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Gustav Regler – Im Kreuzfeuer (1934)
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August: Der Saarprolet marschiert

1.8. Hinrichtung der Hamburger Antifaschisten.
3.8. Das Braunbuch erscheint.
8.8. Papen bietet Saarschacher an.
10.8. Kampfbund für den deutschen Mittelstand aufgelöst -
Ostpreußen meldet: Arbeitslosigkeit beseitigt.
27.8. Saarkundgebungen: NSDAP in Rüdesheim -
SP in Neunkirchen -
Roter Aufmarsch in Saarbrücken.

Richter nach Vorschrift

Als Lisbeth Biesel in den Gerichtssaal eintrat, standen die Richterstühle leer. Die Herren berieten im Nebenzimmer. Der Staatsanwalt, gelangweiltes Tier, saß links in der Tiefe des Saales auf der durch hohe Bretterwände abgesperrten Estrade, vor die man gerechte Saarländer schleifte und ungerechte; er nutzte die Pause, den nächsten Akt einzusehen. Rechts über dem langen Bürotisch lag ein breit ausladender, schnaufender Justizsekretär und kratzte die Papiere voll. Es war mäuschenstill in dem großen Raum. Man hörte die Feder des Justiziars kreischend über den Bogen gehen. Ein Arbeiter im Publikum imitierte mit gespitzten Lippen das wispernde Schreibgeräusch. Der Landjäger an der Tür zum Arrest blickte gestreng zu dem Spötter. Der Arbeiter gab sein Spiel auf.
»Er ist erst achtzehn, das Bürschchen«, sagte jemand hinter Lisbeth Biesel. »Da kann ja noch allerhand draus werden.«
Jetzt sah Lisbeth auch, wen er meinte. Einen jungen Proleten, der mit energischem Profil, bewacht von dem Polizisten geradeaus über die Rampe des Angeklagtenpferchs zu einer Frau mittleren Alters hinübernickte.
»Es ist seine Mutter«, erklärte der Mann hinter Lisbeth. »Die hält ihm noch bei. Wenn da nicht bald andere Zeiten kommen.«
»Nun hören Sie mal!« protestierte jetzt ein Nachbar. »Wer den Jungen verknallt, der soll sich was schämen. Das soll Stra­ßenraub sein. Geht der Vater da mit einem fremden Weib, versäuft alles in den Wirtschaften, lässt seine Kinder hungern, buchstäblich drei Tage hat son Junge nichts im Leib. Ich hätte
ihr nicht nur die Handtasche weggerissen, wissen Sie. Und dann, es waren doch überhaupt nur zwei Franken drin. Das ist gar kein Straßenraub.«
Der Angegriffene wehrte sich: »Da kämen wir ja weit«, meinte er.
»Sie haben kein Herz im Leib«, tadelte der Nachbar. »Und überhaupt reden Sie schon genau so, als wie ein Nazi.«
Durch die Tür der Presse war unbemerkt der Gerichtssekretär getreten. Er hörte die halblauten, erregten Reden im Zuschauerraum und reckte sich zu seiner ganzen Wichtigkeit, übernahm sich dabei allerdings etwas.
Drohend hob er den Finger: »Hier herrscht Ruhe im Publikum, verstanden! Sonst räume ich auf, verstanden!«
Der Landjäger neben ihm erhob sich zum Zeichen des Einverständnisses. Die Diskutierenden im Publikum schwiegen sofort. O wie streng sie sind, dachte Lisbeth Biesel und wickelte sich fester in ihren Mantel.
Zwei junge Arbeiter standen auf und entfernten sich zur Tür. Einer von ihnen setzte bereits an der offenen Tür seine Mütze auf. Der inzwischen aufmerksam gewordene Staatsanwalt schrie, froh eine Ablenkung zu haben, von der Höhe des Richtertisches: »Nehmen Sie die Mütze vom Kopf!«
Alarmiert bewegten sich nun von allen Seiten die niederen Beamten auf die Tür zu. Der nächste Landjäger machte drei rasche Schritte. Der an der Tür erhob sich wieder von seinem Stuhl. Der Gerichtssekretär verzog noch finsterer seine Miene; in theatralischem Ernst ließ er die Augen auf den Übeltäter gehen, der sich unbekümmert um die Erregung, die er entfacht, in das Treppenhaus entfernte. Der Sekretär rollte seine Augen zum Ersatz über das zurückgebliebene Publikum. Jetzt trafen seine Basedow-Augen auch Lisbeth Biesel. Sie ertrug den Blick nicht und senkte den Kopf. Schnell legte sie die Hände in den Schoß; sie meinte, der Mann müsse jetzt merken, dass sie schwanger sei, und drückte die Handflächen gegen ihren Bauch. Für viele Minuten saß sie so da, ohne sich zu rühren. Vorn begann längst wieder das Justiztheater, sie saß in sich gekrochen und bewegte sich nicht.
Drei Bänke hinter ihr saß Karl der Emigrant. Ja, er war auch wegen Werner gekommen, und er saß wahrhaftig nicht zur Neugierde schon hier. Aber man hatte ihn gewarnt, dass er sich frühzeitig einen Platz sichern solle, da niemand in den Saal dürfe,
wenn die Sitzplätze alle genommen waren. Mit halbem Ohr hatte er hingehört, bis der Junge eingelassen wurde, der mit dem Straßenraub. Große Sache: Straßenraub. Wie lächerlich wird so ein Fall aufgebauscht!
Karl hatte sich an der Festigkeit gefreut, mit der der Junge geantwortet; da änderte kein Salbadern etwas; da konnte ein bezahlter Staatsanwalt noch so sehr von »verkommener Jugend« reden; der Hass, mit dem der Junge sprach, brannte im Kern und blieb; vier Monate saß der Junge schon in Untersuchung, aber seine Stimme klang, als wenn sie ihn eben von der Straße vorgeführt hätten, wo er seine kleine Rache zu nehmen versucht hatte. »Meine Mutter hungert, und die da geht aufgeputzt an mir vorbei; einen Lumpen hat sie aus meinem Vater gemacht; es war ein anständiger Arbeiter; jetzt sitzt er in Wirtschaften mit der da, und meine Mutter und wir zu Hause stecken den Finger in den Mund! Wir haben noch kleine Geschwister; ich kann nichts dafür, dass ich arbeitslos bin; als ich sie dann auf dem Markt die Gemüsestände entlang kommen sah, und alles hat sie sich angesehen, als wenn sie eine Gräfin wär, da habe ich ihr die Tasche aus der Hand gerissen und wollte sie ihr um die Ohren schlagen und dann das Geld wieder zu unserer Mutter zurückbringen, wo es hingehört, und zu meinen Geschwistern ... «
Karl sah den Richter die Hand heben: »Zeugin, sagen Sie, haben Sie sich gewehrt, als er an Ihrer Tasche riss - oder haben Sie ihm das Ding gleich gelassen, und er hat es gar nicht mit Gewalt zu nehmen brauchen.«
Die Menschen auf den Bänken warteten auf die Antwort der Zeugin. Karl hob sich hoch; eine Frau stand wenige Meter vor ihm; sie trug einen breiten amerikanischen Opossum; die Arbeiter im Publikum studierten ihre Tracht mit verächtlichen Blicken. »Der Richter will ihm gut«, meinte einer neben Karl. »Und was meinst du?« fragte Karl grob, da sagte die Zeugin in geziertem Hochdeutsch:
»Ich will ja nicht so sein, Herr Richter, also: ich hab die Tasche sofort losgelassen.«
Der Saal atmete auf, alle hatten begriffen, dass eben eine Entscheidung gefallen war; die Anklage auf Straßenraub musste nun übergangen werden; es blieb nur noch der Versuch eines Diebstahls. Der Staatsanwalt griff kurz ein und verlangte eine andere Formulierung der für seine Begriffe allzu gefälligen
Zeugin, aber er bekam sie sofort; die Pelzfrau, beglückt so ins Zentrum dieser Vorgänge gerückt zu sein, gab gern noch eine ergänzende Antwort; der Staatsanwalt war streng, die Frau blieb kokett, das Rededuell verlief in den gewünschten Formen; der Staatsanwalt sprach dann resigniert seine zehn Minuten und beantragte acht Monate Gefängnis, worauf sich das Gericht zur Beratung zurückzog.
Wieder fiel die stickige Ruhe in den Saal; wieder kratzte der Schreiber am rechten Flügel des Richtertischs hörbar über seine Bogen, wieder warnte der Justizsekretär das Publikum vor jeder lauten Unterhaltung. In trüben Streifen zitterte die Sonne durch die bleigefaßten Fensterscheiben in den Saal.
Wie abgeklappert ist dieses Theaterstück, dachte Karl. Es macht ihnen schon keinen Spaß mehr; sie suchen sich schon selber Ausreden über die Gesetze, statt zuzugeben, dass es sehr ernst gemeint ist. Straßenraub - das ist ihnen wichtig; Eigentum ist genommen worden; haltet den Dieb; er ging an die heiligsten Güter; es waren zwar - wie viel waren es? - zwei Franken, das sind 32 Pfennige. Aber trotz und alledem, man stiehlt nicht, man raubt nicht. Eigentum! Der Junge war erregt, gut! Die Geliebte des Vaters scheint eine Hure, gut! Sie hat eine Familie zerstört, gut! Aber höher als alles - ist Eigentum!
Karl lachte; da bissen sie sich nun einmal in den Schwanz. Was war also höher: Ehrbarkeit des Elternhauses oder Sicherheit des Vermögens? Peinlich, was? Sie hatten allerhand zu grübeln im Nebenzimmer, die Richter. Kratzt euch nur die Ohren! Uns sagt das doch nichts mehr. Karl sah sich um; von überall gingen freundliche Blicke zu dem jungen Burschen. Das Volk ringsum gab ihm recht; hättst sie noch obendrein verprügeln sollen!
Der Angeklagte hatte sich in seinem Verschlag niedergesetzt; er grüßte zu seiner Mutter hinüber; sie lächelte zurück. An der Gefängnistür wartete ein Landjäger. Gings zurück in den Kahn? Bald wusste man’s.

In diesem Augenblick trat der Gerichtshof wieder ein. Drei schwarze Roben mit dem Gesicht der herrschenden Klasse. Ein fetter Korpsstudent, dem der Kragen zu eng war für sein Doppelkinn; er hatte die Robe geöffnet und fläzte sich sofort über den Tisch, als sei alles doch nicht der Rede wert, hielte nur ab vom Biertisch oder der Reizwäsche seiner heimlichen Beischläferin aus dem Astoria. Der rechte Beisitzer war gepflegter; ein böser Mund kräuselte verächtliche Lippen; ein Streber - o wie viele Leute wissen, dass Richter eine Gehaltserhöhung bekommen, wenn sie einige Jahre so recht nach dem politischen Willen ihrer vorgesetzten Behörde verurteilt und gestraft haben. Drei unabhängige unantastbare deutsche Richter!
In der Mitte saß das Musterexemplar. Mit scharfer Zahnbürste unter der schneidigen Nase, die den starren Kneifer trug. Die Stirne zerwühlt von griesgrämigen Falten, und oben wieder eine Bürste, diesmal gescheitelt über einem missratenen Beulenkopf. Jetzt begann er zu sprechen. Lisbeth schauerte zusammen; Brechreiz würgte ihre Kehle; sie drückte die Faust vor den Mund und schloss die Augen; nur die Stimme hörte sie, kein Wort verstand sie von dem Urteil; aber sie wusste plötzlich, dass diese Stimme ihrem Werner in wenigen Minuten nur Schlimmes verkünden würde. Sie drückte sich hinter den Rücken ihres Vordermannes; ihr Hut stieß an sein Kreuz, sie betete.
Das Urteil war schon gesprochen, neue Zeugen wurden hereingerufen, Lisbeth bewegte immer noch die Lippen in stummen Aves; unter ihrem Mantel kroch wie ein Prickeln die Scham über ihre Haut, steifte die Brüste, jagte Glut und Kälte in wildem Wechsel in ihren Schoß und durch die Schenkel. Sie betete: und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes Jesus. Weit entfernt war der Sinn ihres Flehens; sie hob die Augen nicht mehr, denn es kam nun über sie der Gedanke, dass sie allein die Sünderin in diesem Saal sei, noch versteckt unter vielen Menschen, noch nicht erkannt von den Männern, die da vorn redeten, aber hätt' man sie aufgerufen, sie wäre nicht erschrocken und wie zum Scheiterhaufen nach vorn gegangen, ergeben und überzeugt vom Recht des Gerichts.
Der Rücken vor ihr ging hoch; ein Scharren vieler Füße berührte ihr Ohr, dann stieß sie jemand an. Sie schaute auf; alle in den Bänken standen. Von vorn kam die Stimme des Richters, die den Eid vorsprach: »- und Gewissen, die reine Wahrheit sagen werde.« - »Die reine Wahrheit sagen werde«, echote der Zeuge. Sie stellte sich schnell in die Höhe, ihre Augen entschuldigten sich hilflos bei den Nachbarn; »so wahr mir Gott helfe«, sagte jemand im Saal, dann setzten sich alle wieder hin. Lisbeth blieb stehen, einen Augenblick nur, dann stieß man sie wieder ins Kreuz. Sie setzte sich langsam. Müdigkeit kam über sie; vielleicht war alles nicht so schlimm, und sie schickten Werner sofort nach Hause.
Der, den ihre ängstlichen Gedanken umzitterten, stand regungslos wie ein Gepäckträger im Korridor vor dem Gerichtssaal und wartete. Die Treppe herauf kamen Diener mit Aktenmappen. Wenn sie die Tür zum Gerichtssaal öffneten, auf der »Schwurgericht« stand, konnte Werner die Anklagebank sehen. Der junge Mann stand noch immer dort im Verschlag neben einem sitzenden Landjäger. Eben antwortete er etwas. »Nein, Herr Präsident. Ich bestreite das.« Eine kräftige Stimme ohne Ängstlichkeit. Ob ich mich so beherrschen werde, dachte Werner, da schloss sich die Tür. Die Messingklinke ging vorsichtig noch einmal hoch, aber die Tür selbst bewegte sich nicht mehr.
Nach zehn Minuten öffnete man sie wieder. Ein Justizbeamter setzte den Fuß in den Korridor und schrie: »Die Zeugen im Fall Spät!«In der Tiefe des Flurs wurde es lebendig, dann kamen vier Menschen nach vorn. Werner bemerkte erstaunt ihre Eile, plötzlich hasste er sie. Wie eilig sie es hatten, die Wichtigtuer! Er sah, dass sie aufgeregt dem Diener ihren Namen nannten, ihr Papier zeigten und schon in den Saal drängten. Jetzt stehen sie vor dem hohen Tisch. Sie machen Verbeugungen vor den Richtern. Da sind wir, hoher Herr Gerichtshof. Danke schön, dass wir kommen durften. Wir werden alles sagen, was wir können. Wir sind für die Wahrheit .So geht das ja nicht mehr weiter! Was denkt sich dieser Angeklagte! Wir haben dicht dabeigestanden. Ganz dicht, Herr Richter. So wahr uns Gott helfe.
Werner stieß sich den Schleim aus der Kehle und spuckte ihn aus. Die Tür öffnete sich wieder. Der junge Angeklagte trat heraus mit einer älteren Frau. Freispruch also? Werner freute sich. Die Frau griff den Burschen am Arm, als wollte sie sich vergewissern, dass er es auch wirklich sei. Freundlich nahm der Entlassene die Hand von seiner Windjacke. Werner nickte ihnen zu. Ich möchte gern euren Fall wissen, aber ihr seid froh, dass ihrs hinter euch habt.
Sie stiegen die Treppe hinab. Mutter und Sohn. Wie ein Brautpaar. Vergnügt glänzte das Gesicht der Frau, ganz zart lief um den schmalen Mund des Burschen ein Lächeln. Schweigend gingen sie abwärts ins Erdgeschoß. Werner sah ihnen über die Brüstung nach. Erst vor der Tür am Saarufer würden die zwei die Sprache wieder finden.
»Hat Schwein gehabt«, sagte eine Stimme; Werner sah einen
dicken Mann neben sich über das Steingeländer gebeugt. »Vier Monate Untersuchung sind ihm angerechnet worden. Vier Monate«, murmelte der Mann, ohne sich sehr um Werner zu kümmern. Das Paar unten verschwand in dem Spalt der schweren Portaltür. Der dicke Mann hob sich hoch, er röchelte asthmatisch und sah Werner nun an. Er blubberte mit den Lippen und kniff prüfend ein Auge zu, wie man ein Kalb betrachtet, das der Händler vor den Metzgerladen geführt hat. Werner begegnete dem Blick, da ging die Tür im Hintergrund, der Mann drehte um und ging kopfschüttelnd weg.
Werner sah ihm nach. Idiot, murmelte er, aber ihm war nicht wohl zumute. Das Nilpferd hatte ihm die Illusion genommen, dass dort im Saal milde Richter säßen. Er roch den Staub, der in allen Fugen des Korridors lag; es kam ihm vor, als säße er schon in einer Zelle, könne schon nicht mehr frei weggehen. Sie warteten auf ihn: Aber das macht mich noch nicht fällig, dachte er. Plötzlich schmiss er wie eine Baukastenburg die Sätze über den Haufen, die er sich zu seiner Verteidigung aufgebaut hatte.
In diesem Augenblick riss der Justizsekretär die Tür auf und rief den »Fall Werner« auf.
Ob Karl da sein wird, dachte er und suchte ihn, durch den Türrahmen tretend, in den Bänken links in der Tiefe.
Nur fremde Gesichter sahen ihn an. aber einige saßen auch mit gesenktem Kopf.
Der Richter rief ihn: »Kommen Sie mal näher heran!«
Saß da nicht Lisbeth? Wieso hatte der Jude ihr Urlaub gegeben'.' Sie soll nicht dahinein gemengt werden, dachte er und freute sich doch.

Er folgte dem Befehl des schwarzen Mannes. Karl musste eigentlich da sein, dachte er, aber nun konnte er sich nicht mehr umsehen. Nun hatten sie ihn schon in der Zange. »Jawohl, 27 Jahre, erwerbsloser Metalldreher.« Ob es wirklich Lisbeth war? Karl konnte den Zug versäumt haben. »Arbeit in der Grube.«
»Stellen Sie sich da hin!«
Langsam trat Werner an die Anklagebank. Er konnte wieder rückwärts sehen, und nun sah er auch Karl in die Tür treten, sah die schnelle Faust, die der ihm grüßend zeigte.
Karl sah blass aus, seine Kopfhaare waren naßgeschwitzt vor Erregung. Er hatte in diesen letzten zwei Stunden eine unheimliche Lektion erhalten. Es war, als wenn jemand auf den Tisch geklopft hätte, auf den man schlafend den Kopf gelegt. Und da war man nun erschreckt aufgefahren und fand das Dritte Reich vor, das Reich, das im Herzen des deutschen Kleinbürgers immer gelebt! Der Kasernenhof in den Gerichtssaal gelegt, brutal und feierlich, aufgeblasene und auserwählte Reserveoffiziere im Talar. Das braune Preußen an der Saar. »Zackiges Recht«, hier sprach man's.

Der Vorsitzende begann das Verhör. Der Dicke kniff die Augen und überlegte, ob er weiterschlafen solle. Wie durch einen Schleier sah er den weiten Saal unter sich, die einzelnen Menschen in dem Karree, um den Zeugentisch und die vielen Köpfe in dem Publikumspferch. War etwas Niedliches darunter? Er sah Arbeiterfrauen, Grauköpfe, Bürger im Mantel, klobige Burschengesichter - ach da war etwas Rosiges, Puppiges! Er hatte Lisbeth Biesel entdeckt. Bisschen ängstlich, aber das war gerade so ein Reiz. Hatte wohl ihren Schatz hier vor unserm Tisch. Ein Mund wie 'ne süßsaure Kirsche. Kann sicher ausgezeichnet wimmern, wenn man's ihr besorgt.
Der Richter hob sich etwas von seinem Stuhl und ordnete die straffe Hose im Sitz.
Sein Atem ging rascher, er ließ Lisbeth Biesel nicht mehr aus den Augen. Wie hypnotisiert saß die Kleine. Sie meinte übrigens wirklich den Blonden, gegen den der Landjäger eben aussagte. »Es kommt nicht in Frage, dass er's unüberlegt getan hätte. Er hat ihnen aufgelauert.«
Der Dicke sah schnell in die Papiere; um Landfriedensbruch oder so etwas schien es sich zu handeln. Er las: Widerstand gegen die Staatsgewalt, schwere Schlägerei. Gut! Da war etwas zu verknacken. Trotziges Bürschchen. Strammer Brustkasten. Fräulein Braut bangte wohl um ihren Beischläfer. So im Kornfeld. Fräulein, abends wenn's recht mulmig warm ist, das hat Ihnen gefallen. Er hat was gekonnt, was? Hat dir auch erzählt, wie er dem Landjäger eine reingewichst hat, sicher hat er geprotzt damit, und jetzt wird er kneifen. Jetzt wird das alles nicht wahr gewesen sein! Jawoll. Pass auf, mein Täubchen, wie klein dein Herkules gleich ist!
»Haben Sie etwas dazu zu sagen, Angeklagter?«
Der Dicke stützte das Kinn auf die Faust und rieb sich die schwammigen Backen. Sein Kopf lag schief auf der Schulter; seine Augen blinzelten heimtückisch zu Werner hinunter.
»Sehr viel ist dazu zu sagen«, entgegnete zur Überraschung des Beisitzers der Bursche. »Der Landjäger sieht das von seinem Standpunkt, und ich sehe es von meinem. Fragt sich nur, wer richtig steht.«
»Antworten Sie nicht so umständlich«, mahnte der Vorsitzende. »Sie sollen sich äußern zu Ihrer Tat und zu den Aussagen des Zeugen! In wessen Auftrag haben Sie die Tat ausgeführt?«
Der dicke Beisitzer lehnte sich noch weiter vor. Als spreche er zu einem Saufkumpan und es sei schon die späte Stunde des vollen Rauschs, breitete er die Arme über den Tisch und grinste:
»Das können Sie wohl nicht sagen? Deshalb haben Sie wohl auch gar keine Zeugen laden lassen? Vielleicht ist aber doch jemand heute mitgekommen.«
Er lachte in kleinen Stößen, jenes minderwertige Lachen des Spießbürgers, der immer nur Rache nimmt, wenn kein Risiko dabei ist. Er hob den Blick am Schluss seiner hämischen Frage ins Publikum und sah, dass das blasse Mädchen erschrocken die Finger einer ganzen Hand in den Mund steckte.
»Schauen Sie sich mal um«, sagte er zu Werner, der mit hochgezogener Schulter und drohend herabhängenden Armen vor dem Zeugentisch stand und sich auch jetzt nicht rührte.
»Es ist immer gut, wenn man Zeugen hat. Seien Sie nicht so stolz, junger Mann. Sie scheinen zu übersehen, dass es Ihnen hier sehr an den Kragen gehen wird. Also wie wär's, wenn Sie Ihre Kumpane mal nennen würden, oder die Drahtzieher von der Sache. Oder vielleicht jemand, dem Sie gleich am Abend erzählt haben, wie die ganze Chose wirklich gedacht war.«
Der Beisitzer sprach immer noch im lauernden Spiel, fühlte, wie er jetzt beide, den Burschen und das Mädel, mit jedem Wort zu gleicher Zeit traf; jawohl, den Jungen kochte er, und das Mädchen nagelte er an ihre Bank. Noch eine halbe Minute wollte er sie zappeln lassen, dann konnte die langweilige Maschinerie wieder weiterlaufen. Der Vorsitzende wartete geduldig auf das Ende des Duells; wie eine Erleichterung kam es über ihn, von rechts endlich ein Wort zu hören: immer wieder hatte er den Kollegen heute wecken müssen, gegen Ende der

Beweisführung hatte er seine Stimme gehoben, damit der Schlafende aufwachte. Jetzt rettete er endlich sein Renommé vor dem ganzen Saal.
»Oder wollen Sie uns vielleicht erzählen, Sie hätten das alles aus eigenem Antrieb getan?«
Der dicke Mann zeigte nun sein offenes Maul; der Zungenklumpen ging nass über die Unterlippe. Jetzt wird er platzen oder er wird das Jammern anfangen. Verraten wird er! Und das Mädel wird sehen, was sie für einen Schweinkerl da hat. Der Beisitzer zog die Zunge mit Schmatzen wieder in den Mund zurück. Wer weiß, vielleicht tat's ihr auch gut, wenn er sich herausredete damit. Er suchte das Mädchen wieder im Publikum. Es wird dir nämlich wenig nützen, mein Häschen, verknallt wird er doch, und wie!
Er fand Lisbeth nicht mehr, bis er aufmerksam wurde auf einige Leute, die von den hintersten Bänken aufgestanden waren und sich zu jemand niederbeugten. Sie ist ohnmächtig geworden, dachte er und sah, dass zwei Landjäger zu den Bänken sprangen.
Aber das Mädchen war nur im hastigen Vorwärtsgehen gestolpert. Jetzt trat sie mit einem schnellen Schritt an die Schranken des Publikumsraums, stand schon in den Griffen zweier Landjäger vorgebeugt und rief in den Saal:
»Niemand hat ihn dazu gehetzt. Die anderen haben ihm aufgelauert, und wenn er sich gewehrt hat, so ist das sein gutes Recht...«
Glockenhell war die Stimme, ihr Zittern ergriff alle. Bleich sah Lisbeth zu den Richtern hinauf, aber ihr war in dem weiten Saal, als spreche sie in einer Kirche und zu tausend Menschen. All ihre Angst vor diesem hohen fremden Raum, vor der Kulisse des Gerichts, den überall hockenden Uniformen war plötzlich gewichen. Sie spürte die Gefahr, die da aufkam, und sie sah nur noch den Geliebten, seine starke Figur, den blonden Kopf. Die Landjäger rissen sie zurück, aber der Richter winkte nun, dass sie abließen von ihr.
»Sie waren also dabei?« fragte der dicke Beisitzer mit sattem Behagen.
»Jawohl«, rief Lisbeth, »und ich weiß, dass er ein guter Mensch ist. Sein kleiner Finger ist mehr wert als diese ganzen Lumpen. Er ist -« sie zögerte einen Atemzug lang - »ein Roter, aber deshalb noch lange nicht verhetzt. Und wenn er damals im
Mai schon ins Kittchen kam, so war das schon genau so ungerecht.«
Der dicke Beisitzer neigte sich jetzt flüsternd zu dem Vorsitzenden. Der nickte zustimmend mit dem Kopf.
»Sie sind ja wohl nicht geladen, Fräulein?« fragte er. Lisbeth verstand ihn falsch.
»Geladen? Ich weiß nicht, was das heißt, aber ich weiß, dass der Werner recht hat, und dass er sich nur um die Armen kümmert, obschon er selber nichts hat.«
Sie überstürzte ihre Worte. Man merkte, dass sie etwas Wichtiges auf dem Herzen hatte. Sie sah, dass der Richter wieder die Hand hob. Ein letzter ängstlicher Blick ging zu Werner, und dann rief sie auch schon:
»Und ich - werde jetzt selber eine Rote. Und das ist gar nichts Schlechtes. Schlecht ist, was die Nazis machen. Menschen schinden und Menschen auflauern. Die Roten aber wollen das Elend abschaffen, und deshalb verfolgt man sie auch. Und unsern Herrn Jesus -« ihre Stimme hob sich, als singe sie ein Lied - »würden sie auch verfolgen, wenn er jetzt ins Dritte Reich käme.«
Die Landjäger waren dicht bei dem Mädchen stehen geblieben. Hinter ihnen hatte sich das Publikum von den Bänken gehoben. Die Ordnung des Gerichts war unterbrochen. Das Mädchen schrie schon aus der Masse heraus.
Vor ihr war die Schranke, die sonst das Volk von der Amtshandlung sperrte. Aufgehoben war nun die Schranke. Überrascht standen die Sekretäre und die Landjäger, hilflos saßen die Richter.
Der Schrei schien sie alle auseinanderzufegen. Der Ausbruch des Mädchens und der heilige Name lähmte sie. Zum ersten Mal dachten sie alle, dass man das Volk beruhigen müsse, das um dieses wilde Mädchen herumstand.
Die drei schwarzen Roben steckten die Köpfe zusammen. Im Saal war Totenstille. Nur Werner ging in kurzen Schritten vor dem Zeugentisch auf und ab. Er hielt den Kopf gesenkt; sie sollten da oben sein Lachen nicht sehen. Das Glück, das ihm die Backen glühte, war nicht für sie bestimmt.
»Angeklagter«, rief ihn jetzt der Vorsitzende an. »Bleiben Sie mal gefälligst stehen!« Werner stand gehorsam still. »Sind Sie mit jenem Fräulein da verwandt.«
Der Saal horchte auf. Werner ließ sie alle einige Sekunden
warten, dann sagte er, und der Ton seiner Stimme war zärtlich und fest:
»Noch nicht.«
Man hörte die Bewegung im Publikum. Werner aber dachte nur an Lisbeth. >Ich werde jetzt selber eine Rote.< Er biss wieder auf die Lippen, die lächeln wollten. Jetzt soll sie auch das Kind austragen, dachte er.
»Legen Sie wert darauf, dass das Fräulein noch nachträglich als Zeugin geladen wird?«
Er sagt Fräulein zu ihr. Werner überlegte. Sie wird sich aufregen und wird doch nicht viel sagen. Es ist nicht gut für ihren Zustand. Ich kann mich besser ohne sie wehren. Ich hab sie doch ferngehalten von allem, seit sie mir erzählte, was los ist.
»Sie können es ruhig beantragen«, sagte mit zynischer Freundlichkeit der Dicke von oben. »Wir beraten doch noch darüber.«
Sie tun es also nur proforma, erkannte Werner. Sie wollen sich maskieren. Schön, dann sollen alle sehen, was ihr für Kerle seid.
»Ja, ich möchte«, sagte er und warf den Kopf in den Nacken. Die Richter standen auf und bedeckten sich mit ihren Baretts.
Werner ging zur Anklagebank und setzte sich. Nun nahm er sich auch den Mut, zu Lisbeth zu schauen.
Sie stand immer noch zwischen den Landjägern an dem Holzgeländer. Er nickte ihr zu und sah sie mit langem Blick an. Unbewegt erwiderte sie den Blick, ihre Hände pressten den hellen Mantel vorne zusammen. Sie gab die Stellung nicht auf, blieb wie eine Anklägerin an ihrer Stelle und erwartete den Bescheid des Tribunals. Die kriegen sie nicht so leicht los, dachte Werner stolz, da ging aber schon wieder die Tür, und die Männer traten ein.
Sie setzten sich umständlich auf ihre Stühle. Die Geräusche im Saal verstummten. Das Publikum hatte sich schnell auf die Bänke gesetzt. Werner war höflich aufgestanden.
Herausfordernd richtete sich Lisbeth Biesel an der Schranke auf. Der Richter verkündete: »Es ergeht folgender Beschluss. Das Gericht hat es nicht für nötig erachtet, dem nachträglichen Antrag des Angeklagten Werner stattzugeben und neue Zeugen zu laden. Das Gericht ist einstimmig der Meinung, dass der Tatbestand durch die Beweisaufnahme, insbesondere durch die Zeugenaussagen der beiden Landjäger hinreichend geklärt ist,
außerdem hält das Gericht genannte Zeugin wegen ihrer vermutlich sehr nahen Beziehung zu dem Angeklagten für zu befangen, um ihre Aussage bei der Urteilsbildung verwenden zu können.«
Der Vorsitzende wandte sich zu Werner:
»Sie haben nichts mehr zu sagen? Die Beweisaufnahme ist geschlossen. Herr Staatsanwalt bitte.«
Wie ein Tank lief die Maschinerie wieder vorwärts. Über alle Hindernisse hinweg wälzte sie sich. Grinsend saß oben der Dicke, mit unbewegter Fratze legte der Vorsitzende die Hände auf den Tisch. Das Publikum spürte die Walze, die übermächtige, und duckte sich anerkennend. Der Staatsanwalt links erhob sich mit einem Räuspern. Befriedigt sah der Vorsitzende den Ankläger aufstehen, seine Brillengläser funkelten kalt, geradeaus in die Tiefe ging sein Blick. Das wäre eingerenkt. Nur nicht imponieren lassen. Hier sind wir die Herren. Romanszenen vor unserer Kammer? Recht wird hier gesprochen, und zwar von uns.
Geflissentlich übersah der Amtsrichter die Urheberin des Skandals, die immer noch aufrecht an der Rampe stand.
»Hoher Gerichtshof!« begann der Staatsanwalt, »wir haben hier einen für das Saargebiet besonders typischen Fall, ich möchte sagen einen exemplarischen Fall, der denn auch ein Exempel an Strafe verlangt.«
»Ja, seid ihr denn alle verrückt? Es war doch genau umgekehrt!«
Mit überlauter Stimme schrie Lisbeth in den Saal. Sie hatte den Gerichtsbeschluss angehört, ohne ein Wort zu verstehen, hatte die schnelle Frage an Werner gehört, nun stand dieser andere auf, plötzlich hatte sie die Eile verstanden, und dann kam das schreckliche Wort exemplarisch und nun wusste sie, dass Werner verloren war. Zu stark hatte sie sich gefühlt, aufrecht stehend wie sie gesprochen hatte, unberührt von den Gendarmen und mitten unter den Leuten, deren Beifallsmurmeln sie von allen Seiten stützte. Wie aus einem Krampf hatte sie sich mit ihrem Schrei befreit, noch glaubte sie, dass jetzt alle neben ihr, hinter ihr aufspringen müssten, um mit ihr loszubrüllen und vorzugehen über dieses Geländer, da wurde sie an beiden Armen mit brutalen Griffen rückwärts gerissen, sie stolperte, fiel aber nicht, wie eine Puppe schleppten die beiden Landjäger die wehrlose Figur an den Bänken vorbei zum Hinterausgang.
Sie sah, wie die Sitzenden am Rand der Bänke erschrocken abrückten, ihr Hut rutschte ihr ins Gesicht, die Armknochen schmerzten wild, ihre Absätze schleiften hilflos über die Dielen, sie sah nichts mehr, eine Treppenstiege schlug ihr hart an die Wade und dann hörte sie Werners Stimme. Keuchend, fast weinend, brüllte er - o sie hatten ihn sicher auch schon in der Zange: »Lasst das Mädel gehen, auf der Stelle lasst ihr das Mädel gehen!«
Hinter ihr wurde eine Tür aufgerissen. Einer der Landjäger ließ Lisbeth los, sie konnte sich den Hut aus den Augen schieben und sah ganz weit weg Werner, den zwei Landjäger festhielten. Er stand vorgebeugt mit verwirrtem Haarschopf; über ihm wie Tonfiguren thronten die Richter. Die Sonne fiel eben in breiten Strahlen von hinten über sie. Lisbeth sah Werner und die drei schwarzen Männer. Hob nicht der eine die Hand? Die Landjäger neben ihr hielten still und klappten die Stiefel zusammen.
»Nehmen Sie die Personalien, Landjäger«, schnarrte die Stimme aus der Tiefe, »wir werden sie in Ordnungsstrafe nehmen.«
»Jawohl, Herr Amtsrichter«, bellte der Landjäger, und dann klammerte sein Griff schon wieder wie ein Falleisen nach ihrem Arm. Lisbeth wollte nach ihm schlagen, aber dann merkte sie, dass man sie nach draußen schleppen wollte. Schnell richtete sie sich auf und rief: »Es sind leibhaftige Teufel, Werner. Sei ruhig -mach's gut.«
Sinnlos schien ihr Schlusswort, aber es beruhigte den Burschen. Er sah, wie sie den Kopf hochwarf, stolz, mit verächtlichem Lachen auf den Lippen, sah, dass das Publikum aufstand und zur Tür hinausdrängte. Fast alle erhoben sich, langsam wie Arbeiter gehen, wenn sie ihre Gegnerschaft ausdrücken wollen. Vergeblich wartete der Staatsanwalt, dass Ruhe eintrat. Das Volk ging Lisbeth nach. Das Urteil war nicht mehr interessant. Es war schon gesprochen. Über wen war es gesprochen?
Die Landjäger ließen Werner los. Er trat an die Anklagebank zurück. Er lachte grimmig: »Teufel?« sagte er laut vor sich. »Nein, Nazis.«
»Ich nehme Sie nochmals in Ordnungsstrafe«, rief von oben der Richter.
Werner schüttelte den Kopf und winkte ab, er sah nicht hinauf: »Nehmen Sie nur! Ich sag doch: Nazis.«
»Herr Staatsanwalt, wenn ich dann bitten darf fortzufahren!« Werner saß auf der Bank und feixte vor sich hin:
»Das war viel wert«, sagte er, »viel wert.«
Als das Urteil verlesen wurde - es lautete auf mehrere Monate Gefängnis - sah er erschrocken ins Publikum. Als wenn nur von dort die Hilfe kommen könnte.

Der 27. August

Der Morgen dämmerte schon über dem Schienennetz des Saarbrückener Hauptbahnhofs. Der Rangiermeister Kewerkopf stieg die Stufen zur Stellwerkbrücke hinauf, als ein Achsenschlosser ihn von unten anrief.
»Wie ist es?« rief der von der Arbeit verschmierte Mann. »Wird noch einer rausgelassen?«
Der Rangiermeister nickte mit dem Kopf zur Seite. Auf den äußersten Geleisen polterte ein Zug nach dem Osten. Kriegsgeheul drang zu den Ohren der beiden Männer. Papierfahnen zitterten aus den fortgleitenden Wagen. Aufgeregte Kinder schrieen ihre Reisefreude, schnelle Teilnehmer suchend, über die vom Nebel feuchten Geleise. Jetzt schob an einem Fenster ein Erwachsener die Kleinen beiseite, stieß den Arm aus dem Rahmen und brüllte mit gebieterischem, halb drohendem Ton: »Heil Hitler!«
Der Schlosser sah flüchtig hinüber. Wenn du die ganze Nacht geschafft hättest, wär dir's Brüllen vergangen.
»Es ist Schluss«, sagte von der Eisentreppe der Rangiermeister. »Der da -« er zeigte auf den in weißer Rauchfahne entschwindenden Zug - »war schon nur dreiviertel voll. Morjen.«
Der Rangiermeister fasste an die Mütze und stieg die Treppe hinauf. Der Arbeiter stand etwas betroffen, dann grüßte er zurück und wandte sich dem Bahnsteig zu. Welch eine Pleite, dachte er. Sie haben achtzig Wagen bestellt, und nur die Hälfte haben wir abgelassen. Der Adolf wird sich freuen.
Er stieg aus den Schienen auf den Kai. Die Milchhalle ist schon offen. Ein Glas heiße wird gut tun.
Er trat in den kahlen Restaurationsraum. Schläfrige Erwerbslose saßen in den Bankecken. Ein Mädchen mit gefärbtem hellem Haar spülte weiße Becher.
Der Schlosser machte einen Schritt hinter die Theke und riss ein Blatt vom Kalender. »Hier Fräulein, wir haben inzwischen
schon den 27. August. Der Tag der Riesenkundgebung der Saarländer am Niederwalddenkmal.«
Er reichte ihr das Blatt. »Das können Sie sich aufheben. Zur Erinnerung.«
Der Wuschelkopf füllte dampfende Milch ein. »Oh, es war furchtbar viel zu tun heute morgen. Denken Sie nur die vielen Kinder!«
Der Schlosser nahm schlürfend einen ersten Schluck. »Ja ja, es ist so'n richtiger Schulausflug.«
Sie wusch Zuckerlöffel ab und drohte ihm: »Das darf man aber nicht sagen, Sie. Es ist doch ein großer Tag heute.«
Er sah sich in der Stube um. Das Röcheln eines Schlafenden sägte die Stille. Ein Mädchen saß nah am Tisch und stickte. Ein erwerbsloses Tabakmädchen, sie verbrachte ihre Tage hier. Für eine Bahnsteigkarte und ein Glas Milch hatte man eine Unterkunft. Und manchmal auch einen Mann, der was ausgab. Heute war sie schon um Mitternacht gekommen. Der Trubel zog sie an. Die Feinen fuhren an den Rhein und sprachen mit dem Reichskanzler Adolf Hitler. Da gehörte man nicht zu, aber es war doch sicher schön anzusehen, wenn sie da hinausfuhren.
»Ja, weiß Gott, großer Tag«, rief sie jetzt dem Schlosser zu. »Du hättst die nur hören sollen, wie die über unsereins denken.«
Das Milchmädchen wandte sich um und hantierte an ihren Krügen im Hintergrund.
»Frag die da nur«, rief die Tabakarbeiterin, »die hat's gehört, wie sie sich aufgeregt haben über die armen Deibel da.« Sie zeigte auf die Schlafenden. »Das wird ja alles bald aufhören, -aufhören!« sie äffte den vornehmen Ton der Nazidame nach, »wenn der Führer kommt - Führer!«
Der Schlosser lachte unbändig. »Na und was haben denn die Arbeiter gesagt, die mitgefahren sind?«
»Arbeiter? Arbeiter? Ich hab keine gesehen. Das waren alles nur feine Leute. Hochfein.« Sie äffte wieder die Gesten der Bürger nach.
Der Schlosser hob warnend den Finger: »Sag das nicht, Mädchen. Da waren auch Arbeiter drunter. Vom Ulanenverein. Von den 70ern. Vom Gesangverein. Hüttenkapelle. Marineverein. Saarverein. Kaninchenzuchtverein. Wenn die 'ne Schärpe um den Bauch haben und den Herrn Stadtsekretär als Vorsitzenden, dann laufen die, wohin du willst.«
»Ich fands sehr schön«, sagte das Serviermädchen, »die vielen sauberen Kinder.«
Sie redeten jetzt alle drei nebeneinander her. Der Schatten einer Rangiermaschine passierte donnernd die Fensterfront. Das Morgenlicht schoss durch die Regendächer der Bahnsteige in die kahle Stube.
»Aber zum Dreck schmeißen, da sind sie nicht zu fein«, sagte verbissen die Stickerin über ihrer Handarbeit. »Da war so ein großer, breiter, Sie haben den doch auch gesehn, Fräulein?«
Das Serviermädchen hatte sich wieder umgedreht; sie hob die filmgerecht rasierten Augenbrauen und strich die gewellten Haare an den Ohren zurück: »Ja«, sagte sie mit kaum merklichem Hochmut, »den kenn ich, das war ein Herr Amtsgerichtsrat.«
Mit Vergnügen sah der Schlosser das Duell der Blicke. Das Tabakmädchen hatte zuerst erstaunt die abweisende Miene der blonden Kellnerin gesehen, dann stieß sie wieder ihre Nadeln in die Wolle und sagte: »Also der Herr Amtsgerichtsrat hat gesagt: den Matz Braun wird sein Schicksal schon erreichen, der wird bald an einer Laterne baumeln.«
Sie lachte und warf sich in die Brust: »Eine deutsche Eiche ist zu schade für den Kerl. Was hat er noch gesagt? Ja: die Kommunisten, die werden alle aufgeschrieben heute, da kommt keiner 1935 lebend davon. Du, wo will er sie denn aufschreiben?«
Der Schlosser trank sein Glas leer: »Das musst du den fragen. Vielleicht bei dem Umzug heute Mittag. Aber da wird er sich noch Papier kaufen müssen.« Er warf einen Franc auf den Tisch, die kleine Handlampe stand brennend vor ihm auf dem Büfett. Er hob das Fenster und blies die Flamme aus.
»So«, sagte er und klappte das Lichthäuschen zu, »jetzt hat der weltberühmte 27. August angefangen.« Er griff nach seinem Schraubenschlüssel, um zu gehen.
»Sagen Sie mal«, das Serviermädel hielt ihn zurück, - »wie viel schätzen Sie denn nun die ganzen Menschen? Ich möchte es gern für meinen Großvater wissen, der ist Veteran, konnte aber nicht mehr mit. Ach der war so traurig gestern.«
Der Schlosser hörte den zuckersüßen Schmerz, aber er beherrschte sich: »Vierzig Züge sind abgelassen à tausend Passagiere, also vierzigtausend. Können Sie genau so dem Großvater erzählen. Auf Wiedersehen.« Er nickte beiden Mädchen zu: »Ich gehe jetzt heim in mein Heiabett, wo die anderen 760000 Saarländer noch drin liegen.«

Die Kumpels kommen!

»Ja so was war doch noch net da, Dunnerlittchen, so was war doch noch net da.«
Der Kumpel Heinrich Müller schlug auf den Tisch, dass die leeren Suppenteller hochhüpften.
»Ja was ist denn mit dir los?« fragte Bas Käth, die würdige Matrone, seine Schwiegermutter.
Heinrich Müller hielt einen Zettel in der Hand und wiederholte seinen aufgeregten Satz.
»Ja so was war doch noch net da, Dunnerlittchen, Dunnerlittchen.«
Die alte Frau räumte die Teller ab, scharrte ein paar Speisereste in den Katzenteller am Boden und bog sich stöhnend wieder zurück.
Der Kumpel lachte laut und böse. Dann hielt er das Blatt etwas ab von seinen weitsichtigen Augen, die feste Haut des männlichen Gesichts straffte der Spott. Er las:
»Vierter Läufer. Aus dem Prims- und Köllertal, vom Fuß des Hochwaldes kam ich herbeigeeilt. Stille trauliche Ruhe lag noch über den Dörfern heute früh, wo der Bergmann ausruht vom schweren Tagewerk. Tief unter der Erde, tagaus und tagein gräbt er die Kohle...«
Die Matrone unterbrach ihn. Sie stand jetzt auf den Tisch gestützt vor ihm. Die verschafften Hände zitterten leise. »Das ist doch schön«, sagte sie.
»Kommt noch schöner«, erwiderte der Kumpel. »Das ist die Botschaft«, - breit und höhnisch sprach er das Wort - »die der Adolf sich von uns Saarkumpels für heut bestellt hat. Damit läuft seit heute Morgen so ein gleichgeschalteter Turner nach Rüdesheim.« Er rückte das Blatt zurecht und las weiter:
»Und nach mühsamer Schicht bestellt er dann noch den dürftigen Acker. Ein schweres und sauer verdientes Brot! Da hast du recht. Keine französische Schule, keine Willkür des Chefprincipal kann seine tiefe Liebe zu Deutschland aus dem treuen Bergmannsherzen reißen. Nun hör mal genau zu:
Und lösen sich bei seinem Grab auch donnernd Felsenblöcke ab er denkt: so will es Gott! Glückauf!

Haste schon so eine Frechheit gehört! So will es Gott!« Der Kumpel schob den Tisch von sich.
»Du sollst net lästern«, sagte die Alte.
»Lästern- das da ist lästern, verstehste. Das ist: die Bergleute verkohlen. Felsenblöcke? Von denen war doch noch keiner im Schacht. Der Adolf hat vielleicht schon mal am Stoß geschafft, was? Und hat Glückauf gesagt, wenn die Brocken runtergeballert sind? So will es Gott?«
»O Heinrich«, brauste die alte Bergmannsfrau auf, »du hast aber auch gar kein Religion.«
»Religion? Die haben keine! Ich hab meinen Kumpelverstand und meinen Kampf. Das ist meine kommunistische Religion. Guck dir das doch mal an: Keiner von uns Kumpels hat den Zettel da gesehen, aber sie laufen in unserem Namen an den Rhein und kriechen dem hintenrein. Das ist doch gelogen! Gemeiner Schwindel! Als wenn die Saarkumpels den Adolf bitten würden, dass er herkommt. Als wenn wir den brauchten! Das ist Schwindelreligion.«
Die Alte hatte sich herumgedreht und schlug heimlich ein Kreuz. »Na schön habt ihr's doch auch net in der Grub«, sagte sie schüchtern.
»Davon redt keiner. Das wissen wir selber, warum die Brocken fliegen. Net vom lieben Gott. Aber erstens können wir uns da nur ganz allein helfen und zweitens - ist es denn bei denen da drüben besser? Der Adolf hat die Sicherheitsleute in der Grube abgeschafft. Die Gewerkschaften hat er zertrampelt. Garnix mehr haben die Kumpels zu sagen. Ins Konzentrationslager kommen sie. Und wir sollen den herrufen. Und dann seine Bundesbrüder! Da sind sie doch alle wieder da. Der Krupp und dem Wilhelm sein Ältester. Na da erinner dich doch mal an deinen Mann, den Vetter Krischan! Wie war's denn unter Willem? Wie habense den denn schikaniert, den königlichen Bergmann! Und die Bestechungsgelder! Und da hat's auch keine Unglücke gegeben?« Heinrich zerknüllte wütend den Zettel: »Da konnten sie genau so jeden Tag mitm Kopf unterm Arm heimkommen wie jetzt unter dem Changel - und wie erst recht unter Adolf.«
Die Alte spülte am Ausguss das Geschirr; vorsichtig stellte sie die gewaschenen Teller beiseite, um kein Wort von seiner Rede zu verlieren. Sie hörte, wie der Schwiegersohn jetzt aufstand und den Rock anzog. Jetzt ging er los nach Saarbrücken. Demonstrieren mit den Kommunisten. Ob's davon besser wurde?
»Bergleut haben's eben schwer«, sagte sie und goss neues Wasser in ihre Schüssel. »Man muss nur net verzagen.«
Der Kumpel trat an sie heran: »Damit hilft man nicht. Kämpfen muss man. Da nutzt keine Wallfahrt und kein Rüdesheim.«
Die Alte schüttelte den Kopf: »Laß mir meine Kirch. Da glaube ich dran.«
Heinrich Müller guckte über ihre Schultern in den Spiegel und rückte sich den Schlips zurecht; er hatte den besten Anzug angelegt, die Schuhe blinkten, aus den Ärmeln guckten mit sauberem Rand die frischen Manschetten.
»Nix für ungut, Bas Käth, ich nehme dir deinen Glauben net weg; von mir aus kannste dreimal nach Trier pilgern, aber wenn du heute nach Rüdesheim gefahren wärst, dann hättste mein Haus net mehr betreten.«
Er hob fast leidenschaftlich die Hand. Die Alte lächelte jetzt: »Weißt du, Heinrich«, sagte sie ohne sich umzudrehen, »wenn ich net so alt war, dann hätt ich heut den Marsch mit euch gemacht.«
Heinrich Müller war schon zur Tür gegangen. »Na denn Rotfront, Bas Käth.«
»Ja, ja«, antwortete die Frau und arbeitete weiter, da war er schon draußen.
Er ging von Haus zu Haus die niedrige Zeile der Kumpelhäuser ab. Die Kumpels wussten, dass die kommunistische Partei rief. Aber man musste immer nachstoßen. Die Sonne fiel in die gebirgige Straße. Schwere Löcher hatten die Lieferautos in den Schotter gestoßen. Wenn die Reichen hier fahren müssten, war die Straße schon längst gemacht. Die kleinen Häuser standen im Schmuck der Vorgärten. Heinrich kannte sie alle, wusste, wer Glück hatte mit Blumen und wer schlampig war, wer nicht mal sein Gartentor flickte. Jetzt sah er nicht hin. Er ging in die Häuser hinein. »Und lösen sich bei seinem Grab auch donnernd Felsenblöcke ab, er denkt: so will es Gott. Glückauf.«
Zitierend trat er in die Wohnungen. »Glückauf« antwortete man ihm, und dann legte er los. Der Stolz des Bergmanns sprach aus ihm. Der heiße Zorn des Arbeiters, der nicht gern
belogen ist. Die toten Kameraden waren neben dem Redenden, die von der Gier der Grubenbarone erschlagenen. Für das eigene Leben sprach der, der täglich im Stollen das Leben der Kameradschaft zu verteidigen hatte. Der Fachmann sprach, den der Tod belehrt hatte, misstrauisch zu sein gegen Phrasen. Holzstempel, gut verbaut, stützten besser als Gebete das Hängende ab. Nein, er dachte nicht: so will es Gott. Er sprach mit dem Chef principal und er protestierte gegen den Wanderpfeiler, gegen das Hetztempo, gegen das Sparen mit Holz. Und er rief den Kumpels, die er da aufsuchte, die tausend Gelegenheiten ins Gedächtnis, wo sie sich gemeinsam dort unten geholfen.
Sie saßen in den Wohnküchen und hörten ihm aufmerksam zu.
»Und die da drüben im Reich wollen uns wieder für dumm verkaufen.«
Keiner konnte ihm misstrauen, dass er für die französischen Brotgeber reden wollte. Zu gut bekannt waren seine täglichen Debatten mit dem Hausteiger und dem Divisionär. Sie wussten, warum er noch nicht abgelegt war; es gab keinen besseren Hauer in seinem Schacht, keinen, dem die Kameradschaft so folgte wie ihm.
»Laß sie schwätzen«, sagte ein Kumpel.
Aber Heinrich war nicht gekommen, um müde Antworten zu hören.
»Wenn ihr Kumpels seid, dann kommt mit in die Stadt.« Er sprach von dem roten Aufmarsch in Saarbrücken.
Von draußen riefen Genossen. Es sind schon mehr da, merkten die anderen und standen langsam auf.
»Macht euch fertig«, rief Heinrich. »An der Chaussee stellen wir uns auf.«
Aus vielen Häusern kamen die Kumpels. Wie ein langes Sprungbrett lag die Straße durch das Dorf bis zum Tal der Saar hinunter. Mit erhobenen Fäusten grüßten sich die Kumpels und gingen in heller Sonne den Weg, den sie im grauen Dämmer seit Jahren zur Schicht trotteten. Zur Linken sahen sie, wenn Felder die Häuserreihe unterbrachen, am Waldrand die Zechentürme. Verwittert und blass hing die Trikolore von den Grubengebäuden. Am Ende der Straße hatte eine Wirtschaft die kaiserliche Fahne gesetzt. Die niedrigen Bergmannshäuser bis zur Tiefe des Wegs waren ohne Schmuck.
In kleinen Trupps kamen die Männer. Die Mäntel über den Arm gelegt, mit schlenkernden Handtaschen gingen Frauen neben ihnen und Kinder. Wie selten ging ein Kumpel diesen Weg mit seiner Familie! Nun war es wie ein Fest. Die Frauen lachten. »Wir machen unser Rüdesheim im Land«, begrüßten sie sich.
Nun nahmen einige Reihen schon die ganze Straßenbreite ein. Schulkinder standen an den Häusern mit Gebetbüchern. Eine Glocke fing zu läuten an. Die Vesperglocke.
Scheu betrachteten die Kinder die fröhlichen Erwachsenen. Dann fassten sie Mut und gingen mit. »Wir gehen nach Saarbrücken«, erklärte ihnen ein blonder Pionier aus der Reihe. Er strengte sich an, den Schritt der Großen mitzuhalten. Die anderen Kinder liefen neben den Reihen und staunten immer noch.
Die Männer und Frauen hatten jetzt Tritt gefasst. Die abschüssige Straße trug sie wie ein federndes Brett. »Man könnte schon etwas singen«, rief eine Frau.
Heinrich Müller drehte den Kopf nach den hinteren Reihen. »Wir sind gleich da«, rief er, »spart den Atem für die Stadt.«
Sie sahen plötzlich alle die Straßen von Saarbrücken vor sich. Die breite Bahnhofstraße mit Wilhelms Fahnen und dem Hakenkreuz. Schwarzweißroter Tücherwald aus jüdischen Geschäften hängend und aus den Kneipen der Nazis. Vom Turm der Warenhäuser - die wussten, dass sie nicht umsonst schmeichelten. Eine Fahne neben der anderen. Kein Kaufmann hatte Mut gehabt zu streiken. Aber die Hälfte log. Und nun kommen wir und zeigen unser rotes Tuch. Da vorne geht es. Der junge Anton trägts.
Sie traten fester den Boden, Schon war das Lied in ihrem Schritt. Ein Kampflied wird es sein. Und wird zu euren alten und neuen Lappen wie ein Sturm hinaufblasen.
Die Straße war nun schon schwarz von Menschen. Heinrich Müller wandte sich um. Die Glocke schwieg mit einem Mal. Eine Seitengasse öffnete sich rechts. Die Kinder mit ihren Gebetbüchern lösten sich aus den Reihen und trippelten eilig zu dem nahen Heiligtum. Ein Knabe blieb stehen und sah noch einmal begehrlich auf den marschierenden Zug.
»Da kommen die Emigrantenkinder«, rief Heinrich Müller. Von der Sandgrube zur Linken der Straße lief eine Schar Kinder herbei. Blonde Mädchen, schlanke Knaben mit roten Luftballons. Am Straßenrand hielten sie atemlos an und hoben die freie Hand über die Stirn. »Seid bereit«, riefen sie durcheinander mit hellen Stimmen.
Dann zwängten sie sich in die Reihen mit ihren Begleitern.
»Die lassen wir nach Deutschland fliegen,« sagten sie zu den Pionieren und zeigten auf die Ballons. Der Hammer des Arbeiters und die Sichel des Bauern waren auf die blutroten Hüllen gemalt.
Glücklich fassten sie die Hände der Frauen und Männer und stapften mit.
Die Straße schwenkte im Bogen über eine Brücke. Glitzernd liefen die Schienenstränge der Bahn nach beiden Seiten.
»Hier geht's zum Dritten Reich, pu«, sagte ein Mädchen und rümpfte die Nase. Die Reihen lachten.
Da lag der Fluss unter ihnen. Das glitzernde träge Wasserband zwischen den Kohlenbergen. Förderräder hingen schwarz im Sonnenlicht. Halden höckerten hoch aus den Wiesen und schoben sich in Wälder ein. Durch den silbernen Horizont zogen die Gewebe der Drahtseilbahnen.
Unser Land ist das. dachten die Kumpels. Tausend Schornsteine unser. Wo wird noch so viel gearbeitet? Wo ist soviel Reichtum im Boden, soviel brauchbarer Waldbestand wie hier?
Sie sahen den Fahnenträger an der Spitze um die Straßenbiegung schwenken. Er knotete das Fahnenleder ab.
Wenn es erst wirklich einmal unser ist, dachten die Kumpels. Der Weg stieß jetzt auf die städtische Straße. Aus den Wirtshäusern und Läden hingen die Vorkriegsfahnen. Was werden wir machen aus diesem Land wenn wirs in die Hände genommen haben!
Der Fahnenträger war auf die Seite getreten und schüttelte die Stange. Wie ein warmer Blutstrom floss das Tuch nun über seine Hände. Der Zug schritt weiter. Da waren auch die Kameraden. Schon aufgestellt in Kolonnen. Soweit die Straße zu sehen war, standen die Menschen. Die Kumpels verbesserten den Tritt, links, rechts. Ihre Augen lachten.
Der Fahnenträger schwenkte sein breites Tuch weit über ihre Köpfe.
Ein Trompeter blies.
Vor die stehenden Kolonnen sprang ein baumlanger Bursche.
»Wir begrüßen die Bergarbeiter und Arbeiterfrauen aus dem Püttlinger Bezirk mit einem dreifachen kräftigen Rotfront.« Wie ein Gewitter antwortete die Salve des Kampfrufs. Die Kumpels schwenkten in die Aufstellung ein.

Ein Brief, nur ein Brief

Während sie anmarschierten aus allen Winkeln der letzten deutschen Provinz, die noch kein Konzentrationslager hatte, saß der Gefangene Werner in der Anstaltskirche auf der Lerchesflur. »Wenn Sie heute Post haben wollen, müssen Sie schon in die Kirche gehen«, hatte ihm der Geistliche geraten. Ich denke nicht dran, hatte Werner gebrummt, und eine halbe Stunde später saß er doch in dem Bretterverschlag und sah den Priester um den weißgedeckten Stein gehen und aus den dicken Büchern lesen. Demonstration ist heute, dachte er; der Priester wandte sich um und breitete die Hände über die eingekastelte Christengemeinde. Dass man sie nicht singen hören kann hier oben - dachte Werner. Er hob die Schuhsohlen und senkte sie im Takt marschierender Kolonnen. Lang bin ich nicht dabei. Aber zum Frühjahr sollt ihr euch wundern!
Am Altar klingelte man. Werner war eingehüllt in seine Gedanken. Er sah, dass der Priester den Kelch hob, sah das lang herabhängende Gewand des Priesters; ein Kreuz war darauf, Christus, der Sterbende, weitete seine blutenden Arme.
Werner konnte das Bild plötzlich nicht mehr loslassen. Er dachte an Lisbeth: »Jesus würde heute auch verfolgt im Dritten Reich.« Der Mann ging mit dem Marterbild auf dem Rücken vor ihm auf und ab. Blutsträhnen liefen aus strecklichen Quellen über das blasse Gesicht; eine Dornenkrone hockte in der Stirn. Das war genau so wie das Hakenkreuz, das sie Karl eingebrannt. Jesus wäre auch Kommunist, hatte Lisbeth gesagt; Werner sah den trinkenden Priester. Aber er hätte bestimmt kein Konkordat mit denen da gemacht, beruhigte er sich.
Als er in der Zelle war, brachte ihm der Wachtmeister einen Brief. Er erkannte die Schrift und verbarg seine Erregung nicht. Schon wollte er ihn aufreißen, aber der Wachtmeister stand noch da. Warum ging der nicht? Ich lese allein. Das geht euch alle nix an! Alle!
»Sagen Sie mal, Werner«, sagte der alte Mann, »da sind heute
die Roten, Ihre Roten in Saarbrücken. Die kommen doch nicht hier herauf?«
Der Alte rieb die Hände und wackelte mit dem Kopf; etwas lächerlich machen wollte er den Satz, noch eh er verstanden war. Aber Werner merkte die Angst. Nur wenn sie sicher sind, haben sie Mut. Schikanieren tun sie, solang die Luft rein ist. Wenn sie dick wird, dann biedert man sich an, Mensch, ihr seid ja alle Nazis.
»Na vielleicht brauchen sie mich«, sagte Werner verächtlich. »Dann werden sie mich schon herausholen.«
Was meint er nun wirklich, dachte der Wachtmeister. »Na 's wird ja nicht so schlimm werden.« Er hatte sich besonnen. »Und unsereins tut ja nichts als seine Pflicht.« Schon strammte er die Brust; im fleischigen Gesicht blieb noch etwas von der süßsauren Leutseligkeit, original abgeguckt aus den Gesichtern der Portierskönige von Wilhelm bis Adolf.
Werner hörte nicht mehr auf ihn. Ein Glücksgefühl durchströmte ihn. Würde er mich so ängstlich fragen, wenn ich Separatist wäre! Und die SP macht ihm auch keine Sorgen.
Er sah in das misstrauische Gesicht des Feldwebels. Wenn alle Arbeiter wüssten, wie feige diese ganzen Kerle sind! Ich bin richtig gegangen, jubelte es in ihm. Wir marschieren, wir!
Der Wächter wandte sich um und ging.
Die Tür schnappte langsam ins Schloss. Kein Schlüssel knarrte. Werner horchte hinaus. Er will mich beschmusen. Ach, Quatsch, da ist mein Brief. Er riss das Kuvert auf.
»Mein Allerliebster«, schrieb Lisbeth Biesel. »Ich habe große Sehnsucht nach dir und kann es manchmal nicht aushalten. Aber da denk ich, du hast es noch schlimmer und dann geht es wieder. Bleib mir nur treu und sei nicht böse auf mich. Die Mutter weiß jetzt alles, und sie hat sehr geschimpft. Weil die Leute schwätzen und weil ein Monat Gehalt ausfallen wird im Frühjahr. Aber ich habe ihr gesagt, dass du dann zurück bist und dass wir dann bestimmt durchkommen. Ich war auch beichten zu den Paters. Und da hab ich einen so guten Herrn gefunden. Mach mir keine Vorwürfe, dass ich hinging, aber ich brauche das gerade jetzt, wo du weg bist. Aber ich habe an dich denken müssen. Der Pater hat gesagt, als ich von dir erzählte: dass ihm die Kommunisten hundert mal lieber sind als die Hitler. Kannst dir denken, wie mich das gefreut hat. Und er hat auch gemeint, dass das die Katholiken drüben bald alle sehen werden, warum.
Und die Bischöfe würden das auch bald merken. Weißt du, die Mönche dort haben schon immer Streit mit dem Bischof, und die Leute sagen, die Mönche hätten recht, weil sie mehr wüssten von dem Elend hier an der Saar als der reiche Bischof in Trier. Ich war sehr erleichtert, wie ich aus der Kirche wegging und war noch eine Stunde durch den Wald gegangen. Da hat sich auch das Kleine schon geregt. Ich habe gedacht, das soll auch ein Roter werden. Und wir werden es Ernst taufen, weil du den Namen wegen eurem Führer so gern hast. Wenn du rauskommst, ist es schon da.
Und übermorgen ist hier Kirb und auch von den Sozis etwas, aber ich gehe nach Saarbrücken. Da soll großer Umzug sein von allen Roten. Der Karl geht auch mit, er hat mir eine Fahne gebracht, da sind Hammer und Sichel drauf, und hat mir erklärt, was das bedeutet. Und damit werde ich gehen. Sie gehen durch die Eisenbahnstraße, hat er mir erklärt. Aber an der Brücke, da werde ich auf Seite gehen und zum Gericht gehen, wo sie dich verurteilt haben. Und da sollen die Richter meine Fahne sehen, wenn sie aus dem Fenster gucken. Du, ich geh ganz um das Haus rum vom Ufer über den Platz und hinten wieder zurück. Ich halt sie in der Hand um das ganze Gitter herum.
Ich küsse dich viele hundert Mal, mein Allerliebster, und ich komme dich auch besuchen, sobald man darf. Der Karl lässt dir sagen, du wärst richtig, und er ging hin, wo du wüsstest. Schlagen sie dich nicht? Mach sie nicht wild, spar dir das auf. Ich küsse dich so fest, wie du mich immer geküsst hast.
Deine dich liebende Lisbeth.«

Der Aufmarsch in Saarbrücken

Die Straßen von Saarbrücken prangten im Schmuck der nationalsozialistischen Fahnen. Kein Haus der breiten Geschäftsstraßen stand schmucklos da. Wer zeigte auch so leichtsinnig den kontrollierenden Patrioten seine wahre Gesinnung? Zu rasch fiel so eine leere Fensterfassade ins Gesicht, und in Krisenzeiten erträgt selbst der große Kaufmann nicht den Boykott der kleinen Fanatiker. Saarbrücken prangte bunt, als erwarte es von Doorn den alten Kaiser mit dem Spitzbart zurück. Leer waren die Straßen, nach Rüdesheim waren Herr Studienassessor und Herr Rendant gefahren, mit Frau und mit Kindern und Rucksäcken hatte man in der Nacht das Haus verlassen. Gut
abgeschlossen hatte Pappi, die Roten werdens ja wohl nicht wagen einzubrechen. Und wieder aufschließen musste Pappi, denn das Zeissglas brauchte man doch nun wirklich! Für das Panorama vom Vater Rhein - und auch für den Führer. Denn so dicht kann man wohl doch nicht ran. Aber sehen würde man ihn ja sicher - gewiss doch, das war ja das Wichtigste, der Führer.
Am deutschen Rhein waren auch alle Pennäler, die Beieber des Straßenbilds kleiner Städte, die Flaneure der Abendstunden, heute in der Pubertät, morgen reif zur SA. Und es fehlten die mittleren Angestellten der Ämter mit der ewigen Sehnsucht nach dem Akademikergrad, gesittet nach eifrig gelerntem Kniggerkomment, voll von giftigem Hass gegen den Prolet ohne Kragen, die hoffnungslosen Streber ohne Stolz, die Dünkelhaften, Feigen, sie waren dem Ruf des Führers ihrer Schicht gefolgt, Glacehandschuhe über den abgekauten Fingernägeln.
Die Straßen waren leer, denn wer zur Haute volée des Stahlhelms sich noch zählte und noch den Misch-Maschtanz der braunen Volksgemeinschaft nicht mitmachen wollte, Herr Generaldirektor und Herr Landgerichtsrat, der hielt sich heute im Haus, um aller Neugier vorzubeugen. Der Fahnenschmuck hing über toten Straßen.
Wer aber weiterging bis an den Rand der Stadt, dorthin wo die Häuser niedriger wurden und auch schmaler ihre Fassaden, der fand die Fenster leer vom Schmuck. Man erwartete dort keinen Kaiser, aber viele standen vor den Türen und horchten zu den Landstraßen hinaus.
Gegen zwei Uhr mittags sprangen die Kinder die kleinen Treppen der einstöckigen Häuser hinauf und schlugen an die Türen. »Sie kommen!« riefen die Kinder.
Fenster wurden aufgerissen, Frauen traten vor die Türen. Und schon liefen die Kinder der Musik entgegen, die sich aus der Ferne näherte.
Aus allen Tälern zogen sie heran. Von den Hügeln stiegen sie herab. Von weit her kamen sie durch den heißen Tag. Niemand brauchte sie zu bestechen mit bezahlten Fahrbillets. Sie marschierten Stunde für Stunde. Aus den Wäldern des Warndt kamen sie, von den Kumpeldörfern um Elversberg rückten sie an, aus den Hütten des Köllertals waren sie aufgebrochen. Schon dröhnte das Pflaster der Hauptstadt von ihren Schritten.
Die Eisenbahnstraße herauf gingen im Zug der Saarbrückener Gruppen die Bezirksleiter der Kommunistischen Partei.
Die kaiserlichen Fahnen senkten sich tief in die Straßenschlucht. Die Männer sahen vor sich die kräftigen Gestalten der jungen proletarischen Schutzstaffel. Die rote Fahne zog den Berg hinan.
Eure hängen, dachten die Männer, aber unsere marschiert.
Kleinbürger blieben auf den Trottoirs stehen, überrascht und unsicher.
Wenn ihrs nur kapieren würdet, dachten die Männer. Hier kommt das wahre Saargebiet. Die Besten der siebzig Prozent Arbeiter, die euch das Brot geben.
Ein Genosse des Landesrats erkannte einen Krämer. »Na, Herr Hennrich, wollen Sie nicht mitkommen.«
Der Krämer nickte stumm. Da wusste man wirklich nicht, was man sagen sollte. So ein langer Zug. Er sah die Straße hinab. Wenn die alle Geld hätten, die gäbens auch aus. Hatten ja tausend Löcher zu stopfen.
Er suchte den Landesrat, der ihn angerufen, aber die Spitze war schon nicht mehr zu erkennen. Euch Krämer und Handwerker kann nur der Arbeiter retten, hatte der Detjen gesagt. Vielleicht hatte er recht. Kreuzsakrament, da kam schon ein neuer Zug über die Schlossbrücke! Wenn die Nazis sich doch verrechnen!
Der Krämer hängte den Spazierstock von der Schulter ab. Ich werde vielleicht wieder ein Inserat in die »Arbeiterzeitung« geben.
Die Spitze des Zugs passierte eben das Gebäude der »Saarbrücker Zeitung«. Gebrüder Hofer zeigten den Kapitalgeber. Fahne an Fahne deckte die Fassade. Auch das krumme Kreuz bleckte aus weißem Grund.
Wir werden es herunterholen, dachte Karl der Emigrant, der im Zug der Saarbrücker Genossen schritt. So ruhiger geworden war hier an der Saar und so totensicher er in vierzehn Tagen wieder im Reich an die illegale Arbeit ging, das verwand er nicht mehr. Das hatten sie ihm wirklich eingebrannt. Wenn er es sah, stieg ihm das Blut zu Kopf und es schien, dass sein Rücken glühte.
»Schaut mal: Hofer fréres«, rief einer der Männer. Die Genossen lachten. Als die Konjunktur anders stand, soll die Zeitungsfirma, die jetzt unter Goebbels stand, einmal so fremdländische Briefbogen gehabt haben: Hofer fréres. Jetzt stand am Kopf ihrer Korrespondenz die Landkarte der Saar, und ein blutiger Finger kam aus Nazideutschland und schrieb; diese Grenze muss fallen.
Vorläufig fällt sie nicht, dachten die marschierenden Genossen. Vorläufig ist sie die Grenze gegen die Barbarei, die in Folterkammern Kämpfer blutig schindet, damit in den Hotels oben die Thyssens mit den Prinzen tafeln können.
Der Zug stieg steil den Schlossberg hinan. Die Männer wandten sich im Gehen um. Und wenn sie fällt, dann nur durch diese Armee der Saararbeiter, die nach Mettlach und Homburg und Ottweiler ziehen werden, um ihre roten Brüder zu begrüßen. Die Männer sahen den Zug der Männer und Frauen mit ihnen hinaufsteigen. Sie lachten sich zu: Der Arbeiter kommt. Er wird wach. Er marschiert. Still sitzt er in den Hütten und Häusern, wenn die anderen ihre Kriegerdenkmäler einweihen »für König und Vaterland«, wie drüben auf dem Sockel der 130er steht, neu eingehauen im Sommer 1933. Stumm geht er zur Arbeit und erkennt seine wahren Feinde am Tor der Fabrik und hinter den Fenstern der Direktion. Man sieht ihn nicht, wenn die Bürger ihre schreienden Feste feiern. Aber heute ist er da. Nichts hat ihn aufgehalten. Da zieht er heran in sicheren Reihen, der das Geschick seiner Heimat entscheiden wird. Heute zu Tausenden, morgen müssen es Zehntausende sein.
Der Zug hatte den Berg erklommen und schwenkte in die Straße zum Sportplatz ein. Rechts in der Tiefe lief der Weg weiter zur französischen Grenze. Und da war auch die Völkerbundspolizei. Hoch zu Ross erwartete sie das rote Saarvolk. Zur Seite an den jenseitigen Hang waren sie geritten. Die Säbel glänzten von den Sätteln herab. Nur einen flüchtigen Blick warfen die Männer hinüber.
Die Plempen schrecken uns nicht. Aber ihr werdet erschrecken. Wenn die Reihen da nicht aufhören heraufzusteigen.
Sie betraten den Platz. Turner liefen herbei und hoben die Fäuste zum Gruß. Rotfront!
»Wird einer sprechen?« rief einer der jungen Arbeiter und lief nun fragend neben der Spitze.
»Ist alles verboten«, antworteten die Männer. Der Turner schritt weiter mit; er gab sich nicht zufrieden.
»Aber der Matz in Neunkirchen redet doch.« Die Spitze hielt an.
»Das ist auch der Matz«, sagte einer der Männer. »Regierungspartei.«
Der Bezirksleiter trat aus der Reihe:
»Genosse, keine Aufregung. Es gibt welche, die warten darauf. Die SP macht einen geschlossenen Laden und wir« - er hob die Hand über den neben der Reihe einmarschierenden neuen Zug -, »wir haben die Saararbeiter gerufen. Und ob sie kommen, das wird sich jetzt zeigen.«
Der Jungarbeiter folgte der ausgestreckten Hand.
»Das da«, sagte der große Mann, »ist die Generalprobe. Und da brauchen wir keine Reden und keine Kassensperre.«
Die Männer stiegen zur Seite die Sandtribüne hinauf.
Einer riss den Jungarbeiter auf den Hügel. Die Landstraße lag tief eingeschnitten unter dem Hügel, der den Sportplatz trug. Trompeter schmetterten zu der Höhe hinauf. Neue Züge marschierten an.
»Wir brauchen uns nämlich nicht zu verstecken«, sagte der Mann zu dem jungen Genossen, der strahlend in die Schlucht hinabsah.
»Und wir dürfen's auch gar nicht«, sagte der Bezirksleiter, »sonst werden nie Kämpfer draus.«
Sie wandten sich wieder zum Sportplatz um. Die Ortsgruppen zogen vorbei. Der rote Aufmarsch kam ans Ziel.
Verwischt war die Müdigkeit von den Gesichtern. Die Fahnenträger griffen das Holz fester. Schnell wischten sich die Frauen den Mund mit den Taschentüchern. Die Kapellen setzten mit neuer Kraft die Instrumente an den Mund.
Schon gingen die Ankommenden durch dichte Spaliere. Wie in ein Meer mündete der Strom der Kolonnen in die bewegte Masse.
Die Männer auf der Sandtribüne lasen die Schilder, die ihnen die tragenden Knaben hinüberhielten, und rissen die Fäuste hoch.
Jubelndes Geschrei kam vom Eingang des Sportplatzes.
»Da kommen die Forbacher«, rief einer der Genossen.
Durch das Tor der Fäuste und der schwenkenden Fahnen zogen die französischen Arbeiter ein.
»Front rouge!« stand auf ihrer Fahne. »Vive la solidarité internationale!« Sie sahen staunend die rote Heerschau. Wie das die Straßen heraufstieg, zu Tausenden den Hügel überschwemmte, die Sandtribüne besetzte!
Nicht weit war der Weg der Franzosen gewesen, in geradem Lauf stieg die Straße von ihrem Städtchen zu dem Grenzhügel.
Nun sahen sie auch die Polizei links am Hügel, abgesessen von den schweren Pferden. Eine Sekunde zuckte dem Fahnenträger die Hand. Musste er schleunigst zusammenrollen? Doch dann spürte er die Welle unter sich, die immer herausschlägt aus der Flut der Massen, jetzt trug sie auch ihn. Er sah die Armee, und höher hielt er die Fahne und schwenkte in den Weg nach dem Festplatz ein.
Die Bezirksleitung sah sie ankommen. »Rotfront, Genossen!« Man müsste eine Fanfare blasen lassen: Da sind die Forbacher, müsste man schreien, schaut her, Kumpels von der Saar! Die sind über die Grenze gekommen, die keine Grenze ist. Aber nur wenn ihr zusammenhaltet, Proleten. Sie sind an den Festungsbergen vorbeigekommen, nicht mit der Trikolore, nicht mit der Handgranate, nein, die Fahne versteckt im Futteral sind sie gekommen, und unter der Straße, die sie kamen, laufen heimliche Miniergänge, stecken Kanonen drin und anderes Mordzeug. Aber die Forbacher kamen trotzdem. Schaut sie euch an, die Kumpels vom Wendelschacht! Sehen aus wie ihr. Haben Wohnlöcher wie ihr. Erbärmliche Lohntüten wie ihr. Und mittendrin soll eine Grenze liegen, sagen die anderen. Sie sind drüber weggelaufen, um zu uns zu kommen. Und jetzt sind sie da, Genossen, und haben dieselbe Fahne wie wir.
Einer der Forbacher trat aus der marschierenden Reihe und kletterte den Sandhügel zu der Bezirksleitung hoch. »Ich möchte, wenn's euch recht ist, gern ein paar Worte sagen«, meinte er.
Sie lächelten in freundlichem Spott: »Rotfront Genosse, das möchten wir auch gern. Alles verboten. Aber bleib hier bei uns! Schön, dass ihr kommt.«
Unten zogen die französischen Kumpels vorbei, die Faust zum Gruß geballt. Das ist die Grenze, die fallen wird, dachten die Genossen oben und schüttelten dem Forbacher, der zu ihnen trat, die Hände. Zwischen uns gibt's keine Schlachtfelder mehr. Jeder von uns wird den Krieg für die Generale und Zechenbarone in den Krieg gegen die Herren selbst umwandeln. »Les Sowjets partout«, rief unten begeistert ein junger Turner in den hellen Tag.
Und sie werden auch die Saar retten helfen vor Hitler, dachten die Männer. Wir werden sie immer wieder rüberrufen. Je chauvinistischer die Nazis hetzen, desto öfter müssen die da
kommen und sich den Kumpels zeigen. Hier sind wir! Front rouge! Wo ist die Grenze zwischen uns?
Der Zug war vorbeigeschritten. Die Jugend kam. Im blauen Hemd mit rotem Halstuch die Pioniere. Schlanke Kumpelkinder mit intelligenten Gesichtern. Eifrig bedacht im guten Schritt zu bleiben, wandten sie die Köpfe zu der Tribüne und hoben die Hände.
»Seid bereit, Pioniere!« Die Bezirksleitung grüßte die Sowjetbürger der Zukunft. Sie würden schon aufbauen können. Jetzt sangen sie: »Wir sind die junge Garde des Proletariats... «
Selbstbewusst war ihr Blick. Das war kein Soldatspielen. Sie marschierten im Zug der Genossen. Sie wurden ernst genommen und waren ein Teil der Partei. Kein Gönnertum der Erwachsenen betätschelte sie. Erobert eure Schule, sagten die Genossen. Holt euch die Kumpelkinder! Und keine Gnade dem Lehrer, der euch dumm machen will mit Phrasen von falscher Ehre.
Sie haben sich erfolgreich gewehrt gegen das Wessellied, erinnerten sich die Männer oben.
»Es müssen noch mehr werden«, sagte einer der Genossen.
»Es sind ja schon mehr«, protestierte der Jugendleiter, »die meisten sind im Zeltlager bei Ludweiler.«
Die Bezirksleitung war nun umringt von vielen Genossen. Stolz standen die Arbeiter da und ließen den jungen Trupp vorbeiziehen. Jawohl, das waren keine Träumer. Die Kleinen da unten wussten, was ihnen bevorstand. Sie waren geschult durch den Hunger und geweckt durch ein neues Wissen. Nun hielten sie an und stauten den Zug. Ein Knabe sprang vor und gab ein Zeichen: die Kinder rezitierten:

Hört und sprecht
H.... ist Henker und Ausbeuterknecht.
Wahr bleibt wahr
Rätedeutschland! Freie rote Saar.

Sie machten eine Pause beim zweiten Vers und sprachen den Namen des Kanzlers mit leiser Stimme. Sie übertölpelten die Polizei. Man klatschte, rief: »Rotfront!« Sie hoben die Hände: »Seid bereit!« und zogen weiter.
Und zur gleichen Zeit tanzte am Rhein die Jugend der Saarbürger Volkstänze. »Ich muss grad an die Rüdesheimer denken«, sagte einer von den Genossen.
Der Nachbar zuckte die Schultern: »Die werden sich wundern, wenn sie heimkommen.« Aber der andere verglich: Da hüpften sie in Bingen mit Schleifen im Haar um bunte Schellenbäume herum, sangen vom Mai und der Nachtigall. Großmutter will tanzen, auf machet Platz, auf machet Platz!
Der Genosse grinste. Und dann warteten sie stundenlang, bis ein Mann angeflogen kam, und seine Fisage genügte ihnen. Satt und zufrieden schon als Kinder. Gehorsam ohne nachzudenken. Wie schreibt der Wotan-Schirach: »Der Hitlerjunge denkt nicht, er fühlt.« Wie klein würden sie alle werden, wenn sie sich in Diskussionen mit den Pionieren da einließen! Aber sie kniffen immer, sie mussten kneifen.
Frauentrupps zogen vorbei. Ernst die Mienen. Die Not war eingeritzt in die Gesichter, aber in den Augen saß hart der Glaube. Sie fühlten, dass sie hier unter den Augen der stehenden Frauen und Männer am Ziel der Demonstration waren. Tausende sahen sie jetzt an, Tausende nahmen als Erlebnis mit nach Hause, dass auch sie gekommen waren. Man kannte die Feinde, aber erleben musste man immer wieder, wie zahlreich die Freunde waren. Das half beim Krieg mit der Wohlfahrt, das stärkte gegen die Frechheit der Bonzen, das hielt einen hoch, wenn die Kinder schrieen und einem das Herz zerrissen, wenn der Mann abgelegt wurde. Und einmal kam der Tag!
Die Frauen sahen auf dem gegenüberliegenden Hügelhang hinter den Bäumen die lange Reihe der Polizeipferde. Dann saßen unsere Jungens auf euren Gäulen, aber nicht heimtückisch hinter dem Busch. Dann ritten sie hier mit uns im Zug, die roten Reiter der Sowjetsaar.
Da war ja auch Mutter Lutz. Einer der Männer oben erkannte sie. »Rotfront, Genossin Lutz!« Die Greisin hob die Faust. Ihre Augen strahlten, die Augen, die den Tod ganz nah vor sich gesehen. Noch klebte am zerschlagenen Mund ein Pflaster. Sie zeigte darauf im Marschieren. Mit unverdünntem Lysol hatten die Braunen damals die Wunden auswaschen wollen, direkt hinter der Grenze in Sandorf. Ein Metzger war gekommen als Sanitäter. Es war der erste Augenblick, da mir gegraust hat, erzählte Mutter Lutz. Da hab ich gemeint, rings um die Saargrenz' säßen lauter Tiere auf der Lauer. »Nix als Lumpenpack sind die Erwerbslosen«, hatte der Nazi im Gefängnis zu Sandorf gesagt und mit dem Stecken auf ihre Finger geschlagen. »Der Hitler wird sie all in die Gruben jagen an der Saar«,
hatte der Kerl gesagt. »Mit sone Ketten an den Beinen. Dass sie wieder Menschen werden.«
Die Lutz hörte den Stampfschritt der Kolonnen und musste an den Nazi denken. Sie sah über die auf- und niederwellenden Reihen der Menschen. So leicht wird der Adolf ja nicht hier einmarschieren!
Die Frauen stimmten ein Lied an. Mich hat er zurückgeben müssen. Und die anderen wissen jetzt Bescheid. Und wers nicht weiß, dem sag ich’s!
Zorn stieg hoch in ihr. Die Wunde an der Lippe brannte. Es war ihr, als flösse das Blut wieder. Lumpenpack, das denken sie wirklich von uns. Und wollen eine Arbeiterpartei sein.
Um sie war das Lied der marschierenden Frauen. Plötzlich hörte sie es und lachte. Ja doch. Hier waren alle gleich. Und der da hinten hatte sie sofort von oben wieder erkannt.
Eine Fahne wurde herangetragen: auf blutrotem Tuch zuckten drei Pfeile. Ein alter Arbeiter trug sie, starke Burschen begleiteten ihn. Frauen folgten. Nun hoben sie hoch hinaus die Fäuste: »Freiheit«, riefen sie. Es war kein Parteigruß. Sie meinten mehr. Auf der Tribüne stiegen die Fäuste. Wie ein Gewitter erlösend und stark antwortete die Masse »Rotfront«.
»Freiheit«, riefen nochmals die Marschierenden. Die rote Fahne stieg über die Köpfe. Hoch hielt sie der alte Kumpel. Seine Augen grüßten in wilder Entschlossenheit zu den Kommunisten hinauf. Wir hatten auf Wels gehört; er gab Hitler die Stimme im Mai. Auf den Generalstreik warteten wir; und sie riefen zur Ruhe und Ordnung. Da drüben brennt jetzt das Land. Das unsere darf nicht brennen! Ihr rieft uns zuerst. Hierher nach Saarbrücken rieft ihr uns. Ins Herz des Landes. Nicht zur Ruhe und Ordnung, sondern zum Kampf. Hier sind wir mit unserer Fahne. Die Einheitsfront marschiert, Freiheit!
»Das ist der Anfang«, sagten oben die Genossen. »Sie wiegen mehr als tausend Nazis.«
Der Zug musste halten. Lachend stand nun unten der Trupp. Froh und stolz kamen von der Sandtribüne die Rufe. Kein Misstrauen, nichts Fremdes war zwischen ihnen. Es erkannten sich Hüttenarbeiter vom Völklinger Werk, es begrüßten sich Kumpels vom gleichen Schacht. Ein Bursche im blauen Hemd der sozialistischen Jugend sah einen Rotfrontkämpfer seiner Dorfstraße den Zug entlang gehen. Rotfront, Matz. Freiheit, Willi. Wie viel seid ihr denn? Noch lang nicht genug.
Die Kapelle, die im Tor des Fußballfeldes stand, hob die Instrumente. Der Zug wollte sich in Bewegung setzen, aber nun blieben sie plötzlich stehen und sangen: Brüder zur Sonne zur Freiheit.
Sie rissen die Mützen von den Köpfen und hoben die Fäuste. Hoch über den Festungshängen von Forbach stand die Sonne. Das weite Land glühte im sommerlichen Brand. Sie sangen: Brüder zum Licht empor.
Wie eine Welle wälzte sich der Gesang über die Tribünen und Straßen. Vom Horizont bleichten die kalkigen Gebäude des Wendelschachts. Über die Dächer von Saarbrücken fegte der Gesang, stieg hoch an dem Fahnenmast zu dem roten Tuch der Freiheit, das triumphierend im blauen Himmel hing weit über den Gassen und Straßen, die dort unten die Tücher der Vergangenheit herabhängen ließen aus den muffigen guten Stuben.
Hell aus dem dunklen Vergangenen
leuchtet die Zukunft hervor.
Kinderstimmen sangen. Da standen sie, wohlbehütet wieder unter Tausenden, die Emigrantenkinder. Mutter geht sammeln für die Rote Hilfe, dachte Hilde. Wenn Vater dabei sein könnte! Er ist vorgestern wieder zurück ins Reich. Mein Vater! Sie sang lauter, und nun öffnete sie plötzlich die Faust und ließ ihren Ballon fliegen über das schwarze Menschenmeer. Er torkelte, sie sang und sah ihm nach. An dem Fahnenmast flog er vorbei und stieß dann im Winkel mit dem leichten Wind weit über die Stadt in der Tiefe. Sie folgte ihm mit schiefgelegtem Köpfchen.
Ein Pionier stieß sie an: »Du hast ja nichts dran gehangen!« tadelte er.
Sie sah zu dem verschwindenden fliegenden Punkt in dem Äther und sang:
Seht wie der Zug von Millionen
mächtig aus Dunklem schwillt...
Ihre kleine Faust war wieder fest geballt.
ENDE

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