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Alexander W. Tschajanow - Reise meines Bruders Alexej ins Land der bäuerlichen Utopie (1920)
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Zweites Kapitel

das über den Einfluss Herzens auf die entzündete Phantasie eines Sowjetangestellten berichtet.

Nachdem er sich ein dickes Stück Brot, eine gesegnete Gabe der von Gott beschützten Sucharewka, mit Butter bestrichen hatte, goss sich Alexej ein Glas bereits aufgekochten Kaffees ein und ließ sich in seinem Arbeitssessel nieder.
Durch die Scheiben des großen Fensters war die Stadt zu erkennen; unten, im Nebelschleier, erstreckten sich die langen Bänder der Straßenlaternen wie helle milchige Punkte. Irgendwo in den schwarzen Blocks der Häuser schimmerten noch erleuchtete Fenster in dämmrigem gelbem Licht. »So hat es sich also erfüllt«, dachte Alexej und blickte auf das nächtliche Moskau. »Der alte Morris, der wohltätige Thomas, Bellamy, Blatchford und ihr anderen guten, lieben Utopisten. Eure einsamen Träume sind heute allgemeine Überzeugungen, eure großartigen, kühnen Ideen -offizielles Programm und graue Alltäglichkeit! Im vierten Jahr der Revolution darf sich der Sozialismus als uneingeschränkter Herrscher der Welt betrachten. Seid ihr's zufrieden, ihr Pioniere der Utopie?« Und Kremnew betrachtete das Porträt Fouriers, das über einem der Bücherschränke in seiner Bibliothek hing. Doch für ihn selbst, den alten Sozialisten, den einflussreichen Sowjetangestellten und Leiter einer Abteilung im Mirsownarchos, stimmte irgend etwas nicht in dieser Verwirklichung. Er empfand ein unbestimmtes Mitleid mit dem Entschwundenen, ein Gespinst bourgeoiser Psychologie verschleierte noch sein sozialistisches Bewusstsein.
Er ging ein wenig auf und ab über den Teppich seines Arbeitszimmers, sein Blick glitt über die Einbände der Bücher, und für ihn selbst unerwartet, entdeckte er eine Reihe von Bänden auf einem halbvergessenen Bücherbrett. Die Namen Tschernyschewski, Herzen und Plechanow blickten von ledernen Buchrücken solider Einbände auf ihn nieder. Er lächelte, so wie man bei Kindheitserinnerungen lächelt, und nahm einen Band des von Pawlenkow herausgegebenen Herzen vom Regal. Es schlug zwei. Die Uhr surrte gedehnt und verstummte wieder. Gute, edle und kindlich-naive Worte offenbarten sich den Augen Kremnews. Die Lektüre ergriff ihn, bewegte ihn, so wie die Erinnerungen an die erste Jugendliebe, den ersten jugendlichen Schwur einen Menschen bewegen.
Der Verstand befreite sich gleichsam aus der Hypnose der sowjetischen Alltäglichkeit, im Bewusstsein begannen sich neue, keineswegs banale Gedanken zu rühren, es wurde möglich, die Gedanken mit anderen Varianten spielen zu lassen.
Ergriffen überflog Kremnew die längst vergessene, prophetische Seite: »Schwache, mickrige, dumme Generationen«, schrieb Herzen, »werden sich mit Ach und Krach bis zum nächsten Ausbruch, bis zu dieser oder einer anderen Lava hinschleppen, die einen steinernen Schleier über sie decken und der Vergessenheit der Chroniken verfallen wird. Und dann? Dann zieht der Frühling ein, junges Leben erblüht auf ihren Grabhügeln - eine Barbarei der Kindheit voller ungeordneter, aber gesunder Kräfte tritt an die Stelle der greisenhaften Barbarei. Eine frische, wilde Kraft bricht in der Jünglingsbrust junger Völker auf, und es beginnt ein neuer Ring des Geschehens und der dritte Band der Weltgeschichte. Seinen Grundton können wir schon jetzt verstehen. Er gehört den sozialen Ideen an. Der Sozialismus wird sich in allen seinen Phasen bis zu den äußersten Konsequenzen, bis zu Absurditäten entwickeln. Dann wird von neuem aus der titanischen Brust einer revolutionären Minderheit der Schrei der Negation hervorbrechen, und von neuem wird ein Kampf auf Leben und Tod beginnen, in dem der Sozialismus den Platz des heutigen Konservativismus einnehmen und von einer kommenden, uns unbekannten Revolution besiegt werden wird...«
- Ein neuer Aufstand? Wo ist er denn? Und im Namen welcher Ideale? -fuhr es ihm durch den Kopf. - Oh weh, die Schwäche des Liberalismus bestand schon immer darin, dass er keine Ideologie entwickeln konnte und frei von Utopien war.
Kremnew lächelte mitleidig. Oh, ihr Miljukows und Nowgorodzy, ihr Kuskower und Makarower, welche Utopie habt ihr denn auf eure Fahnen geschrieben?! Was, außer obskurer kapitalistischer Reaktion habt ihr denn als Ersatz für die sozialistische Gesellschaftsordnung anzubieten?! Ich stimme euch ja zu... wir leben noch lange nicht im sozialistischen Paradies, doch was wollt ihr an seine Stelle setzen?
Krachend schlug das Buch Herzens plötzlich von selbst zu, und ein Stapel dicker Wälzer in Oktav und in Folio fiel vom Regal. Kremnew zuckte zusammen.
Im Zimmer roch es beklemmend nach Schwefel. Die Zeiger der großen Wanduhr begannen sich immer schneller und schneller zu drehen, schon waren sie in ihrer rasenden Rotation nicht mehr zu erkennen. Rauschend lösten sich die Blätter des Abreißkalenders von selbst los, flogen empor und erfüllten den Raum mit herumwirbelndem Papier. Die Wände des Zimmers erbebten und verzerrten sich in merkwürdiger Weise. Kremnew schwindelte, und kalter Schweiß trat auf seine Stirn. Er fuhr zusammen, warf sich in panischem Entsetzen gegen die Tür zum Esszimmer, die wie ein zerberstender Baum krachend hinter ihm zuschlug. Vergeblich suchte er den Lichtschalter. Er war nicht mehr an seinem Platz. Während er sich in der Dunkelheit vorwärts bewegte, stieß er gegen unbekannte Gegenstände. Ihm schwindelte, und sein Bewusstsein trübte sich, als sei er seekrank geworden.
Völlig erschöpft von all den Anstrengungen ließ sich Alexej auf irgendein Sofa nieder, das vorher niemals hier gestanden hatte, und fiel in Bewusstlosigkeit.

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