Zwölftes Kapitel
in dem erhebliche Verbesserungen in den Moskauer Museen und bei Vergnügungsveranstaltungen beschrieben werden und das mit einer äußerst unangenehmen Überraschung endet.
Am Morgen des folgenden Tages empfand Kremnew eine noch stärkere Abkühlung im Verhalten der Einwohner des Städtchens Belaja Kolp ihm gegenüber. Alexej Alexandrowitsch gab ihm irgendwie ungern eine Erklärung bezüglich des Meteorophorensystems.
Nach seinen Worten war bereits im XIX. Jahrhundert festgestellt worden, dass zwischen den verschiedenen Wetterlagen und dem Strom magnetischer Kraftlinien eine Beziehung bestand. Die schnell vorüberziehenden Zyklone und Antizyklone entsprachen immer einem bestimmten Magnetfeld. Es war nur noch nicht vollständig geklärt, wer in dieser Beziehung das dominierende Moment war: bestimmte das Wetter die Lage des Magnetfeldes, oder wurde das Wetter vom Magnetfeld bestimmt. Eine Analyse bestätigte die zweite Hypothese, und die Einrichtung eines Netzes von 4500 magnetischen Kraftwerken ermöglichte es, die Lage des Magnetfeldes und damit folglich den Zustand des Wetters nach Belieben zu steuern. Minin ging zur Beschreibung eines Meteorophoren über, doch als er feststellte, wie wenig Alexej mit den Gesetzen der Mathematik vertraut war, brach er seine Erläuterungen abrupt ab...
Nach dem Mittagessen empfand Kremnew, wie unerträglich seine Lage geworden war und dass eine Katastrophe herannahte. Daher reagierte er überglücklich, als ihn Paraskewa bat, zum Einkaufen mit ihr nach Moskau zu fahren und dort ein geistliches Konzert der Moskauer Glocken zu hören.
Ein leichtes Aeropil setzte sie gegen drei Uhr auf dem Zentralflughafen ab, und da bis zum Beginn des Konzertes noch eine gute Stunde Zeit war, schlug Paraskewa Alexej vor, Moskauer Museen zu besichtigen, wobei sie erwähnte, dass ihnen heute das zu tun gelungen sei, wovon die große Revolution in Ohnmacht Halt gemacht hatte: alle Schätze des Geistes, die in den Museen gelagert hatten, seien der Museumsroutine entrissen worden. »Sogar das Historische Museum, und jenes dort wurde im Jahre 70 wieder entdeckt!« Das neue Gebäude des Rumjanzew-Museums nahm einen riesigen Hau-
serblock vom Manegeplatz bis hin zu den Snamenki ein, dessen Fassaden dem Alexandrowskipark zugewandt waren. In seinen Zimmerfluchten offenbarten sich Kremnew die wunderbaren Visionen von Sandro Botticelli, Rubens, Velasquez und anderer Koryphäen der alten Kunst, japanische und ihm bisher unbekannte chinesische Emaillearbeiten. Alle diese Gaben fremder Länder waren, wie ihm Paraskewa erklärte, gegen Nowgoroder und Ssusdaler Ikonen bei Museen des Westens und denen östlicher Länder eingetauscht worden. Eine Fülle von Sälen durcheilte Alexej in flüchtiger Besichtigung, im Saal der historischen Andenken verweilte er, ohne es eigentlich zu wollen, etwas länger. Das Zimmer Puschkins, aus dem die Seele des großen Dichters deutlicher zu Alexej sprach als alle Bücher, die er einstmals über ihn gelesen hatte, hielt ihn gefangen. Hier sah er das Uschakow-Album, Blätter mit Albumgedichten, die Porträts der Menschen, die ihm nahe gestanden hatten, das Häuschen der Naschtschokins und Hunderte anderer Zeugnisse eines bedeutenden Lebens. Die Säle aus der Epoche der großen Revolution, in denen bekannte, im Laufe der Zeit reichlich verstaubte Gesichter und Gegenstände ihn ausgesprochen herausfordernd anblickten, bedrückten ihn. Länger durfte man jedoch nicht mehr verweilen. In einer halben Stunde sollte der erste Glockenschlag ertönen.
Als sie auf die Straße hinaustraten, waren die Plätze und Parks und die Gärten entlang des Moskwaufers voller Menschen. Alexej fiel ein Programm in die Hände. Er las darin, dass die Alexander-Smagin-Gesellschaft die Bauern des Moskauer Bezirks zum Erntedankfest einlud, folgendem Programm Gehör zu schenken, das auf den Kremlglocken in Gemeinschaft mit den Glocken anderer Moskauer Kirchen gespielt werden sollte.
Programm
1. Rostower Klänge des XVI. Jahrhunderts
2. Die Liturgie Rachmaninows
3. Das Akimow-Geläut (1731)
4. Das Glockenspiel von Borissjak
5. Das Jegorjew-Glockengeläut mit dem Osterläuten auf allen Glocken
6. Der »Prometheus« von Skrjabin
7. Moskauer Klänge
Eine Minute später hob der volle Schlag der Polijelej-Glocke zu läuten an und erschallte weithin über ganz Moskau. Ihr antworteten mit tiefem Bass die Kadaschi, das Großkreuz Nikola, das Satschatjew-Kloster, und das Rostower Glockengeläut erfüllte ganz Moskau. Die kupfernen Klänge, die aus der Höhe auf die Köpfe der verstummten Menschenmenge herabsanken, glichen dem Flügelschlag eines geheimnisvollen Vogels. Die Elementargewalt der Rostower Klänge stieg, nachdem sie ihren Kreis vollendet hatte, langsam zu den Wolken empor, während die Kremlglocken bereits die strengen Etüden der Rachmaninowschen Liturgie anklingen ließen.
Alexej, erschüttert und überwältigt von diesem höchsten Fest der Kunst, fühlte, dass ihn jemand an der Schulter berührte. Er wandte sich um und entdeckte Katharina, die ihn mit geheimnisvollem Mienenspiel aufforderte, ihr zu folgen... Er wollte ihr etwas sagen, doch die Worte gingen ungehört im Klang der Glocken unter. Eine Minute später betraten sie die Säle des gigantischen Restaurants »Julia und der Elefant«, dessen Räumlichkeiten Schutz vor dem Glockengeläut boten.
»Ich weiß nicht, wer Sie sind«, flüsterte die aufgeregte Katharina, »ich weiß nur, dass Sie nicht Charlie Man sein können.« Und sie erzählte in großer Aufregung und in der Rede sich überschlagend, dass seine schlechte englische, dafür aber reine russische Aussprache, Details seiner Kleidung und seine Unkenntnis in der Mathematik in ihrer Familie bereits am ersten Tag ein Misstrauen erweckt hatten, das sich ständig verstärkte; dass man ihn mit Bestimmtheit für einen Antroposophen halte, der ein deutsches Abenteuer vorbereite; dass ihm die Verhaftung, ja vielleicht sogar noch Schlimmeres drohe; dass sie an diese Verleumdung nicht glaube; dass sie ihn in den vergangenen zwei Tagen kennen- und liebenge-
lernt habe; dass er ein ungewöhnlich mitreißender und schöner Mensch -wie ein Wolf - sei und dass sie ihn gesucht habe, um ihn zu warnen, und ihn anflehe, zu fliehen; dass sie fürchte, die richterliche Gewalt auf seine Fährte zu bringen, die jetzt Deutsche und Antroposophen inhaftiere; dass der Krieg jeden Augenblick erklärt werden könne, und so unerwartet, wie sie ihn auf die Stirn küsste, verschwand sie wieder.
Kremnew, der in zaristischer Zeit jahrelang im russischen Untergrund gelebt hatte, war dennoch aus der Fassung gebracht und fühlte sich wie gelähmt angesichts der Aussichtslosigkeit seiner Lage. Er fuhr auf, als er den durchdringenden und argwöhnischen Blick der Kellner auf sich gerichtet sah.
Schnell verließ er das Restaurant und ging auf den Platz hinaus. Die Glocken hatten bereits aufgehört, den Himmel erzittern zu lassen, und in Unruhe gingen die Menschen auseinander. Zeitungsverkäufer warfen mit Blättchen um sich. »Krieg, Krieg«, war von allen Seiten zu hören. Kremnew war noch keine zehn Schritte gegangen, als sich eine schwere Hand auf seine Schulter legte und er eine Stimme hörte: »Halt, Genosse, Sie sind verhaftet!« |
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