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Anna Seghers - Die Gefährten (1932)
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Neuntes Kapitel

Auf dem von vielen Schritten zerwühlten und zertretenen Platz aus dem unregelmäßigen Viereck anstoßender Fabrikhöfe warteten etwa sechzig Frauen - mit Kindern, wie die Parole gelautet hatte. Die hellen, aber von Frost und Müdigkeit gedämpften Stimmen und das Gequietsche der Kinder gaben eine wunderliche Art von Lärm, gewöhnlichen Demonstrationen unähnlich. In allen Gesichtern spiegelte sich der Himmel, ein erbärmlicher grauer Frühhimmel. Die Schornsteine der toten, seit Wochen stillstehenden Fabriken trugen magere Schneekappen, ein wässriger Novemberschnee, der nie ganz auf die Erde herunterkam. Durch die engen, finsteren Gänge zwischen den abschüssigen Fabrikwänden kamen noch einige Frauen gegen den Platz gelaufen, mit vom Zugwind geblähten Tuchzipfeln. Die Dombrowski kam mit einem dicken Bündel, das jüngste Kind ihrer Schwester. Sofort hörte man ihre rauhe Stimme da und dort knarren. Der Zug begann sich in Bewegung zu setzen. Die beiden Frauen ganz vom spannten ihre Transparente. Wie sie auf die offene Straße kamen, trieb der Wind gegen den Stoff und warf eine der Frauen um. Der Ruck pflanzte sich durch den Zug fort, als sei das Transparent ein Segel, unter dem sie alle treiben oder kentern mussten. Die Frau richtete sich pustend wieder hoch, aber die Dombrowski stieß sie zornig beiseite, gab ihr das Kind und packte selbst die Stange, indem sie sie nach Männerart in die Hüfte stemmte. Der Strich zwischen ihren Brauen war so tief, dass es ihr selbst inwendig weh tat Im achten Bezirk kamen noch ein paar Frauen dazu. Die Männer standen in Gruppen unter den Türen und schrieen: „So ist's recht, macht's gut!"
Schweigend, bis auf das Quietschen und Lärmen der Kinder, mit ihrem einzigen Transparent, ohne Gesang und Rufe, mit federndem, gewöhnlichen Demonstrationen unähnlichem Gleichschritt zogen sie in das Innere der Stadt. Die Passanten gafften, winkten, schimpften. Diese verrückten Weiber. Sie sollen zu Hause bleiben. Sie werden nicht zum Vergnügen herumlaufen. Meiner würd ich was hinpfeffern. Aus der Ulskistraße kam Polizei „Schnell, aber schnell heim, ihr besessenen Weiber, eins zwei drei!" Sie rissen ein paar aus dem Zug, klopften mit lockerem Knüppel auf die Hinterteile. „Den Rest hol dir daheim." - „Aber jetzt marsch, da hast du eins aufs Maul, du Luder." Sie knüppelten und schlugen, aber es war doch eine Unstimmigkeit. Aus den zuströmenden Menschen kam ein Knurren. „Lasst sie doch. Wem tut sie was."
Die Dombrowski rief ihrer Gefährtin etwas zu, das Transparent straffte sich und stieß vor. Die Dombrowski drehte sich einmal schnell um. Weiße, gespannte Gesichter, aus denen helle und dunkle Blicke zu springen schienen. „Gib mal den Lappen her. Wirst bald den Lappen rausgeben." Man verdrehte ihren Arm, dass sie in den Knien nachgeben musste und sich stöhnend zusammenschraubte. Auf einmal war es um sie herum so still, dass man die Stange zerknacken hörte. Aber ihr Gesicht über dem breiten, vor Schmerz gekrümmten Körper blieb unverändert Sie richtete sich langsam auf. „Ah, du, dich kennen wir schon." -„Kennst du mich, um so besser." - „Willst du gleich dein freches Maul halten. Sag deinem Mann, er soll dir ein paar in die Fresse dazuhaun." - „Mein Mann ist krepiert im Mokotow. Städtischer Friedhof 108. Reihe, der dritte von links. Da kannst du sistieren, wenn du Lust hast."
„Na, na, na, na", sagte sie zu einem der Kinder, das unaufhörlich plärrte, „gib schon Schluss." Sie zog es hinter sich her, in die Menschen hinein, die sie anstarrten und ihr Platz machten und sich unwillkürlich schützend hinter ihr zusammenzogen. Jetzt sah es aus, als ob alles zu Ende sei. Aber in der Domgasse waren auf einmal alle wieder beisammen. Ehe die Polizei den Platz abgesperrt hatte, waren sie vor dem Stadthaus angelangt Die Dombrowski nahm der Frau das Kind ihrer Schwester aus dem Arm und legte es blitzschnell auf die Treppe. Im Nu war die ganze Treppe von zappeligen, heulenden Kinderbündeln bedeckt, sie streuten ihre Zettel darüber: „Gib ihnen zu fressen, Staat, wir haben nichts, gib du, lass sie saugen, Marschall." Die Frauen stoben auseinander, drängten sich unter die Menschen. Die Polizei knüppelte aufs Geratewohl und schrie und drohte: ,,Ihr gottverfluchten Weiber! Holt ihr wohl gleich eure Bälge ab!" Irgendwo aus der Menge schnarrte ein hartes, rauhes Lachen, als schleife man Eisen auf Stein.
Bis zum heutigen Tag hatte Janek rote Fahnen nur herauswachsen sehen aus dunklen, hartnäckigen Menschenmassen, im höchsten Augenblick, unter dem Geknatter von Schüssen. Oder in den schwachen Händen von Knaben auf der Spitze von Telegrafenmasten unter dem großen leeren Himmel über der drohenden Stadt.
Heute verzehrte die Stadt eine freudige Feuersbrunst. Auf den Dächern drehten sich Scheinwerfer und blendeten das Innerste der Stadt auf, das letzte Rot aus verborgenen Fenstern und Torbogen. Schon lag hinter ihnen der Kremlplatz, dunkel, fast einsam, während die Lebenden weiterstapften durch den Schnee, zusammengefroren mit ihren Fahnen, deren Tücher vor Kälte steif und massig waren. Von den Tribünen hinunter in die Masse, als schleuderten sie Steine von einer Brücke, warfen Redner die Parolen des Jahres, die Größe des sozialistischen Aufbaus, den Fünfjahrplan, die Einheit der Partei. Nur an dem helleren oder dunkleren Echo erkannte man, ob die Vorüberziehenden Männer, Frauen oder Kinder waren. Janek, sooft er „Es lebe" schrie, bekam einen eisernen Bissen Kälte zwischen die Zähne. Wie ein allzu niedriges Dach drückte die Kälte ihre Köpfe.
Neben Janek ging einer, das Gewehr über der Schulter, die Züge von Frost fast ausgelöscht. Janek dachte an Dombrowski. Der konnte nie so neben ihm gehen, das Gewehr über der Schulter, auf seinem dunklen Gesicht einen Schimmer von Genugtuung. Eine Tagereise hätte gelangt, und Dombrowski wäre unter dem hölzernen Torbogen auf der Grenze durchgefahren. Aber sein Leben war im Gefängnis zu Ende gelaufen, im letzten Jahre hatte es Zweifel und quälende Dispute gegeben, dann eine kurze Periode der Beruhigung, aus der er Kraft nahm, um den Hungerstreik bis zuletzt durchzuhalten: Glassplitter im Innern und gerissene Speiseröhre.
Später stand Janek allein im Dunkel einer Gasse. Der nächtliche Schnee gewann die Oberhand. Die Fahnen erloschen. Kleine Kolonnen kehrten mit ihren Gewehren und Transparenten in die Betriebe zurück.
Janek schloss sich einem Trupp an, Gassen auf und ab. Die Stangen der Transparente in den vom stundenlangen Tragen müden Händen schleiften eine Spur in den Schnee, in der die ganze Kolonne weiterzog. Das Band legte sich quer über die Brust der Träger, deren dunkle, schleppende Stimmen den Ton hielten, Stück eines Liedes, dessen Ende Janek in der Torfahrt verloren ging.
„Noch floss in Saporoshje das Blut, Da kam eine große Hungersnot, Die Menschen fraßen Erde statt Brot Im vierten Jahr der Diktatur.
Da reckte der Burshui seinen Hals, Die Krähen fingen an zu schreien: Die können nicht weiter, die krachen ein Im vierten Jahr der Diktatur.
Wir Arbeiter von Dzershinski Sawod
Aus dem Bürgerkrieg heim ohne Stiefel, ohne Brot,
Wir schnallten ab, wir heizten den Schlot
Im vierten Jahr der Diktatur."
Seit seiner Entlassung hatte Janek nichts mehr von Anka gehört. Er schrieb und schrieb, suchte und suchte. Es gab auch andere Mädchen, helle, gute Gefährtinnen. Aber mit Anka war er aus Freude zusammen gewesen, mit diesen nur, um nicht allein zu sein.
In Moskau ging er fast jeden Abend in den polnischen Klub nachfragen. Seine Freunde wussten schon, da ist Janek, fragt wieder. Wenn er dann nach dem abschlägigen Bescheid zu ihnen trat, war er schnell ausgewechselt, lustig, zu Späßen aufgelegt. Als einer mal seiner Frau den Arm um die Schulter legte, senkte Janek schnell die Augen, und der zog schnell seinen Arm zurück.
Zwei Wochen vor seiner Abreise kam er nachts in das Zimmer, das er mit Strochoff teilte. Der war noch nicht zurückgekommen. Janek war enttäuscht, er war nicht gern in einem Zimmer allein, er blieb wach und wartete. Jetzt hatte er nur noch zwei Wochen, vielleicht war ihm Anka schon verloren, wie seine Mutter und seine Schwester verloren waren. Vielleicht ist es überhaupt ganz falsch für mich - er drückte seinen runden Kopf gegen die Bettlade -, mich so an einen einzelnen Menschen zu knüpfen. Vielleicht ist es zum Schämen, dass mir das Kummer macht. Für solche wie mich ist es schlecht, sich an einzelne zu hängen. Vielleicht denke ich aber auch nur jetzt so, weil mir das Kummer eingebracht hat. Vielleicht ist es gerade für mich anders richtig. Strochoff soll schon endlich kommen. Aber er ist auch nicht der Richtige, um mit ihm darüber zu sprechen.
Nach einer Stunde traten Strochoff und noch zwei ein und forderten Janek auf, in den Klub zurückzukehren.
Es war lange nach Mitternacht, der Essraum war schon dunkel. Im Lesezimmer spielten ein paar verbissen Schach. Janek wunderte sich, warum sie bei seinem Eintritt aufhörten und ihn listig ansahen. In der Ecke auf der Bank schlief eine junge Frau unter ihrem großen Tuch. Umrisse einer weichen, runden Frau füllten das dicke Tuch, füllten die Lücke in Janeks Herz ganz aus. Er zupfte ein wenig am Tuch: in die Knie gezogene, runde wollene Beine. Es war gar keine unmäßige Freude, eine sanfte „Alles ist in Ordnung"-Freude. Er berührte ihr Gesicht, dicke rauhe Winterbacken. Er scheute sich, sie aufzuwecken. Die anderen hätten gern dieses Wiedersehen miterlebt, aber Janek wehrte ab: Geht heim, ihr, ich warte.


II
Der schneeweiße Kai von Aden verblasste. Es war nutzlos, immerfort in eine Richtung zu starren, die Küste war längst nur ein dünner Strich, das Ungewisseste vom Ungewissen, der Horizont. Sie rissen sich los. „Wir haben genau die Hälfte des Weges hinter uns," Sie gingen langsam, mit gesenkten Köpfen über Deck zu ihren Liegestühlen. Als sich Liau Han-tschi gegen das Meer kehrte, in diesem Augenblick fühlte er, dass er die Linie überschritten hatte, die das Heimweh von der Erregung der Nähe abtrennt.
Doktor Tsen war schon vor der Abfahrt in Marseille auf ihn zugetreten: „Genosse! Wir haben einmal zu dritt in Berlin gegessen, du, dein Bruder und ich. Wir haben, glaube ich, jetzt eine gemeinsame Kabine. Wir kehren unter sehr veränderten Umständen auf unsere Posten zurück."
Sie richteten ihre Liegestühle nebeneinander. Sie lasen die englischen Zeitungen, die sie am Abend in Aden gekauft hatten. Ihre Köpfe mahlten nebeneinander. Liau sagte: „Es ist soweit. Er hat die Gewerkschaftsführer in Kanton verhaften lassen. Es sieht so aus, als ob sie bereits ermordet sind." Tsen sagte: „Er wird glauben, dass diese Maßnahme notwendig ist" Liau las und las, zuweilen richtete er eine Frage an Tsen, aber dieser erwiderte immer nur: „Quäl dich nicht, wie willst du aus diesem Wust die Wahrheit herausfinden? Bald siehst du alles mit eigenen Augen."
Liau lehnte sich zurück. Jetzt hier oben am frühen Tag war die Hitze unermesslich, eine dickflüssige Substanz. Meer und Himmel schimmerten weiß, in einem engmaschigen Netz von flimmernden Kringelchen. Liau schloss die Augen. Wenn er nachdachte, dachte er nie an die Vergangenheit. Das letzte Jahr lag zu weit zurück, als dass es sich lohnte, Bilderchen zu flicken. Er dachte an die Ankunft. Wohin wird man mich schicken, werde ich brauchbar sein? Ich muss mehr schlafen. Ich muss ausgeruht ankommen, mit starken Nerven. Ob ich meinen Bruder noch sehen werde? Wenn ich noch zwei Monate dort bleibe - aber vielleicht schickt man mich gleich weiter. Wozu auch auf ihn warten. Keiner sieht keinen wieder.
Aber dann war es doch das alte Fenster auf den Hof, durch das er gezwungen war, die gegenüberliegende, von innen erleuchtete Werkstatt zu betrachten. Er sieht und sieht. Der Himmel über dem Hof ist noch blau, aber drinnen brennt Licht. Hinter seinem Rücken geht die Tür. Er hat keine Lust, sich umzudrehen, aber er tut es doch. Sein Herz bleibt vor Schreck stehen. Mitten im Zimmer sitzt der Doktor Tsen, er ist einfach hereingekommen und sitzt jetzt hier. Liau weiß nicht, warum das furchtbar ist. Aber furchtbar ist es, und sein Atem stockt. Das stimmt doch gar nicht, denkt er. Tsen ist abgefahren, wir sind beide abgefahren, aber Tsen sagt, er glaubt, dass diese Maßnahme notwendig war.
Liau seufzte, und Tsen drehte sich nach ihm um. Er beugte sich förmlich über ihn, betrachtete sein schlafendes Gesicht Wie jung er war. Man konnte hinter der dünnen Stirn die Gedanken zucken sehen. Tsen wurde nicht müde, das Gesicht zu betrachten, eine viertel Stunde, eine halbe Stunde. Drei, vier Grammophone plärrten durcheinander, zwischen Himmel und Meer. Der Rauch legte sich auf das Hinterdeck, die Luft schmeckte bitter. Zwischen den ächzenden Passagieren trieb ein rotkostümierter Junge sein Eiswägelchen und verkaufte Limonade und Früchte. Liau Hantschi richtete sich auf. Sein Hemd und sein Haar waren nass von Schweiß. Er stand auf und ging zum Geländer. Das Meer schien unbewegt, selbst der dicke, beständig knisternde Schaum der Turbine schien dem Schiff wie ein Flügel seitlich angeklebt. Drei Schüfe stocherten am Horizont herum, Himmel und Meer klappten hinter jedem einzelnen zusammen. Liau dachte an seine Abreise vor vier Jahren mit bitterer Reue: „Dann brauchte ich jetzt nicht anzukommen. Was für ein Unsinn, sich damit abzuplagen. Ich muss diesen Umweg aufholen." Tsen stellte sich neben ihn.
Sie hatten sich auf der Reise so aneinander gewöhnt, dass keiner den andern allein ließ. Liau drehte sich vom Wasser weg, und Tsen drehte sich auch weg. Er sagte: „Sieh mal, da drunten, die ist schön." Da lag eine, das kleine braune Gesicht auf einem Schweif von Haar, mit nackten, hochgezogenen Knien. Liau sagte zerstreut: „Wunder-, wunderschön." Tsen sagte: „Ob der kleine mickrige Kerl zu ihr gehört? Ist die aber schön. Warum fährt sie zweiter Klasse?" Einen Augenblick wunderte sich der Jüngere über Tsens Gesicht. Er beunruhigte sich flüchtig über ein so schnell auswechselbares Gesicht. Dann sagte er lachend: „Vielleicht ist sie geizig." Tsen seufzte, als ob er ohne den Jüngeren nichts anfangen könnte.
Abends, wenn die Hitze nachließ, wurde Tsen gesprächig. „Dein Bruder ist in Russland?" - „Er ist noch drüben, aber auch er wird bald zurückfahren." - „Hast du nicht zuerst nach Russland fahren wollen?" - „Nein, später, wenn ich daheim gearbeitet habe", er erklärte, Tsen hörte gespannt mit zu. „Du bist spät in die Bewegung gekommen, hast aber deine Stellungnahme beibehalten. Woher kommt das?" - „Das ist doch einfach, sobald ich unsern Kampf verstanden hatte, stellte ich mich mit beiden Füßen auf meinen Platz. Fängt man endlich an, nachzudenken, dann denkt man folgerichtig." - „Ich kenne deinen Vater aus früheren Zeiten. Er hat doch ein Landgut?" - „Man hat es ihm abgenommen und später wieder zurückgegeben. Er war Beamter, mein Vater, er hat viel verdient und von seinen Ersparnissen dieses Gut gekauft."
Sie gingen nach unten. Liau legte sich schlafen, und Tsen legte sich auch schlafen. Zuerst unterdrückte Tsen den Wunsch, sich vornüberzubeugen und das Gesicht des schlafenden Liau zu betrachten. Er blieb reglos liegen, mit zusammengepressten Lippen unter schwerem Gewicht. Dann, ratsch, warf er sich doch herum, blickte auf den Jüngeren. Der hatte das Gesicht nach Knabenart im Arm vergraben, so dass Tsen nur seinen Hinterkopf sah, bedeckt mit dickem, zottigem, auf der Reise unregelmäßig beschnittenem Haar.
Sie hielten in Singapore. Sie gingen ins Chinesenviertel. Vorkost der Heimat. Liau dachte: Fühlt er keine Erregung, oder verbirgt er sie? Die letzte Zeit ist er so schweigsam, als sei ihm sein Reisevorrat an Worten ausgegangen. Sie fuhren zum Dampfer zurück. Sie lagen nebeneinander. Einmal sagte Liau: „Wann wirst du von Kanton weiterfahren?" - „Das weiß ich noch nicht."
Um Malakka herumfahrend, zerschlitzte der Dampfer die letzten Breitengrade. Liau schwieg jetzt ganz, der Ernst der Ankunft lag auf ihm wie ein Abschied.
Sie kamen am Fünften in Kanton an. Sie räumten zusammen ihre Kabine. „Leb wohl, Genosse, besser hier als oben." - „Ja, leb wohl. Aber die Einfahrt dauert stundenlang, wir werden noch oben beisammen bleiben." Liau beeilte sich, heraufzukommen, Land, Hafen und Stadt schälten sich aus dem frühen Morgen. Er wusste nicht, wie lange die Einfahrt dauerte, bis ihm zu Bewusstsein kam, dass die Landung vorbei war. Tsen stand noch immer neben ihm.
Die Brücke war noch gesperrt. Aber Beamte liefen eilig an Bord in neuen, unbekannten Uniformen, die Liau wunderlich vorkamen. Tsen sagte plötzlich: „Bleib hier stehen, ich komme gleich zurück." Liau blieb stehen, sah auf den Hafen. Tsen kam mit zwei Beamten zurück. „Im Namen der Nationalregierung, Sie sind verhaftet."
Tsen wollte so schnell wie möglich fortgehen, aber er ging nicht fort, sondern blieb stehen, so lange er noch einen Schimmer von Liaus Gesicht erblickte - unsagbares Erstaunen. Als sie Liau Han-tschi über die Brücke führten, blieb er dicht hinter ihnen, bis Liau als erster den Boden ihres Heimatlandes betreten hatte, zwischen seinen beiden Begleitern, an deren Handgelenke die seinen mit eisernen Ringen befestigt waren.


III
Katarina Bordoni trat in den Hof, nasses Zeug klatschte ihre Backen, sie legte den Kopf zurück, um zu sehen, ob der Himmel auf ihre Wäsche regnen würde. Der Himmel war über das Hofviereck gespannt wie ein feuchtes weißliches Laken. Sie hielt ihren Bauch zusammen und ging ins Haus. Sie konnte nicht verstehen, warum die Geburt nicht anfing. Sie hatte schon viermal alles gewaschen und viermal war alles verdreckt.
Drin im Zimmer saß der Patron auf seinem Schusterhoeker und schwätzte mit den Kunden durch das Kellerfenster; über seinem Kopf hing der Vogel in seinem Käfig. Hinter dem Tisch saß der Schlafbursche vor seinem Teller und seinem Weinglas; außerdem gab es noch im Zimmer eine Katze und ein paar Kinder, Katarinas eigene und die des Patrons. Alle diese Lebewesen hasste Katarina Bordoni, und sie hätte jedem einzelnen etwas Schlechtes zufügen mögen. Sie wollte aufräumen, langte nach ein paar Sachen und stopfte sie wieder an ihre alten Plätze Schließlich setzte sie sich auf ihren Korb, das einzige, was sie diesem Zimmer besaß, ihren Korb mit ihren Sachen aus Bordesiglio.
In der Tür erschien ein Mann, aber nicht ihr eigener, sondern Pali. Die Frau erhob sich so schnell, als hätte ihr Bauch seine Schwerkraft eingebüßt. Der Patron drehte sich herum, und die Kunden hängten sich durch das Fenster in das Zimmer. Der Schlafbursche stellte sein Glas hin und freute sich auf das lustige Geschimpfe.
Die Frau stellte sich vor Pali hin und fragte: „Was willst du denn?"
„Wo ist Bordoni?"
„Der ist noch nicht da, was willst du denn?"
Pali konnte die Frau nicht leiden, erwiderte kurz: „Ihn abholen, zur Demonstration."
Die Frau kam einen Schritt dichter heran, der Schlafbursche hinter dem Tisch freute sich: jetzt kam's. Aber die Frau war zu erschöpft, um zu schimpfen, sie erwiderte leise: „Ich sage dir jetzt zum hundertstenmal, dass er gar nicht da ist." Da drehte sich Pali um und ging hinaus auf die Gasse, um Bordoni an der Ecke abzupassen. Die Frau setzte sich wieder auf ihren Korb und blieb sitzen wie aufmontiert. Das Zimmer füllte sich mit schwatzenden und schimpfenden Menschen. Es wurde Abend. Über dem Tisch ging die Lampe an, die Frau des Patrons richtete Abendessen her und schimpfte, weil Frau Bordoni nicht mithalf.
Aber die blieb auf ihrem Korb sitzen wie auf einer Insel, als sei sie nur dort in Sicherheit. Es gab Lärm und Gelächter und Klappern, der Schlafbursche spielte Harmonika, Kinder, die vielleicht ihre eigenen waren, schrieen und zerbrachen etwas, und die Frau des Patrons kam zweimal dicht an den Korb und schimpfte, weil Frau Bordoni sich nicht um die Kinder kümmerte. Sie wollte aufstehen, aber ihr Bauch zog zu sehr, da blieb sie einfach sitzen, und die Kinder und überhaupt alle Menschen im Zimmer wurden von selbst still und flach. Die Lampe war aus, die Frau krümmte sich auf ihrem Korb zusammen und wartete. Schlecht war alles, seit Jahren wurde es immer schlechter und unverständlicher, aber Pali war von allem das Schlechteste. Wenn einmal in einem Monat nichts besonders Schlechtes da war, dann kam dieser Pali, setzte sich zu ihrem Mann, und die beiden heckten miteinander etwas neues Schlechtes aus. Pali hatte an allem schuld, an der Partei, an dem Herumgeziehe, an ihrem Mann, an allem. Alles hatte angefangen, als sein rundes, weiches Gesicht hereingeplatscht war in ihr ordentliches Zimmer in Bologna. Wenn Bordoni nicht mit der Demonstration gegangen wäre, dann hätte er längst hier sein müssen. Aber Pali hatte ihn bestimmt abgepasst. Die Frau dachte, dass sie auf die Gasse hinausgehen wollte, um ihn wenigstens jetzt abzupassen, aber ihr Bauch hielt sie auf dem Korb zurück, nur in ihrem Kopf lief und lief sie, sie hörte ihre eigenen Schritte hinter ihrer Stirn die Gasse hinauf und herunter hallen.
Die Menschen unter den Decken schnauften und raschelten, ihr Schlaf war schon nicht mehr so dicht, die Frau verstand, dass Bordoni nach der Demonstration nicht heim, sondern in irgendeine Versammlung gegangen war. Aufstehen wollte sie nicht, aber sie wusste auch nicht, was sie mit ihrem Kopf machen sollte. Wie müde wird sie morgen sein. Am liebsten hätte sie das neue Kind, das noch gar nicht da war, tief in sich hineingestopft in ihr Allerinnerstes, dass es gar nicht mehr herausfand, und die Kinder, die schon da waren, dazu. Jetzt wurde es schon hell. Katarina verstand, dass irgend etwas geschehen sein musste.
Am nächsten Morgen erschienen zwei Fremde an der Tür und fragten nach der Familie Bordoni. Katarina auf ihrem Korb erwiderte: „Ich." Sagte der eine, was der andere übersetzte: „Wir haben die Pflicht, Ihnen mitzuteilen, dass Ihr Mann gestern abend bei einer Demonstration festgestellt wurde und dass Sie Frankreich innerhalb vierundzwanzig Stunden verlassen müssen." Katarina erwiderte ruhig, nun da sie alles wusste: „Aber das kann ich ja gar nicht." Übersetzte der andere: „Sie können natürlich ein Gesuch einreichen, aber wir machen Sie darauf aufmerksam, dass es zweckmäßiger für Sie sein wird, sofort mit Ihrem Mann zu fahren."
Als die Fremden gegangen waren, stand Katarina von ihrem Korb auf und trat in den Hof. Sie nahm drei, vier Wäschestücke ab, aber dann besann sie sich anders, hängte die Leine rechts und links ab und rollte alles in einem nassen Bündel zusammen. Böse Fragen der Patronin und der Nachbarin schnickte sie einfach weg mit ihren beiden Schultern. Dann rief sie die Kinder zusammen, machte eins nach dem andern fertig und setzte sie nebeneinander auf den Korb. Die Wäsche rollte sie in ihre Schlafdecke.
Am Nachmittag nach der Arbeit kamen Genossen, auch Pali kam, und halfen ihr, die Kinder und die Sachen an die Bahn bringen. Um sechs Uhr kam Bordoni auf den Bahnsteig in Begleitung eines fremden Mannes. Er reichte allen die Hand und lächelte, ihm war alles eins, nur der Anblick der Frau und der Bündel störte ihn, vielleicht hätte er im tiefsten Herzen nichts dagegen gehabt, wenn die Frau in irgendeinem Spital hängengeblieben wäre.
Der fremde Mann, der den Auftrag hatte, bis Maubeuge mitzufahren, setzte sich ihnen im Abteil gegenüber. Bordoni verstaute den Korb und das Bündel im Netz, breitete die Decke auf dem Boden aus und legte die Kinder darauf. Er stellte den Schirm über das Gaslicht, aber bei jeder Station schüttete die Stadt noch so viel Licht und Lärm durch die Fenster, dass die Kinder erschraken und aufwachten. Endlich hatten sie das Weichbild von Paris verlassen, und die einbrechende Nacht war nur noch von den Lichtern der Bahnwärterhäuschen punktiert. Die Frau saß gerade da; mit beiden Händen zog sie den Rock über ihrem Leib glatt, als könnte das Kind dann besser durchsehen, alles Schlechte genau betrachten.
Die letzte Zeit hatte sich Bordoni überhaupt nicht um seine Familie gekümmert. Sie waren so schreckliche Gewichte an den Füßen, in allem, was er für die Partei unternahm. Aber der Anblick dieser auf dem Boden eines Abteils schlafenden Kinder irgendeines Genossen, ihr im Gaslicht grünliches, im Rattern des Zuges zitterndes Fleisch erfüllte ihn mit verzweifelter Zärtlichkeit. Auf einmal sagte die Frau mit neuer, harter, ganz veränderter Stimme: „Wohin fahren wir eigentlich?" Der Mann sah sie schnell an, ihr Gesicht war wie die Stimme: neu und hart. Der Mann erwiderte: „Nach Belgien." Die Frau fragte: „Was ist das für ein Land?" Der Mann erwiderte: „Ein Land wie alle andern Länder."
Die Frau legte ihm eine Hand aufs Knie. Der Mann wunderte sich, nahm Katarinas Hand von seinem Knie weg und legte sie in seine andere Hand. Zwar war es nicht Liebe, aber mehr.


IV
Der Nebel war dicht. In den dicken grauen Schwaden, die die Prutka von Osten nach Westen erfüllten und, von Talwind gebläht, wie Riesenmähnen um den Ködesch und die Drei Schwestern standen, verlor sich das einzige winzige Licht der Dorfschenke. Aber die Leute, die in der Hütte herumlagen, kamen, von diesem Licht angelockt. Und geblendet senkte der Mann die Lider, der eben, triefend von Nebelnässe, nach langer Wanderung in die Tür trat. Er taumelte, lehnte sich an den Türbalken. Er öffnete den Mund, aber es kam nur Nebel heraus. Die Männer fingen an, ihn zu erkennen und, erwachend aus ihrer düsteren Tätigkeit, riefen sie ihm zu: „Dimoff, bist du das? Wo bist du all die Zeit über gewesen?" Dimoff stülpte langsam seine Mütze ab, trat über die Bauern weg an den Ofen, langte danach. Der war kalt, aber er lehnte sich doch daran. Er sagte: „Ich bin über die Halden gekommen. Ich suche da im Nebel herum und suche und suche und finde nichts. Da bin ich mal zu euch herüber." - „Was suchst du denn?" - „Seine Hütte." Sie schwiegen. Dimoff fühlte ihre schmalen, scharfen Blicke auf seinem Gesicht, kreuz und quer, wie Schnitte. Schließlich sagte einer: „Da kannst du lange suchen. Morgen, wenn es hell wird, geh mal hinauf, da liegt viel Geröll vom Ködesch. Da kannst du dir die Steine von Stojanoffs Hütte herausklauben. Was da noch an Erde ist von Stojanoffs Stück, das hat man zum Gemeindestück gelegt. Den haben sie doch damals erschlagen, als es bei uns losging, da war er der allererste, den sie totschlugen." Dimoff sagte: „Sie haben Stojanoff totgeschlagen?" Er rieb seinen Hinterkopf am Ofen.
Seit seiner furchtbaren, gelungenen Flucht war Dimoff nicht mehr auf die Holzplätze gegangen, geschweige denn in die Stadt. Die zweite große Welle der Verfolgungen hatte ihn in sein entlegenes Heimatdorf zurückgeschwemmt, in die Dunkelheit, aus der er gekommen war. Dann war vor einigen Tagen jemand bei ihm gewesen, hatte ihn aufgefordert, wenn irgend möglich, herunterzukommen. Gewiss war es möglich, und gewiss kam er -er brach auf, als hätte er nur dieses äußeren Anstoßes bedurft, um ihn wachzurütteln. Stojanoffs Tod erregte ihn, aber verstörte ihn nicht - als sei für ihn selbst durchlebt, was er gefürchtet hatte, so deutlich war Stojanoff, sein struppiges Stirnhaar, sein Hund. Sie redeten über den teuren Toten und waren daran gewöhnt.
„Sein Weib und sein Sohn - mögen sie lange auf dieser Erde leben bleiben - sind nach Banja zur Verwandtschaft. Damals, als sie den Stojanoff schlugen, war Dudoff durchgekommen. Er war aus dem Kerker in die Berge gesprungen. Sie hatten ihm seine beiden Hände in eine Eisenstange gesperrt. Er aber hat mit dieser Stange seine Tür eingedrückt, die Wächter niedergeschlagen und ist in die Wälder gelaufen. Da ist er nachts in die Waldschmiede des Schmiedes Dimo gekommen, an der Brücke am Ornoflüßchen, dieser Dimo hat ihm die Stange abgenommen, Dudoff hatte einen Vorsprung, war die Nacht über bei Stojanoff versteckt - wir wussten es nicht, wahrscheinlich ist er gar nicht über die Prutkastraße gekommen, sondern oben herum. Seitdem hält er sich hier in der Nähe verborgen - in Banja heißt es, dicht bei uns. Er ist auch hier sicher, so sicher er in diesem Jahr sein kann. Man kann sogar sagen, dass er aufgehoben bei denen ist, die sonst der Partei den Hintern hinstrecken und von nichts gehört haben und nichts hören wollen. Das haben sie doch gehört und begriffen in ihren Nußköpfen, dass das, was Dudoff getan hat, auf sie gegangen ist. Da kann man manchen finden, der gewöhnlich nicht das Schwarze unter dem Nagel umsonst hergibt, aber für Dudoff, wenn er eine Nachtherberge braucht, alles, was Stojanoff gegeben hat."
Dimoff schien kaum mit zuzuhören, sein Gesicht blieb dunkel. Er beschloss, den Umweg über Banja zu machen, um Stojanoffs Frau und Kind wieder zu sehen. Im geheimen hoffte er dabei, Dudoff zu treffen. Ein einziges Mal hatte er Dudoff gehört, am Ausgangspunkt seines jetzigen Lebens, vor vielen Wintern auf dem Holzplatz; damals hatte er zuerst eine klare, eindeutige, ihm vollkommen verständliche Antwort auf alle Fragen bekommen, sogar auf solche, die er in seiner Armut an Brot und Worten noch gar nicht gestellt hatte. Er wünschte sich, Dudoff zu hören, ja sehnte sich danach, in seinem finsteren, von Verfolgungen und Drohungen eingeschnürten Herzen.
„Warum gehst du schon?"
„Ich muss."
Dimoff stieg vorsichtig über die Bauern weg, die auf dem Boden um den Ofen herum lagen, als könnte er, wenn man nur lange genug wartete, doch noch Wärme geben.
„Warum seid ihr alle noch hier?"
„Zurückgeschickt — die alten Stapel lagern noch. Der Winter fängt erst an - wenn unser Dorf vom Ködesch herunterfällt, merkte es niemand."
Als Dimoff hinausging, war die Nacht über den Bergen fast klar. Der Nebel hatte sich in den Tälern gesetzt, ein dicker, glänzender Schaum, aus dem die Bergspitzen wie Hügelchen heraussahen. Dimoff suchte und fand den Weg, den ihn das Kind im vorigen Herbst geführt hatte. Damals hatte er nicht geglaubt, dass er den unvorstellbar schrecklichen Weg noch einmal, ja bis zu Ende gehen könnte. Er war bereits über dem Westabfall, aber der Abgrund war gar nicht fühlbar, weil er mit dickem Nebel ausgefüllt war, mit so fester, gleichmäßiger Oberfläche, dass sich die drei Schatten der Schwesternberge darauf abbildeten. Neben Dimoff her bewegte sich über die ganze Nebelfläche der Prutka ein ungeheurer Schatten, vor dem ihm gegraut hätte, wäre er nicht an einer Stelle an seine eigenen Füße gekettet.
Er kletterte das alte Bachbett hinunter in dem Nebel. Aber unversehens, als breite sich der neue Tag wie ein Feuer von unten aus, glühte hier und da das Eichenlaub in den Bergfalten.
Als Dimoff nach Banja kam, musste er erst jemand wecken, um nach der Witwe des Stojanoff zu fragen. Der Hund des Geweckten bellte, alle Hunde bellten, als Dimoff den Weg hinunterging, den zögernden Tag mit seinen Schritten anfeuernd. Die Hütte, die er suchte, war zwischen die übrigen Hütten geklemmt, die, durch den Bergabfall gezwungen, eine lange Gasse bildeten. Dimoff erinnerte sich, dass der Bauernbund hier nach dem Krieg festen Fuß gefasst hatte, bevor Stojanoff und die anderen zur Arbeit herüberkamen. Jedenfalls war es ein aufgeschlossenes Dorf, Banja, das sich jetzt bellend und schimpfend an den frischen Tag machte.
Dimoff klopfte, eine kleine Frau öffnete; Strohhalme steckten in ihrem vom Schlaf verwirrten Haar. Sie packte ihn am Gürtel, sah ihn von unten nach oben an. In ihren Augen gingen kleine helle Punkte an, erloschen wieder. Beide sagten nichts. Die Frau ging voran - so wenig Schritte Dimoff hinterherfolgte -, schon umwehte ihn, ihm das Wasser im Mund zusammenziehend, der Geruch von angebratenem Hammelfleisch. Die Frau rief: „Andreas!" Der Knabe torkelte, wurde gleich wach, als er Dimoff erkannte. Auch er fasste ihn am Gürtel, auch in seinen Augen gingen kleine Lichter an, aber sie blieben. Sie betrachteten einander lächelnd. In den Augen des Mannes hatte sich alles, was sie gesehen hatten, im Grund festgesetzt, ein dunkler Bodensatz. Aber die Augen des Kindes waren klar geblieben, ins Bodenlose war alles gerutscht, als sei die kleinere Stirn die tiefere.
Nach und nach standen alle auf, gaben ihm die Hand und setzten sich. Stojanoffs Frau schien in ihrer Verwandtschaft gut aufgenommen. Man merkte es an der Art, wie sie jedem die Schüssel hinrückte und ein Wort dazugab, jedem für seine Tagesarbeit. Niemand zeigte Erstaunen, dass dem Gast reichlich gerichtet wurde. Die Frau mochte wohl ihren Grund haben.
Seit Dimoff in dieser Stube war, erwartete er etwas Besonderes. Er sah sich rundum. Aber unter den bräunlichen, gesenkten, kauenden Gesichtern war keins, das Dudoff sein konnte. Bald gingen alle fort, auch Andreas ging, zwei leere Säcke schleifend.
Die Frau brachte noch einmal Brot und, auf einen kleinen Spieß gereiht, ein paar Brocken fertig geröstetes Fleisch. Sie setzte sich ihm gegenüber und betrachtete ihn genau.
Dimoff sagte: „Dudoff ist doch hier in Banja. Wo ist er?"
„Nein, wieso denn? Er ist nicht hier."
„Du weißt es vielleicht nicht"
„Du bist ja - wenn es jemand weiß, weiß ich's. Bestimmt nicht."
„Dort oben haben sie gesagt -"
„Ah, von dort kommst du -"
In ihren Augen gingen helle Punkte an, gingen aus. Sie stand auf, holte frisches Brot. Sie merkte wohl, dass sich Dimoff Gedanken machte, über irgend etwas sehr enttäuscht war. Sie füllte seinen Teller noch und noch.
„Lass nur -"
„Lass doch, Dimoff, lass mich. Haben wir dir unser Blut gegeben, können wir dir auch ein Stück Brot dazugeben."
„Wie?"
„Kaum warst du fort. Kaum warst du fort. Keine zwei Stunden danach."
Dimoff rieb und rieb mit den Zähnen, ja, diese Mahlzeit musste er essen bis auf den letzten Bissen.
„War es nicht, als Dudoff durchkam?"
Da sagte die Frau ärgerlich: „Dudoff. Was hast du mit ihm? Niemand weiß, wo er ist. Er ist vielleicht längst außer Landes. Er war längst nicht mehr bei uns durchgekommen. Nur du warst durchgekommen."
Dimoff tunkte auch noch das Fett von seinem Teller mit einer Brotrinde. Alles schmeckte wie Sand. Die Frau fuhr fort, ihn zu betrachten.
Er dachte nach. Er sah sich um, als hätte er plötzlich einen Punkt erreicht, von dem er den zurückgelegten Weg besser übersehen konnte.
Er sah sich selbst als Kind rittlings auf einem Balken das Ornoflüßchen heruntersausen, kreischen vor Angst und Freude, bestürzt und glücklich über das Wasser, und weil er zum ersten Mal spürte, dass er etwas war, das sich vom Wasser, den Balken, der Luft und den Bergen abhob. Sein erster Gang auf den Holzplatz. Verwundert und enttäuscht hörte er das Echo seiner ersten Hiebe, schwach und mager gegen das Echo seiner Brüder. Lange hielt er diese Axthiebe zu den Bergen gehörig wie Schnee und Nebel und Wasser. Bis er verstand, dass es eine Stelle gab, wo alle gezählt und keine vergessen waren, die im Herbst rot brennenden Eichen und seine Axthiebe: das Notizbuch in der Tasche des Lagerverwalters drunten bei den Sägewerken. Wie hatte er damals in der Wildheit der Heimkehrnächte den verächtlichen Lohn in einer Stunde ausgestreut! Lange hatte er aus seiner Erbitterung nichts anderes machen können als noch härtere Axthiebe, nicht zu seinen Gunsten. Man hatte ihm Worte gesagt und Zettel in die Hand gedrückt, aber seine Stirn war dumpf und ungepflügt, da ging noch nichts auf. Dann war Dudoff heraufgekommen, er hatte die Partei in ihrer Stärke vor ihn hingestellt, in der nur eine Lücke war, wo etwas Wichtiges fehlte: er selbst. Er hatte auf den Holzplätzen gearbeitet, dann war er ins Sägewerk gegangen. Dort hatte man ihn geheißen zu streiken vor den Bajonetten der Goneff-Soldaten.
Dimoff sah zurück und betrachtete voll Ehrfurcht sein eigenes Leben. Die Frau betrachtete Dimoff.
Aber dann war es doch gut, dass Andreas zurückkam, weil die Spreu in den Säcken gleich für den Stall gebraucht wurde.
Dimoff legte ihm die Hand auf den Kopf. „Warst du schon einmal in einer Stadt? Willst du mit mir gehen?"
In der nächstfolgenden Nacht lag Andreas zusammengerollt auf einem Plüschsofa in der verrauchten Stube hinter Mileffs Werkstatt.
Am Tisch saßen fünf oder sechs Männer in einem Spinnweben aus Rauch. Manchmal schreckte Andreas auf, aber er merkte, dass Dimoff noch immer dasaß, und schlief weiter. Im Schlafen und Wachen, wie Kerben in einer Rinde, mitwachsend, wenn der Baum wächst, schlugen in Andreas' Herz die Worte, die drüben gesprochen wurden.
In Moskau reden die teuren Gräber vor dem Kreml von der Vergangenheit, die rauchenden Schornsteine von der Gegenwart, die leuchtenden Zahlendiagramme über den Toren von der Zukunft. Es musste wohl noch eine vierte Zeit geben, da Dudoff an keiner von diesen drei Zeiten Anteil hatte.
Jetzt war er in Moskau, junge Genossen gaben ihm die Hand, zeigten ihn einer dem andern. „Das ist Dudoff", und die Blicke, mit denen sie ihn betrachteten, erfüllten sein Herz mit Bitterkeit.
Er ahnte, dass er stehen geblieben war und sich nicht mehr vorwärtsbewegt hatte seit seiner letzten Verhaftung vor vier Jahren, dass seine Kraft endgültig erschöpft war. Wenn er jetzt noch einholen sollte, was er verloren hatte, dann musste er eine Anstrengung aufbringen, gegen die alle früheren Anstrengungen seines Lebens eine leichte, spielerische Bewegung waren. Das allergefährlichste aber war, dass niemand eine solche Anstrengung von ihm verlangte. Vielmehr schienen alle zu denken, dass es ganz berechtigt sei, wenn er verbraucht und erschöpft war. Nur er allein begriff nicht, dass aus seinem Leben nichts mehr zu holen sein sollte,


V
Als Steiner eines Abends, in sein Zimmer eingeschlossen, darüber nachdachte, dass er sechs Jahre in dieser Stadt lebte, dass er ein regelmäßiger Mitarbeiter der „Monatshefte", Verfasser überall besprochener Aufsätze war, dass er inzwischen geheiratet, eine eigene Wohnung und einen Kreis von Freunden und Bekannten und sichere Aussicht auf eine Dozentur hatte, wurde seine Verzweiflung so groß und ratlos, dass er in diesem Augenblick keine andere Hilfe wusste als einen Brief an seinen ehemaligen Freund Bató.
Er schrieb folgenden Brief:
„Lieber Doktor Bató. Sie werden erstaunt sein, nach so langer Zeit von mir zu hören. Es ist für mich unzweifelhaft, dass Sie zu jenen seltenen Menschen gehören, an die man sich instinktiv, ich möchte fast sagen schamlos, in wirklichen Notlagen wendet. Ich zögere deshalb nicht, Sie um Rat anzugehen, ungeachtet der verschiedenen Haltungen, die Sie und ich in den letzten Jahren dem Leben gegenüber eingenommen haben und, wie ich gleich hinzufügen möchte, immer einnehmen werden. Denn nach wie vor ist mein Standpunkt derselbe, der er war zur Zeit unserer Wiener Gespräche. Und ich bitte Sie, ihn zu achten, so, wie auch ich den Ihren achte.
In den Jahren, die ich hier lebe, habe ich eigentlich an Tatsächlichem nichts Schlechtes erfahren. Ich habe Freunde, eine gute Frau. Eine feste Stelle habe ich nicht gesucht und nicht gefunden. Doch kann ich nicht leugnen, dass die Depression der letzten Jahre allmählich zu einem Zustand geführt hat, den ich selbst als krankhaft empfinde. Ich arbeite fortwährend, aber ich sehe das Wozu dieser Arbeit nicht mehr ein. Ich komme mir vor wie ein Offizier auf einem Wrack, das in einigen Tagen untergehen wird, während er seine gewohnten nautischen Beobachtungen in das Schiffstagebuch einträgt, ausgezeichnete, scharfe Beobachtungen. Unsere furchtbaren, mit soviel Leid und Mut verbundenen Anstrengungen haben gegen die Schwerkraft der Geschichte - darf ich sagen Naturgeschichte - nichts ausgerichtet, und im Grunde ist nichts Besonderes geschehen und wird nichts Besonderes geschehen; denn die Umorganisierung eines Riesenreiches im Osten mag für den reinen Historiker ein grandioser Anblick sein, unsrer Sinnlosigkeit hat sie keinen Sinn gegeben und unsrem geistigen Leid kein Ende bereitet, und wird schließlich nichts anderes gewesen sein als irgendeine Form der staatlichen Zusammenfassungen, eine der zahllosen Möglichkeiten, in einem Netz zu zappeln. Aber solche Betrachtungen sind nicht der geeignete Stoff für einen Brief. Ich bitte Sie daher, und schöpfe das Recht zu meiner Bitte aus der gemeinsamen Vergangenheit, mir einen Tag und einen Ort anzugeben, damit wir uns aussprechen können."
Briefe dieser Art habe ich zuletzt mit siebzehn Jahren geschrieben. Macht nichts. Es war schon spät. Aber Steiner machte seinen Brief fertig und trug ihn an die Bahn. Sooft er durch die Sperre ging, erschien ihm der beste Ort in der Stadt dieser leere, zugige Bahnsteig. Ich habe hier nichts zu versäumen und hätte ebensogut gleich zu Bató fahren können. Wie wird er wohl wohnen. Krank, erschöpft, mit Frau und Kindern in einem unmöglichen Zimmer. Aber wenn ich vor ihm sitze, wird er mich mit aufmerksamen Augen - endlich ein Mensch mit aufmerksamen Augen - anblicken. Nachdem Steiner den Brief eingeworfen hatte, war er bereits ruhiger.
Er wartete, aber er bekam keine Antwort. Er schämte sich nicht, dass er geschrieben hatte, aber er verachtete Bató wegen seiner Gleichgültigkeit und seines Hochmuts.
Zwei Wochen vergingen, drei Wochen. Auch in der eigenen Wohnung waren die Mittage schlecht. Er war schläfrig, eine süßliche, traurige Schläfrigkeit. Er hörte auf einmal die Uhr ticken, sie tickte und tickte, es war, als tropfe die Zeit in schweren, hörbaren Tropfen.
Seine Frau kam herein - ob es etwas zu diktieren gäbe? Ihr schönes, ernstes Gesicht war vor Jahren aus seinem festen Rahmen von Fremdheit herausgetreten. Er hatte es geküsst. Dann war
es wieder in seinen festen Rahmen von Fremdheit zurückgekehrt.
Er sprang auf, rannte beinah in die Stadt. Auf der gewohnten Straße war ihm leichter. Er sah in die Konditorei, ob Robert schon dasaß. Er saß noch nicht da. Also setzte sich Steiner auf seinen Platz und wartete. Robert kam auch wirklich mit zwei Aktenmappen voll Manuskripten für die „Monatshefte". Steiner wäre am liebsten sitzen geblieben, es war aber richtiger, seine Trägheit zu überwinden und seine Arbeitszeit einzuhalten. Im Lesezimmer brannten die Lämpchen schon. Junge und alte Gesichter, alle waren grünlich und verbissen, als hätte man sie in diesen Saal zu einer grausamen, sagenhaften Prüfung eingesperrt, und jeder löste für sich erbittert seine Aufgabe. Steiner widerstrebte es, sich dazwischenzusetzen. Er arbeitete auch nicht, sondern stellte sich, als ob er arbeitete. Er ging frühzeitig zu Mautner. Dort oben um den großen Tisch war es leichter. Mautner kannte ihn jetzt so gut, dass er ihm die Hand gab und nach Einzelheiten seiner Arbeit fragte. Steiner beteiligte sich lebhafter als sonst. An Mautners Tisch war er geborgen. Seine Zweifel wurden geduldig angehört. Sein Widerspruch stieß nicht ins Leere. Er bekam auf Fragen sogar Antworten. Es tat ihm leid, dass die zwei Stunden zu Ende gingen.
Später, auf dem Heimweg, vergaß er minutenlang, dass ihn kein leeres Zimmer erwartete, sondern die Frau. Er kam an Mautners Haus vorbei. Der stand auf der Treppe und zerrte an dem gelben Messingknopf, denn er hatte den Schlüssel vergessen. Steiner wartete mit ihm, bis eine alte Person kam und aufmachte. Mautner forderte Steiner auf, mit hereinzukommen. Vielleicht war dieser Abend für alle gleich - er hatte einen Rest, den niemand gern allein schluckte. Daheim war Mautner anders, geschwätzig, zutunlich. In seinen dunklen, unübersichtlichen Räumen glänzte da und dort eine Bilderleiste, ein Bücherrücken. Wenn er, um das, was er sagte, zu bestätigen, ein Buch herauslangte, dann ging das so schnell, als kämen die Bücher auf einen Zuruf gesprungen. Steiner fühlte sich gut, müde.
Mautner sagte: „Sie hätten gewiss ohne mich einen vergnügteren Abend gehabt. Aber das Alleinsein tut weh, womit man uns alte Leute in den Tod eingewöhnen will. Aber ich will mich nun einmal nicht eingewöhnen lassen."
Steiner sagte: „Halten Sie mich für jemand, der auf vergnügte Abende aus ist?"
Die Haushälterin brachte Mautner Tee und geröstetes Weißbrot. Steiner vergaß zwischendurch, dass er zu Gast war, stand in einem Anfall von Unruhe auf, hob den Vorhang und warf einen Blick auf die kleine stille, von zwei Laternen kaum erhellte Straße. Mautner beobachtete ihn lächelnd: „Bleiben Sie doch bei mir sitzen; sie hat sich nicht verändert, die Straße, bestimmt nicht."
Er erzählte von der Vorkriegsuniversität; sie fragten einander nach der neuen Shakespeare-Biographie, nach Scheler, nach Amerika, nach Sacco und Vanzetti.
„Warum ich den Protest nicht mit unterschrieben habe? In gewissen Zeiten werden einzelne Menschen zum Sinnbild der menschlichen Ungerechtigkeit schlechthin. Giordano Bruno oder Christus oder Sokrates - mit oder ohne Protest, mit oder ohne Unterschriften."
„Was mich selbst anbelangt", in Mautners Gesicht war jetzt keine Spur mehr von einem Lächeln, „so verschanze ich mich hier jeden Abend gegen den Tod hinter meinen Bücherrücken."
(So verschanzt, so fest möchte auch ich einmal dasitzen, dachte Steiner.)
Er begriff auf einmal, warum Mautners Hörsaal immer voll war, warum ihn Scharen unruhiger, zielloser Jugend aufmerksam anhörten.
Seine Geringschätzung schlug plötzlich in Hochachtung um.
Im Lauf der Jahre hatte sich das Bild ein wenig verschoben, das sich Mautner am ersten Seminarabend von Steiner gemacht hatte. Seine Abneigung schwächte sich, je mehr er sich an Steiners Gesicht, an seinen höflichen, die Seminare belebenden Widerspruch gewöhnte. An diesem Abend vergaß er das alte Bild vollkommen und schloss Steiner aufrichtig in sein Herz. Steiner lud den alten Mann in seine eigene Wohnung ein. Mautner wiederum lud Steiner kurze Zeit später zum zweiten Mal ein, zusammen mit einigen seiner jüngeren Freunde, die er in regelmäßigen Abständen kommen ließ, aber immer in Abständen, als ob er seine Einsamkeit ebenso fürchtete wie hütete.

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