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Anna Seghers - Die Gefährten (1932)
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Siebtes Kapitel

Nachdem Böhm mit zugesehen hatte, wie Bató ungeschickt auf den Autobus gestiegen war, ging er langsam die Straße zurück. Aber dann kehrte er wieder um nach der Haltestelle. Denn er hatte plötzlich gar keine Lust, den Abend in dieser Straße zu verbringen, sondern er hatte Lust, in derselben Sprache weiterzusprechen, die er eben mit Bató gesprochen hatte, und vor allem hatte er Lust, Faludi wieder zu sehen, wenn er wirklich in dieser Stadt war. Er fuhr also sofort nach dem Westen, Kleiststraße. Er suchte die Zimmernummer, hörte schon von außen Radau. Ein ungeheures Freudengeschrei begrüßte ihn. Böhm war ganz betäubt. Eine Unmenge Gesichter wimmelte um ihn her, die er alle mehr oder weniger kannte und irgendwo einmal vor Jahren getroffen hatte. Da war Margit mit ihrem unverändert kalten, grauen Gesicht, und Mischka, ihr Mann, klein und zappelig, ein bisschen eingeschrumpft, der existierte ja wirklich auch noch, an den hatte er jahrelang nicht gedacht. Hajnal sah noch ebenso erbost aus wie früher (was hat er denn gegen mich; ich glaube, wir haben mal vor sechs Jahren einen Krach gehabt; aber ich kann mich um keinen Preis mehr erinnern). Agnes, noch immer schön, zu faul, um aufzustehen, lag auf dem Sofa, winkte ihm nur mit der Hand und lachte. Alle waren ein bisschen verdrückt, die ein bisschen dicker, die andren ein bisschen dünner, als wären sie alle zusammen in diesem Zimmer wie in einer Schublade aufbewahrt gewesen, kämen aber bald wieder in Ordnung. Ganz gefährlich bekannt kam Böhm einer vor, der ihn fortwährend an den Ellbogen gepackt hielt und rechts und links abküsste - ein stämmiger, dicker Mann mit lustigem fettem Gesicht. Böhm fiel es ein, dass das Faludi war, er erschrak, lachte aber und küsste gleichfalls. „Wie ich mich mit dir freue", sagte Faludi. „Setz dich und iss." Er zog ihn an den Tisch, an dem die übrigen bereits gegessen hatten, der aber noch voll war mit Resten von allen möglichen guten Speisen, wie sie Böhm zum letzten Mal bei seiner Mutter gegessen hatte. „Da sind noch Pogatschen übrig", sagte Faludi. „Ich habe sie extra bei Weisz bestellt." Böhm zerdrückte mit der Zunge die Gansfettklümpchen gegen den Gaumen und sah sich um. Im ganzen Zimmer, über Stuhllehnen und Betten waren Mützen und Hüte und Mäntel verstreut; zwischen den Fenstern hing eine kleine Landschaft von Tibor; Böhm dachte nach, da zwei Betten da waren, wer wohl von den anwesenden Frauen zu Faludi gehörte, dann fiel es ihm ein, dass es wohl Agnes sein musste, die mit hochgezogenen Beinen in einem gestickten Hauskittel dalag. Mit der war Faludi mal in Wien zusammen gewesen und aus irgendeinem Grund hängengeblieben. An der Wand, über dem Tisch, hing eine Photographie von Lenin, hinter dem Schreibtisch, ein Lächeln in den Augen, mit der gleichmütig belustigten Miene eines Menschen, der schon auf unzähligen Tapeten und Wänden geduldig gehangen hat.
„Ich habe schon von dir gehört", fing Faludi an, „wie du dich gut hier eingearbeitet hast."
„Ja, ich habe mich gut eingelebt und gut eingearbeitet."
Faludi betrachtete Böhm lächelnd, füllte seinen Teller nach. „Das bewunderte ich noch extra an dir, dass du das Essen aushältst, bei deiner Familie, bei deinen Deutschen."
Hajnal erzählte: „Um Gottes willen. Im Jahre 20 wohnte ich mal zwei Monate in Neukölln, bei Deutschen, durfte mich nicht auf der Straße zeigen. Es gab dort solche furchtbaren, in Öl gebackenen Pfannkuchen, es schüttelt mich noch heute. Mein einziges Glück war das Hundchen. Das stopfte ich immer unter dem Tisch voll."
Faludi legte den Arm um Böhm. „Erinnerst du dich noch, wie wir zu zweit, du und ich, von der Front kamen? Erinnerst du dich noch, wie unsre Leute quer durch das Lager marschierten, wo alles Verwirrung und Verzweiflung war? Erinnerst du dich, wie wir über die Felder flohen; wir hatten Bauernkleider an, und eine alte Frau saß da und sagte: ,Ach, ihr Lieben, wie gut habt ihr euch herausgemacht, niemand sieht euch an, dass ihr verkleidete Rotarmisten seid.' "
Ja, er erinnerte sich; wie sollte er sich nicht erinnern?
„Was ist aus dem kleinen Pali geworden?"
„Weiß nicht, habe ihn ganz aus den Augen verloren. Er ist damals nach Italien gegangen."
Faludi kam in Fluss und erzählte unaufhörlich. Wozu erzählt er soviel? dachte Böhm gequält, wie ein Korporal Kriegsabenteuer erzählt, daheim in einer Kneipe. „Komm mal zu mir", unterbrach ihn Agnes, die das alles schon hundertmal gehört hatte. „Ich muss dich mal am Haar ziehen."
Böhm setzte sich herüber, während Faludi seinen Gästen weitererzählte.
„Erinnerst du dich an die Baracke", fing Agnes an, „erinnerst du dich an Erwin, wie er von außen eine Leiter an sein Fenster stellte, um in sein Zimmer zu kommen, ohne an allen vorbei zu müssen." - „An Erwin ja, aber die Leiter war wohl nach meiner Zeit." Er drehte sich gegen das Zimmer. „Was hört ihr von zu Hause?" - „Ich war im Sommer drunten", erwiderte Margit schnell. Ihr kaltes graues Gesicht gefiel ihm jetzt in diesem Zimmer am besten. „Zu Hause warst du?" - „Ja, warum nicht, mein Pass ist ja nicht gesperrt. Ich war zuerst drunten in der Provinz bei meiner Tante. Da ist die Hauptstraße mit Läden und Cafes, da ist eine Garnison, da sind Offiziere mit ihren Damen, die sehen sehr gut aus, Modelle nach Poiret und so, und in derselben Straße rudelweise barfüßige Menschen, so zerlumpt, dass kein Faden mehr zusammenhält. Alles, was hier schön sauber getrennt ist, das hast du dort in einer Straße zusammen. Die sehen das dort gar nicht, die wundern sich nicht und fürchten sich nicht.
Ich bin dann zurückgefahren in die Stadt. Rate, wen ich da getroffen habe: Kelen. Erinnerst du dich an Kelen?"
Ja, er erinnerte sich. Kelen im Metropol-Cafe am Tage vor der Flucht. Sein wunderbar vertrautes Gesicht, seine furchtbaren Worte: „Fahr allein, ich habe Auftrag, in der Stadt zu bleiben."
Margit fuhr fort: „Ich habe Kelen im Metropol-Cafe getroffen. Er sah sehr lecker und appetitlich aus, eine weiße Schürze vor. Ich bin zuerst ganz platt, dann fällt mir ein, das Metropol-Cafe gehört doch seinem Vater, er ist der Sohn im Hause. Du weißt ja, damals ist er weg von daheim, unter allen üblichen Flüchen und Drohungen, er hat gut gearbeitet, der kleine Kelen, und wir liebten ihn sehr. War er nicht auch mit euch an der Front?"
„Doch, er war."
„War er nicht in der Stadt geblieben, hatte Auftrag zu bleiben, gleich am Anfang?"
„Ja, er blieb."
Böhm spürte noch heute seinen Schrecken, seine Ehrfurcht: Bleiben muss ich, also bleibe ich.
„Ja, er blieb, und er ist gründlich geblieben, wie du siehst. Er hatte wohl damals Glück, die Polizei fand ihn nicht, da war er wohl ein paar Wochen oder Monate illegal, das hat er eine Zeitlang ertragen, aber dann allmählich, wahrscheinlich ganz allmählich, hat er nachgelassen, hat er nicht mehr gearbeitet, ist er langsam, ganz langsam in seine Familie zurückgerutscht. Jedenfalls war er nicht einmal verlegen, wie er mich gesehen hat. Er freute sich sogar. Er war so eingewöhnt in sein Metropol-Cafe -" Eine Minute lang schwiegen alle. Ihre Gedanken liefen durcheinander nach verschiedenen Richtungen, bis Faludi fragte: „Böhm, hast du schon die Gerichtsverhandlung gelesen, Rákosis Rede?"
„Gewiss habe ich sie gelesen."
„Ich kenne Rákosi seit zehn Jahren", fing Faludi zu erzählen an, „wir waren zusammen interniert -" Alle hörten jetzt Faludi ziemlich aufmerksam mit zu. Aber Böhm folgte bald nicht mehr. Alles, was da erzählt und erinnert wurde, mochten die Bilder kläglich sein oder getreu, verstümmelt oder vollkommen, sie erweckten in ihm den Wunsch nach ihrem Urbild, nach der Wirklichkeit. Bis zu diesem Tag war Böhm ruhig gewesen, verwachsen mit seiner Arbeit. Nur die hatte gegolten, nicht die Vergangenheit. Ihn hatte es immer gezwickt, den Daumen in die Ohren zu stecken, wenn es losging: Erinnerst du dich. - Aber heute wurde er unruhig, während er dasaß und versuchte, nicht mitzuhören. Er spürte undeutlich, dass er über der strengen Tagesarbeit vergessen hatte, über etwas Wichtiges nachzudenken. Seine Arbeit war ihm eng geworden. Er wünschte sich, auf der Stelle möchte man eine andere Forderung an ihn erheben. Seine letzte, ihm selbst noch unbekannte Kraft sollten sie aus ihm herausverlangen.
Unwillkürlich stand er sofort auf.
Als er fortging, zog Faludi seinen Rock an und begleitete Böhm nach der Haltestelle. Er hing den Arm in ihn ein. „Ich freue mich mit dir, komm oft." - „Ist bei euch immer soviel los?" - „Bei uns ja, jeden Abend." Sein Gesicht war gesund und sorglos. Sie schwiegen eine Weile. Dann begann Faludi, und zum ersten Mal an diesem Abend sprach er mit seiner alten Stimme: „Du hast wohl von mir gehört, dass man mich damals abgehängt hat. Man hat viel Unwahres, viel Stunk um mich gemacht. Jedenfalls war es für mich das beste, mich eine Zeitlang still zu verhalten. Man hat mir hier in der Redaktion eine Stelle verschafft."
„Ja, ich habe manchmal dies und jenes über dich gehört."
„Was hast du denn gehört?"
„Ich kenne dich ja. Ich weiß ja ungefähr, was stimmt und was nicht stimmt. Dass du alles zuspitzt - überspannst, dass du's nicht ausgehalten hast und nicht ruhig auf deinem Hintern sitzen kannst. Dass es Krach gegeben hat, und denen kein Mittel zu schlecht war -"
„Nichts war ihnen zu schlecht, um mich umzuschmeißen -"
„Aber wacklig hast du gestanden und schön bist du umgeschmissen."
Faludi lachte. „Hör mal, Kleiner, du hast dir einen Schnabel zugelegt. Nie werde ich dein Gesicht vergessen, wie ich dich auf dem Feld stehenließ, allein."
Böhm sagte: „Dafür mindestens werde ich dir immer dankbar sein."
Faludi stutzte, dachte einen Augenblick nach. Dann fuhr er fort: „Du weißt doch, was drüben vorgeht, du weißt doch, wie es jetzt zugeht. Man kann nicht behaupten, dass alle, die jetzt fallen, immer auf schwachen Füßen gestanden haben."
„Ach so, jetzt hast du eine Plattform und kannst dich daraufstellen und sagen: ,Es blasen noch ganz andere aus demselben Loch.' Aber bei dir war es so: Du warst keine Ruhe gewöhnt, du warst einen andern Einsatz gewöhnt, der jetzt gar nicht von dir verlangt wird, hast andere mitgerissen. Du bist kaltgestellt worden und kannst dich wieder hochrappeln."
„Ich weiß nicht, wie viel du weißt, und ob du überhaupt nachdenkst." Er packte Böhm bei den Ellbogen und begann hitzig in ihn einzureden. Böhm dachte, wie Faludi einen ehemals an den Ellbogen gepackt und in einen hineingeredet hatte. Das hatte gesengt und war nie vergangen. Faludi redete und redete, und Böhm hatte Mühe, seinen Widerwillen zu unterdrücken.
Bist abgerutscht und hängengeblieben, dachte Böhm. Wirst dich nie mehr einarbeiten. Jetzt, wo er Faludis Gesicht dicht vor sich hatte, merkte er, dass Faludi gar nicht lustig und gar nicht sorglos aussah, sondern dass in seinem fröhlichen Gesicht, in seinen glänzenden Augen Punkte von Angst waren, von Angst und Verzweiflung. Und Faludi, der Böhms Gedanken begriff, sagte selbst laut die ganze Wahrheit: „Ohne Arbeit gehe ich zugrunde. Sieh nur, wie ich aussehe." Ich sehe es schon, dachte Böhm, aber ich kann dir nicht helfen. Und er war froh, dass er einsteigen konnte.


II
Kurz nach Ankas Besuch bekam Janek Nachricht, dass das Kind geboren war. Um dieselbe Zeit bekam die Zelle noch ein Kind. Die Dombrowski - die Frau eines Arbeiters, der aus derselben Stadt war - erschien auf dem Bahndamm und brüllte: „Mischka, ein Sohn!" Dombrowski klebte am Fenster. Die beiden brüllten sich das Herz aus der Kehle, bis sie einander verstanden. Schließlich drehte sich Dombrowski nach der Zelle um: „Ein Sohn ist gekommen." Alle lachten und freuten sich, bis auf Dombrowski selbst, dessen Gesicht noch finsterer als sonst war. „Ach was, bei uns gibt es Bälge genug, die Weiber kennen sich selbst nicht mehr aus." Luschak schrie ihn an: „Wie kannst du so von dir selbst reden, von dir selbst, von deiner Frau, deinen Kindern?" Dombrowski sah ihn kalt an und erwiderte nichts. Später, beim Essen, sagte er: „Dieser Fraß in meinem Napf, der euch zum Kotzen ist, da würden sich meine da drunten freuen, wenn wir sie zum Kindsmahl heraufholen würden, verlasst euch drauf."
Um Dombrowski lag es herum wie eine Kruste, dass es nicht nur ihm selbst kalt war, sondern allen in seiner Nähe gefror. Aber manchmal kamen Augenblicke, in denen sein Blick heiß wurde, besonders wenn Luschak unterrichtete. Dombrowski lernte verbissen, wild. Er war fast unwissend gekommen, und er sollte noch sechs Jahre absitzen. Er lernte, als müsse er sich einen unerschöpflichen Vorrat für eine lange Reise sichern. Im geheimen quälte ihn die Angst, sie könnten alle auseinander gerissen werden, versickern könnte, was er gelernt hatte, und er müsste in seinen alten Zustand von Dumpfheit und Unwissenheit zurücksinken.
Mosuzki lernte ebenso unermüdlich wie Dombrowski. Er war krank. Es konnte nicht lange dauern, bis er in irgendein Lazarett abgeschoben wurde. Aber er lernte unbekümmert, Tag und Nacht. Er wusste selbst, dass er die Haft nicht überlebte. Der Widerspruch zwischen diesem Wissen und seinem Lernen bedrückte die Genossen. Ihm schien er nicht aufzufallen.
Janek, der schon bei seiner ersten Haft einen guten Lehrer gehabt hatte, war ruhig und heiter.
Nach dem faschistischen Staatsstreich, dem Pilsudski-Umsturz im Mai, brannte die Zelle vor Erregung. Blandski und Dombrowski fingen an, sich zu hassen. Dombrowski fühlte sofort durch die wenigen Nachrichten die Schwächen der Partei heraus und übertrieb sie - in der Unbedingtheit seines Lebens und gereizt durch Blandskis äußere Gewandtheit im Diskutieren.
Ankas zweiter Besuchstag - das Kopftuch war ein dickes Bündel in ihren Armen geworden, und in dem Bündel lag ein kleiner weißer Mond. Der Aufseher sagte: „Ich lasse Sie einen Augenblick zusammen, aber treten Sie gleich zurück." Er schloss auf, Janek trat einen Schritt vor, betrachtete das Kind, küsste Anka auf den Mund und trat zurück. Er versuchte mit aller Kraft, beides in sich aufzunehmen, Ankas Nachrichten und das Kind -als ströme das Leben von außen durch zwei Kanäle in ihn ein. Anka deckte die Augen des Kindes mit einem Zipfel behutsam zu. Sie berichtete über das Schreiben der Exekutive an die Parteileitung wegen ihrer Fehler im Mai beim Staatsstreich Pilsudskis. Janek kam so erregt in die Zelle, dass er alle damit ansteckte.
Die Stimmung war gut, alle lobten die Zusammensetzung der Zelle und behaupteten, dass nie ein Halbjahr so schnell vorbeigegangen sei. Bei ihrem nächsten Besuch war Anka ohne Bündel: „Es ist ein wenig krank. Im Winter reist es sich auch schlecht." Sie brachte wieder viele Nachrichten, erzählte, ohne zu stocken, mit eintöniger Stimme, dass die Zeit unversehens ablief. Etwas in ihrem Gesicht war anders als sonst, abgeblaßter, gleichsam entfernt. Janek dachte nicht viel darüber nach. Ihr Gesicht verschwand hinter den Nachrichten, die sie mitgebracht hatte.
Diese Nachrichten versetzten Janeks Zelle von neuem in Unruhe und Verwirrung. Die Erregung wurde noch gesteigert durch Gerüchte, von der Direktion wohldosierte Gerüchte, unverständliche Bruchstücke von Debatten, Trotzki, Ausstoßung, Spaltung. Da sie nichts anderes tun konnten als grübeln und streiten, war die Ungewissheit unerträglich. Blandskis übertriebene Genugtuung machte Dombrowski wild. Man musste die beiden alle Augenblicke trennen. Als Luschak einmal ruhig zu Dombrowski sagte, ein einziger seiner Sätze genüge, um ihn in der Freiheit aus der Partei zu bringen, fühlte sich der rundum bedroht, verhasst, aufs äußerste vereinsamt. Bei der Nachricht von Trotzkis Verbannung - eine falsche, die der Wirklichkeit um lange Zeit vorausging -, fuhr es Dombrowski schließlich heraus: „Dafür sechs Jahre." Janek legte ihm die Hand vor den Mund. Dombrowski sah ihn mit einem sonderbar scharfen Blick an, der dann unversehens weich' wurde.
Plötzlich trat ein, was er schon lange gefürchtet hatte, die Zelle wurde aufgeteilt. Luschak kam weg, unbekannt wohin. Vier andere kamen nach Krakau, Mosuzki kam ins Lazarett, Dombrowski und Janek blieben wenigstens zusammen.
Janek war in vielen Punkten selbst noch unwissend. Er musste, so gut es anging, Dombrowski beim Lernen helfen; denn das war es, was er brauchte. Sie stritten viel, aber in ihrem Streit war niemals Hass.
Dann stand Anka wieder da, wieder ohne Kind. Diesmal begriff Janek alles, er rief: „Was ist mit dem Kind?" Anka sagte: „Wir haben keins mehr, es war schon damals tot, das letzte Mal." Sie verbrachten schweigend viele Minuten der teuren Zeit. Schließlich sagte Janek: „Fürchte dich nicht, Anka, das zweite Jahr ist ja schon angebrochen." Anka sagte: „Ja, darüber bin ich froh." Später in der Zelle erzählte Janek nichts. Er schämte sich, weil er kein Kind mehr besaß, oder wollte keinen Kummer hineinbringen. Erst nachts erzählte er Dombrowski, was geschehen war. Und nun war es Dombrowski, der ihn tröstete. „Ja, ein großes Unglück. Aber denke, Janek, du hast nur noch drei Jahre vor, dann wirst du wieder eins haben."
Die nächste Zeit war die Zelle enger denn je, der Gestank unerträglich, die Zeit unabsehbar, die Gesichter und Stimmen widerwärtig. Früher hatte Janek den andern die Zeit vorgewärmt, Erloschen und mürrisch, wie er jetzt war, merkte er selbst, wie es bald um ihn herum auskühlte. Seine Genossen dauerten ihn, er zwang sich zu seiner alten Heiterkeit. Sein eigenes Lachen tat ihm weh, als ob ihn jemand auslachte. Es kostete ihn größte Anstrengung, sich zu verstellen. Aber nachdem er sich eine Zeitlang gewaltsam verstellt hatte, wurde er auch wirklich so ruhig und heiter wie früher.


III
„Japaner und Engländer werden höflichst darauf aufmerksam gemacht, dass für ihre Sicherheit in diesem Lokal nicht garantiert werden kann." Liau Yen-kais Augen lasen und lächelten gleichzeitig. Er sah sich nach einem guten Platz um. Es war ein kleines Lokal, in eine lärmende Straße eingezwängt, gold und blau lackiert, mit Fahnen und Bildern geschmückt. Liau Yen-kai erschien es jedenfalls festlich und heiter. Auf den Gesichtern der Studenten, die rundherum saßen und zu Mittag aßen, lag eine Art von Gruß. Der Koch kam hinter der Theke hervor und bediente ihn wie einen alten Gast. Vielleicht war das seine Art, vielleicht verwechselte er ihn mit irgend jemand.
Liau Yen-kai war ungefähr um dieselbe Zeit in die Bewegung eingetreten, in der sein Bruder Liau Han-tschi nach dem Westen gefahren war. Er liebte diesen viel jüngeren Bruder mit einer Art liebevoller Geringschätzung. Im Innern wartete er darauf, dass sein Bruder kurz oder lang denselben Weg wie er selbst einschlug. Er hatte ihm regelmäßig geschrieben, wusste aber nicht, wie viele dieser Briefe ihn erreicht hatten. Seit einigen Wochen war Liau Yen-kai in Moskau.
Nun war nur noch wenig Land zwischen ihnen, um sich in Berlin zu treffen.
Liau Yen-kai bemerkte verwundert, dass ihn das Wiedersehn mit dem Bruder beunruhigte. Wenn der noch ebenso pünktlich wie früher war, musste er jede Minute eintreten. Liau Yen-kai erblickte einen Schatten hinter der Glastür, er erhob sich unwillkürlich. Er war so überrascht, dass er nicht enttäuscht war. Der Eintretende war nicht sein Bruder, aber ein Mensch, den er sehr gut kannte. Sein ehemaliger Freund und Lehrer, Doktor Tsen. Sie prallten gegeneinander, begrüßten sich verwirrt. Doktor Tsen setzte sich vor das Gedeck, das Liau Yen-kai für seinen Bruder hatte hinstellen lassen - er konnte freilich unmöglich etwas von diesem Bruder wissen. Als Knabe war Yen-kai gern zu Gast bei ihm in dem kleinen, mit Büchern und Pflanzen und Porzellan vollgestopften Landhaus gewesen. Sein Gesicht und seine Hände waren klein und zart, von beinah versteinerter Zartheit, wie ein dünnes, zerbrechliches Fossil. Liau Yen-kai kam es merkwürdig vor, diese Hände hier liegen zu sehen auf einem Wirtshaustisch, in der Hauptstadt eines fremden Landes. Es war auch merkwürdig, Doktor Tsen fragen zu hören: „Woher, Genosse?" - „Aus Russland, seit heute und bis morgen. Und Sie?" - „Ich bin auch erst einige Tage hier. Ich war im Hauptquartier, in der Kommission der Agrarsachverständigen. Kürzlich hat man unsere Kommission von der Armee abgetrennt und verselbständigt. Ich bin nur zum Studium hier, dann werde ich wieder meinen Posten einnehmen." - „Was haben Sie für Nachrichten, Genosse?" - „Wenn Sie erst heute angekommen sind, dann sind Ihre Nachrichten die letzten."
In diesem Augenblick tippte jemand Liau Yen-kai an die Schulter - „Bruder!" Er hatte ihn gerade vergessen. Sie begrüßten einander kurz, für Tsen sah es aus wie eine gewöhnliche tägliche Begrüßung. Der Jüngere setzte sich so still, als fürchte er, mit einer unvorsichtigen Bewegung ihr Gespräch zu zerreißen. Es wurde noch eine Weile zugeredet. Schließlich stand Tsen auf: „Hier ist meine Adresse, besucht mich oft, Genossen." Der ältere Liau sagte: „Ich nicht, aber hier, mein Bruder."
Doktor Tsen ging hinaus, leise, ein wenig wippend. Der jüngere Liau überbrückte mit leichten Worten die Erregung des Wiedersehens: „Wer war das denn?" - „Kennst du ihn nicht? Er hat 1924 in Kanton gearbeitet, er hat sich uns angeschlossen, sagt er, sagen wir genähert." Er fügte hinzu: „Es ist nicht schwer, sich uns zu nähern, jetzt in diesem Augenblick."
Jetzt erst sah der ältere Liau seinen Bruder voll an. Sofort zerfiel das alte Bild, das er die ganze Zeit über von ihm behalten hatte. Er wusste auf einmal, dass der jüngere erwachsen war, wie er selber. Sie schwiegen einige Minuten, um alles in Ordnung zu bringen und da anzufangen, wo sie aufgehört hatten.
Schließlich fing der Jüngere an: „Du hast recht gehabt und ich unrecht. Das nützt jetzt nichts mehr. Ich bin nicht dabeigewesen.
In diesem Augenblick, in dem ein Mensch zu Hause sein muss, war ich nicht zu Hause."
Sie standen auf und suchten sich einen andern Tisch in der Ecke. Liau Han-tschi packte seinen Bruder am Handgelenk. „Erzähle."
„Frag, fang irgendwo an."
„Tangsi!"
„Es gibt in Tangsi keinen Mann und keine Frau, die es wagen, im seidenen Kleid auf die Straße zu gehen. Es gibt keinen Menschen, der es wagt, eine Rikscha zu bezahlen, aber es gibt auch keinen, der es wagt, sich einzuspannen."
„Wenn unser Vater nach Tangsi kam, und er fuhr an den Hafen, dann gab es sechs Kulis zwischen zwei langen Deichseln. An irgendeiner Straßenecke wartend, unseren Vater, mit beiden Beinen auf der Straße, das kann ich mir nicht vorstellen."
„Er ist nicht nur an den Hafen zu Fuß gegangen, unser Vater. Er ist zwanzig Kilometer gegangen, von seinem Landgut nach Tangsi und quer durch die Stadt, mit einem Pack auf dem Rücken." Liau Han-tschi sagte: „Hat man ihn wirklich weggejagt?"
„Ja, wir haben ihn weggejagt. Wir haben sein Gut der Bauernschaft zugeteilt, jetzt wohnt er und die ganze Verwandtschaft in einem schlechten Quartier am Hafen."
„Hat er sehr gejammert?"
„Was kümmert es dich, ob er gejammert hat? Übrigens hat er nicht besonders gejammert, er ist ja ein harter Mann. Ich weiß nicht, was inzwischen aus ihm geworden ist.
Ich war Instrukteur in der Armee. Ich habe den Abmarsch aus Kanton, den Marsch nach dem Norden bis vorigen Monat mitgemacht. Ich wurde inzwischen bestimmt, nach Russland zu fahren. Ich bin heute gekommen, um dich zu sehen, und ich muss morgen abend zurückfahren."
Der jüngere Liau sagte schnell: „Ich habe einen Pass. Ich werde mitfahren."
Der ältere sagte: „Nein, nein, du musst hier bleiben, wir haben Arbeit für dich."
„Ich habe damit gerechnet, über Russland heimzufahren."
„Was gibt es da viel zu rechnen, du wirst einige Monate später heimfahren. Lerne, arbeite, hier wirst du arbeiten lernen. Fährst du heim, wirst du ganz anders heimfahren. Wir brauchen dich jetzt hier."
Es wurde Nachmittag, Abend. Sie bestellten ein Abendessen. Vom Reden schmerzten ihre Kinnladen. Liau Yen-kai dachte: Warum ist mir dieser Mensch besonders teuer? Weil er mein Bruder ist? Weil er mein Genosse ist? Weil er alles zusammen ist? Sein Gesicht, sein Knabengesicht ist ganz matt vom Grübeln.
„Gute Genossen, gute Freunde sind das, wo ich wohne. Und du hast noch keine Frau?"
„O ja doch." Jetzt lachte der Jüngere, weil der Ältere verwirrt war hinter seinem ernsten Gesicht. Liau Yen-kai dachte an Jü-si, die Studentin, die er mit nach Moskau gebracht hatte. Sie war sanft und zart, abends, wenn sie ihre Brille und ihre Gelehrsamkeit ablegte. Er verstand nicht, sie zu beschreiben.
„Was ist das für eine Frau?"
„Nun so." Liau Han-tschi dachte: Seine Frau kann ihn nicht im geringsten so lieben wie ich. Er hat ein seltenes Gesicht. Straff und ernst und gesund, alles zusammen.
Gäste kamen und gingen. Zuletzt stellte sich der Wirt an ihren Tisch und forderte sie schweigend auf, wegzugehen. Das war ein andrer Wirt als der kleine Ma in London, der hätte sie jetzt beide heraufgenommen. „Wohin sollen wir gehen?" - „Gehen wir gleich an den Bahnhof. Es ist einerlei, wo wir reden."
Sie fuhren an den Bahnhof. Liau Han-tschi dachte, ob es unumgänglich sei, dass er hier blieb, schämte sich aber, unterdrückte die Frage. Sie setzten sich in den Wartesaal und redeten. Schläfrige, fröstelnde Reisende stellten sich ein zum Frühzug und beguckten sie misstrauisch. Schließlich hatten sie alles Wichtige durchgeredet, ihr Zusammensein war gut gewesen, sie konnten ruhig auseinandergehen.
Es wurde Nachmittag. Im Wartesaal stellten sich die ersten Menschen ein, denen man ansah, dass sie nach Osten fuhren. Bunte, polnische Bäuerinnen. Es war Zeit, sie gingen auf den Bahnsteig. „Hör mal, du kannst diesen Doktor Tsen ruhig manchmal besuchen. So spindeldürr er ist, er weiß eine ganze Menge." Das weiße Schild klappte hoch: Negoreloje. Wie der letzte Wegweiser am Ende einer Landstraße. Dieser Bahnsteig war ja schon eine Schwelle. Liau Han-tschi wurde der Abschied leicht Erspürte noch, als er allein in die Stadt fuhr, die Anwesenheit seines Bruders wie eine Substanz, die ihn wärmer und flinker machte.


IV
Den halben Weg sprachen sie über die Vorlesung. Aber vor der Konditorei blieben sie stehen und betrachteten die Baumkuchen.
Steiner sagte plötzlich: „Los, rein!" Elisabeth sah ihn überrascht an. Einen Augenblick lang sah sie so schön aus, wie es Steiner nicht für möglich gehalten hätte. Er begann ihren Körper zu entdecken, wie sie vor ihm hineinging und zweimal schnell ihr Gesicht über die Schulter drehte, als fürchte sie, er könne seine Einladung zurückziehen. Er entdeckte ihre Schönheit, ihre zwanzig Jahre, ihre Bereitschaft, jede Freude mit Zärtlichkeit zu belohnen. Doch er entdeckte auch gleichzeitig Robert und die anderen an ihrem gewohnten Tisch beisammen. Diese beiden Entdeckungen schmolzen in eins zusammen: „Ich komme heute abend nicht allein. Vielleicht höre ich ganz auf, allein zu sein. Es ist überhaupt nichts mehr so schlimm."
Die Vorlesungen waren der Feiertage halber um sechs zu Ende, ein fusseliger Winterregen besprühte die kleine Stadt. In der Konditorei war es voll. Auf Elisabeths Gesicht, das Steiner nur ernsthaft und angestrengt kannte, lag der süße und unerwartete Geschmack des Baumkuchens. Mit ihrem dunklen, schlecht und recht beschnittenen Haar glich sie mehr einer Novize als einem Knaben. Das Wichtigste war, jetzt schnell ihre Hand zu berühren; er fasste, Elisabeth senkte den Kopf, ihre Hand zog sich zusammen, eine kleine Faust.
An Roberts Tisch: „Seht mal an. Sie passen ganz gut zusammen. Ein ganz gutes Paar." - „Wer ist sie?" - „Ich meine, sie heißt Schlüter. Ja, jetzt weiß ich auch, wer sie ist. Es gab da mal vor ein paar Jahren einen Archäologen Schlüter, der jetzt tot ist. Von dem wird sie sein." - „Ist sie schön? Ja?" - „Ganz schön, bisschen blass. Dass ihm das gefällt?" - „Aber das ist genau das Richtige für ihn, das wird sehr gut für ihn sein; dass er nichts Fremdes hier eingeschleppt hat, dass er so eine nimmt, das wird ihn gut fundieren und ruhig machen."
Steiner hielt ihre Hand. Sie war, wie er es gern hatte, fest und kühl, nicht sehr klein, aber mit ganz dünnem Gelenk.
„Woran denken Sie jetzt, Elisabeth?"
„An alles mögliche. Ich denke, woher Sie eigentlich kommen, und was mit Ihnen los ist. Ich kenne Sie nur von dort oben", sie schnickte mit der Schulter nach irgendeiner Richtung, Mautners Seminar -
„Wie sehen denn in Ihrer Familie die Männer aus?"
„Sie wissen doch - Archäologenfamilie. Bei uns wurde übrigens mehr über den Parthenonfries gesprochen als über uns selbst. Wir haben so wenig einer über den andren nachgedacht."
„Wir viel zuviel."
Sie sah ihn schnell an, ihre Hand war jetzt locker, ihr Gesicht war weiß und hell.
Steiner verglich sie mit Margit, eine große Liebessache vor vielen Jahren. Margit war weiß und sanft, eine Unschlüssigkeit war in ihr gewesen, viel Quälerei. In der letzten Nacht vor der Flucht hatte sie ihn mit überraschender Bereitwilligkeit aufgenommen, die freilich von Abenteuerlichkeit nicht ganz frei war. Der Geruch ihrer Haut vermischte sich damals mit seiner Todesangst. Er war den Geruch lange nicht losgeworden. Er war der Gefahr entronnen, aber seine Angst war geblieben. Er glaubte damals, für immer. Er hatte jahrelang bitter allein zugebracht. Erst jetzt merkte er, dass seine Angst vergangen war. Er konnte sich auf keine Weise mehr in diesen Zustand zurückfinden. Im letzten Jahr war es leichter gewesen, er hatte sich stärker Hoffnungen gemacht auf: Erfolg, Familie, dauernden Wohnsitz. Jetzt, in diesem Augenblick, war ihm klar, dass seine Angst vollkommen vorbei war. Er hielt Elisabeths Hand in der seinen und aß Kuchen, alles ganz einfach, ohne Angst. Das Mädchen war gewiss schön und liebenswert, aber es musste etwas Gewaltiges an diesem Mädchen sein, dass es einen solchen Riss ausfüllte, oder der Riss war so eingeschrumpft, dass dieses Mädchen genügte, um ihn auszufüllen.
„Warten Sie, ich hole noch mehr." Er sprang auf und kehrte mit zwei vollen Kuchentellern zurück.
An Roberts Tisch drehten sich die Gesichter nach ihm hin und lächelten. „Heirat oder Liebschaft?"
Robert sah noch mal scharf herüber. „Der braucht jetzt etwas Standhaftigkeit, der will sich verankern, der will Boden unter den Füßen."
„Den wird er auch bekommen." - „Und ein Dach über den Kopf." - „Und übers Jahr seinen Lehrauftrag."
Steiner setzte sich, fasste sofort ihre Hand, erschrak, Elisabeth fragte: „Was gibt es denn?"
„Ich denke daran, ob Sie vielleicht, wie man hier sagt, ,schon jemand' haben. Ob Sie einen Freund haben."
„Nein, ja, nein, ja."
„Also -"
„Sehen Sie, nichts Ernstes -"
„Und jetzt, wir beide, ist das etwas Ernstes?"
„Ich weiß nicht -"
Ihr Gesicht war nah und klar, schon vertraut, voller Furcht.
„Doch, das ist etwas Ernstes."
Er wünschte sich, nur für den Körper zu denken, ihre Haut, ihre Hand, ihren bald zurückgebogenen Hals. Er dachte: Sogar etwas furchtbar Ernstes. Warum eigentlich?
Auf einmal sprang Elisabeth auf und musste ins Kolleg gehen. Steiner begleitete sie, kehrte für die Zwischenzeit in die Konditorei zurück. Robert lachte in seinem jungen, hellen Gesicht, unter seiner übertrieben blanken Brille, die immer aussah, als ob sie mitlachte.
„Auf, Steiner, einen Sherry, Baumkuchen hast du jetzt genug!"
Steiner freute sich, als Robert sagte: „Eine schöne Frau, wo hast du die denn her?"
„Wo man hier die Frauen her hat - bei Mautner im Seminar."
„Also hör mal", begann Robert, sein Gesicht blieb ernst, nur seine Brillengläser lachten, „warum hast du mir nicht gesagt, dass du etwas Ernstes vorhast?"
Steiner wunderte sich, weil Robert seine eigenen Worte gebrauchte, und zog die Brauen hoch. Robert ärgerte sich, dass er es war, der Steiner im vergangenen Jahr das „Du" angeboten hatte. Sie rückten ihre Stühle an den Tisch. Steiner legte seine Hand auf Roberts Arm, versöhnte ihn.
„Wenn ich mich recht erinnere, Robert, hast du mich zu einem Sherry eingeladen."
„Also, was ist mit deiner Arbeit? Wann bist du fertig?"
„Gut, ich bin schon fertig. Geht dieser Tage in Druck."
„Bist du zufrieden?" Steiner dachte einen Augenblick nach, als überlege er das selbst zum ersten Mal, als plagten ihn nie, sobald er allein war, Zweifel, ob sein Verstand missbraucht, sein Wissen vertan sei. Er erwiderte gequält: „Ich bin zufrieden." Kaum hatte er das gesagt, als hätte er eine gnädige Macht angerufen, waren seine Zweifel verschwunden.
„Aber was machst du denn schon wieder?" fragte Robert erstaunt. Steiner sprang doch auf, trank im Stehen leer und legte sogar ein Geldstück auf den Tisch. „Ich habe ganz vergessen -"
Er stürzte auf die Straße. Er fürchtete sich, Elisabeth zu versäumen. Er hatte sie eine Stunde lang glatt vergessen, wie ausgelöscht. Da war die Strafe. Er wartete wohl umsonst vor dem Haus, in das sie gegangen war, kostete schon den Geschmack des Alleinseins in dieser verhassten Straße.
Aber dann war es eine wilde, verrückte Freude, wie in einem Rudel Jugend auf der Treppe ihr kleines weißes Gesicht auftauchte.


V
Stojanoff saß auf der Erde mit ausgestreckten Beinen, den Rücken gegen den Ofen, das Gesicht gegen die offene Tür. Vor der Tür lag die kahle blauschwarze Halde, im Schatten des Ködeschfelsens; zwischen Felsen und Halde schob sich steil eine etwas hellere Halde, der Abendhimmel. Durch das leere Rauchloch fiel das Abendlicht, tropfenweise.
Die Frau saß in der Ecke, den Kübel zwischen die Knie geklemmt, der Mörser knirschte.
Stojanoff dachte nach, ob er fliehen oder bleiben sollte. Eng war der Himmel, und die hohen, finsteren Berge waren doch schlechte Wächter. Die Frau warf den hölzernen Mörser weg und hob das Sieb aus dem Kübel. Andreas goss vorsichtig Milch zu, in einem regelmäßig dünnen Faden. Die Frau fing an, den Teig zu kneten. Jetzt, wo der Mörser nicht mehr knirschte, war es vollkommen still.
Andreas stellte die Kanne auf, die Frau sagte: „Es hat keinen Zweck mehr, den Ofen anzumachen. Ich schlage den Teig in ein Tuch und nehme ihn roh mit."
Stojanoff sagte: „Ja, mach es so." Er stand auf und stellte sich in die Tür. Aus Polje war er ins sechs Stunden heraufgekommen, an den Schlagbäumen, an den Türen der Dorfrichter war das Blatt manchmal vor ihm gewesen, manchmal dicht hinter ihm: „Wir haben das dritte Regiment in Branje stationiert, um die Ordnung wiederherzustellen."
Die Frau rollte den Teig in ein reines Tuch, knüpfte ihr Bündel auf und legte ihn hinein. Sie sagte: „Ich bin mit allem fertig. Sollen wir gleich gehen oder morgen früh?" Stojanoff sagte, ohne sich umzusehen, in die Tür hinein: „Geh jetzt." Die Frau stand einen Augenblick unschlüssig, dann sagte sie: „Wirst du eigentlich nachkommen?" Stojanoff erwiderte nichts. Die Frau begann zum dritten Mal: „Im Sommer 18, da habe ich am allermeisten gemeint, dass du nicht mehr kommst, viel mehr als diesmal. -Wenn er ins Holz ginge", fuhr sie laut fort, nicht zu Stojanoff, der doch keine Antwort gab, sondern zu sich selbst, „wenn er ins Holz ginge, dann könnte es bei uns auch anders aussehen.
Schnell ist gepackt bei uns, da, Andreas, Gott weiß, was auf den Rücken eines fünfjährigen Kindes geht."
Stojanoff, das Gesicht nach außen, grübelte und grübelte: Wahrscheinlich werden sie gar nicht hierherkommen, das letzte Mal sind sie nicht einmal bis Markowo gekommen. Vor allem kommt es darauf an, die Verbindung zu erhalten. Er entschloss sich, zu bleiben.
Er hatte nicht gemerkt, dass das Kind unter seinem Arm hindurchgeschlupft war. Jetzt sagte die Frau: „Lass mich durch, wir gehen." Er drehte sich halb um, die Frau drückte sich an ihm vorbei, durch die schmale Tür, es war zu eng; es war, als wollte die Hütte sie noch einmal gegeneinander drücken, Brust gegen Brust, Schoß gegen Schoß. StojanofF starrte die Frau an und sagte deutlich: „Leb wohl." Da verstand die Frau, dass es anders als sonst war, viel schlimmer, der Abend aller Tage. Stojanoff dachte einen Augenblick, er müsste noch etwas für sie tun. Unwillkürlich streckte er die Hand aus, um ein Kreuz über der Frau zu schlagen, aber er zuckte zurück, lächelte ein wenig über die Torheit seiner Hand. Kurz darauf hörte er schon die helle Stimme der Frau über den Weg „Andreas" rufen.
Aber hinter dem Ködesch stieß die Frau auf einen fremden Mann. Nach wenigen Minuten kehrten sie zu dritt in die Hütte zurück, der Fremde, die Frau und das Kind. Der Mann warf sich auf die Bank und schrie und fluchte: „Schließt die Tür ab, habt ihr denn keinen Riegel an der Tür! Verflucht sollst du sein, der Schlag soll dich treffen, zwischen deinen eignen Beinen soll dein Weib -"
Stojanoff sagte: „Gib jetzt Ruhe du, wer bist du?" Der Mann sagte: „Willst du noch lange fragen, bevor du abriegelst? Willst du mir die Erde unter den Füßen wegziehen?" Stojanoff sagte: „Jetzt halt aber dein Maul. Du weißt ja, wer ich bin, wenn du den Weg zu mir weißt."
Der Mann fing auf einmal zu winseln und zu betteln an: „Lass mich mal ausschnaufen. Du kennst mich doch. Ich war mal im Winter vor zwei, drei Jahren hier oben. Fürchte dich nicht, ich geh ja schon."
Stojanoff verriegelte die Tür. Es war fast dunkel im Innern. Eine Weile, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnten, war Dimoffs Gesicht, das Stojanoff inzwischen erkannt hatte, wie ausgelöscht. Ein Zittern durchlief den Mann vom Kopf bis zu den Füßen, so heftig, dass es die übrigen mitschüttelte. Es kam und ging und kam. Dimoff wartete, bis es vorbeiging. Dann fing er ganz ruhig an: „Ich habe nämlich zu den zwanzig Holzarbeitern gehört, die der Leutnant Goneff drunten im Sägewerk herausgezählt hat, jeden vierten, beim Streik, du weißt doch. Wir waren eine Belegschaft von achtzig. Er hat uns nach Branje transportieren lassen. Ich und drei andere, wir sind durch. Ich will jetzt nicht lange erzählen. Kennst du Petko, den Bahnwärter?"
„Ja."
„Wir blieben eine Nacht bei ihm. Dann kamen sie zu ihm und fragten ihn. Sie haben ihn in einen Sack gesteckt, in einen Sack mit einer Wildkatze, und sie haben mit einem Knüppel auf den Sack geschlagen, und dann haben sie ihn herausgeholt."
Stojanoffs Frau fragte schnell: „Hat er dann alles gesagt?"
Dimoff sah die Frau erstaunt an und sagte: „Ja, da hat er alles gesagt. Von uns vier haben sie zwei abgeknallt. Einer ist geblieben; ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist. Ich bin davongekommen, das war gestern nacht. Du musst immer ganz dicht vor mir her gewesen sein. In Marjakoy hat es schon geheißen, er ist hier gewesen. Ich habe immer nur gedacht, dass ich dich einhole. Ich weiß nicht, warum, aber mir war es, mein Leben sei gerettet, wenn ich auf deinen Schatten trete. Sie werden wohl nicht bis hierher heraufkommen. Er hat sechzig Mann auf Polje gelegt, da heißt es, gebt den und den heraus, eher gehen wir nicht.
Unser Aufruf war doch angeschlagen, ja, er war doch angeschlagen, ein gelbes Papier mit schwarzen Buchstaben, fing an: ,Sie wagen zum letzten Mal' -
Es ist eben ein Unterschied, ob das Messer durch das Fleisch geht bis ins Herz oder ob es auf Knochen stößt."
Dimoff brach ab, und Stojanoff fragte nichts mehr. Sie rückten alle dicht zusammen im Dunkeln. Vielleicht schliefen sie sogar ein wenig.
Schließlich erhob sich Stojanoff und riegelte auf. Mitternacht war schon lange vorüber, der Himmel war blass.
Andreas wurde geweckt: „Zeig ihm den Weg!"
Andreas freute sich und sprang zu. Er kümmerte sich nicht viel um Dimoff, sondern kletterte hinauf und herunter, und ging selten neben ihm. Dimoff dachte, dass es ein Zufall war, wohin sie kamen. Er versuchte, das Kind an sich zu locken. Aber Andreas lief immer gleich vor ihm her. Dimoff blieb manchmal stehen, weil ihm die Knie weich waren, und wenn er stehen blieb, schüttelte ihn die Todesangst - je heller es über den Bergen wurde. Er rief Andreas zu sich und packte ihn hart am Handgelenk. Andreas sah Dimoff mit seinen listigen Augen an und sagte: „Wir sind gleich dort. Sind schon über den Kamm weg, sind schon über den Ostabhang." Dimoff fing an zu merken, dass Andreas schlau und flink war und den Weg gut kannte. Sicherheit erfaßte ihn - die Schrecken der letzten Nacht verblaßten zur Erinnerung -, Stolz, weil er am Leben war. Andreas sagte: „Steig immer hier hinunter, tritt immer auf große Brocken, das Wasser macht dir nichts. Einmal kommst du an eine Stelle, wo ein Steg ist, der gehört schon den Leuten von Banja." Er ließ ihn stehen, rannte weg. Oben blieb er noch einmal stehen und sah dem Mann nach. Dimoff kehrte sich um und winkte. Aber Andreas' Blick war jetzt schon woanders, bei den roten Flocken der Eichenwälder in den tiefen Falten der Drei-Schwestern-Berge.
Inzwischen, gerade als die Menschen anfingen, sich weniger zu fürchten und Hoffnung schöpften, kam eine Abteilung von dreißig Soldaten, alle übrigen Dörfer rechts und links von sich lassend, die große Prutkastraße hinauf nach Revesch. Sie mussten einen ganz besonderen Grund haben. Denn der Leutnant Goneff kam selbst herauf, mit dieser kleinen Abteilung, in die Berge.
Es war Mittag.
Sofort nach ihrer Ankunft requirierten die Soldaten, was sie brauchten. Sie stülpten die Säcke um, langten sich den Wintervorrat, grabschten die Spinde aus. Mit offenen Augen und Mündern sahen die Weiber zu, was alles in den Kessel ging für einen Soldatenfraß. Wenn die bis Sonntag blieben, war das Dorf ratzekahl.
Der Leutnant Goneff ließ die Erwachsenen im Halbkreis vor sich hinstellen. Er streckte die Beine von sich: Da bin ich, da seid ihr. Er sah einen nach dem andern an und griff Petscheff, den Wirt, heraus, weil seine Lippen weiß waren und die Poren tief in seiner Gänsehaut. Kein einziger hätte ihm getaugt, aber Petscheff wurde schon weich, als ihm Soldatendaumen ins Schlüsselbein drückten. Er gab in den Knien nach. „Was wollt ihr von mir? - Fragt Stojanoff."
Als sie spät über die Halde kamen, ging ihnen Stojanoff, da es zu spät war, sogar drei Schritte entgegen. Er hatte die Axt bei sich. Schon füllte sich mit rotem Schaum die Prutka bis zum Himmelsrand. Sie riefen: „Wir schießen, leg die Axt weg." Stojanoff dachte nach. - In diesem Augenblick kamen über ihn alle Worte, die er verstanden hatte, starrten ihm über die Schulter, härter und drohender als der Granit des Ködeschfelsens - und er warf die Axt weg. Sie warfen sich gegen seine Brust. Sie fielen übereinander in der Hütte. Bei dem Anprall senkte sich die Westwand, und der Schutt rieselte. Bei ihrem Bündel im Winkel saß die Frau still, wie nun alles über sie kam, die Männer und das Dach ihrer Hütte. Ihre Augen waren vor Angst glashell;, aber Fünkchen von List waren noch nicht ausgelöscht. Sie drehten Stojanoff die Arme auf den Rücken: „Wir wissen alles. Er ist nach Revesch gegangen und nirgends anders hin. Du hast ihn über Nacht hier gehabt."
Stojanoff schwieg. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck von Verwunderung. Der Leutnant Goneff zog die Beine an und beugte sich vor. In der ganz vollkommenen Finsternis der Welt gab es zwei winzige Ritzen, durch die ein unerträglich leuchtendes Licht glänzte: Stojanoffs Augenspalten. Goneff schrie auf wie gestochen: „Hängt ihn längs!" Sie banden ihm Hände und Füße, zogen einen Stock durch und hingen ihn längs zwischen Ofen und Türbalken. Sie schaukelten ihn hin und her, seine Sehnen krachten. Unter dem Gewicht des Mannes gab der Türbalken nach, der Schutt rieselte nieder. Sie fassten die Frau: „Sprich du." Die Frau zitterte und bewegte die Lippen. Sie wollte sprechen, aber kein Ton kam heraus. Und wie man sie endlich verstand, war es nur: „Verflucht sollt ihr sein!"
Als Stojanoff zu sich kam, lag er auf der Erde. „Glaub nicht, dass wir dich einfach krepieren lassen. Wo ist er hingegangen?" Sie drückten sein Gesicht auf den Boden. Einer setzte sich auf seinen Hals. Sie schlugen zu, nach ein paar Streichen drehten sie ihn um: „Wo ist er hingegangen?" Stojanoff erblickte weit weg -wie groß war die Hütte geworden - das Gesicht der Frau. Sie sahen sich an - als sei ihr Abschied am vorigen Tag ein solcher gewesen, dass eins den andern aufgab und längst nicht mehr kannte. Sie rissen ihm Hemd und Haut vom Fleisch und schlugen zu. Die Frau sah, dass er starb, doch ihre Gedanken wandten sich ab von dem Sterbenden, ihre Angst galt dem Lebendigen, ihrem Sohn Andreas, der gleich zurückkehren musste.
Im hellen Mittag vor der Tür stand ein kleiner Schatten. Die Frau schlug ihn umsonst mit ihrem Blick zurück, es war zu spät. Andreas starrte auf den Boden, ein ganz roter Vater. „Gehörst du hierher?" - „Nein, nein, nein. So wahr Gott lebt, diesen Mann kenne ich nicht."
Er flog. Von unten hatten die letzten roten Eichenflocken wie Feuer geglüht. Aber oben war es kalt, wie erloschen. Der Wind pfiff vom Gipfel. Die paar Blätter wurden erst wieder feurig, wenn sie in der Luft waren. Der Himmel war allzu nah. Andreas fürchtete sich.
Sie schlugen Stojanoff das Fleisch von den Knochen, sie drehten ihn um. In seinem verschmierten Gesicht hatten die Augen den scharfen, äußeren Glanz, den sie kurz vor dem Brechen haben. „Wir wissen ja alles. Wir wissen, dass Dudoff soundso oft bei dir war, wir wissen, dass er durchgekommen ist, bei dir, heute nacht." Als Stojanoff diese Worte verstanden und begriffen hatte, mit wem man Dimoff verwechselte, da warf er wie ein Pferd den Soldaten ab, der auf seinem Hals saß, und er brüllte vor Freude: „Sucht ihr Dudoff? Dudoff ist euch durch! Dudoff geflohen. Das ist ein großes Glück für mich!" Er lachte und schlug mit Armen und Beinen um sich, und es war, als spüre er vor Freude nichts von seinem eigenen Tod.
Alles war sehr schnell gegangen. Kurz vor Mittag waren die Soldaten heraufgekommen, kurz nach Mittag zogen sie ab. Inzwischen hatten die Bauern einen Entschluss gefasst. Sie zogen voraus, rissen Bauern aus den Bergdörfern mit sich, die abziehenden Soldaten empfingen sie mit Äxten und Flinten an der Prutkastraße.
Dieses Ereignis verkürzte, ja beendete im großen ganzen die Strafexpedition in die Prutka, obwohl in der folgenden Nacht noch viele getötet und verhaftet wurden.
Dudoff, aus dem Kerker geflohen, mit fremdem Namen und fremdem Gesicht, fing an einzuschlafen, nun, da die Spannung der letzten Grenze vorbei war. Er wehrte sich, aber die letzten fünf Tage hatte er nicht geschlafen. Er schlief schließlich so fest, dass die Passagiere ihn gemeinsam wecken mussten. Er erschrak, lachte aber und dankte. Er trat mit seinem Koffer in den Gang, in die Reihe der ungeduldigen und erregten Ankömmlinge. Flocken von grünem und weißem Licht schlugen gegen die Scheiben, und er kam an in Paris, am Gare de l'Est.

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