Drittes Kapitel
in dem die Ankunft Kremnews im Lande Utopia sowie seine angenehmen Gespräche mit einer utopischen Moskauerin über die Geschichte der Malerei des XX. Jahrhunderts dargestellt werden.
Ein silbernes Läuten weckte Kremnew.
»Hallo, ja, ich bin am Apparat«, ließ sich eine weibliche Stimme vernehmen. »Ja, er ist angekommen... offensichtlich heute nacht... Er schläft noch... War wohl sehr müde, schlief ein, ohne sich auszuziehen... Gut. Ich werde anrufen.«
Die Stimme verstummte, und das Rascheln der Röcke verriet, dass deren Besitzerin das Zimmer verließ.
Kremnew richtete sich auf dem Sofa auf und rieb sich erstaunt die Augen. Er lag in einem großen, von den Strahlen der Morgensonne durchfluteten, gelben Zimmer. Möbel aus rotem Holz mit grün-gelbem Bezug in einem seltsamen Stil, der Alexej unbekannt war, gelbe, zur Hälfte zugezogene Fenstervorhänge, ein Tisch mit wunderlichen metallischen Geräten umgaben ihn. Im Nachbarzimmer waren leichte Frauenschritte zu hören. Die Tür knarrte, und dann war alles still.
Kremnew sprang auf die Beine. Er wollte sich klar werden über das, was geschehen war, und lief zum Fenster.
Am blauen Himmel schwammen dicke, herbstliche Wolkenschiffe. Neben ihnen, etwas tiefer, unmittelbar über der Erde schwebten einige Luftschiffe, kleinere und größere, von seltsamer Gestalt, und ihre sich drehenden metallischen Teile funkelten in der Sonne. Unten breitete sich die Stadt aus... Zweifellos, dies war Moskau. Links ragten die riesigen Kremltürme, rechts schimmerte rot die Sucharewka, und dort in der Ferne erhoben sich stolz die Kadaschi. Ein schon seit vielen, vielen Jahren bekannter Anblick. Doch wie sich ringsum alles verändert hatte! Verschwunden waren die steinernen Monumentalbauten, die einst den Horizont überzogen, ganze
Gebäudekomplexe waren nicht mehr vorhanden, das Haus Nirenseje stand nicht mehr an seinem Platz... Statt dessen versank die ganze Umgebung in Gärten... Die gesamte Fläche bis dicht an den Kreml füllten weit ausladende Baumgruppen, in denen einsame Inseln architektonischer Einheiten zurückblieben. Alleen kreuzten das grüne, sich bereits gelb färbende Meer. Auf ihnen bewegten sich lebhafte Ströme von Fußgängern, Autos und Equipagen. All dies atmete den Hauch klarer Frische, zuversichtlicher Lebensfreude.
Zweifellos, dies war Moskau, aber ein neues Moskau, ein verwandeltes, lichteres.
»Sollte ich etwa der Held eines utopischen Romans geworden sein?« rief Kremnew aus. »Offen gestanden, eine ziemlich dumme Situation!« Um sich zurechtzufinden, hielt er Umschau, in der Hoffnung, irgendeinen Anhaltspunkt zum Verständnis für die ihn umgebende neue Welt zu finden.
»Was erwartet mich hinter diesen Mauern? Das treffliche Reich eines geläuterten und gefestigten Sozialismus? Die wunderliche Anarchie des Fürsten Pjotr Alexejewitsch? Zurückgekehrter Kapitalismus? Oder vielleicht ein neues, früher unbekanntes soziales System?« Soweit der Blick aus dem Fenster ein Urteil gestattete, war eines klar: die Menschen lebten in gehörigem Wohlstand und auf hohem kulturellem Niveau, und sie lebten gemeinschaftlich. Doch dies reichte bei weitem nicht aus, um das Wesen dieser Umwelt zu begreifen.
Neugierig begann Alexej die ihn umgebenden Gegenstände genau zu betrachten, doch erwiesen sie sich als wenig aufschlussreich. Es waren überwiegend keine außergewöhnlichen Dinge, sie zeichneten sich lediglich durch die Sorgfalt ihrer Bearbeitung, durch eine bestechende Prägnanz und Großzügigkeit in der Ausführung sowie durch einen eigentümlichen Formstil aus, der teils an die russische Antike, teils an die Ornamente von Ninive erinnerte. Mit einem Wort: dies war ein stark russifiziertes Babylon.
Ü ber dem außerordentlich tiefen und weichen Sofa, auf dem Kremnew erwacht war, hing ein großes Bild, das seine Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Auf den ersten Blick hätte man mit voller Überzeugung behaupten können, hier handele es sich um ein klassisches Stück von Pieter Breughel des Älteren. Die gleiche Komposition mit weitem Horizont, die gleichen
klaren und kostbaren Farben, die gleichen, überaus kurzen Figürchen, aber... auf der Leinwand waren Menschen in bunten Fracks, Damen mit Schirmchen, Automobile dargestellt, und es konnte keinem Zweifel unterliegen, dass so etwas wie der Abflug eines Luftschiffes das Sujet bildete. Von gleichem Charakter waren einige Reproduktionen, die auf dem Nachbartisch lagen.
Kremnew ging auf den großen Arbeitstisch zu, der aus massivem Kork hergestellt zu sein schien, und begann hoffnungsvoll die auf dem Tisch verstreut herumliegenden Bücher zu betrachten. Es waren dies der fünfte Band der »Praxis des Sozialismus« von W. Scher, »Die Renaissance der Krinoline, Versuch zur Erforschung der modernen Mode«, zwei Bände von Rjasanows »Vom Kommunismus zum Idealismus«, die 38. Ausgabe der Memoiren der Je. Kuskowa, eine prächtige Ausgabe des »Ehernen Reiters«, eine Broschüre »Über die Transformation der B-Energie«, und zu guter Letzt ergriff seine vor Erregung zitternde Hand die neueste Nummer einer Zeitung.
Aufgeregt entfaltete Kremnew das kleine Blatt. Im Kopfteil stand das Datum: 23 Uhr abends, 5. September 1984. Er hatte 60 Jahre übersprungen. Es konnte kein Zweifel daran bestehen, Kremnew war im Land der Zukunft erwacht. Er vertiefte sich in die Lektüre des Zeitungsblattes. »Landwirtschaft«, »Vergangene Epoche städtischer Kultur«, »Staatlicher Kollektivismus unseligen Angedenkens«, »Dies geschah zu kapitalistischen, d. h. zu nahezu prähistorischen Zeiten...«, »Anglo-französisches Isolationssystem« - alle diese Sätze und noch Dutzende anderer drangen in Kremnews Gehirn ein und erfüllten seine Seele mit Staunen und großem Wissensdurst.
Das Klingeln eines Telefons unterbrach seine Überlegungen. Im Zimmer nebenan waren Schritte zu vernehmen. Die Tür öffnete sich weit, und, begleitet von einer Flut von Sonnenstrahlen, trat ein junges Mädchen ein. »Ach, Sie sind bereits aufgestanden...«, sagte sie fröhlich. »Ich habe gestern Ihre Ankunft verschlafen.« Wieder läutete das Telefon.
»Verzeihen Sie, das wird mein Bruder sein, er sorgt sich um Sie... Hallo... ja, er ist schon aufgestanden... ich weiß nicht warum... werde sofort fragen... Sie sprechen Russisch, Herr... Charlie... Man... wenn ich mich nicht irre.«
»Natürlich, natürlich«, rief Alexej für ihn selbst unerwartet laut aus. »Er spricht Russisch und sogar mit Moskauer Akzent... gut, ich übergebe den Hörer.«
Dem verwirrten Kremnew wurde etwas in die Hände gelegt, was an einen Telefonhörer der alten Zeit erinnerte, er hörte den Gruß einer weichen Bassstimme, das Versprechen, bei ihm um drei Uhr vorbeizukommen, die Versicherung, dass die Schwester sich um alles kümmern werde, und als er den Hörer auflegte, hatte er nur allzu gut verstanden, dass man ihn für einen anderen hielt, einen Mann namens Charlie Man. Das Mädchen hatte bereits das Zimmer verlassen. Mit verzweifelter Entschlossenheit stürzte Alexej zum Tisch, in der Hoffnung, in den Papieren und Telegrammpäckchen wenigstens irgendeinen noch so kleinen Hinweis zu finden, der das ihn umgebende Geheimnis lüften könnte. Das Glück kam ihm zu Hilfe. Schon der erste Brief, den er in die Hand bekam, war von einem Charlie Man unterzeichnet, und in wenigen Sätzen wurde dessen Wunsch zum Ausdruck gebracht, Russland zu besuchen, um sich über die Ingenieuranlagen auf dem Gebiet der Bodenbearbeitung zu informieren. |
Hinweis: Für die Korrektheit der Angaben in diesen Versionen und die Identität der Texte mit dem angegebenen Original wird keine Verantwortung übernommen. Eine Vervielfältigung der Dokumente zum Zwecke des Vertriebs ist nicht gestattet.
| |