Dieses Buch ist kein Schlüsselroman. Die Figur des Richters Friedrich Wilhelm Dickmann ist jedoch nur insoweit Phantasieprodukt, als zu ihr kein bestimmter deutscher Richter Modell gestanden hat. Dagegen sind sämtliche Rechtsfälle, Gerichtsverhandlungen, Urteile und Ereignisse, die hier beleuchtet werden, als Tatsachen aus den Jahren 1920—1931 belegbar. Auf Tatsachen beruhen auch sämtliche Schilderungen des inneren Betriebs der deutschen Rechtspflege. Es liegt in der Geschichte der deutschen Republik begründet, dass diese Tatsachen dem Leser zuweilen unglaubhaft erscheinen mögen. Daher bittet der Autor den Leser, sich über den Verlag an ihn zu wenden, wenn irgendwelche Zweifel an dem dokumentarischen Charakter dieser oder jener Darstellung in dem Roman auftauchen sollten. Alle derartigen Anfragen werden beantwortet durch Offenlegung des Tatsachenmaterials, auf das sich die fraglichen Stellen stützen.
ÜBER DEN WERT DES DENKENS
Eine Gestalt mittlerer Größe. Die Gesichtsfarbe frisch. Die blauen Augen blicken ruhig über zwei runde Backen in eine Welt ohne Rätsel. Die Haut des Nackens wirft zwei wulstige Falten über dem Kragen: das ist Dickmann, Friedrich Wilhelm mit Vornamen, Landgerichtsrat und Doktor der Rechte, verheiratet und Vater von zwei Kindern.
Muss man mehr von dem Landgerichtsrat Dickmann wissen? Hat es Zweck, in sein kleines Leben hineinzuleuchten? Man könnte noch feststellen, dass ihm das Bier schmeckt, und dass er leise keucht, wenn er die zwei Treppen zu seiner Wohnung hinaufgestiegen ist, die in einem Neubau des Berliner Westens liegt. Sein Herz ist nämlich nicht ganz in Ordnung. Ins Theater geht Landgerichtsrat Dickmann selten, öfter dagegen in ein Konzert. Bachsche Oratorien kann er nicht hören, weil er schon bei dem zweiten Choral mit den Tränen kämpft. Sein Lieblingsgericht ist Kalbsnierenbraten. Von Weinen bevorzugt er Burgunder, Beaujolais, Zimmertemperatur.
Seine politischen Ansichten sind die eines guten Staatsbürgers, der an den schlechten Zeiten missvergnügten Anteil nimmt, und der doch aufgeklärt genug ist, hin und wieder nach den tieferen Ursachen zu fragen, die diesem oder jenem unerfreulichen Geschehen zugrunde liegen mögen. Seine Kollegen halten ihn für einen netten Menschen. Bei seinen Vorgesetzten ist er beliebt, weil er soziale Gesinnung, menschlichen Takt und vollendete
Höflichkeit mit fröhlicher Unbefangenheit und der Haltung eines ehemaligen Kavallerieoffiziers zu verbinden weiß. Trotz seinen jungen Jahren hat er Aussicht, demnächst Landgerichtsdirektor zu werden. Sein verstorbener Vater war es auch schon.
So sieht der Mann aus, der jeden Morgen ins Berliner Kriminalgericht geht, um dort einer kleinen Strafkammer vorzusitzen. Kürzlich ist ihm zum ersten Male der Vorsitz in einem großen Schöffengericht übertragen worden, und man findet allgemein, dass er seine Sache gut macht.
Selbst sein bester Freund oder seine Gattin — Annemarie, geborene Franke, Tochter des Senatspräsidenten Franke — kämen in Verlegenheit, sollten sie mehr als dies über Wesen und Art des Landgerichtsrats Doktor Friedrich Wilhelm Dickmann aussagen. Eindringlicheres Fragen würde vielleicht noch die Tatsache ans Licht bringen, dass Dickmann in seinem Leben niemals Hunger gelitten hat, und dass er nicht viel davon hält, über Dinge nachzudenken, die doch nicht zu ändern sind. Und in diesem Punkt hat er seine Erfahrungen, die er scheu vor aller Welt verheimlicht, und die nachgerade in Vergessenheit zu geraten beginnen. Dickmann denkt immer seltener an das, was er „die dumme Sache von damals" nennt, und er tut gut daran. Denn über den Wert des Denkens gibt es doch eigentlich nur eine einzige Meinung, und das ist die, dass nicht viel dabei herauskommt.
Dass Dickmann Strafrichter ist, hat mit seiner Ansicht über den Wert des Denkens nichts zu tun. Man weiß ja, wie Menschen zu ihren Berufen kommen. Dickmann selbst erzählt es gern, dass Bismarck nur deswegen Staatsmann geworden sei, weil er sich als Referendar nicht mit seinem Amtsrichter vertragen konnte. Alles Zufallssache. Hätte Deutschland zum Beispiel nicht den
Weltkrieg verloren, dann wäre Friedrich Wilhelm Dickmann jetzt Rittmeister im Dragonerregiment Kaiser. Oder vielleicht auch schon Major. Ein Dickmann kommt überall weiter.
Die dumme Sache von damals? Du lieber Gott, das ist nun schon so lange her. Kleiner Unglücksfall, kann jedem mal passieren. Das darf man nicht überwerten. Dickmann tut's ja auch nicht. Dickmann legt das Recht aus. Er ist ein schlichter Diener am Gesetz der deutschen Republik, die solchem Diener der Gerechtigkeit sechshundert Mark Monatsgehalt zahlt, vorausgesetzt, dass er Landgerichtsrat ist und so und so viele Dienstjahre hinter sich hat. Die Notverordnung hat da erhebliche Abzüge gebracht, und will man Landgerichtsrat Dickmann schimpfen hören, dann muss man das Gespräch auf die Notverordnung bringen. Da schimpft er sogar dann, wenn er die Robe anhat, denn er ist ja der Ansicht, die Notverordnung sei eine unmittelbare Folge des Versailler Diktats, unter dem das ganze deutsche Volk so namenlos leidet. Vom Herrn Reichspräsidenten angefangen bis zum letzten Arbeitslosen. Volksgemeinschaft! Von der Not der Arbeitslosen weiß Dickmann mehr als mancher, der sie dauernd im Munde führt. Von zehn Angeklagten, die vor seinem Richtertisch stehen, sind mindestens acht arbeitslos und haben ihre Tat in einer offenbaren Notlage begangen. Das schützt sie natürlich nicht vor der Strafe. Wenn es Dickmann auch manchmal wirklich leid tut, so einen armen Kerl verurteilen zu müssen, — er ist ja nicht allmächtig: über ihm steht das Gesetz, das Sühne verlangt, und an dem nicht gedreht noch gedeutelt werden darf. Ob das Gesetz gut ist oder schlecht, — Dickmann kann es nicht ändern, und es kommt nicht viel dabei heraus, wenn man über Dinge nachdenkt, an denen nichts zu ändern ist...
So nimmt er es zur Kenntnis, dass der unbestrafte Motorenschlosser May zur Zeit der Begehung der Tat arbeitslos war. Das kann einem leid tun, aber das entschuldigt gar nichts. Am allerwenigsten das Verbrechen des Landfriedensbruchs.
„Hunger haben Sie gehabt?" fragt Landgerichtsrat Dickmann den Angeklagten. „Bekommen Sie denn keine Arbeitslosenunterstützung?" Der Angeklagte schüttelt den Kopf, und das überrascht den Richter gar nicht. Denn er weiß, dass die Notverordnung viele Arbeitslose um ihre Unterstützung gebracht hat.
Darum fragt er ruhig weiter: „Wohlfahrtsunterstützung?"
Der Angeklagte schüttelt den Kopf: „Meine Ansprüche werden gerade geprüft."
Davon kann man allerdings nicht satt werden, denkt Dickmann und weiß jetzt, dass der Arbeitslose hungrig war, als er die Wurst an sich nahm. Bitte, das steht fest: der Angeklagte ist im Besitze einer Wurst betroffen worden, unmittelbar, nachdem mehrere junge Burschen die Schaufensterscheibe eines Lebensmittelgeschäfts eingeschlagen hatten. Die Wurst hat im Rinnstein gelegen, als der Angeklagte sie aufhob? Dickmann lächelt nachsichtig: faule Ausrede. Das Schöffengericht unter dem Vorsitz des Landgerichtsrats Dickmann verurteilt den arbeitslosen Motorenschlosser Ernst May zu sieben Monaten Gefängnis wegen Landfriedensbruchs.
Sieben Monate Gefängnis, weil ein Mensch Hunger gehabt hat? Sieben Monate Gefängnis wegen einer Wurst? Nein, nicht wegen einer Wurst, sondern wegen Landfriedensbruchs, das ist ein Unterschied. Wenn heute die Hungernden zur Selbsthilfe schreiten und Lebensmittelgeschäfte plündern, dann ist die öffentliche Ordnung und die Staatsautorität in höchster Gefahr. Es soll doch dem Landgerichtsrat Dickmann niemand einreden wollen, ein hungernder Mensch müsse heute plündern, um satt zu werden. Wenn der Angeklagte wirklich Hunger gehabt hat, warum bettelte er dann nicht? Haiti Nein, es ist niemand da, der den Landgerichtsrat Dickmann darauf aufmerksam macht, dass ja auch Betteln nach geltendem deutschen Recht eine strafbare Handlung ist, dass Betteln mit Haft bis zu sechs Wochen und nachfolgender Überweisung in ein Arbeitshaus bestraft werden kann. Es ist niemand da, der feststellte, dass in einem Berliner Gerichtssaal ein deutscher Richter einem Hungernden keinen besseren Rat geben konnte, als den, eine strafbare Handlung zu begehen...
Und so darf der Vorsitzende des großen Schöffengerichts unbekümmert mit harten Worten die asoziale Gesinnung eines hungrigen Menschen anprangern und schmähen, der eine Wurst von der Straße aufgehoben hat, die ihm nicht gehörte. Er darf es. Er muss es sogar, denn wie sollte er sonst ein Urteil fällen?
Dickmann hält nicht viel davon, über Dinge nachzudenken, die doch nicht zu ändern sind. Es kommt nicht viel dabei heraus. Wer ist denn der Landgerichtsrat Doktor Dickmann, dass er sich den Luxus des Denkens leisten könnte? Ein schlichter Diener am Recht, eine Gestalt mittlerer Größe. Kein Christus, der das Leid der ganzen Welt auf seine schwachen Schultern nähme. Übrigens, das Leid der Welt ist eine irreale Größe, mit der der Jurist Dickmann nichts anzufangen weiß. Er kennt im Dienst nur eine Fülle von strafrechtlichen Tatbeständen, die sauber unter einen oder mehrere Paragraphen des geltenden Rechts zu subsumieren sind. Das ist alles. Im Privatleben — das unbedingt von seiner Funktion als Diener der Gerechtigkeit zu trennen ist!
— kultiviert Dickmann zwar einige Überzeugungen allgemeineren Charakters, die in ihrer Gesamtheit das ausmachen, was er seine Weltanschauung nennt. Aber das ist unwichtig: den Landgerichtsrat fragt niemand nach seiner Weltanschauung.
Also wäre es unbillig, von ihm zu verlangen, Gefühle und Einsichten seines privaten Ichs bei seiner Funktion als Richter der deutschen Republik zu berücksichtigen. Ganz abgesehen davon hat der Landgerichtsrat auch in seinem Privatleben noch niemals Veranlassung gehabt, sich über die biologische Erscheinung des Hungers besondere Gedanken zu machen. Er kennt ihn nur als Synonym für Appetit. Daran kann der Fall des arbeitslosen Motorenschlossers ebenso wenig etwas ändern wie der Überfall auf den Geldbriefträger, der Gott sei Dank noch glimpflich abgegangen ist: der Geldbriefträger hat nur eine leichte Kopfverletzung davongetragen, die ihn nicht hindern konnte, nach dem kleinen Zwischenfall seinen Bestellgang fortzusetzen. Die Leidtragenden dieses plumpen Raubüberfalls sind die verletzte Staatsautorität und der arbeitslose Gelegenheitsarbeiter Hermann Schneider. Der Postfiskus ist nicht geschädigt worden.
Die Kriminalbeamten, die den Räuber Schneider bereits zwei Stunden nach seiner Tat in einer Herberge im Nordosten Berlins verhaften konnten, wussten sich keinen anderen Rat, als ihrem Häftling ihre eigenen Frühstücksbrote zu geben; er verschlang sie gierig. „Was hatten Sie denn am Tag vor dem Überfall gegessen?" fragt Landgerichtsrat Dickmann den Angeklagten.
„Nichts, Herr Vorsitzender." „Und am Tage vorher?" „Eine trockene Schrippe."
Also Hunger. Wieder einmal der Hunger, der einen Menschen straffällig werden ließ. Das entschuldigt natürlich nichts: „Aber wenn man Hunger hat, schlägt man doch nicht einen Geldbriefträger nieder!" entrüstet sich Dickmann.
Der arbeitslose Gelegenheitsarbeiter Hermann Schneider kann darauf nichts antworten. Der Vorwurf des Richters ist unbedingt berechtigt. Wenn man Hunger hat, isst man. Und wenn man nichts zu essen hat? „Wenn Sie Hunger hatten, warum haben Sie dann nicht gebettelt?"
Der Angeklagte hebt erstaunt den Kopf: „Ich bin schon einmal wegen Betteins zu vier Wochen Haft verurteilt."
Dickmann runzelt unwillig die Augenbrauen. Er hat im Augenblick nicht daran gedacht, dass man nicht betteln darf. „Wann war das?" fragt er den Angeklagten grob. „Im Jahre 1931."
„Ich möchte doch mal den Berliner Bürger sehen, der einen hungrigen Bettler von seiner Türe schickt, ohne ihm etwas zu essen zu geben!" Nein, Dickmann denkt nicht mehr daran, dass er vorgestern einen Bettler von seiner Türe fortgehen ließ, ohne ihm etwas zu geben. Es kommen ja jetzt so viele Bettler, und Dickmanns hatten kein Kleingeld im Hause. Man kann doch auch nicht jedem Bettler fünfzig Pfennige schenken! Zwei Jahre Gefängnis wegen versuchten schweren Raubes! Erstens müssen die Geldbriefträger bei Ausübung ihres schweren Berufs geschützt werden. Zweitens muss die Staatsautorität aufrechterhalten werden. Drittens, — ja was noch? „Man kann es ja verstehen, wenn ein hungriger Mensch vielleicht ein Brot oder sonst etwas zu Essen stiehlt, aber ein derartiger Raubüberfall zeugt von einer so verwerflichen Gesinnung, dass eine empfindliche Strafe am Platze schien... " Nein, es ist niemand da, der den Landgerichtsrat Doktor Dickmann darauf aufmerksam machte, dass er kürzlich trotz allem menschlichen Verständnis einen Hungernden zu sieben Monaten Gefängnis verurteilt hat, weil er etwas zu Essen gestohlen hatte. Sieben Monate Gefängnis wegen einer Wurst, das heißt, wegen Landfriedensbruchs.
Dickmann hält nicht viel vom Denken. Es hat nicht viel Zweck, über Dinge nachzudenken, die doch nicht zu ändern sind. Hätte er bei der Urteilsbegründung nachgedacht, wäre er vielleicht zu dem Schluss gekommen, dass nicht nur die Geldbriefträger bei der Ausübung ihres schweren Berufs geschützt werden müssten, sondern dass ein Kulturstaat die Verpflichtung hätte, seinen hungernden Bürgern zu essen zu geben. Aber wo steht das im Gesetz der deutschen Republik? Nur in der Reichsverfassung. Also ist es unbillig, von Dickmann etwas anderes zu erwarten, als ein hartes Urteil für den Gelegenheitsarbeiter Hermann Schneider, der den Geldbriefträger überfallen hat. Unbillig die Zumutung, darüber nachzudenken, warum ein Mensch, der leben will, der nichts will, als nicht sterben, sich so rettungslos im Netz der Strafrechtsparagraphen eines Kulturstaates verstricken muss: Betteln, Landfriedensbruch, versuchter schwerer Raub...
Ist Dickmann etwa schuld an der Arbeitslosigkeit? Soll er etwa darüber nachdenken, dass das Unglück in Deutschland Verbrechen heißt?
Dickmann zieht seine Robe aus, geht zum Bahnhof Bellevue, besteigt einen Stadtbahnzug und fährt nach Hause. Er küsst seine Frau flüchtig auf die Stirn, wundert sich, dass die Telefonrechnung wieder so hoch ist, — vielleicht telefoniert das Dienstmädchen heimlich? Er lässt seinen kleinen Jungen an seinen Beinen hochklettern und isst dann Abendbrot. Es gibt frische Blutwurst mit Stampfkartoffeln und Sauerkraut. Dann gähnt Dickmann verstohlen, lockert den Hosengurt und hilft seiner
Frau, die Kinder ins Bett zu bringen.
Wilhelm darf noch einmal mit ihm „Hoppe, hoppe
Reiter" spielen. Und dann müssen die Kinder mit
Frau Landgerichtsrat beten. „Ich bin klein, mein
Herz ist rein, soll niemand drin wohnen, als Jesus
allein."
Dickmann steht im Türrahmen zum Kinderzimmer. Um seine Lippen spielt ein gerührtes Lächeln. Er möchte seiner Frau über das Haar streichen, aber er tut es nicht.
Na ja, und dann sitzt Dickmann mit seiner Frau im Wohnzimmer. Sie addiert die Rabattbons des Kolonialwarengeschäfts. Er liest Zeitung. Draußen regnet es. Die gelbverhangene Stehlampe spiegelt sich in der blanken Politur des Tisches.
Nichts Besonderes in der Zeitung. Der ehemalige Präsident des Reichsgerichts, Dr. Simons, hat auf dem evangelischen Kirchentag eine Rede gehalten über die Mitarbeit des evangelischen Kirchenausschusses bei der Vorbereitung des neuen Strafgesetzbuchs. Dr. Simons sieht die Strafrechtspflege mit Bedauern mehr und mehr in materialistisches Fahrwasser abgleiten. Die religiöse Grundlage des Strafrechts könne so leicht in Vergessenheit geraten. Der Mensch braucht einen gnädigen Gott, aber einen strengen Richter, meint Dr. Simons, der Mann, den die deutsche Republik auf den Posten des höchsten deutschen Richters berufen hatte. Dickmann gähnt leise.
Der 4. Strafsenat des Reichsgerichts verurteilte am 25. Mai 1931 den Tischler Max Feldmann aus Mainz wegen militärischen Verrats zu fünf Jahren Festungshaft unter Zubilligung mildernder Umstände. „Feldmann war während des Krieges als ehemaliger Angehöriger der Fremdenlegion in Frankreich interniert und hatte sich im September 1918 erneut zu fünfjähriger Dienstleistung in der Fremdenlegion verpflichtet. Der Strafsenat nahm an, dass er damals zermürbt gewesen sei." Dickmann blättert weiter.
Wissenschaftliche Beilage. „Die Irrlehre des historischen Materialismus." Halt, das muss er sich aufheben. Er muss den Artikel mal lesen. Staatsanwalt Spann und Amtsgerichtsrat Wehner haben sich neulich in seinem Beisein über historischen Materialismus und über den Marxismus unterhalten. Kein Wort hat er verstanden, er hat sich nur tief verwundert, einen Staatsanwalt und einen Amstgerichtsrat so sachkundig über so absurde Dinge sprechen zu hören. Eine merkwürdige Zeit, in der man lebt!
„Der deutsche evangelische Kirchentag billigt die rechtlichen und sittlichen Grundgedanken, die den Ausschuss bei einer sorgfältigen und nicht ergebnislosen Mitarbeit bei der Reform der Strafgesetzgebung geleitet haben und fordert ihn auf, weiterhin in dieser Richtung tätig zu sein. Insbesondere möge er immer wieder mit allem Nachdruck dahin wirken, dass in der Strafrechtspflege, die es an Ernst und Strenge fehlen lässt, der Ernst der Strafe als Strafe gewahrt werde..." Das Zeitungspapier knirscht: Dickmann hat das Blatt unwillig beiseite gelegt. Er will nicht mehr. Man soll ihn wirklich in Ruhe lassen. Er tut seine Pflicht, mehr kann er nicht. Aber die wenigen Stunden, die ihm noch am Tage bleiben... Er steht auf und stellt den Lautsprecher an. Ein dicker Kloß Musik quillt aus dem schwarzen Trichter, eine näselnde Stimme füllt den Raum mit quäkendem Geräusch: „Yes, Sir, that's my baby. I wonder, where my baby is to night... " Ein heulendes Kreischen: Dickmann dreht wütend an der Sperrscheibe: „Immer dieser verfluchte Negermist!" schimpft er grob.
Seine Frau hebt erstaunt die weißlich-blonden Augenbrauen und verzieht schmerzlich das Gesicht. „Oh!"sagt sie und legt vor diesem Fluch die Handmuschel schützend und ausdrucksvoll vor ein Ohr. Das ist nun das Leben, ja? Dickmann bedankt sich dafür. Er bedankt sich bestens dafür, verstehen Sie? Er hat keine Lust mehr. Um sich zu beruhigen, setzt er sich an das Klavier und schlägt dröhnend in die Tasten: Pariser Einzugsmarsch, Finnländischer Reitermarsch. Die Töne brausen, und Dickmann singt zu seinem Spiel: „Raram tata ram tata ram tatatata . . ." Dabei wird ihm wohler. Ist ja auch alles halb so wild. Ernst der Strafe als Strafe? Soll er vielleicht darüber grübeln, ob in der Tat die deutsche Strafrechtspflege es an Ernst und Strenge fehlen lässt? Er denkt gar nicht daran. Er hält nicht viel davon, über solche Dinge nachzudenken. Früher einmal, ja. Aber heute ist er über solche Kindereien hinaus. Zweifel und Bedrückungen gibt es nicht mehr, schlimm genug, dass es sie je gegeben hat. Gelegentliche schlechte Laune kann man erfolgreich bekämpfen mit erprobten Formeln: „Strafe muss sein." Oder „Kunstfehler kommen überall vor". Und in besonders schwierigen Situationen hilft die empörte rhetorische Frage: „Wo kämen wir denn sonst hin!"
Der Kopf Friedrich Mehnerts rollte in den Sand... Strafe muss sein. Der arbeitslose Kriegsinvalide Adam Kazmierziak vegetiert im Arbeitshaus... Wo kämen wir denn sonst hin! In deutschen Gefängnissen sitzen jahraus jahrein, Tag für Tag fünfundvierzigtausend Menschen, die Bevölkerung einer größeren Mittelstadt . . . Strafe muss sein.
Die Ehefrau Ebersberger wurde vom Volksgericht Regensburg zum Tode verurteilt, zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigt und im Wiederaufnahmeverfahren wegen erwiesener Unschuld freigesprochen. Der Maurer Leister in Eisenach, der Hilfsgendarm Dujardin in Insterburg, Frau Anna Reinke in Greifswald, der Mechaniker Goetz in Augsburg, der Arbeiter Jakubowski in Neustrelitz. In sechs Jahren wurden von deutschen Gerichten sechs Unschuldige zum Tode verurteilt. Fünfmal ließ sich der kleine Schaden noch reparieren, doch Jakubowski ist tot ... „Kunstfehler kommen überall vor." Dickmann weiß, was er tut. Er wendet das Gesetz an und hat nicht danach zu fragen, ob es gut sei oder schlecht. Hauptsache, dass man ein anständiger Mensch ist...
Im Badezimmer rauscht Wasser. Frau Landgerichtsrat Dickmann rüstet sich zum Schlafengehen. Dickmann steht im Wohnzimmer und denkt an andere Frauen, an Lenchen Flöter, an Genia, an Frau von Norden. Dann reckt er sich in den Hüften. Weg damit! Das waren einfach Schweinereien! Da drüben schlafen seine beiden Kinder. Die Ehe ist kein Vergnügen, sie ist eine Pflicht, die ein deutscher Mann zu erfüllen hat, ernst und entschlossen. Hoffentlich kommt in dieser Nacht der seltsame Traum nicht wieder, vor dem Dickmann Angst hat. Es ist ein ganz merkwürdiger Traum, der nie zu Ende geträumt wird, der keine Lösung bringt und nicht in einer immerhin tröstlichen Katastrophe endet: Dickmann geht allein über ein weites Feld. So dicht ist der Nebel, dass er nicht drei Schritte weit sehen kann. Unter den Füßen knistert es geheimnisvoll, als sei das weite Feld die ungeheure Fläche eines zugefrorenen Sees. Dickmann fühlt den kalten Angstschweiß auf Rücken und Stirn und zugleich den Zwang, lustig zu sein, unbekümmert, und sich keine Gedanken darüber zu machen, wo dieser Weg enden wird, und ob er überhaupt je ein Ende hat. Der Nebel steht wie eine Wand, der Fuß schleift schwer auf unheimlichem Grund, und der Wanderer geht und geht... Dann wacht Dickmann auf, erinnert sich mühselig an den wüsten Traum und friert in dem heißen Gefühl unmittelbar drohender Gefahr. Hoffentlich bleibt er in dieser Nacht von dem Traum verschont.
In dieser Nacht, da fünfundvierzigtausend Menschen in deutschen Gefängnissen sitzen. Fünfundvierzig tausend. Wie viele sind es, die nicht schlafen können? Sie lauschen auf den hallenden Schritt der Gefangenenwärter in den endlosen Korridoren. Sie stieren mit brennenden Augen auf den milchigen Nebel jenseits des Zellenfensters, denn die Nacht im Gefängnis ist hell und hart wie der Tag. Ihre Gedanken verirren sich auf dem Schachbrett, das die Gitterstäbe höhnisch aus dem Himmel schneiden. Drei Stäbe quer, sieben Stäbe hoch.
Fünfundvierzig tausend.
Dickmann wird schon schlafen, er wird ausgezeichnet schlafen wie immer, wenn er nicht jenen Traum träumt. Schlafen wird er in dieser Nacht, wo dreitausend politische Verbrecher in deutschen Zuchthäusern sitzen. Denen schien das Bestehende nicht wert und würdig, geschützt zu werden. Sie glauben an die Zukunft und haben ihr zum Durchbruch verhelfen wollen.
Dreitausend Menschen, vor deren verbrecherischem Willen man die Gesellschaft schützen muss. Vielleicht können in dieser Nacht ein paar hundert Frauen nicht schlafen, weil sie die stumpfen Augen ihrer Kinder vor sich sehen, denen der Ernährer fehlt. Vielleicht stöhnen sie gequält vor sich hin, weinen einen Männernamen. Fünfundvierzigtausend.
Vielleicht schreit jetzt ein gefangener Mensch auf in irrer Qual...
Dickmann will schlafen gehen. Dickmann pfeift leise vor sich hin. Dickmann schläft ausgezeichnet.
Es hat keinen Wert, nachzudenken über Dinge, an denen doch nichts zu ändern ist.
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