Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Gustav Regler – Im Kreuzfeuer (1934)
http://nemesis.marxists.org

Juni: Rote Mobilmachung

7.6. Viermächtepakt.
12.6. Hugenberg verrät Kriegspläne Hitlers.
21.6. Deutschnationale Kampfringe verboten.
22.6. SPD verboten.
23.6. Christliche Gewerkschaften aufgelöst -
Emigranten-Kinderheime an der Saar-
Solidaritätsküchen -
Verstärkte illegale Arbeit.

Versammlung im Walde

Im Wald bei Ludweiler nahe dem seichten Jakobsteich lagerten sie. Sechs Männer und eine Frau. Gewürz des verwesenden Altlaubs mischte sich mit dem Honigstaub der neuen Buchenblüten. Vogelgesang umlockte brütende Meisen. Sonne durchleuchtete den jungen Blätterflaum der Kronen. Ein Specht schlug den harten Schnabel in die wurmreichen Rinden, von den Wiesen brüllten behäbig die weidenden Kühe. Die sechs Männer saßen am Boden des Waldes und hörten der jungen Frau zu, die in ihrem Kreis hockte.
»Genossen«, sagte sie, »ich habe mir das hier aufgeschrieben, also da muss ich sagen, wir wollen uns nichts vorlügen. Wir wissen ja Bescheid von drüben. Es hat gar keinen Zweck, dass wir uns belügen, ich will auch nicht hochmütig sein und sagen, dass die Genossen bisher an der Saar versagt hätten, aber mir ist da was aufgefallen zum Beispiel in X. Da hat der Genosse gesagt, eine RH-Leitung sei nicht vorhanden, das macht alles eine 60jährige Genossin. Dasselbe in F., wo der Pol-Leiter die RH macht, und der ist dabei noch Org und Kassierer. Das ist ein Hauptfehler, weil so ein Genosse gut ist, aber verbraucht wird und dann schlecht arbeitet. Wir brauchen uns da ja nichts vorzumachen. Soll ja öfters vorgekommen sein, dass einer alles und die anderen gar nichts gemacht haben. Also das war Numero 1.
»Und zum zweiten Punkt, das wäre die Betriebsarbeit. Da ist nun viel zu sagen: Also da ist D., wo so prima Ausbeuter sitzen. Da sollen kürzlich Proleten im Gaskessel umgekommen sein, nur weil man zu geizig war, während der Reparaturzeit einen
Ventilator hineinzustellen. So was kann doch ein Schlager werden, Genossen, da muss doch die ganze Stadt tagelang davon reden, und was ist geschehen. Fragezeichen?
»Dann N. Zweitausend Arbeiter, und wie funktioniert die Zelle? Ich will gleich bemerken, dass hier meine Wenigkeit errötet, denn es handelt sich in der Hauptsache um Frauen. Wisst ihr, die haben da noch Begriffe wie im Mittelalter, die Frauen betrachten den Lohn als geschenkt, weil sie alle noch 'nen Garten haben, und hier liegt sowieso der Hase im Pfeffer: die zweispaltige Wirtschaft an der Saar!
»Ehe wir das Problem nicht lösen, kriegen wir die Saarproleten nicht in unser Haus. Ich schlage vor, dass wir darüber gesondert beraten. Das ist nämlich ein sehr schwieriges Problem. Auch marxistisch gesehen: weil son Stück Garten nämlich aus dem Proleten eine Art Grundbesitzer macht und es nicht mehr das ist, was Karl Marx gefordert hat, dass er nichts zu verlieren hat, auch wenn er sich in Wirklichkeit kaputt schafft für die Pachtgroschen. Und außerdem wird er nie klassenbewußt, weil er nicht genug die Ausbeutung sieht, sondern sich über den Lohn freut, als eine angenehme Zugabe zu dem Kohl. Darüber müsste man extra reden, meine ich!«
Sie hatte während der Rede einen alten Zweig vor sich in das Laub gesteckt und die Erde gelockert, ohne sie hochzuschleudern. Die Männer waren dem Spiel ihrer Hände gefolgt, aufmerksamer noch folgten sie ihrer Kritik. Nun sahen sie auf und begegneten den festen hellen Augen.
Der Genosse Ernst hielt den Blick nicht aus. Schon bei Beginn der Konferenz unter dem offenen Himmel hatte er gemerkt, warum er sich so besonders auf dieses Treffen gefreut hatte. Mensch, war hier nicht schon Sowjetdeutschland? Die Frau hatte genau so viel zu sagen wie der Mann, es machte auch nichts aus, dass man eins auf die Nase gekriegt hatte, es ging an die Eroberung eines guten Winkels von Deutschland.
Als Grete mit dem Instrukteur Fritz in den Bäumen erschienen war, einem kräftigen jüdischen Proleten in gelbem Sweater, hatte Ernst einen Stich gespürt, da unten wo die Lungenzüge der Zigarette kitzelten. Aber dann hatte sie ihn besonders freundlich begrüßt und mit lachend geöffnetem Gesicht vor ihm gestanden: »Na dann wollen wir uns mal das Fell abziehen.« Jawohl, das Mädchen war auf dem Teppich. Da wusste man, dass man die Bruchbude doch noch schmeißen würde.
Ernst hielt das unrasierte Kinn in der breiten Hand und wartete, dass Grete weitersprach. Ich hätte mir auch den Bart schaben können, dachte er - da war Gretes Stimme wieder da.
»Ich komme dann auf einen speziellen Ort da in der Nordecke zu sprechen. Also da war ich selber. Da müssen die Mädels auch bei diesem Plättchenmacher nach der Arbeit noch die Fabrik sauber fegen, ohne dass er ein Pfennig Überstunde zahlt. Und das tun sie denn auch und denken sich gar nichts dabei. Wenn sie umfallen, wie die Fliegen, dann haben sie nur Angst, dass sie den Platz verlieren. Und sonntags laufen sie in die Kirche zu einem Pastor, der auch bei den Negern ministrieren könnte. Der verschnupft sogar seine Haute volée, auch die Bourgeois ziehen die Nase krumm über seine primitiven Predigten und sogar eine Lehrerin hab ich sagen hören, der passe zu den Bauern, aber nicht in die Stadt. Aber unsere Proletenmädchen laufen brav in die Messe, und ist eine von ihnen mal dick gemacht, dann heult sie und hat nur Angst vor dem Pfarrhaus. Ja, so sind sie da unten in der feudalen Ecke. Und die Genossen lassen ihre Gören manchmal auch noch zur Kommunion gehen, weil es so'n schönes Fest ist. Sie denken, sie sind ausgestoßen aus der Menschheit! - schöne Menschheit! -, wenn ihre Bammsen nicht im weißen Schleier durch die Stadt laufen dürfen, und da halten sie fest dran, wenn sie auch sonst schon verstanden haben, wo der Klassenfeind steht.«
Grete machte eine Pause; es schien ihr, sie hätte den Faden verloren, die Baracken in jener Stadt fielen ihr ein; Elendshütten, überall standen sie vor den Saarstädten, so aneinandergepresst, dass die Not durch die Wände von einem Loch zum anderen sich durchdrückte; dass Hass aus der Not wurde; die Leute lagen immer im Streit und vergaßen zu oft, dass sie lieber den Streit vor dem Rathaus führen sollten, dass sie lieber das Pfarrhaus mit den ungezählten Zimmern sich ansehen sollten, die Villen der Landräte, dass sie ziehen müssten vor die Villa ihrer Fabrikanten, vor das Sprechzimmer ihrer Kreisärzte, die sie nicht wegschafften aus ihren Typhushöhlen.
Grete erinnerte sich an den Kommunionschleier, den sie an einer Zimmerwand der Baracken hatte hängen sehen. Die Arbeiter wollten nicht zurückstehen hinter den Spießern, sie waren angefault von kleinbürgerlichem Ehrgeiz und ehrten den Feind, der sie betrog und verachtete.
Jetzt hatte sie den Faden wieder: »In der Gegend da unten, in
Feudal-Saarabien muss man bei der Religion anfangen. Natürlich nicht mit dem Holzhammer auf den Kopf. Aber mit der richtigen Klassenmoral. An ihren kleinen Schmerzen muss man sie kriegen. Zum Beispiel an der Ehe. Wo die Kirche sie zwiebelt und ihre Not noch vergrößert. Ich glaube, dass man da mit sexueller Aufklärung eine Masse machen kann. Da drückt sie nämlich alle der Schuh. Weil die Männer oft genug noch brutal sind, die nichts anderes im Kopf haben, und die Weiber sitzen dann da mit 'nem Haufen Würmer und haben die Arbeit damit.
»Ich könnte noch viel sagen, Genossen. Aber ihr habt ja schon beraten, dass die Zellenarbeit verschärft werden soll. Und da hab ich denn nur eins noch zu sagen. Ausdrücke wie in dem einen Bericht, also ich meine »aussichtslose Lage der Partei« sollte man gar nicht über die Lippen bringen. So was sagt kein richtiger Genosse. Das ist hier nicht rosig an der Saar. Das ist ein schweres Gebiet. Vielleicht kann man auch sagen, dass manche hier geschlafen haben oder aus der Partei einen Gesangverein gemacht haben. Aber es sind die schlechtesten Proleten nicht. Menschenskind, was sind da für Kerle drunter, und was kann man alles mit den Frauen anstellen! Ich habe die Leute in den vier Wochen richtig gerne gekriegt, und nun müssen wir rangehen und ihnen helfen. Und bei den Frauen müsst ihr mich alle sehr unterstützen - ich sage das mit guter Absicht zum Schluss: es muss nämlich aufhören, dass man die Frauen an der Saar nicht als gleichberechtigte Genossen ansieht. Drüben im Reich haben sie es genug bewiesen, ihr könnt alle ein Liedchen davon singen, auch als der Adolf schon da war, nicht wahr. Also, das wär's, was ich sagen wollte.«
Grete schwieg; ein breiter Sonnenfleck fiel aus dem Hochwald auf ihr Gesicht; sie legte den Kopf in den Nacken und blinzelte in das Licht. Ob die Männer den letzten Hieb verstanden hatten? Dann sollten sie beweisen, dass sie nicht mehr rückständig waren.
»Die Genossin«, sagte eine Stimme - Grete ließ den Kopf im Nacken und sah in das blendende Himmelsloch der Baumkrone -, »hat wichtige Fragen angeschnitten. Ick kann nur sagen, dass wir 'ne Masse von der Genossin Grete lernen können.« Mehr sagte die Stimme nicht. Man schwieg.
Das ist Franz, erkannte Grete. Der kann organisieren, dachte sie. Hat aber noch keine theoretische Übersicht.
Eine andere Stimme brach das Schweigen. Grete löste den Ellenbogen von der Erde und legte sich rückwärts.
»Ich verlese dann nochmals«, sagte die neue Stimme, »die Bezirke und denke, dass wir mit den wöchentlichen Berichten jetzt aufhören.«
Er ist auch gegen diese Überorganisation, ganz recht, dachte Grete, es genügt alle 14 Tage, wollte sie sagen, aber sie war mit einem Mal zu bequem, noch einmal einzugreifen. Sie hatte das Gefühl, ihre Gedanken gut gesagt zu haben. Die Sonne füllte ihre Augenhöhlen mit Wärme, spannte die Haut ihrer Backen und trocknete die vollen Lippen. Sie atmete tief. Sie hatte Lust plötzlich zu singen, da oben in den Wald hinein, den roten Wedding oder einen Vers von Weinert. Das einzige Gute, dachte sie, dieser Banditen-Revolution ist, dass sie im Frühling angefangen haben. Da hat man gleich alle neue Kraft, gegen sie zu kämpfen.
»Walther«, sagte die Stimme des Diskussionsleiters, »bleibt in L. Gemeinderatsarbeit mehr beeinflussen, aber auch allgemein schulen. Dazu dringend Gewerkschaftsfragen. Kinders, die CGTU muss wachsen!
Emil geht nach K. Franz bekommt W., weil der die KPO-Fragen kennt. Die Renegaten dort sind nur zu bekämpfen, wenn man zu den Proleten selber geht. Rebellion von unten her. Diese Sektierer müssen ausgemerzt werden. Heute heftiger denn je. Idiotisch! Den Proleten in dieser gefährlichen Zeit von einer neuen Partei zu reden, verbrecherisch! Übrigens Vorsicht mit dem Genossen Gemeindevorsteher. Der Mann ist willig, aber lasch; das kann leicht ein Unglück werden sonst. Energisch sein!
Alfred hat St. Wendel. Wir müssen in dem Eisenbahnausbesserungswerk noch mehr Einfluss haben. Dreitausend Mann Belegschaft, was könnte daraus alles gemacht werden! Der Kursus >Was wollen die Kommunisten ist eine prima Idee. Ich bin dafür, dass Alfred ihn selber hält. Mit dem häufigen Wechsel des Referenten ist das nichts.«
Grete ließ sich jetzt langsam ganz auf den Waldboden zurückgleiten; es war disziplinlos während des Schlussworts, aber die Umgebung, das Laub, die Stämme, das Licht machten es ihr leicht. Und hingestreckt hörte sie nun diese weiche und doch so selbstbewusste Stimme.
»Im Bezirk S. muss man sich mehr um die Massenorganisationen kümmern. Es ist richtig, was Fritz gesagt hat: Rote Hilfe und IAH haben verschiedene Arbeitsgebiete, auch wenn sie sich oft berühren. Zänkereien sind da konterrevolutionär. Wenn eine Neidkonkurrenz auftritt, so soll man sie gefälligst in einen sozialistischen Wettbewerb umwandeln.«
Wie gut er es anpackt, dachte Grete. Manchmal begreift man es nicht, dass wir nicht jetzt schon gesiegt haben, dass dieser Januar noch kommen musste.
»Wir werden die Saar erobern«, sagte die Stimme von Fritz. Grete fühlte das warme, feuchte Laub an ihrer Backe. Ich werde ihn ansprechen, dachte sie, und ihm sagen, dass ich ihn gern habe. Weiß ich was morgen ist. Im Gegenteil, besser arbeiten werde ich, wenn ich öfter mit ihm zusammen bin.
Der schüchterne Ernst saß dicht neben Grete und betrachtete ihre Beine. Ich weiß nicht, warum ich bei dem Mädel keinen Mut habe, sagte er sich, bewundernd und wehmütig.
»Die Genossin hat recht«, fuhr Fritz fort. Grete wollte sich aufrichten, da man von ihr sprach, aber eine Welle von warmem Glücksgefühl hielt sie magnetisch auf dem Laubboden fest.
»Wir müssen uns hier besonders an die Proletenfrauen wenden. Ich habe mit vielen gesprochen; sie sind kuragiert, sind gar nicht dumm, auch wenn viele aus Gewohnheit und so noch in die Kirche laufen. Sie haben auch das Maul auf dem rechten Fleck. Sie können den Männern viel Mut machen. Ob es jetzt gegen den Divisionär der Grube ist, gegen den Röchling, gegen die Nazis oder gegen den Landjäger. Wenn die Frauen und die Betriebe richtig mobilisiert werden, ist ein großes Stück geschafft. Dann wird die Saar rot.« Grete blieb am Boden liegen. Wenn’s nur schon soweit wäre, dachte sie.
Fritz sprang aus dem Sitz in die Höhe, klopfte sich das Laub von den Hosen und deutete an, dass die Konferenz zu Ende sei. Er sah nun auf Grete hinab und nickte ihr zu.
Sie verkniff sich das Lächeln, sein Winken war wie eine Antwort auf ihre stillen Gedanken.
Wenn meine Hilde aus dem Kahn wäre, dachte Fritz, könnte sie mit der Grete zusammenarbeiten. Das wäre ein gutes Gespann. Und mir wäre auch besser, schloss er seine Betrachtung. Seit dem Brief, der Hildes Verhaftung gemeldet, erinnerte ihn jede Frau schmerzlich und lähmend nur noch an Hilde.
Ich müsste ihn jetzt aufhalten und ansprechen, dachte Grete und setzte sich auf.
»Kommst du mit mir noch ein Stück durch den Wald?« fragte neben Grete eine zaghafte Stimme. Es war Ernst, der sich einen Ruck gegeben hatte. »Rotfront dann«, rief Fritz zum Abschied und drehte sich um. Er ließ alle stehen und sprang in weiten Sätzen die Mulde zum Waldrand hinab. Grete sah ihn hinter den Stämmen verschwinden; sie saß wie gelähmt und starrte ihm nach. Plötzlich war sie traurig.
»Ich gehe ganz anders«, antwortete sie abweisend und tonlos. Zum ersten Mal geschah ihr, dass sie sich ganz allein fühlte.

Verwirrte Liebe

»Warum sagst du denn nichts?«
Lisbeth Biesel ging mit Werner die Landstraße nach Ottweiler hinab. Der Schnee der Obstblüten war in die Grasbänke zu beiden Seiten der Chaussee gefallen. Aus dem tiefen Tal zur Linken schimmerte das Wasserband des Baches herauf. Heugeruch brodelte durch den hellen Tag. Das Mädchen drehte sich auf dem Absatz um, stieß den anderen Fuß trotzig auf den Boden und ging einige Schritte zurück.
Als Werner nicht folgte, hielt sie an und wandte sich wieder um. Den Kopf gesenkt, stand sie verloren auf dem Weg und war dem Weinen nahe. Durch die dichten Blätter der Bäume fiel lustiger Vogelsang über sie; die Sonne streichelte ihr rotbackiges ovales Gesicht, Geisblattduft flog aus einer Hecke. Er wird mich nie lieben, dachte sie. Er hat ein Herz von Stein, er sieht gar nicht, dass ich neue Schuhe habe.
Sie sah seine Militärstiefel weitergehen. Er redet nur von Politik, ich verstehe nichts davon. Wenn ich jetzt weggehe, wird er für immer wegbleiben - Heilige Maria, ich kann ihn nicht weggehen lassen.
Werner stapfte ruhig geradeaus. Warum lasse ich sie nicht laufen, schimpfte er. Zweimal ist das Theater jetzt schon gewesen. Er sah sie wieder an der Kirche, wo er sie weggeschoben, weil sie noch immer zu den Pfaffen hielt, er erinnerte sich an den Maiabend: Wenn ich sie nicht mit dem Gebetbuch gesehen hätte, wäre ich viel weniger wütend gewesen. Dann wären dem Nazi ein paar Backzähne stehen geblieben. Nun lachte er wieder.
Vierzehn Tage hatten sie ihn eingesperrt. Soviel waren die Backzähne schon wert gewesen. Lisbeth hatte ihm ein Paketchen geschickt, von ihrem Juden war eine halbe Wurst dabei. Sie war eine gute Seele, sie war halt dumm, hatte ein Brett vor dem Kopf, wie all die Katholiken. Plötzlich brummte er wieder. Das lag alles nur an der Kirchenlauferei. Sonst hätte man längst schon eine saubere Freundschaft. Aber mitten im Küssen, abends an der Haustür, da denkt sie dran. Das sitzt in allen Ritzen.
Sie ist kein Mädel für mich, knurrte er und höhnte sich sofort wieder: dabei ist mir das Herzklopfen in die Knie gegangen, als sie mich am Gefängnis erwartet hat mit dem Strauß. Hatte extra Urlaub genommen und eine Stunde gestanden. Der Hausvater ist ewig nicht fertig geworden mit seinem Zettelschreiben, der Analphabet.
Werner zählte die kalkbemalten Bäume. Ohne sich umzuwenden, wusste er plötzlich, dass sie ihm wieder folgte. Nun hörte er auch ihre Schritte und blieb stehen. Wenn sie schon ihren Stolz aufgab, wollte er auch nicht so sein.
Schnell war sie heran. Sein Stehen bleiben beglückte sie, und sie zeigte auch sofort ihre Freude: »Ich bin ja nicht böse«, meinte sie und lachte; er lachte zögernd zurück. »Gehen wir noch ein Stück«, schlug sie vor, »dann muss ich zurück, die Mittagspause ist kurz. Schade.« »Warum schade?«
»Weil ich mit dir bis nach Berlin so laufen könnte.« »Da hab ich gar keine Lust zu.« »Na dann bis Paris.« »Das ist mir ebenso egal.«
Sie zeigte ihre hellen Zähne: »Dann bis ans Ende der Welt.« Er hörte den glücklichen Ton in ihrer Stimme, sah, während er weiterstapfte, wie sie halb zu ihm hingewandt trippelnd Schritt zu halten suchte, aber er wagte jetzt nicht, sie anzusehen oder beim Arm zu packen. Er spürte, dass ihr Gesicht ihn völlig weich machen würde, die pechschwarzen Augen, der volle Mund - ich werde sie auf der Stelle hochnehmen und in den Graben werfen. Schau nicht hin, warnte er sich. Sie wird sich doch wehren und dann ärgere ich mich krank, weil sie auch noch Quatsch reden wird. »Jetzt wirst du aber nicht mehr zu den Roten gehen«, totensicher würde sie hinterher so anfangen. Sie sind so, die
Weiber, dachte er und war doch schon wieder schwach in seiner Liebeskrankheit.
Man soll überhaupt an keine Katholische rangehn, tobte er. Er ging noch drei Schritte geradeaus, dann sagte er schnoddrig: »Lieber ist mir schon, du gehst in die Betten mit mir.«
Er verstand nicht, wie das plötzlich aus ihm herauskam. So sprach man vielleicht in der Kneipe, aber nicht zu einem so sauberen Mädel. Er war wütend auf sich, und während ihm die Ohren rot anliefen, redete er sich schleunigst ein, dass er es gesagt, um sie endlich loszuwerden. Sie wird mir immer anhängen, wie ein Klotz am Bein, sie wird hinter mir herblöken wie ein Schaf, sie wird mich kontrollieren und fromm machen wollen. Karl wird mich anpflaumen mit ihr: du wirst nie ein richtiger Kommunist werden. Wenn man gemein zu ihr ist, vertreibt man sie am besten und hat das Blut wieder kalt.
Werner misstraute diesem aufgeworfenen Gedankenwust; sie wird mich stehen lassen jetzt und ausspucken, so seid ihr Roten, wird sie sagen, und man hat sich obendrein noch blamiert. Er erschrak, das Mädchen hatte kurz aufgelacht, und nun hörte er sie sprechen: »Dann komm«, sagte sie. Er fühlte, wie sie flüchtig sein Handgelenk berührte und leise zerrte, und sah sie dann nach links über die Chaussee laufen.
Bei den weißen Stämmen anhaltend, winkte sie ihm noch einmal zu, das schmale Gesicht war in Purpurröte getaucht, ängstlich war das Lächeln unter den tiefschwarzen Augen; er sah, wie in zitterndem Atem sich ihre Brüste unter der Bluse hoben. Hinter ihr stürzte die Wiese in scharfem Winkel in das Tal ab; vom gegenüberliegenden Waldberg flutete die Sonne über Kopf und Figur des Mädchens, fing sich in dem Gespinst der abstehenden Haare, strahlte verspielt und schien die süße Lockung unterstützen zu wollen.
»Komm«, sagte Lisbeth Biesel noch einmal und sprang den Rain hinunter. Er sah sie nicht mehr, hörte nur das Poltern ihrer Sprünge zu den Wiesen hinab. Fast schmerzlich brannte ihn jetzt die Gier.
Lisbeth Biesel flog die grünen Hügel abwärts, ihre Wangen glühten, das Herz hämmerte hart gegen die Rippen, die Füße federten in dem Samt des üppigen Grases, mit jedem Sprung konnte sie stürzen und war sicher, dass es ihr Tod wäre. Ein lachendes jähes Ende, ein wilder Sturz aus tausend Ängsten, verwirrender Helle und überwältigenden Wünschen.
Während sie fast blind den Hügel hinabraste, stellte sie sich diesen Tod vor. Das Knacken der Halswirbel, der Schmerz nur wie ein dünner Nadelstich ins Hirn - und ruhig wie im warmen See würde ihr Herz versinken.
Immer schneller wurden ihre Sprünge, ihre Schenkel zitterten, die Tiefe riss sie wie mit Fäusten an sich, sie war schon am Fuß des Hügels, der Bach glänzte in ihre Augen, und dicht an seinem Ufer tat ein niedriger Heuschober sein Maul auf. Ihre heißen Blicke irrten, als sie über die letzten Furchen des Feldes am Ufer sprang, von dem gleißenden Streifen des Baches zu dem schwarzen Loch des Schobers. Eine Sekunde dachte sie daran, in das Wasser zu springen, aber dann stürzte sie zu der Hütte, in der dämmerig die duftende Ernte der Wiesen lag. Sie warf sich in das Heu und presste ihr Gesicht in den stickigen Wohlgeruch. Da war das Bett für den Wahnwitz dieser Liebe, der sie davonlief, halsbrecherisch und überhitzt, um desto sicherer von ihr gefangen zu werden.
Kräuter stachen sie in die Backen, Schwindel leerte die geschlossenen Augen, sie konnte nicht mehr unterscheiden, ob die Lust oder die Angst größer war.
Sie blieb auf dem Bauch liegen, wie sie hineingestolpert war. Ihr Rock lag hochgeschlagen bis zur Taille, die altmodischen Spitzen ihrer Hosen wurden sichtbar und die braunen Schenkel zwischen Strumpf und Wäsche.
Wenn er jetzt einfach käme, dachte sie, und mich nehmen würde, ich will nichts mehr denken, ich lasse die Augen zu. Wenn er mich nimmt, dann ist alles gut. Ja, es ist Sünde, aber es wird alles gut dadurch. Ich werde es beichten, nur dies eine Mal soll es sein. Denn dann bleibt er ja bei mir. Jesus Maria, er kommt!
Sie hielt den Atem an, ihr schien, als näherten sich Schritte, sie wollte nach rückwärts greifen und sich die Kleider zurecht ziehen, aber sie blieb doch liegen in ihrer angenehmen Lähmung. Das Herz klopfte wie ein Riesenhammer und schien grö­ßer als der ganze Heuschober.
Draußen blieb alles ruhig. Es war nichts, dachte sie. Er wird weggegangen sein; er will mich nicht, er will eine Politische. Es nützt nichts, dachte sie, ich habe nur gemeint, das nützt vielleicht.
Ihr Körper wurde plötzlich schwer und schien tiefer ins Heu zu sinken. Kummer schnürte ihre Brust, im Hals stieg ein
Schluchzen hoch. Heilige Maria, betete sie, ich verstehe doch nichts vom Kommunismus. Der Hitler hat doch nichts zu sagen hier an der Saar. Was soll ich denn mit Politik tun? Ich liebe den Werner doch. Er kann mich haben. Was soll ich denn noch tun?
Sie merkte jetzt aufs neue, wie entblößt sie war. Das Gewürz der Gräser benebelte sie, die Hände krallten in die nachgebenden Heukissen. Ganz nackt fühlte sie sich, nutzlos hingeworfen, wie sie dalag. Er ist hart, gemein, er denkt an nichts als an Politik, schluchzte sie und hämmerte die Faust in das Heu. Und gerade in diesem Augenblick kam seine Stimme: »Ist es dir denn wirklich ernst - damit?«
Sie hörte, wie er stockte, fühlte, dass er sie jetzt ansah. Fieber glühte ihren Körper; von den halbnackten Schenkeln bis unter die Haarflechten lief es hinauf. Sie wandte sich nicht um. Tränen brachen aus ihren Augen und lösten den Krampf in ihrer Kehle, das Zittern in den Schultern schüttelte sie jetzt wohltuend. Sie lag mit heißem, lächelndem Gesicht.
Erst als er dicht neben ihr sich in das tief nachgebende Heu niederließ, warf sie sich plötzlich herum und fasste seinen Kopf. Überflossen von Tränen sah sie ihn an: »Dann nimm mich doch«, sagte sie mit zitternden Lippen. Er griff mit beiden Händen nach ihr.

Nächtliche Rebellion

Der Emigrant Erwin, Nr. 145, ging zufrieden die Landstraße nach Püttlingen hinauf.
In den Mulden links vom Weg sammelte sich der Nebel. Die Gipfel der Tannen zackten starr und schwarz aus den breiter und breiter sich dehnenden weißen Teichen. Der Bach in der Tiefe war zugedeckt vom Nebel; sein geschwätziges Fließen füllte das abendliche Tal mit beruhigendem Geräusch. Der Weg, auf dem Erwin vorwärtsstolperte, presste sich so schmal durch die hochwogenden Getreidefelder, als fürchte er, den gelben Reichtum am Weiterfluten zu hindern. Erwin streifte die Hand durch die Halme, riss eine Ähre ab und körnte sie aus. Ob Adolf eine gute Ernte kriegt? Trocken müsste es werden wie in Ägypten!
Am Himmel trieben langsam weiße Wolkenkissen. Der Feuerschein der Völklinger Hochöfen warf seine Farben hinauf und schien das Gewölk verbrennen zu wollen.
Erwin sah das immer blutiger sich färbende, ruhig ostwärts ziehende Kissen. Stahl für Frankreich, dachte er. Geld für Röchling, und wir sollen daran verbluten. Was tut die Partei dort? In der Schwerindustrie sind wir immer gut vorwärtsgekommen. Da sitzen doch eine Masse Spezialarbeiter drin, die die Herren nicht so leicht rausschieben können.
Erwin ging rascher; die Erinnerung an Rheinhausen heizte ihn, beschleunigte seine Schritte. Den Kopf gesenkt, hastete er an den still ihn begleitenden Halmwänden entlang. Wie herrlich waren wir drin bei Krupp! Wie madig hatten wir die Christlichen schon gemacht!
Sein Blick irrte über die abendliche Natur. Die Ähren, der rauschende Bach, selbst die von der nahen Industrie gefärbten Wolken, der Geruch der Bäume, die Masse von Natur war so fremd, war fast schon wie eine Bestätigung, dass man vertrieben war. Was hatte man zwischen Kornfeldern und Apfelbäumen herumzulaufen! In die Zelle gehörte man, vors Werk, unter die Stadtbahnbögen; nicht ins Grüne, nicht zu den Kühen und den Singvögeln. Erwin dachte es und scheuchte sofort den Gedanken. Aus den Hügelkurven der Chaussee traten die Häuser von Püttlingen hervor. Er wollte nicht übertreiben. Da hinten war auch allerhand zu machen.
Ein Schwarm Tauben flog aus den Feldern, kreiste mit zischendem Bogen um seinen Kopf; er schreckte nur eine Sekunde auf. Die Flügel der Tiere leuchteten im Perlmutterlicht der Abendsonne, er sah es nicht. Welche Aktionen also muss es in den nächsten Tagen geben, repetierte er. Er erinnerte sich an das Lob, das man ihm in Ludweiler bei der Konferenz gegeben hatte. Unser Püttlingen steht. Gut! Aber wenn Püttlingen steht, dann muss man es weiter treiben. Das ganze Dorf muss einmal marschieren und wie eine Lawine nach Saarbrücken rollen. Muss helfen, die fünfzigtausend Kumpels auf die Beine zu bringen, und die sechzigtausend Erwerbslosen dazu. Dann wäre die rote Armee da. Dann käme keiner hier herein, kein Adolf und kein Röhm.
Erwin schwärmte und lief seinem roten Traum nach. Er sah nichts anderes mehr. Die Nacht kam herauf. Über Püttlingen, in dessen Zwerghäuser die schwarzen Schatten fielen, hob sich mit unruhigem Glanz der Abendstern. Der schwere Schlag
laufender Schuhe klatschte durch die Stille des Talnebels. Erwin achtete erst nicht auf den Mann, der den Weg aus dem Tal heraufkeuchte, aber jetzt rief ihn der Mann: »Erwin! Bleib mal stehen, Erwin!«
Warum er dann in einer Sekunde völlig seine rote Armee vergaß, lag an der Nachricht, die der Genosse ihm brachte: Vierzig Schwarzschürfer seien im Hochwaldstollen verschüttet; er, der Peter, sei oben am Eingang Wache gewesen, als der Stollen zuging. Auch Kinder wären drin. Er sei auf dem Weg nach Cramullo, zur offiziellen Rettungswache. Er bitte Erwin, das Seine zu tun, um das Dorf an die Unglücksstelle zu bringen. Die Landjäger kämen gewiss.
Der Mann lief weiter, und Erwin tat das Seine. In einer Stunde war er mit halb Püttlingen am Eingang des Schwarzstollens.
Sie kamen durch die Bäume, eine stumme drohende Kompanie. Sie dachten daran, ihre Kameraden zu retten. Gewiss! Kameraden!
Es war für sie kein Unterschied zwischen der regulären Einfahrt in den Schacht und dem unerlaubten Graben im Schwarzschacht. Eins brachte so wenig wie das andere. Gefährlich war beides, das sah man hier wieder.
Die Stollen, die überall in den Saarwäldern bis an die Erdoberfläche vorstießen, waren aller Stützen beraubt worden, als die Grubenverwaltung sie als unrentabel aufgab. Nun hing der Berg über den Eindringlingen und drohte bei jedem Einbruch zu stürzen.
Recht bezeichnend, dachte Erwin, als er jetzt mit den Püttlingern heranzog: Kohle ist da, Tausende von Tonnen, und in den Kumpelhäusern oben frieren die Kinder. Hochentwickelte Fördertechnik, doppeltrümiger Seilausgleich, Schüttelrutschen, Schrämmaschinen, Radiostöße, aber die erwerbslosen Kumpel scharren fast mit den Händen das was sie brauchen. Barbarei dicht neben der Raffinesse. »Wir im Ruhrgebiet kennen das gar nicht«, sagte er zu seinem Nachbarn, »da kommt die Kohle nie so hoch. Wir müssen direkt an die Halden gehen.«
»Dann habt ihrs ja besser«, entgegnete der Püttlinger. »Braucht nur einzuschaufeln.«
»Kuchen, Stacheldraht ist drum, mannshoch, und seit der Adolf da ist, verschärfte Wachen mit scharfgeladenem Revolver.«
Der Püttlinger rief die Neuigkeit nach hinten. »Habt ihrs gehört?« Sie lauschten gierig. »Deshalb gehen wir ja dann auch alle gern nach Hitlerdeutschland zurück«, fügte er hinzu.
Die Kolonne lachte. Dann zeigte einer nach vorn in den Wald. »Halbe Hitlers haben wir ja auch schon dasitzen«, sagte er. Sie besannen sich auf ihre Absicht und gingen rascher. Viele hatten ihre halberwachsenen Kinder mitgenommen. Sie traten jetzt in den Wald ein. Das hohe weiche Laub federte unter ihren schweren Füßen. Die Kinder hielten die Hände der Väter fest und stapften erregt den Lichtern zu, die mitten aus dem Dunkel des Waldes einen Lichtkreis schnitten. Wie eine Versammlung von Räubern saßen Männer um die Helligkeit. Die Kinder zerrten ungeduldig ihre Väter vorwärts, sie sahen bunte Kleider, fast sah es nach Zigeunerhorden und Lagerfeuer aus. Als sie dann davor standen, sagten die Männer guten Abend und waren aus Neudorf, das Feuer kam von Stallaternen, und die bunten Kleider waren die Uniformen der Landjäger.
Die Kinder waren Proletenkinder, sie hielten nicht lange fest an ihren abenteuerlichen Bildern; sie merkten an den Reden und an den Gruppierungen, dass hier die andere, die wirkliche Abenteuerlichkeit ihres Lebens begann. Dort waren die Feinde, die dicken Gendarmes, sie standen an den Bäumen und wurden von allen gemieden; und dort in der Erde waren Arbeiter begraben, und keiner wusste, ob sie noch gesund hier aus dem Waldboden heraussteigen würden. Die Kinder hörten, dass unten auch Kinder waren, ein Pionier aus Altenkessel erzählte es ihnen. Die Rettungsmannschaft sei schon drinnen, sagte der kleine Pionier Müller und zeigte ihnen das große Loch der Walderde, vor dem ein Landjäger stand, wie ein Terrier vor dem Unterschlupf einer Ratte.
Die Kinder beugten sich vor und sahen Werkzeuge und Lampen und ganz unten einen Mann, der schweigend wegschaufelte, was ein Unsichtbarer ihm zuwarf. Dann fiel einem Püttlinger Kind auf, dass Müllers Karl mit Blechdeckeln in das Loch gezeigt hatte. »Was machst du damit?« Müller Karl sicherte nach den Uniformen hin, dann sagte er gedämpft in die Runde der zusammengesteckten Kinderköpfe: »Damit machen wir Scharivari, wenn die Landjäger sie verhaften wollen.«
Alle wussten, was Scharivari ist, die Kindergarde von 1923 hatte die Legende und auch den Brauch von Schulklasse zu Schulklasse vererbt; ein Bild davon hing im Volkshaus von Püttlingen: sechs Kumpel, Streikbrecher von 1923, treten da aus dem Stollen in den Kordon der französischen Soldaten, die mit Bajonetten die Verräter nach Hause begleiten. Das Leben wurde den Streikbrechern gesichert, aber die Schande schrie. Tagtäglich warteten am Dorfrand mit Blechdeckeln sämtliche Kinder und machten die Begleitmusik zu der Prozession der Verräter. Das nannten die Arbeiter an der Saar, die jungen und die alten, seitdem »Scharivari«.
»Wo gibt’s noch Deckel?« flüsterten die Püttlinger Kinder und schlichen mit dem Pionier Müller heimlich fort durch die Bäume.
Erwin hatte inzwischen die Zahl und Laune der Langjäger geprüft. Vier Gendarmen und drei Grubenhüter waren da. Die Gendarmen an den Bäumen stehend etwas reserviert; die Grubenhüter übereifrig vor dem Loch sitzend; aber alle sieben fühlten sich sehr unsicher. Immer neue Trupps von Kumpels kamen an und traten stumm aus der Nacht; die Uniformierten sahen immer grimmiger drein.
»Was wollen Sie denn hier«, schrie ein Grubenhüter, als Erwin an das Erdloch herantrat. »Machen Sie, dass Sie weiterkommen!«
»Oho«, johlten die Kumpels, aber Erwin ging doch langsam zurück. »Eine Verkehrsstörung bin ich ja nicht«, sagte er; die Kumpel traten nach vorn, als hätten sie nur auf das Stichwort gewartet. Wie Henkersknechte nach dem Verlesen des Urteils stießen sie aus dem Dunkel in den beleuchteten Kreis auf den sitzenden Grubenhüter zu. Die Landjäger sahen den Angriff und lösten sich von ihren Baumstämmen.
»Über den Wald habt ihr sowieso nichts zu sagen«, unterwies ein Neustädter die Bergwerksbeamten.
»Ihr habt nichts Besseres zu tun, als hier zu lauern?« rief ein Arbeiter und spuckte dicht vor den Beamten aus.
»Da unten können tote Proleten drin sein«, schrie eine Stimme.
Erwin sah, dass die Landjäger näher kamen und sich Zeichen gaben. Von zwei Seiten umgingen sie den Einbruch in die Erde, um die Kumpels wegzudrängen. Mit trotzigem Zögern wichen die Kumpels aus.
»Kohlendiebe sind drin«, höhnte ein Grubenhüter, »sonst nichts.«
Erwin jubelte, denn ein barbarisches Gebrüll toste nun von
allen Seiten durch den Wald. Die Bergleute, die schon ins Dunkle zurückgegangen waren, kamen wieder ins Helle. Sie hoben die Fäuste gegen den satt an der Erde sitzenden Hüter. »Du hasts nötig«, kreischte eine Frau. »Wenn unserem Albert was passiert ist, schlag ich dir die Fresse ein.«
»Haut ihnen doch den Pickel in den Panz!«
Ganz laut überschrie diese Stimme den Lärm. Eine merkwürdige Akustik machte glauben, sie käme von oben aus den Kronen der Bäume, aus dem schwarzen Himmel.
Die Landjäger sprangen in die dunklen Reihen.
»Wer war das?«
Fauchend wie hinter Gitter gesperrte gereizte Hunde standen sie vor den plötzlich verstummenden nächtlichen Rebellen. Fest blieben die Kumpels stehen. Erwin allein wich zur Seite, er sah, dass der Oberwachtmeister den Ortsfremden in ihm erkannt hatte. Ein billiger Sieg war möglich: der deutsche Emigrant im deutschen Land hatte Redeverbot, Parteiverbot, Demonstrationsverbot. Man konnte ihn ausweisen.
Ich muss diesem Burschen mal auf die Finger schauen, dachte der Landjäger und ging heimtückisch auf einem Umweg zu Erwin. Aber als er dann ankam, war Erwin nicht mehr da. Von dir lass ich mir noch lange nicht die Arbeit vermasseln, hatte Erwin gedacht und war einige Schritte in den Schutz der Dunkelheit zurückgegangen. Er stand an einer dicken Buche und wartete ab.
Plötzlich war ein Haufen Kinder um ihn. Er erkannte zwei Püttlinger Pioniere. Ihre Gesichter hoben sich erregt aus dem Dunkel zu ihm.
»Genosse Erwin, wir machen Scharivari«, sagten sie schnell und stürzten fort zu der großen Versammlung. Erwin drehte sich der Helligkeit zu. Böse Gespräche waren dort hinten im Gange. Die Landjäger hatten beschwichtigen wollen, aber sie fielen nach kurzen Bemühungen wieder in ihren natürlichen Ton zurück, sie brüllten, und nun klumpte sich auch um sie die empörte Masse. Erwin sah die schwarzen Figuren gegen die Mitte der Lampen vordrängen. Sie wurden kleiner in ihren Umrissen, und nun hörte er über den düsteren Kreis hinaus bereits einen Grubenhüter jammern: »Wir sind doch bezahlt dafür.«
Erwin hörte noch das bittere Lachen, das von allen Seiten der Jammererklärung folgte. Er stand an seinen Baum gelehnt und grübelte.
Er sah, dass die Kinder sich hinter den Großen an einem Baum aufgestellt hatten und sich anscheinend absichtlich im Dämmer der Lampen hielten. Ein Mann war jetzt zu den Kindern getreten und redete auf sie ein. Erwin kniff die Augen zu und erkannte, dass es ein Sozialdemokrat aus Neustadt war. Ich kann mir schon denken, was du wieder erzählst, dachte Erwin. Er sah sich in Püttlingen vor den prächtigen SAJ-Burschen, um die es sich wirklich lohnte. »Hört zu, Genossen, es ist jetzt einen Monat her, da hat man euch die Gewerkschaft gestohlen und am 10. Mai die Parteihäuser und das Vermögen, und am 17. Mai hat der Wels den >Führer< im Reichstag um gutes Wetter gebeten. Dann ist er nach Prag gegangen - nicht wahr, mit wessen Geld? - und hat gestänkert, und dann ist der Löbe in Berlin von ihm abgerückt.«
Erwin schlug die Hand durch die Luft, er sah die jungen Sozialisten vor sich. Das würde er ihnen sagen, dachte er entschlossen, da knallte aus der Tiefe der nächtlichen Versammlung ein höhnischer Ruf: »Landjäger können mich alle am Arsch lecken!« Eine Lachsalve antwortete, und die Stimme erhob sich noch einmal: »Wenn ich an denen ihrer Stelle wäre, ich schlüge euch an die Bäume, dass euch der Brägen rausspritzte.«
Erwin lachte. So sprach kein Stampfer, kein Wels, kein Breitscheid. Das war schon nicht mehr fein, aber das änderte die Welt.
Er merkte, dass der Tumult größer wurde; er musste zurück. Er ging einige Schritte vorwärts. Rechts oben stand der kleine Müller und hatte jetzt seine Deckel hochgehoben, wie ein Kapellmeister den Taktstock hebt; alle Kinder ahmten ihm nach und standen mit gezückten Instrumenten in Erwartung eines besonderen Zeichens.
Und dann gab der kleine Pionier das Zeichen. Erwin hatte den Kreis der erwachsenen Rebellen wieder erreicht. Sie waren alle ganz dicht an die Grube getreten. Die Landjäger konnten niemand mehr zurückhalten. Dicht um den dunklen Schlund drängten die Kumpels und starrten auf das noch dunklere Stollenmaul in der Tiefe. Dort flog jetzt eine Hacke heraus. Hände stiegen aus den Erdbrocken, dann zog sich ein Kopf nach oben, schwitzend und ernst; ein Rettungsmann.
Keiner oben sprach ein Wort. Man erwartete Leichen; der Tod wurde nun aus der Erde gereicht und hier in die Nacht unter sie gelegt. Der Tod, den niemand verschuldet als die Not, als
die Gier derjenigen, die ihre bezahlten Wächter auch noch herauszuschicken wagten. Vielleicht schob man auch nur ein wimmerndes Stück zerschmettertes Leben heraus, blutende Schenkel, eingedrückte Kiefer, herabhängende Splitterhand. Die Bergleute vergaßen die Landjäger und Grubenhüter, die zu den Lehmstufen des Lochs hinabgestiegen waren, eine unentrinnbare Sperre unmenschlicher Kontrolleure, die auch einem Leichnam noch sein Billett abverlangten.
Die Rettungsleute stapften die Stufen hinauf; ihre Lampen schwankten wie verwirrte Sterne vor dem dunklen Loch. Oben bekreuzigte sich eine Frau: mit solchen Lämpchen kam auch der Priester von einem Sterbenden zurück.
»Macht den Weg da frei!« rief ein Gendarm, aber keiner der Bergleute wich. Die Rettungsleute schoben die Landjäger beiseite; als seien sie Luft, teilten sie die Uniformierten. Die Bergleute ringsum bemerkten die Geste und wandten sich mit noch größerer Erregung dem Stollenloch zu.
Da kam der erste Kopf; ein Knabe griff sich hoch, ein schmutziger lachender Knabe. Schlank und sicher stand er vor dem verbotenen Eingang, sah die dunklen Köpfe über sich am Waldrand, sah einen Stern in den Kronen ganz oben, sah den breiten, prall in seiner Uniform stehenden Wachtmeister auf der obersten Stufe.
Hinter ihm scharrten die Hände und Leiber der geretteten Männer sich vorwärts, er hörte das Kratzen und Stöhnen und nun auch das Fluchen derer, die in die Senkmulde kurz vor dem Ausgang gerutscht waren. Dort stand, halb eingetrocknet, der Sumpf einer Abortgrube, die das Bergwerksamt hier eingeschüttet hatte, um die Erwerbslosen wegzuschrecken. Der Geruch hing an den Kleidern des Knaben und klebte an seinen Händen. Der Knabe achtete ihn nicht; nur den Fluch der Gro­ßen hörte er und wurde sicher, dass die Männer ihm auch folgten. Allein zu den Gendarmen hinaufzusteigen hatte er keinen Mut. Er wartete.
Die Männer krochen neben ihm hoch. Wie aus der Kaserne in den wirbelnden Alarm des Hofs die Soldaten stürzen, marionettenartig, so hoben sich immer neue Figuren aus dem engen Schlund der Erde und stellten sich in dem von stummen schwarzen Gestalten umstandenen Trichter neben dem Knaben auf. Als der Platz nicht mehr reichte, setzten sie sich in Bewegung und stiegen die Stufen hinauf. Die Menge sah, wie sie mit gesenkten Köpfen herausstiegen. Einer zog wie eine Selbstverhöhnung einen Sack Kohlen mit hinauf; er hatte sich selbst in der Todesgefahr nicht von seinem Arbeitsertrag trennen können.
Sie sind heil geblieben, erkannten die Proleten am Rand der Grube.
»Albert«, schrie weinend eine Frauenstimme. Der Krampf der Angst löste sich, in die Nacht und ihr Dunkel flüchtete der Tod, der sie hatte schrecken wollen. Und aller Augen richteten sich nun auf die Landjäger, die sich wie die Henker fühlten, zu deren Block die Verurteilten eben heranstolperten.
Die ersten Geretteten waren bis dicht an die Kette der Gendarmen herangekommen. Die Lampen der Schwarzschürfer hingen noch ruhig in den Händen; im nächsten Augenblick konnten sie durch die Luft pfeifen und zu Waffen werden; die Kumpels rings um die Grube drängten zu den Landjägern. Plötzlich fühlten sie, wie viele sie waren. Sie sahen in den bis zum Rand mit Kumpels gefüllten Stollentrichter, sie spürten die Arme, die Schenkel, die Schultern ihrer Nachbarn - und zwischen ihnen stand nichts als diese kleine Wand von Uniformierten. Ein Schubs von hinten, und man hatte sie alle sieben denen da unten in die Fäuste geworfen. Wie groß ist die Versuchung solcher Sekunden!
»Halt!« brüllte der vorderste Wachtmeister, und man sah, wie er einen der Erwerbslosen zu hindern suchte, nach der Seite auszubrechen. Der Kumpel blieb stehen, ein Bein schon auf dem Waldboden, die Hand an dem hilfsbereiten Arm eines Kumpels der hinteren Armee angeklammert.
»Wie heißen Sie?« fragte laut und allzu sicher der Wachtmeister und griff bedächtig nach seinem Buch.
Da setzten die Knaben mit ihrem Konzert ein. Ein einleitender Schlag der sämtlichen Becken rasselte durch die Bäume, dann knallten die Knaben ohne Regie, so stark sie konnten, so schnell sie nur trafen mit den Konservenbüchsen, Kochdeckeln, Blechstreifen und Zigarrenkästen gegeneinander. Aller behördliche Ernst ging zunichte, das Verhör erstickte in seiner ersten Frage und dem barbarischen Spektakel, das die teuflische Knabengruppe im Dunkeln sitzend ausübte mit allem Mut respektloser Jugend.
Es war ein voller Erfolg. Die Kumpels im Trichter sahen die Landjäger für eine Minute so verblüfft, dass sie nicht mehr zögerten, die von überall ausgestreckten Arme zu ergreifen und sich hochreißen zu lassen, um dann in den schwarzen Räumen des Waldes zu verschwinden oder sich frech und unbefangen unter das Zuschauervolk zu mischen. Nur ein knappes Dutzend fiel in die Hände der Landjäger. Aber auch die paar Gefangenen standen lachend vor den Geprellten. Aus dem Hintergrund bollerten die Knaben. Ihr Lärm war jetzt schon wie die Triumphmusik eines siegreichen Negerstammes. Erwin hörte sie mit lachendem Herzen. Er hatte allein vier Kumpels aus dem Trichter gerissen. Plötzlich war es ihm gleichgültig gewesen, ob sie ihn erwischten und auswiesen.
Als er die fünf Gefangenen vor den feisten Beamten stehen sah, bekam er die Wut. Er sah sich um nach den anderen; ein bekanntes Gesicht grüßte ihn. Edgar, der Separatist aus Püttlingen.
Erwin schnaubte den Atem durch die Nase: »Wenn wir noch mehr gewesen wären, hätten sie keinen einzigen bekommen dürfen.«
Rings standen immer noch Haufen von Menschen, unverbrauchte Empörung.
Erwin sah sie und rechnete, ob sie zum Angriff noch ausreichten.
»Das ist ja alles verkehrt«, entgegnete gedehnt und nervös Edgar, der Separatist. Erwin sah dem bebrillten Mann in das weiche, fast schöne Gesicht. Die Kinder trommelten. Der Separatist Edgar hielt sich die Finger in die Ohrmuscheln: »Was ist das für ein Affentheater!« Er schüttelte den Kopf: »Und die Kinder laufen da mitten in der Nacht herum!«
»Das ist Scharivari, mein Lieber«, erklärte Erwin. »Nun, was sagst du denn wirklich dazu, dass deine demokratischen Franzosen die Proleten hier noch am eigenen Grab aufschreiben wollen?«
Edgar zuckte unsicher die Schultern hoch. Bergleute traten aus dem Wald an die beiden heran.
»Es ist unrecht«, gestand Edgar, »natürlich ist es unrecht, und ich werde morgen noch an einflussreiche Leute schreiben, dass sie das Protokollieren einschränken - jawohl, das werde ich tun.«
Ein Kumpel beugte sich zu dem Mann mit den guten Beziehungen! »Dann werden wir lange warten können. Aber hör mal, weißt du denn, dass die euch auch nur ausnutzen.«
»Und hinterher gibt’s 'nen Tritt«, ergänzte ein anderer.
Die Knaben kamen nun mit den Becken und Blechtrommeln hinter ihrer Hecke hervor. Sie gingen im Gänsemarsch um den Rand der Grube herum. Ohne den Text zu singen, brummten sie den Refrain der Internationale: pam - pam - pam pam pam pam pam. Sie knallten die Deckel nach jedem zweiten Schritt aneinander.
Die Kumpel lachten, die Knaben schwenkten kurz vor den Landjägern wieder in den Wald zurück: - pampam pampam pampam. Der Text des Liedes war unter dem freien Saarhimmel verboten, aber die Melodie konnte man nicht greifen. Die Gendarmen vermochten auch nicht zu folgen, da sie noch ihre fünf Schwarzschürfer zu protokollieren hatten. Sie drohten deshalb nur mit wütenden Gesten. Davon zogen die Kinder.
Der Radau wurde leiser, fast schien er verstummt, aber dann kam mit einem Mal aus der Ferne der volle freie Gesang: »Wacht auf, Verdammte dieser Erde.«
Die Bäume warfen das Echo nach allen Seiten. Der nächtliche Wald erzitterte. Von allen Seiten aus den Räumen antworteten die unsichtbaren Kumpels.
Die Landjäger äugten nervös und grimmig in die Bäume. Der Gesang stieg über den Wald hinaus.
Am Rand des Trichters lag ein einziger Sack beschlagnahmter Kohle zwischen den sieben Uniformen.

Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur