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Anna Seghers - Die Gefährten (1932)
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Fünftes Kapitel

Obwohl die Gefangenen im Gefängnis von Sofia von der Außenwelt abgeschnitten waren, verbreitete sich doch das Gerücht, dass Dudoff weiterlebte. Nicht in Sofia entstand es - zweihundert Kilometer weit weg auf der Nordseite der Prutkaberge, Sonntag nacht in einer Bauernkneipe.
Sieht man von der Ebene auf die Prutka, abends, wenn die kläglichen Dochte der Waldbauernhütten zusammenglimmen in einem einzigen Licht, dann gleichen die fünf großen Dörfer auf der Bergwand dem Sternbild des Großen Bären. Revesch war das nördlichste der fünf Dörfer. Im Ausschank des Bauernwirtes ging der Sonntag zu Ende. Die Bauern lagen in schwerer, zäher Trunkenheit, als erstickten sie im Schnaps wie Fliegen im Leim. Der Wirt stand seufzend auf und drehte den Docht klein, Betrunkene brauchen kein Licht. Verzweifelt, mit abgestorbenen Händen, tappte einer nach dem unendlich fernen Lichtpünktchen. Eine Stimme bettelte: „Erbarme dich doch unser." Auf einmal knirschte draußen der Schnee. Die höckrige, bis in die Hütte von Wurzeln durchzogene Erde zitterte. Der Wirt drehte den Docht wieder groß. Man hörte das Herannahen von Männern.
Es war ein Dutzend Holzfäller von den großen Holzplätzen auf dem Prutkakamm. Manchmal wird die Lust nach Licht und Bauernwärme auf den einsamen Holzplätzen wie eine Krankheit. Dann ziehen welche los nach dem nächsten Dorf. Einen Tag hin, eine Nacht zurück.
Die Männer traten ein in eine Wolke von Dampf. Es war, als sprengten sie die Wände. Sie schüttelten einen Schwarm von Schnee auf die Bauern, zogen ächzend ihre Stiefel aus und stellten sie in einem Halbkreis um den Ofen. Sie fingen zu trinken an, zitternd, mit gesenkten Lidern. Die Bauern wurden wach und fragten nach Söhnen und Bekannten droben auf den Holzplätzen.
Knirschend, langsam wie Lasten auf stumpfen Kufen, rollten die ersten Worte. Einer erzählte, dass dem Iwan Iwanoff drei Finger abgeschlagen wurden. Er hatte viel Blut verloren. Vielleicht kam er in ein paar Tagen heim. Der alte Iwanoff fing zu weinen an, er hatte schon drei Söhne verloren. Bei ihm krochen aus allen Fugen dürre Enkelkinder. Die Holzfäller trösteten gleichmütig. Schlucken und Prusten, das Geheul des Alten, einförmiges Geschwätz floss ihnen zusammen in eine Bauernnähe; sie saugten alles ein mit offenen Poren.
„Wie weit seid ihr oben auf dem Geviert?"
„Wir fangen nächste Woche mit Stapeln an."
„Dann ist mal wieder die Zeit um, dann kommt ihr bald wieder herunter nach Marjakoy."
Jedes Jahr zogen die Holzfäller die Gebirgsstraße hinunter nach Marjakoy zum Abschluss. Ein Heer von schweigsamen
Riesen, die Äxte über den Schultern, wälzten sie sich durch die Prutka, erfüllten die Nacht mit Gesang und Rauferei, rissen an den Brusttüchern der Weiber. Erregt und nachgiebig empfingen die Dörfer ihre Gäste.
„Nein, dieses Jahr gibt es keinen Abschluss in Marjakoy. Sie wollen nicht soviel Besuch auf einmal. Sie löhnen uns gleich oben ab, an fünf, sechs Stellen, dann sollen wir von den Holzplätzen heim nach allen Richtungen."
„Sie können uns ja gerne einteilen, wir machen doch unsern kleinen Ausflug nach Marjakoy."
„Es fragt sich, wie viele mitmachen, ganz zuletzt, wenn es heißt, jetzt macht mit."
„Doch, sie machen!"
Dimoff hatte eine leise verschleimte Stimme. Es war nichts Auffälliges an ihm, als seine unregelmäßig gezackten Zähne. Aber alle warteten, bis Dimoff seinen Schleim herausgehustet hatte und deutlicher sprechen konnte.
Er sagte: „Wir haben unsere Knochen nicht geschont, wir sind in der Nacht von einem Holzplatz auf den andren, wir haben geredet, wir haben Zettel verteilt, wir haben das ganze Geviert da oben durchgehechelt. Dass es wirklich nur taubes Korn sein muss, was da übrig bleibt."
Einer von den Bauern sagte: „Wir haben, wir, wir, wir. Da bliesen sich viele immer auf mit ,wir', ,wir'. Wie im September die Hölle losging, schrumpfte mancher ein und schrie: ,Ich!' "
In diesem Augenblick wurde die Tür aufgemacht, zwei Männer und ein Hund kamen herein. Der eine war der Bauer Stojanoff. Er hatte eine verkommene seit dem Krieg nicht ausgebesserte Hütte, ein kleines Stück Land mit einem angebröckelten Wall aus Geröll. Frau und Kind, der Bauer und der Hund, alle waren unglaublich grindig und abgerissen. Sein Begleiter hatte zwar einen schäbigen Schafspelz an, sah aber nach Stadt aus. Die Bauern dachten zuerst, dass er irgend etwas mit dem Holz zu tun hätte. Dimoff fuhr fort. „Ja, wir! Vorigen Sonntag war ein Treffen der Holzarbeiter, wir haben den ganzen Winter vorbereitet. Tausend sind nicht gekommen, aber zweihundert. Das war zuwenig. Wir waren nur zweihundert. Aber Dudoff war selbst heraufgekommen und hat gesprochen. Daran kann man schon merken, was unser Treffen war; Genosse Dudoff war selbst heraufgekommen zu uns; im Winter, über die Berge, auf unsern räudigen Holzplatz, dreißig Kilometer weit mit seinem im voraus bezahlten Kopf. Er hat zugesagt. Wenn er meint, dass es wichtig ist, dann spricht er auch, ob tausend oder hundert oder zwei sind da, und er unterschlägt keine Silbe und spart an seinem Atem nicht."
Der Mann, der mit Stojanoff gekommen war, sagte verwundert: „Aber Dudoff ist doch im vorigen Monat in Marjakoy verhaftet worden." Er hatte seine Mütze abgenommen. Sein Kopf war mit dunklen Haarkringeln bedeckt wie mit einer zweiten Mütze. Die Bauern sahen es seinem Schädel an, dass er viel damit gedacht hatte, und begriffen den Zusammenhang zwischen diesem Mann, Dimoff und Stojanoff. Dimoff sagte: „Dudoff war oft verhaftet." „Ja, aber diesmal haben sie ihn in einem Wald bei Marjakoy gefangen. Wir haben nichts davon gehört, ob er lebend irgendwo eingeliefert wurde, und das sind jetzt vier Wochen her."
Einer der Bauern.- vor einer Stunde hatte er noch mit betrunkenen Händen nach dem Dochtpünktchen getappt - sagte leise: „In Marjakoy hat ihn niemand verraten. Wer wird denn sein eigen Fleisch und Blut verraten. Mein Mund soll Dreck fressen, wenn ich lüge. Wenn einer gejagt werden soll, mein Sohn oder Dudoff, ich würde den Sohn drangeben. Sie haben ihn mit Hunden in einem Wald bei Marjakoy gejagt, mögen sie selbst gejagt und gebissen werden am Tage des Gerichts."
Der Mann, der mit Stojanoff gekommen war, sagte: „Ja, sie werden."
Dimoff sagte: „Er ist nirgends eingeliefert worden. Ich habe ihn vor acht Tagen droben reden hören. Soll ich euch wiederholen, was er gesagt hat?"
Der Mann lächelte ein wenig und sagte: „Ja, wiederhole." Dimoff stellte sich auf, mit vor Heiserkeit rauher, eindringlicher Stimme, den Tonfall eines andern mit gedehnter Feierlichkeit nachahmend:
„Die Partei hat sich nach der Niederlage wiederaufgerichtet, ihre Fehler verbessert, die Ihrigen zusammengerufen, sich erneut an die Spitze des Kampfes gestellt."
Die Bauern seufzten, die Lider vor Scham gesenkt. In ihren dunklen und dumpfen Gesichtern glühten schmale Lichtspalten. Der Mann hätte nun sagen können, dass er diese Sätze selbst auswendig wusste; denn sie waren in Wirklichkeit aus der Rede genommen, die der Delegierte der Partei im Sommer auf dem Kongress gehalten hatte. Aber er fing von etwas anderem an: „Wie viele aus eurem Dorf gehen ins Holz?"
„Es werden dreißig sein."
Der alte Bauer flennte und fing von neuem an: „Wieso weißt du von meinem Iwan, dass es drei Finger sind?"
„Es sind drei. Wir wissen es genau. Da ist nichts zu machen."
Dimoff zog seinen Pelz und seine Stiefel an und ging hinaus. Er wartete im Schnee, bis die beiden mit dem Hund nachkamen. Stojanoff hatte nichts gesagt und sagte auch draußen nichts. Er ging voran. Es schneite nicht mehr, aber die Hütten erstickten im Schnee. Man merkte kaum, dass das ein Dorf war. Schräg gegenüber, auf dem Westabfall der Drei Schwestern, lagen ein paar Lichter, aber die Sterne am Himmel sahen eindringlicher und erreichbarer aus. Jeder der drei Männer dachte erregt für sich, dass der Winter gebrochen war. Keiner von ihnen blieb verschont von der Unruhe der Schneeschmelze.
Stojanoff blieb plötzlich stehen mit einer einladenden Bewegung. Die beiden merkten nicht, dass sie irgendwo angekommen waren. Stojanoff stieß eine Lattentür auf. Der Zaun rechts und links war niedergebrochen, nur die Tür war stehen geblieben. Es ging steil hoch, eine Halde schien sich in eine andre zu schieben, es war kalt und finster. In der Hütte war es auch kalt, beißender Rauch. Stojanoff machte Licht an. Zwischen dem Ofen und der Wand war Stroh hingeschüttet. Sah man schärfer hin, regten sich dort ein paar Lumpen, ein Haarschopf, eine, Kinderfaust. Alles war, wie es Wind und Schnee gemacht hatten: eingedrückt das Dach: dass die zusammengerutschte Mauer das Innere mit Steinen halb auffüllte. Die gegenüberliegende Wand stützte sich am Ofen.
Stojanoff sagte: „Ich bin vor fünf Jahren aus der Kriegsgefangenschaft gekommen. Weiß ich, wo die fünf Jahre hingegangen sind. Ich kann euch sagen, sie lassen mir keine Ruhe, ich bin Tag und Nacht unterwegs.
Alles ist noch so, wie es gewesen ist vor fünf Jahren, als ich heraufkam. Meine Frau hatte Angst bekommen, hier draußen allein. Da war sie mit dem Kind zu Verwandten gezogen. Kaum war ich hier, da hieß es, geh nach Marjakoy, wir brauchen dich; dann kam die Zeit, wo sie den Leutnant Kolaroff drunten stationierten. Sie suchten die Dörfer nach Roten ab, suchten so gründlich, dass sie zwischen den Beinen der Weiber suchten und mit ihren Bajonetten die Därme der Männer aufstöberten. Ich musste mich verstecken und sagte zu meiner Frau: ,Geh nach Varna, wir kommen hier doch nicht dazu, Mais zu ziehen und Ziegen zu melken."
Vorigen Winter war ich im Holz, diesen Winter bin ich hier geblieben. Da habe ich meine Frau hergeholt, weil ich den Winter über ein Weib wollte.
Ich erzähle dir das alles, damit du weißt, wer ich bin. Dimoff kennt das ja, auch Dudoff hat es gewusst, er war oft hier oben.
Wie sie Marjakoy nach Dudoff absuchten, haben sie keinen Stein auf dem andern gelassen. Über kurz oder lang werden sie hier heraufkommen. Sie werden keinen Stein auf dem andern lassen, aber ich werde auch keinen Stein auf den andern setzen. Den ganzen Winter über, jeden Tag, übe ich mit meinem kleinen Sohn dasselbe ein: Ich frage, und er muss antworten. Andreas, was sagst du, mein Sohn, wenn sie dich holen, und ich sitze da, einen Strick um die Hände, rechts und links ein Gewehr, und sie fragen dich: ,Kleiner, kennst du diesen Mann?', antwortet er: ,So wahr Gott lebt, diesen Mann kenne ich nicht.'"
Sein Begleiter hustete vor Rauch, Stojanoff sagte schroff: „Kommst du aus Sofia?"
„Nein, ich arbeitete in Plevna. Aber vor fünf Wochen, als Dudoff verfolgt wurde und für die Arbeit ausschied, da bekam ich Befehl, meine Funktion aufzugeben und an Dudoffs Stelle einzuspringen."
Dimoff sagte: „Es war schwer, alle zehn von allen Holzplätzen zusammenzubringen. Wir müssen die Gelegenheit abpassen, wo du hier bist. Wir und du, wir können uns gehörig einander ausfragen. Du kannst es dann gleich weiterleiten. Wir bekommen jetzt zum ersten Mal Verbindung mit dem ganzen Gebiet östlich von Varna.
Am besten gehst du ein Stück mit auf die Straße nach dem Ködesch."
„Ich werde dir einen Packen Blätter heraufschicken, die eben in Marjakoy gedruckt wurden."
„Wirst du nicht selbst kommen?"
„Nein, wir haben wieder und wieder gesagt, dass es falsch ist, sich unnütz auszusetzen, jetzt, wo Schlag auf Schlag fällt."
Stojanoff sagte: „Das ist wahr, man kann nichts dagegen sagen. Aber auf die Allerbesten, solche wie du und Dudoff und ich" -nicht die geringste Prahlerei war in den Worten, dass Stojanoff sich zu den Besten rechnete, so sicher war es -, „macht es immer einen großen Eindruck, wenn ein Mensch den Tod nicht fürchtet." Er brachte einen dünnen Packen Blätter, Dimoff legte sie auf die bloße Haut, auf Brust und Rücken. „Die halten warm."
Um dieselbe Stunde ereignete sich folgendes im Zentralgefängnis von Sofia: In der westlichen Kasematte, gegen den Hof, waren zehn Gefangene untergebracht, die meisten aus dem Novemberprozess. Am vorigen Tag war ein gewisser Stantscheff eingeliefert worden. Spätabends, als alle in tiefem Schlaf lagen, wurde Stantscheff zum Verhör geweckt. Die übrigen konnten nicht mehr schlafen und warteten bedrückt. Nach einigen Stunden schleppte der Aufseher etwas herein und legte es auf Stantscheffs Pritsche. Stantscheff sah schrecklicher aus als je ein Mensch nach einem Verhör. Keiner konnte begreifen, mit welchen Instrumenten man ein Geschöpf so zurichtete, noch weniger, wodurch ein solches Geschöpf am Leben blieb. Es war unmöglich, Stantscheff auf irgendeine Weise zu helfen. Sie rückten von ihm ab und schämten sich einer vor dem andern.
Auf einmal schrie der junge Wlasnoff auf: „Aber das ist nicht Stantscheff." Er zitterte, dass seine Zähne aufeinander schlugen. Seine Genossen fürchteten für ihn und beruhigten ihn. „Nimm dich doch zusammen. Was schreist du da."
Aber Wlasnoff schrie: „Das ist doch Dudoff; oh, mir kann man nichts vormachen; seine Mutter würde ihn nicht erkennen. Aber ich erkenne ihn. Wir haben zusammen in Marjakoy gearbeitet, ich kenne ihn ganz und gar. Mögen sie ihm das Fleisch von den Knochen schaben, ich kenne ihn doch. Und seht doch mal seine Zähne an."
Wlasnoff kauerte sich nieder, und wie der junge Soldat im Waggon, steckte auch er seine Hand zwischen Dudoffs Kiefer und befühlte seine Zähne.
Einige hatten Dudoff gekannt oder irgendwo gesehen. Langsam fingen sie an, ihn zu erkennen, aber er erkannte sie nicht.


II
Wenn Steiner am späten Nachmittag in die Lesehalle der Universität eintrat, hätte er jedes der grünen Lichter mit beiden Händen streicheln mögen. Die Mittage waren immer schlecht. Nach dem Essen verliefen sich die Pensionäre. Steiner ging in sein Zimmer hinauf, schüttete eine Schaufel Kohlen in den Ofen. November. Aus den Baumkronen hinter dem Fenster tropfte der Regen seit seiner Ankunft, aber ein paar glühende Sommertage waren doch dazwischen gewesen, nicht von einem, von vier, fünf Sommern. Steiner setzte sich hin, um zu arbeiten. Er wollte eine Besprechung von Mautners Buch für die Monatshefte beenden. Steiner wusste, dass seine zwei Seiten Besprechung wichtiger waren als die hundert Seiten Buch; er fürchtete nur, ob die Monatshefte seine Besprechung drucken wollten. Es war zwischen zwei und drei Uhr. Er kann sich noch nicht entschließen, Licht anzumachen. Die Zeit verläuft sich ohnedies. Er wird nicht so dumm sein, den Abend an den Morgen zu hängen. Er rutscht auf dem Bett, steht auf und spielt am Ofen herum. Er denkt sich die letzten Sätze aus, ist aber zu faul, sie aufzuschreiben. Mautner fiel ihm ein, ein Männchen in einem schmierigen Gehrock aus den achtziger Jahren. Er hatte immer, ein Rudel Jugend um sich; aus irgendeinem Grund stritten sich seit einigen Jahren Schüler aus allen Ländern und Städten um die besten Plätze in seinem Hörsaal.
Eine Unruhe plagte ihn. Er stand auf und packte sein Schreib- • zeug ein. Die Unlust befiel ihn so stark wie eine Grippe oder ähnliche Krankheit. Seine Knie waren lahm, als er die Treppe herunterstieg. An einem solchen Tag kann man nicht arbeiten, in einem solch widerwärtigen Zimmer. Vielleicht bin ich auch wirklich krank.
Ja, aber was fehlt mir denn? dachte Steiner im Gleichschritt der schon beleuchteten, der Universität zulaufenden Straße. Er erinnerte sich an eine ähnliche Unruhe aus seinen ersten drei Jahren in dieser Stadt. Da war er manchmal an den Bahnhof gerannt und nach Ludwigshafen gefahren. Dort war die Fabrik aus. Die Anilinproleten drängten sich, um ihre Milliardenbündel vor Ladenschluss loszuwerden. Die Gesichter waren finster. Ein winziger Ruck genügte damals, um die ganze, von Menschen volle Straße in einen Gleichschritt zu bringen, in einen Aufmarsch. Fahnen zischten hoch. Steiner spürte in seiner Kehle, dass er brüllte, aber er konnte seine eigene Stimme nicht heraushören. Eines Morgens war die kleine Stadt besprenkelt von roten Zettelchen, als hätte ein Ausschlag aus der Nachbarstadt angesteckt. „Wer heute für Ruhe und Ordnung eintritt, schützt das Kapital." An einem andern Morgen im selben Winter, als er zufällig vor sechs auf die Straße kam, sah er zum letzten Mal in seinem Leben einen gefesselten Mann. Der hatte sich vielleicht hier versteckt und war gefunden worden. Steiner wusste nicht, war das der Rest von einem Traum oder war nur das die Wirklichkeit. Er starrte und starrte, obwohl an diesem jungen Proleten zwischen zwei Geheimen, der übrigens gesund und gleichmütig aussah, nichts Besonderes zu sehen war als eben seine Fesseln. Das war der Abschluss. Seitdem war die kleine Stadt genauso still und abgeschlossen, wie sich Steiner eine deutsche Universitätsstadt gewünscht hatte, als er mit Faludi auf dem grünen Dampfer nach Wien geflohen war. „Ja, aber was fehlt mir denn?" Als hätten seine Gedanken immer dieselbe Meterlänge, immer am selben Punkt, Ecke Rößlerstraße, an der kleinen Konditorei, fiel es ihm ein, er wusste, was ihm fehlte. Er blieb stehen, horchte. Während er in einer lächerlichen Stellung, das Gesicht gegen das bunte, hellerleuchtete Fenster der Konditorei gedrückt, den Passanten den Weg versperrte - Studenten, die es eilig hatten, am Anfang des Semesters pünktlich zum Kolleg zu kommen -, wartete er, dass ein Entschluss in ihm aufsteigen, mit ungeheurer, schmerzhafter Helligkeit sein Inneres durchleuchten musste. Schon spürte er die scharfe Kante, beugte sich, gehorchend. Aber er beugte sich umsonst. Was ein Entschluss werden sollte, verkümmerte zu einer Art Erinnerung. Als ob er sich rächen wollte, fasste er einen geringeren, nebensächlichen Entschluss. Er trat in die Konditorei ein. Seine Blicke liefen verwirrt rundum, bis sie Halt fanden: das kluge, junge Gesicht des Doktor Felix Robert, Redakteur der Monatshefte. Der pflegte hier zu arbeiten. Steiner setzte sich zu ihm. Er betrachtete mit Neid das Päckchen Papiere mit Roberts enger, splittriger Schrift bedeckt. Robert sagte: „Wir stellen Ihnen in den beiden nächsten Nummern je vier Seiten zur Verfügung. Sind Sie zufrieden?"
„Danke, Robert, Sie bekommen meine acht Seiten pünktlich geschickt, ich fahre nämlich von hier weg, für immer." Steiner war selbst überrascht von seinen eigenen Worten. Sie waren vielleicht kein Entschluss, doch der Schatten eines Entschlusses. Als läge dieser Schatten sichtbar auf Steiners Gesicht, betrachtete ihn Robert aufmerksamer als sonst und sagte fast bedauernd: „Wir haben gerade viel mit Ihnen vorgehabt; eine große Veranstaltung."
Steiner lachte: „Es gibt ja Eisenbahnen." Er stand plötzlich auf und verabschiedete sich.
Er hatte auf einmal solche Lust zu arbeiten. Er ging leicht, heiter, als sei die zweite Hälfte der Straße mit einem anderen Pflaster gepflastert. Das war eine gute Nachricht. Acht Seiten in den Monatsheften. Es war quälend für einen Menschen wie ihn, ins Blaue hinein zu schreiben. Bis jetzt hatte er nirgends und nie Anschluss gefunden. Die Professoren und Redakteure hatten ihn empfangen und besucht, angehört und ausgefragt, unschlüssig -ein Fremder. Mit den Druckbogen ihrer Zeitungen und Verlage hätte man dieses ganze Land bedecken können. Aber sie hatten um ihre Papiererde einen Stacheldraht gezogen. Endlich heute, im fünften Jahr, gaben sie ein winziges Stück frei, aber doch etwas, acht Seiten, je vier auf zwei Fortsetzungen.
Steiner trat in den Lesesaal. Einer seiner Lieblingsplätze war frei, er knipste das Lämpchen an. Sofort trieb er mit seinem grünen Lichtchen weg auf ein unermessliches Meer. Um ihn herum, verschwommen, doch ziemlich nah, trieb eine ganze Flotte von Lichtchen auf demselben Meer. Das ist gut, dachte Steiner, allein mit seinen Gedanken sein, das ist schwer und das ist richtig. Und seine Gedanken eilten sich heute, Worte zu werden, als wüssten sie, dass sie diesmal nicht nutzlos und heimatlos herumstreichen müssten, sondern ein Dach über den Kopf bekämen: die Dezembernummer der Monatshefte.
Als Steiner ein wenig müde wurde, fiel ihm ein, er könnte auch noch zu Mautner hinaufgehen, sich den mal anhören, bevor er abfuhr.
Wie er verspätet eintrat, war das Seminar schon im vollen Gang. Mautner verteilte gerade Referate für den Winter. Er sah aus, als sei er wie Diogenes aus einem Fass gekrochen, um Seminar abzuhalten. Steiner hörte zuerst belustigt, dann gedrückt mit zu. Ihn quält seine eigene Leidenschaft, zu unterrichten.
Unter Mautners Händen schien der grüne Tisch lebendig zu werden wie ein Geistertisch. Er überschüttete die Hörer mit Fragen, stürzte weiter, während die Antworten vereinzelt eintrafen oder ganz ausblieben. Er bemerkte plötzlich Steiner und fragte, ob er mitarbeiten wolle. Steiner wählte sofort ein Thema. Im Laufe des Abends warf er dann und wann einen Widerspruch über den Tisch. Alle sahen ihn an, als bildeten die Teilnehmer eine Ellipse, deren einer Brennpunkt Mautner und der andere er selbst war.
Als er aber nachher die dunkle, leere Straße hinunterging, war es schlecht, wie auf dem Hinweg. Mautner war droben stehen geblieben, in einem Knäuel stürmischer, fragender Jungen. Steiner dachte: Was soll ich hier eigentlich? Ich bin lange genug hier geblieben. Auf was warte ich? Ich muss zurückfahren. Ich muss mit Bató sprechen, gerade mit ihm, sofort. Am Ersten fahre ich, nicht später. Wie weit so ein Weg ist in ein leeres Zimmer -
Auf der anderen Seite schlurfte etwas zwischen den Laternen; Steiner erkannte den alten Mautner. Seine Schüler hatten ihn wohl an der Ecke verlassen, da musste auch er das letzte Stück allein gehen. Er blieb stehen, schnaufte, winkte Steiner zu sich herüber. Steiner passte seinen Schritt dem schweren Schritt des Alten an. Mautner packte ihn am Arm, ließ sich beinah schleifen: „Wollen Sie eigentlich für immer bei uns bleiben?"
„O nein, ich werde am Ersten abfahren."
Sie waren vor Mautners Wohnung angelangt, er presste mit einer Hand Steiners Hand, mit der andern den gelben Messingknopf. „Abfahren! Ich alter Mann habe geglaubt, Sie hätten ganz andere Pläne als Abfahrt."
Steiner ging nachdenklich heim. Er beendete beinahe zerstreut seine Besprechung. Als korrigiere ihn jemand über die Schulter, endete die Besprechung mit anderen Sätzen, als er am Mittag ausgedacht hatte. Als verstünde jemand besser als er selbst, was man über Mautner schreiben und was man nicht schreiben sollte, fiel diese und jene Stelle aus, eine andere fügte sich ein.
Am späten Abend ging er noch einmal fort, um seine Post einzuwerfen. Wie er den Bahnhof der kleinen Stadt betrat, verdeckte der nächtliche, kahle Bahnsteig alle dürftigen, verwaschenen Tagesbilder. Er war überzeugt, dass er abfuhr. Mächtige Freude auf seine Abfahrt durchzuckte ihn. So heftig war diese Vorfreude - wie er, an einen Pfeiler gelehnt, die mit Weichenlichtern besteckten Schienen entlangsah, war es, als schnurre sein Innerstes, endlich abgespult, stracks und eisern in die Nacht hinein.


III
London-Limehouse. Liau Han-tschi trat schnell ein und drückte die Tür gegen den Wind. Aus seinem Gummimantel floss der Regen in dünnen Fäden auf den Boden. Der ganze Raum war noch kahler und grauer als sonst, auf der Grenze der Wirklichkeit. Ein kleines Holzfeuer erwärmte nur die Katze mit ihrem Näpfchen, beide in einer Pfütze Milch. An einem der leeren Tische war ein Liebespaar übrig geblieben. Sie waren eingeschlafen und auseinandergerutscht, jedes in seinem eigenen Schlaf. Hinten, zwischen den Hoffenstern, hing ein graues Bild von Sun Yat-sen, wie eines jener Plakate, die zufällig auf den Wänden von Bahnhöfen klebenbleiben. Irgendwo über der Decke war ein Geräusch, als zerschlüge jemand beharrlich ein leichtes Geschirr in Scherben, und ruhe nicht, bis es ganz klein zerschlagen war.
Ma, der auf den Aufbruch des Liebespaares gewartet hatte, war hinter der Theke eingeschlafen. Liau Han-tschi weckte ihn, indem er mit dem Knöchel gegen das Glas stieß. Bei Ma gab es keinen Übergang, er war immer sofort wach, in einer schweigsamen, schläfrigen Wachheit.
„Warum kommst du zurück? Gibt es was Neues?" - „Nur so, gar nichts gibt es." Man kam hervor, räumte die Tassen zwischen den Schlafenden weg, wodurch sie aufwachten, zahlten und aneinandergelehnt hinausduselten. „Die werden nass." - Ma zuckte mit den Schultern. Er drehte das Licht aus, sie gingen hinauf. In Mas Wohnung, zwischen Tisch und Wand geklemmt, spielten ein paar Männer Mah-Jongg. Die Frau saß dabei und nähte. An der Wand klebte wieder ein Sun Yat-sen, ein bunter, pfiffiger. Einer der Männer trug eine schwarze Seidenjacke, die übrigen waren europäisch gekleidet. Liau Han-tschi sah auf das Spiel hinunter, auf die mit ihren Schatten tanzenden Hände des Schwarzröckigen. Er setzte sich zu der Frau. Er sagte: „Ich bleibe nicht länger hier, ich reise zurück." - „Wo willst du jetzt das viele Geld hernehmen?" Ma sagte: „Er ist doch der Sohn reicher Eltern." Liau fuhr fort: „Mein Vater wird wütend auf mich sein.
Zuerst will ich um jeden Preis fort, dann will ich um jeden Preis heim. Vielleicht gibt mir mein Bruder Geld." - „Ihr steht euch gut?" - „Ich habe ihn von allen meinen Brüdern am liebsten. Ich kann mir nie vorstellen, dass er etwas anderes tut als ich. Wenn ich zu einer Frau gehe, dann denke ich, jetzt geht auch er zu einer Frau; wenn ich in meinem Zimmer nachts sitze, allein, und nachdenke, dann weiß ich, dass auch er in seinem Zimmer sitzt, allein, und über alle diese Dinge nachdenkt."
Am Tisch hatten sie zu spielen aufgehört und hörten mit zu. Liau Han-tschi seufzte. Auf einmal sahen alle kränklich und verfroren aus, als hätte sein Seufzen die Temperatur im Zimmer verändert.
Und er sagte: „Ich kann nicht verstehen, was zu Hause vorgeht. Gestern habe ich Nachricht bekommen, ich verstehe wenig davon. Die Kommunisten, schreiben sie, sind in die Kuomintang eingetreten. Wann habe ich im Grund überhaupt etwas davon verstanden. - Ich war versessen darauf, nach dem Westen zu fahren. Jetzt sitze ich auf der falschen Seite der Erde. Könnte ich morgen daheim aufwachen. Es kann einem nichts Schrecklicheres geschehen, als nicht zu verstehen, was daheim vorgeht. Es ist, als befände sich das Herz an einer ganz anderen Stelle außerhalb des Leibes."
Sie hörten eine Weile geduldig zu, dann sahen sie weg. Ihrem Wegsehen war anzumerken, dass sie den Ablauf von Liau Hantsdiis Klagen kannten, allabendlich. Ma sagte - man hörte auch seinen Worten an, dass er den gestrigen Abend mit dem heutigen verknüpfte, ein niemals endendes Gespräch, wie eine Kette aus gleichen Kettengliedern: „Immerhin hat Sun Yat-sen diesen Russen Borodin bei sich behalten, immerhin hat er ein Bündnis mit Russland geschlossen, immerhin hat er gesagt, man soll sich an den großen Lenin anschließen." Der Schwarzröckige hakte ein: „Was willst du daraus ableiten? Er hat sich nicht mit den Bolschewiken verbündet, sondern mit einem mächtigen Reich, das an das unsre grenzt." Ma widersetzte sich: „Jedenfalls hat er ein Bündnis geschlossen. Kann man streiten, was er gemeint hat, bleibt immer noch offen, ob er etwas Falsches gemeint hat." -„Wenn du so sprichst, was bleibt dann nicht offen?" Ma erwiderte heftig: „Für mich ist ein Toter kein Heiliger. Seine Worte sind mir nicht unverbrüchlich. Auch ihn dort oben" – er deutete auf den kleinen bunten Sun Yat-sen über dem Kopf der schweigend nähenden Frau - „kann ich herunternehmen, wenn er mir nicht mehr passt und einen anderen auf seinen Platz hängen, den kleinen Russen mit dem Spitzbart."
Liau Han-tschi dachte: Ich will kein Gerede mehr. Ich will sehen, ich will heim. Jetzt, gerade jetzt, geschieht etwas Mächtiges daheim, ein mächtiger Stoß, man spürt es sogar hier, sogar dieser schläfrige Ma zittert mit, sogar dieses Limehouse-Zimmer zittert ja mit, ich aber will sofort heim.
Er stand auf, Ma begleitete ihn vor die Tür. Liau sagte: „Bis gestern waren meine Wünsche die Wünsche meines Vaters. Mein Ehrgeiz war der Ehrgeiz meines Vaters. Ich bin hierher gefahren und habe gelernt, was ich ebenso gut gelernt hätte, wenn ich mit andern Augen zu Fuß durch meine Heimatstadt gegangen wäre." Ma sagte mit leiser Ungeduld: „Immerhin, gelernt ist gelernt."
Es hatte aufgehört zu regnen. Liau ging zur Haltestelle und betrachtete die Auslage einer kleinen Tätowierbude, rohe, plumpe Bilderbogen, die er auswendig kannte, weil sie nur einmal im Monat gewechselt wurden, und er täglich hier wartete bei seinem abendlichen Besuch in Limehouse. Warten, Alleinsein in dieser fremden Straße mit ihren frechen, stolzen Fassaden, und dahinter die langen, kahlen Gassen, ausgegerbt und stumm. Er dachte an seine eigene Stadt, an seinen Vater. Der hatte Söhne genug, um Hoffnungen an sie zu knüpfen und Liebe an sie zu hängen. Aber sein Vater hatte nun mal gerade auf ihn gesetzt, und seine Hoffnung hatte jenen leidenschaftlichen Schwung angenommen, den sinnlose Wünsche zuweilen bei alten Leuten annehmen. Liau Han-tschi lächelte. Aber sein Lächeln, wie etwas Schweres, fiel sofort von seinem müden Gesicht herunter.


IV
„Janek?" - „Bin ich. Das ist meine Frau, Anka. Bist du Wronski?" - „Bin ich." Janek hielt mit der einen Hand Wronskis Hand, in der anderen Ankas Handgelenk. Er war zur Arbeit nach Lodz gerufen am Vorabend des großen Textilstreiks. Um sie herum strömten die Menschen aus den Abendzügen auf den Bahnhofsplatz von Lodz, der von einem hellen, im Regen zittrigen Kranz von Lichtern umgeben war. Janek blickte gegen die Stadt, als suche er Spuren ihrer Erwartung, ihrer geheimen Unruhe - blickte zurück in Wronskis breites, dunkles Gesicht, in welchem Unruhe und Erwartung deutlich waren.
„Du kommst mit mir. Es ist besser, ihr trennt euch. Hier ist die Adresse für die Frau, sie wird erwartet." Anka verbarg ihre Enttäuschung und hielt ihr Gesicht zum Kuss hin, rundes rotes Apfelgesicht, achtzehnjährig. Sie umarmten sich schnell, jedes auf dieselbe Weise, jedes legte seinen Arm in einem Reif mit geschlossenen Händen um den Rücken des anderen. Anka trat unter die Laterne und buchstabierte den Namen auf dem Zettel.
Janek und Wronski fuhren in die Stadt. Sie redeten nichts während der Fahrt, betrachteten einander offen, abwägend. Sie liefen durch ein paar düstere Straßen, gegen Windstöße, die schon aus der Ebene kamen. Wronski verteilte Grüße und Zurufe an Menschen, die sich für Janek kaum als Schatten in den Torbögen abhoben. „Hier ist es." Wronskis Familie und alles was sie an diesem Abend an Genossen und Nachbarn in sich aufgesaugt hatte, stopfte die vier Wände voll. Scharfe Reden, trommelnde Fäuste machten die Wände rattern wie Waggonwände. Gleich musste ein Pfiff ertönen und alles fuhr ab. Ihre Gesichter und Worte glühten schon von Abfahrt.
Janek sah sich um und wurde heiß: eine vertraute Landschaft graubleicher Färbergesichter, zerbissener Hände; seine eigenen Hände mit glatten Spitzen sind Fremdlinge, sie waren damals noch nicht lange genug durchgelaugt, dass es vorhielt. Aber was in Wronskis vier Wänden gesprochen wird, Tarife und Erfahrungen und Witze und Flüche, das ist Muttersprache. Daran hab ich reden gelernt und denken, und darin hab ich handeln gelernt. Das ist wie 'ne Heimat, da geht die Kraft zurück und hin und hin und zurück, da pumpte man sich voll, da bleibt keine Lücke in einem leer.
Dass der Streik erbittert und breit auf lange Sicht einsetzte, das war vollkommen sicher. Sicher war auch, dass er vor sich ging unter dem Abknallen von Polizeigewehren, unter Hieben mit Kolben und Riemen. Alle in Wronskis Zimmer ahnten, dass die nächsten Wochen das Äußerste an Kraft und Blut aus ihnen herauspressten. Aber nicht nur Wronski, seine Frau und seine Söhne, alle traten heiß und beinah festlich erregt in den Streik.
„Das gemischte Komitee zur Überwachung der Gewerkschaften war gut, ist aber schnell auseinander gefallen." Wronski machte mit beiden Armen die Bewegung des Auseinanderfallens. Seine beiden halbwüchsigen Söhne hörten scharf mit zu, ihre Augen glänzten. In ihren jungen Köpfen tönten alle die geläufigen Parolen wie wuchtige, erstmalige Befehle. Wronski packte mit jeder Hand einen Kopf, umspannte ihn mit seinen großen Fingern. „Die sind schlau und findig, die werden richtig."
Anka indessen hatte ihre Wohnung herausgesucht, nicht allzu weit weg vom Bahnhof in einem vierstöckigen Mietshaus. In der kleinen stickigen Lehrerwohnung der Melnyks war die Erregung gedrückt. Die Melnyk zog Flugblätter ab, mit aufgekrempelten Ärmeln, Bluse und Kinn und Hände mit Druckerschwärze beschmiert. Melnyk selbst legte ungeschickt frisches Papier ein. Zwei junge Leute zählten umständlich die fertigen Bündel ab. Hinten auf den Kissen lag das Wachsgesicht eines kranken Mädchens. Manchmal stand Melnyk auf, ging schnell zum Bett hinüber und setzte sich wieder. Die Melnyks druckten Tag und Nacht, doch lief der dünne, zähe Faden der Familie Melnyk, der eigne Faden, quer durch den Streik, verlor sich niemals. Melnyk flüsterte und druckte, und manchmal veränderte sich sein Gesicht, als zupfte ihn jemand am Ohr: „Du, das Kind ist krank." Einen Augenblick brachte Anka in dieses dürre Zimmer ein wenig Helligkeit, die schnell erlosch, wie aufgesogen. Melnyk fuhr mit einem Bündel in die Stadt, Anka setzte sich an seinen Platz, zählte ab, legte ein.
In vielen Wohnungen wurde in dieser Nacht gedruckt. Zwei davon wurden in der Morgenfrühe ausgehoben. Auf seinem Weg in die Bezirke kostete das Flugblatt ein Dutzend Verhaftungen.
Zwei Mittage später stand Anka am Fenster und drückte ihr Gesicht gegen die Scheibe. Melnyk war weggefahren und nicht mehr zurückgekommen. Frau Melnyk hatte das Kind ins Spital gebracht und war gleichfalls ausgeblieben. Anka musste das Zimmer hüten und den erwarteten Genossen Bescheid geben. Sie hatte jetzt nichts mehr zu tun, als zu warten. Ohne Abziehapparat und Papierberge war das Zimmer eine dürre Beamtenwohnung, Plüsch, Vasen, Photographien. Ihre Fingerspitzen prickelten vor Ungeduld. Sie war ganz verzehrt vom Warten.
Tief drunten, auf der mittäglichen Straße, im hellen, aber faden Sonnenschein rollten die Menschen in zwei gleich breiten, gleich schnellen Bändern aneinander vorüber. Anka ahnte, was um diese Zeit in den Ostbezirken vorging. Aber dieses untätige, lähmende Warten vor dem Fenster eines leeren Zimmers verbrauchte mehr Kraft als erbittertes Handeln.
Drunten auf der Straße war es jetzt voller, schwärzlicher als vor zwei Minuten. Anka drückte ihr Gesicht platt. Aus irgendeinem Grunde stockte das Band auf der gegenüberliegenden Seite, verknotete sich, hakte an irgendeinem Schaufenster. Anka wusste selbst nicht recht, warum ihr Herz klopfte, nach unten riss, vier Stockwerke abwärts. Von der anderen Seite rannten plötzlich die Menschen quer über die Straße, die lockere Menge gerann zu einer zähen Masse. Es zischte rot heraus über die Köpfe weg, mit einer jähen Welle von Gesang. Die Fahne richtete sich höher, der Zug schloss sich zusammen, alle zufälligen Passanten zerstoben wie Spreu in die Torfahrten und Kellerluken. Minutenlang flitschte das Spruchband durch die Luft: „Gegen Lohnabbau und Massenentlassung!" Anka sah noch das Ende des Zugs, während sie schon die Schüsse gegen die Spitze hörte, zwei Straßenkreuzungen weiter. Mit geschärften Ohren hörte sie die Schüsse nach entlegenen Stadtteilen überspringen - was hier geschah, war nur ein Abfall von Aufmärschen und Schüssen im Osten der Stadt. Die auf einmal unwahrscheinlich leere, halb graue, halb sonnengelbe Straße glich jetzt einer überflüssigen Kulisse, die man auch gleich abschieben wird.
Bald darauf kamen Melnyk und zwei andere, atemlos. Sie waren gerade noch durch die Polizeikette geschlüpft. Melnyk erzählte, fragte plötzlich erschrocken: „Wo ist die Tochter?" Anka wollte jetzt zu Janek fahren, versprach, auf dem Rückweg ins Spital zu gehen.
Sie war zum ersten Mal bei Wronskis. Es war noch immer so voll wie am ersten Abend. Mit seinen von Lärm und Poltern zitternden Wänden glich das Zimmer noch immer einem Waggon in Fahrt, aus dem kein einziger ausgestiegen war. Anka suchte nach Janeks Gesicht. Einer von Wronskis Söhnen rief: „Wer sind sie denn?"
Er stand dann auf und kam näher: „Aber das ganze Streikkomitee ist doch verhaftet. Warum weißt du das nicht? Die Grabskiwerke haben sich uns angeschlossen. Weißt du das auch nicht? Unser Vater ist seit dem zweiten Tag verhaftet, liegt im Polizeilazarett. Bleib doch hier, setz dich."
Anka schwieg, um dann ruhig fragen zu können: „Wie war es denn?"
Die Brüder erzählten. Anka versuchte, scharf mit zuzuhören, um nicht in sich hineinzuhorchen. Horchte sie erst einmal in sich hinein, dann wurde der Schmerz inwendig laut und biss: Morgen und übermorgen und lange kein Janek. - Sie dachte auch beiläufig: Sind das Brüder? Starke Jungens sind das. Gut, solche Söhne. Eine kleine dicke Frau mit ruhigem braunem Blick brachte Tee und etwas Geschirr. Einige hatten Blechtassen bei sich und hielten sie hin. Als die Wronskibrüder „Mutter" zu ihr sagten, sah sich Anka diese Frau genau an. Sie ging ruhig von einem zum andern und goss Tee ein. An dem ganzen Gebaren der Frau merkte Anka, dass weder ihr noch Frau Wronski etwas Unerwartetes geschehen war. Einer von den Jungens sagte: „Morgen ist schon der fünfte Tag. Aber man kann eigentlich erst seit gestern rechnen, seit die Grabskiwerke angeschlossen sind."
Die Frau brachte eine große Schüssel, auf die jeder seine Tasche ausgeleert hatte: Brot, Wurst, Zwiebel, Zuckerstücke.
Über diese Schüssel wurde viel gelacht.

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