| Zweites Kapiteldas über den Einfluss Herzens auf die entzündete Phantasie eines  Sowjetangestellten berichtet. Nachdem er sich ein dickes Stück Brot, eine gesegnete Gabe der von  Gott beschützten Sucharewka, mit Butter bestrichen hatte, goss sich  Alexej ein Glas bereits aufgekochten Kaffees ein und ließ sich in  seinem Arbeitssessel nieder.Durch die Scheiben des großen Fensters  war die Stadt zu erkennen; unten, im Nebelschleier, erstreckten sich  die langen Bänder der Straßenlaternen wie helle milchige Punkte.  Irgendwo in den schwarzen Blocks der Häuser schimmerten noch  erleuchtete Fenster in dämmrigem gelbem Licht. »So hat es sich also  erfüllt«, dachte Alexej und blickte auf das nächtliche Moskau. »Der  alte Morris, der wohltätige Thomas, Bellamy, Blatchford und ihr anderen  guten, lieben Utopisten. Eure einsamen Träume sind heute allgemeine  Überzeugungen, eure großartigen, kühnen Ideen -offizielles Programm und  graue Alltäglichkeit! Im vierten Jahr der Revolution darf sich der  Sozialismus als uneingeschränkter Herrscher der Welt betrachten. Seid  ihr's zufrieden, ihr Pioniere der Utopie?« Und Kremnew betrachtete das  Porträt Fouriers, das über einem der Bücherschränke in seiner  Bibliothek hing. Doch für ihn selbst, den alten Sozialisten, den  einflussreichen Sowjetangestellten und Leiter einer Abteilung im  Mirsownarchos, stimmte irgend etwas nicht in dieser Verwirklichung. Er  empfand ein unbestimmtes Mitleid mit dem Entschwundenen, ein Gespinst  bourgeoiser Psychologie verschleierte noch sein sozialistisches  Bewusstsein.
 Er ging ein wenig auf und ab über den Teppich seines Arbeitszimmers,  sein Blick glitt über die Einbände der Bücher, und für ihn selbst  unerwartet, entdeckte er eine Reihe von Bänden auf einem  halbvergessenen Bücherbrett. Die Namen Tschernyschewski, Herzen und  Plechanow blickten von ledernen Buchrücken solider Einbände auf ihn  nieder. Er lächelte, so wie man bei Kindheitserinnerungen lächelt, und  nahm einen Band des von Pawlenkow herausgegebenen Herzen vom Regal. Es  schlug zwei. Die Uhr surrte gedehnt und verstummte wieder. Gute, edle  und kindlich-naive Worte offenbarten sich den Augen Kremnews. Die  Lektüre ergriff ihn, bewegte ihn, so wie die Erinnerungen an die erste  Jugendliebe, den ersten jugendlichen Schwur einen Menschen bewegen.
 Der Verstand befreite sich gleichsam aus der Hypnose der sowjetischen  Alltäglichkeit, im Bewusstsein begannen sich neue, keineswegs banale  Gedanken zu rühren, es wurde möglich, die Gedanken mit anderen  Varianten spielen zu lassen.
 Ergriffen überflog Kremnew die längst vergessene, prophetische Seite:  »Schwache, mickrige, dumme Generationen«, schrieb Herzen, »werden sich  mit Ach und Krach bis zum nächsten Ausbruch, bis zu dieser oder einer  anderen Lava hinschleppen, die einen steinernen Schleier über sie  decken und der Vergessenheit der Chroniken verfallen wird. Und dann?  Dann zieht der Frühling ein, junges Leben erblüht auf ihren Grabhügeln  - eine Barbarei der Kindheit voller ungeordneter, aber gesunder Kräfte  tritt an die Stelle der greisenhaften Barbarei. Eine frische, wilde  Kraft bricht in der Jünglingsbrust junger Völker auf, und es beginnt  ein neuer Ring des Geschehens und der dritte Band der Weltgeschichte.  Seinen Grundton können wir schon jetzt verstehen. Er gehört den  sozialen Ideen an. Der Sozialismus wird sich in allen seinen Phasen bis  zu den äußersten Konsequenzen, bis zu Absurditäten entwickeln. Dann  wird von neuem aus der titanischen Brust einer revolutionären  Minderheit der Schrei der Negation hervorbrechen, und von neuem wird  ein Kampf auf Leben und Tod beginnen, in dem der Sozialismus den Platz  des heutigen Konservativismus einnehmen und von einer kommenden, uns  unbekannten Revolution besiegt werden wird...«
 - Ein neuer Aufstand? Wo ist er denn? Und im Namen welcher Ideale?  -fuhr es ihm durch den Kopf. - Oh weh, die Schwäche des Liberalismus  bestand schon immer darin, dass er keine Ideologie entwickeln konnte  und frei von Utopien war.
 Kremnew lächelte mitleidig. Oh, ihr Miljukows und Nowgorodzy, ihr  Kuskower und Makarower, welche Utopie habt ihr denn auf eure Fahnen  geschrieben?! Was, außer obskurer kapitalistischer Reaktion habt ihr  denn als Ersatz für die sozialistische Gesellschaftsordnung  anzubieten?! Ich stimme euch ja zu... wir leben noch lange nicht im  sozialistischen Paradies, doch was wollt ihr an seine Stelle setzen?
 Krachend schlug das Buch Herzens plötzlich von selbst zu, und ein  Stapel dicker Wälzer in Oktav und in Folio fiel vom Regal. Kremnew  zuckte zusammen.
 Im Zimmer roch es beklemmend nach Schwefel. Die Zeiger der großen  Wanduhr begannen sich immer schneller und schneller zu drehen, schon  waren sie in ihrer rasenden Rotation nicht mehr zu erkennen. Rauschend  lösten sich die Blätter des Abreißkalenders von selbst los, flogen  empor und erfüllten den Raum mit herumwirbelndem Papier. Die Wände des  Zimmers erbebten und verzerrten sich in merkwürdiger Weise. Kremnew  schwindelte, und kalter Schweiß trat auf seine Stirn. Er fuhr zusammen,  warf sich in panischem Entsetzen gegen die Tür zum Esszimmer, die wie  ein zerberstender Baum krachend hinter ihm zuschlug. Vergeblich suchte  er den Lichtschalter. Er war nicht mehr an seinem Platz. Während er  sich in der Dunkelheit vorwärts bewegte, stieß er gegen unbekannte  Gegenstände. Ihm schwindelte, und sein Bewusstsein trübte sich, als sei  er seekrank geworden.
 Völlig erschöpft von all den Anstrengungen ließ sich Alexej auf  irgendein Sofa nieder, das vorher niemals hier gestanden hatte, und  fiel in Bewusstlosigkeit.
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