gogh, den Greis Rybnikow und den großartigen Ladonow. Als leidenschaftliche Anhängerin des Neorealismus suchte sie in der Kunst das Geheimnis der Dinge, etwas, das entweder göttlich oder teuflisch war, doch die menschlichen Kräfte übertraf.
Sie erkannte den höchsten Wert alles Seienden an und forderte daher vom Künstler Kongenialität mit dem Schöpfer des Alls, schätzte in einem Bild die Kraft der Magie, den prometheischen Funken, der ein neues Wesen verleiht, und im Grunde genommen stand sie damit dem Realismus der alten flandrischen Maler nahe.
Kremnew entnahm ihren Worten, dass in der Malerei nach der Epoche der großen Revolution, die durch den Futurismus und den völligen Verfall der alten Traditionen gekennzeichnet war, eine Periode des Barock-Futurismus, eines gebändigten und sinnlichen Futurismus angebrochen war.
Danach war, so wie ein Sonnentag auf ein Gewitter folgt, die Suche nach Meisterschaft auf den ersten Platz gerückt. In Mode kamen die Anhänger der Bologneser Schule, die Primitiven fielen sofort der Vergessenheit anheim, und Museen, in denen Bilder von Memling, Fra Beato, Botticelli und Cranach ausgestellt wurden, konnten fast keine Besucher mehr verzeichnen. Die Meisterschaft jedoch, die sich dem Geist der Zeit anpasste und nicht an Niveau verlor, entwickelte allmählich eine Neigung zum Dekorativen und schuf monumentale Gemälde und Fresken über die Ära des Warwarin-Komplotts; stürmisch verlief die Epoche des Stilllebens und des blauen Gammas, nach ihr beherrschten die Ssusdaler Fresken des XII. Jahrhunderts das gesamte künstlerische Schaffen bis schließlich mit Pieter Breughel als dem Abgott die Herrschaft des Realismus anbrach. Zwei Stunden waren wie im Nu verstrichen, und Alexej wusste nicht, ob er dem tiefen Kontraalt seiner Gesprächspartnerin zuhören oder aber die schweren Zöpfe, die sie um ihren Kopf gewunden hatte, betrachten sollte. Ihre weitgeöffneten, aufmerksamen Augen und das Muttermal an ihrem Hals sprachen zu ihm eindringlicher als alle Beweise von der Überlegenheit des Neorealismus.

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