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Gustav Regler – Im Kreuzfeuer (1934)
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April: Misslungener Boykott

1.4. Boykott der kleinen Juden.
7.4. Arierparagraph für Beamte und Advokaten.
22.4. Arierparagraph für Ärzte.
23.4. Arierparagraph für Universitäten und Gymnasien -
Sichtvermerk für alle deutschen Grenzen.
26.4. Göring errichtet Geheime Staatspolizei.

»Boykott«

Im Wohnzimmer der jüdischen Familie Felsenthal in Neunkirchen an der Saar.
»Ich meine, wir gingen doch ins Bett«, sagte die alte Frau Felsenthal. Niemand antwortete ihr. Der junge Felsenthal hatte den »Völkischen Beobachter« vor sich auf dem Tisch liegen und folgte mit nervöser Hand den Zeilen des feindlichen Blattes. Seine Frau, eine dunkeläugige Brünette schälte Apfelsinen und reichte sie der Schwiegermutter, die in der schwach beleuchteten Sofaecke wie zurückgezogen vom Leben saß. Am Boden schlief in unruhigen Träumen ein Schäferhund.
»Hast du gehört, was unser Sally heute dem Lehrer gesagt hat«, fragte die junge Frau lächelnd in die Stube. Sie wusste nicht, ob jemand sie anhören würde, aber sie wollte das Schweigen brechen, das nach dem Vorschlag der müden Frau aus dem Hintergrund wieder in das Zimmer niedergefallen war. »Er hat«, fuhr die junge Frau hartnäckig fort, »dem Lehrer die Geschichte von den Katzen erzählt, die Nazis waren und dann Kommunisten geworden sind, als ihnen die Augen aufgegangen waren nach acht Tagen.«
Felsenthal hob jetzt den Kopf. »Er soll keine solche Dummheiten erzählen.« Seine Stimme war ängstlich, er sah nach allen Seiten herum, streifte das Aquarium, das Vertiko, die Ecke, in der die Mutter saß, seinen Hund und den jüdischen Kalender. »Das muss man lesen«, sagte er und zeigte auf die Zeitung.
»Lies vor«, bat die junge Frau; sie schien am meisten unter der Stille zu leiden.
»Da hat ein Dr. Rosenthal aus Berlin einen Gärtner verklagt, weil er ihm für seine Villa keine schalldichten Fichten geliefert hat. Jetzt kommt die Sache wieder vor Gericht, und der »Völkische« schreibt: >Hier werden dann offensichtlich die Gründe enthüllt werden, weswegen Herr Rosenthal schalldichte Fichten um sein Grundstück zu pflanzen beabsichtigte. Aus Naturliebe bestimmt nicht!<« Felsenthal sah empört hoch: »Und das soll nun keine Hetze sein.«
Die junge Frau dachte nach: »Warum braucht der schalldichte Fichten? So was habe ich noch nie gehört.«
»Gescheiter wär's noch«, machte die Mutter sich wieder bemerkbar, »wenn du fragen tätst, warum der Mann heutzutage noch jemand verklagt.«
Felsenthal brauste auf: »Er kann doch verlangen für sein Geld, was er haben will. Aber das ist ja noch nicht alles. Hier« -er klopfte aufgeregt in die Zeitung - »geht's auf die polnischen Juden: die Händler Mayrhofer und Goldberg aus Eydtkuhnen -immer nennen sie den vollen Namen - haben Schlachtpferde nach Belgien verladen. Siebenunddreißig Pferde in einem Waggon. Da sind einige Tiere gestorben, und nun - sind wieder die Juden schuld. Ihr müsst nur zuhören: Für den Juden handelt es sich nicht um Tiere, sondern um Zahlen. Aber eine Lehre ziehen wir aus dieser Angelegenheit: vierzig Menschen oder sechs Pferde steht am Waggon; siebenunddreißig Pferde wurden hineingezwängt, also sechsmal soviel! Bei einem vielleicht einmal notwendig werdenden Abtransport dieser »Zahlenrasse« könnte man nach dem gleichen Rechenexempel verfahren.« Felsenthal stöhnte: »Ich sag euch, sie werden uns alle vertreiben!«
Die junge Frau streckte die Unterlippe vor; etwas an der Angst ihres Mannes wollte ihr nicht gefallen: »Es wird nichts so heiß gegessen werden, wie es gekocht ist. Und die da haben es übrigens nötig, von Tierquälerei zu reden. Hast du den Emigranten nicht gesprochen, der gestern bei Levys gegessen hat?«
»Pst«, warnte der Mann und sah durch die Glastür in den Laden, der im Dunkeln zwischen Zimmer und Straße lag.
»Rizinus haben sie dem eingegeben«, sagte die junge Frau, »ein Arzt war sogar dabei, in einer SA-Kaserne haben sie ihn schwarz und blau geschlagen. Schämen sollten sich die.«
Felsenthal rieb aufgeregt die Hände.
»Und das sag ich jedem, der's wissen will«, sagte die Frau verbissen.
Der junge Felsenthal schrie plötzlich: »Und dann sag ich dir, dass du uns ins Unglück reißen wirst. Dass heute einer da war und gesagt hat, wir würden morgen sehen, was passiert. Und wir wären hier an der Saar genau so wenig sicher wie drüben im Reich. Alles wegen deinem Geschwätz.«
Ein dumpfes Klopfen dröhnte von der Straßentür her in die Stube. Gleichzeitig schrillte an der Decke die Straßenklingel. Der Hund wachte auf und sprang bellend an die Türe. Die drei Menschen sahen sich an.

»Da hast du's!« meinte weinerlich Felsenthal. Die Schläge wiederholten sich.
»Mach nicht auf!« befahl die Mutter aus der Tiefe, aber Felsenthal hatte schon die Zimmertür geöffnet, durch deren Spalt der Hund tobend in den Laden jagte. Sein zorniges Bellen verriet den Herrn, den er schützen wollte, aber es gab jenem auch Mut.
»Wer wird's schon sein so spät«, sagte Felsenthal; plötzlich schien es ihm notwendig, vor seiner jungen Frau etwas männlicher dazustehen. Er ging durch den Laden, dessen Glastür durch Holzläden verdeckt war. »Wer ist da?« rief er. Die Frauen in der Stube hielten den Atem an; auch der Hund ließ sein Bellen und schnüffelte den unteren Rand der Tür ab. Eine Sekunde hörte man nur das Ticken der Wanduhr und das Knistern zerspringender Kohlen im Ofen. Dann kam von mehreren Stimmen - aber es klang wie ein Riesenchor - die brutale Losung aus der Nacht: »Juda - verrecke!«
Zweimal wiederholten die unsichtbaren Schreier ihren Spruch, dann hörte man das Laufen vieler Menschen, die der wütende Hund mit überschnappender Stimme vergeblich anfauchte.
Felsenthal blieb ganz still an seine Ladentür gelehnt. Neben ihm stand ein Schmalzfass; die Luft war voll der Gerüche eines Kolonialladens; Heringsäure gemischt mit Kaffeearoma und Seifendunst. Felsenthal hob den Arm, um nach der Mesuse zu greifen, die irgendwo hier angebracht sein musste. Wie zum Schutz griff er an der Wand hinauf, völlig vergessend, dass das fromme Amulett an der Wohnzimmertür festgenagelt war. Ein Paket Maggiwürfel stürzte von der Dekoration in den Bottich mit Marmelade.
Felsenthal trat der kalte Schweiß aus der Stirn. »Also doch«, flüsterte er; die Frauen hörten nur das Zischen seiner Lippen. Er war nun überzeugt, dass sie morgen auch zu ihm kommen würden. Pogrome würden sie machen in ganz Deutschland. Und auch hier an der Saar, auch hier in Neunkirchen.
Der Hund lief im Laden herum und verstand seinen stummen Herrn nicht. Dann sprang er ihn an und suchte ihn mit seinem Kopf zu wecken. Felsenthal griff mechanisch nach der warmen Schnauze und streichelte sie.
»Da hast du beispielsweise schon eine Gelegenheit«, sagte der Emigrant Karl zu Werner.
Karl wohnte immer noch bei dem jungen Erwerbslosen. Die Wunde auf seinem Rücken war vernarbt. Karl packte schon wieder zu. Die beiden waren gute Freunde geworden. Werner, der leicht verwirrte, konnte ohne den Rat und die Belehrung des Reichsdeutschen sich kaum den Tag denken. Schon viel zu oft ging Karl in die Nachbardörfer und blieb zwei Tage weg. Werner fragte ihn nicht, er hatte Respekt vor dem Kommunisten, den man durch nichts hatte unterkriegen können.
»Das ist der größte Schwindel, den sie bisher machten«, sagte Karl, »die Juden sind an allem schuld. Tausendmal gesagt, wirkt so etwas. Und jetzt fangen sie auch schon hier damit an.«
Die beiden Männer gingen die Hauptstraße hinunter. An einigen Läden hatten nächtliche Kolonnen mit Kalk die Fenster gezeichnet: »Deutsche wehrt euch gegen die Gräuelpropaganda, kauft nur bei Deutschen.«
Die Ladenmädchen waren dabei, die Schrift abzuwaschen. Überall standen die Wasserschüsseln auf den Trottoirs, überall plantschte man, kratzte an den Scheiben, eilte sich, den gefährlichen Spruch zu beseitigen.
»Drüben würden diese ganzen Mädchen alle miteinander verhaftet«, meinte Karl.
»Wir werden ihnen das Gegenteil zeigen«, erwiderte Werner. »Also auf bald, ich gehe hier links ein paar Häuser ab. An der Ecke treffen wir uns.«
Sie liefen viele Stunden in den Straßen herum. Die Stadt hätte vielleicht nicht viel gemerkt von diesem Manöver des Herrn Goebbels, wären die Freunde nicht unermüdlich gewesen, dem Tag die Ehre anzutun, die ihm gebührte.
»Habt ihr irgend etwas zu kaufen?« Werner lachte zur ersten Tür hinein; eine Arbeiterfrau, jung, gesund und appetitlich trat aus ihrer Küche. Sie band die Schürze um ihre Taille und lächelte neugierig zurück.
»Dann kauft heute nur bei den Juden. Wir Arbeiter müssen das heute alle tun.«
Und schon war er verschwunden.
»Ich hab's schon schwerer gehabt«, sagte Karl, den er wenige Häuser weiter traf. »Meine war schon angesteckt von dem Warenhausschwindel. Die machen den kleinen Mann kaputt, hat sie gesagt. Sie hat einen Bruder, der hat einen Laden, und der kommt nicht mehr durch. Na ich hab's geschafft. Sie geht.«
»Wir sollten versuchen, sie aus einer Straße alle auf einmal hinzuführen.«
»Da kriegen sie's mit der Angst.«
»Unsere Weiber? Mensch, da kennst du die Saar schlecht. Hier sind die Weiber besser in Fahrt als die Männer.«
»Versuch's!«
Sie trafen auf erschreckendes Elend, auf Mietsbaracken, aus deren Wohnhöhlen der Gestank der Armut schlug. Schmierige Kinder krochen am Boden. Verzweifelte, böse gewordene Gesichter starrten sie misstrauisch an. »Die Juden sind alle Gauner, man sollte sie aufknüpfen. Ich hab noch keinen arbeiten sehen«, sagte eine Frau.
Man musste ganz andere Geschütze auffahren. Werner erzählte von dem Magnaten Wolff - war er nicht Jude? - aber die Hakenkreuzfahne steckte heute an den Hochöfen. »Glaubt ihr wirklich, dass sie an einen Großen herangehen, ob er Jud ist oder Christ?« Die Frau nagte an der Lippe und hörte, wie er von dem Hüttenkönig erzählte: »Und den hat Adolf persönlich empfangen, der ist glänzend dran mit denen. Sie haben zusammen gegessen, er hat Aufträge, die in die Millionen gehen.«
Warum redet der soviel, dachte die Frau, aber ihr wurde warm dabei. Ihr trauriger Vormittag bekam eine Sensation; das Kreischen der Kinderbrut verstummte vor diesem jungen Burschen und seiner freundlichen Stimme. Er hat doch nichts davon, dachte sie, aber er kümmert sich um uns.
»Ihr geht wohl überall herum?« fragte sie schon wohlwollend.
»Nur zu Arbeitern.«
»Na das sind wir ja nicht, wir sind erwerbslos.«
»Um so eher muss man reden. Der Adolf sagt, die Juden wären schuld, dass ihr keine Arbeit hättet. Dabei macht er Jagd auf Schwarzarbeiter.«
Sie wehrte ein Kind ab, das nach ihrer Schürze griff, um sich auf den schwachen, verknorpelten Beinen hochzuziehen. Schwarzarbeiter? Was hatten die Juden mit Schwarzarbeitern zu tun? War der vielleicht doch vom Amt? Ihr Mann hatte eine Stelle zur Aushilfe bei Matratzenpolsterer Günther. Sie sah ihm jetzt voll in die Augen: »Hat euch einer geschickt, dann könnt ihr gleich wieder gehen.«
Noch war sie nicht drohend, wartete eher auf eine beruhigende Antwort, und Werner lächelte auch überzeugend:
»Ich erzähle das nur, weil die meisten es noch nicht wissen: der Adolf macht Jagd auf die Schwarzarbeiter. Die paar Proleten, die sich was suchen, die ohne Arbeit nicht leben können, die lässt er von der Polizei ausheben. Und das nennt er dann Sozialismus. Schwindel ist das. Genau wie mit den Juden. Und deshalb bin ich hier. Weil wir uns hier nicht so verkohlen lassen. Und weil heute die Neunkirchener Nazis sehen sollen, dass wir ihnen was husten, wenn sie uns schon was kommandieren. Wir sind nämlich schlauer als die. Und deshalb bin ich unterwegs. Irgend etwas habt ihr Weiber doch immer zu kaufen, und wenn's nur für zwanzig Centimes Senf ist. Da ziehen wir alle in den Laden, und die Nazis sollen schwarz und braun werden vor Ärger. Sie sind nämlich ab zehn Uhr unterwegs und schleichen um die Geschäfte von den paar Juden herum. Hier haben sie ja keine Traute. Also, mehr hab ich nicht gewollt.«
Werner hatte gesiegt. »Sauber«, sagte die Frau und griff nach einem Schal. »Sei jetzt ruhig«, schrie sie eins der Würmer an, die um sie herumkrochen und ihr Weggehen nicht ohne Protest zu genehmigen schienen. »Mama bringt euch etwas mit«, sagte sie dann, als aus allen Ecken schon Weinen die schmierigen Mäuler verzog. Sie griff ihr Portemonnaie, hielt es Werner unter die Nase. Er roch das Leder und sah nichts als einige Centimes-Stücke in den schmutzigen Falten.
»Ich hole dir aber noch bessere Kunden«, meinte die Frau. »Wart noch ein bisschen.«
Er blieb in der Stube unter den fünf Kindern zurück, die vor dem fremden Mann jetzt verstummten und sich mit scheuen
Blicken eins zum anderen zu retten suchten. Hier müsste Karl mal reinschauen. Wie Saarproleten wohnen. Mensch, in so was lässt man nun Menschen leben! Und redet von erwachter Nation! Und schiebt den eigenen Dreck ein paar tausend Juden in die Schuhe!
Die Tür ging auf; die Frau trat in den Rahmen. Hinter ihr zeigten sich zwei andere Frauen. »Sie kommen alle mit«, sagte die Frau triumphierend.
»Ich hol noch Prüms Käthchen«, rief eine der Geworbenen. Werner sah von der kleinen Treppe die Gasse hinunter. Da kam Karl mit vier Frauen um die Ecke. Eine Demonstration mit Marktkörben. Noch zwei Gassen dazu, und der ganze Judentag war geplatzt.

Der Jude Felsenthal wunderte sich, als die Frauen in seinen Laden einmarschierten. Eine Stunde hatte er sich gestritten mit seiner Mutter; er wollte nicht schließen, wie sie ihn geheißen.
»Haben wirs nötig, es ist sowieso Schabbes. Es kommt alles überhaupt nur von der Gottlosigkeit«, hat die weise Frau gemeint, aber der Sohn war nach dem Schlaf der Nacht doch wieder gestärkt worden. Der Laden wurde geöffnet, und dabei entdeckte man die Kalkzeichen der Feinde.
Felsenthal ging immer wieder vor die Tür. »Was können sie uns denn hier tun«, schrie er die Mutter an. Dann schickte er die Verkäuferin hinaus, die Zeichen abzuwaschen. Er hörte das Wasser plantschen, ihm wurde wohler bei den reinigenden Geräuschen.
»Es ist alles weg«, sagte das Mädchen.
Felsenthal merkte, wie die Gefahr noch um das Haus stand. Er sagte nichts mehr, räumte Waren zurecht, ging in die hintere Stube und holte sich seine Bücher hervor. Aber er fand keine Ruhe. Wie ein Joch lag es im Nacken und drückte. Und dann kam plötzlich die Kolonne Frauen in den Laden gepoltert. Felsenthal stürzte nach vorne.
»Womit kann ich dienen?« fragte er und verneigte sich misstrauisch und höflich.
Die Frauen kicherten und zogen kleine Zettelchen aus den Portemonnaies.
Felsenthal staunte: sie schienen ernsthaft kaufen zu wollen. Hoffentlich waren sie nicht von den Nazis geschickt und verweigerten nachher die Zahlung. Er ging hinter die Ladentheke.
»Also, was wäre gefällig, meine Damen«, fragte Felsenthal und riss eine Düte von dem Deckbalken.
»Geben Sie mir mal zwei Pfund Schmalz.«
Werner lehnte sich an den Verkaufstisch und grinste die Verkäuferin an.
Sauberes Mädchen, dachte er. Ob sie kapiert, warum ich die Frauen hergeschleppt habe?
Er sah ihre schnellen Hände bei der Arbeit, lachte ihr zu; er wollte, dass sie ihn verstand. Etwas wie Stolz saß in ihm, als er seine Frauen da kaufen sah. Sie sieht mich kaum an, merkte er und folgte jeder ihrer Bewegungen. Die Brust spannte sich unter der weißen Schürze, wenn sie nach den oberen Schubladen des Regals griff. Das wäre was für diesen Frühling, ermunterte er sich. Er ahnte nicht, wie freundlich sie schon über ihn dachte.
Zornig hatte sie die Kalkzeichen von den Fensterscheiben weggewaschen. Die Angst der Felsenthals hatte sie traurig gemacht. Wie eine Beleidigung empfand sie die Drohungen. Und nun führte der große schöne Kerl die Kunden einfach ins Haus. Sie hörte, was die Frauen sagten, sie hätte ihm gern die Hand gedrückt: dass sie absichtlich kämen, weil sie den Judenschwindel nicht mitmachten.
Beim ersten Satz, der so fiel, zeigte sich auch die Mutter Felsenthal an der Wohnzimmertür. Langsam schlich sie näher.
»Wir sind also extra deswegen gekommen«, erklärte eine Frau und steckte eine Mehltüte in ihren Korb. »Uns ist das einerlei, ob Jud oder Christ, Hauptsache, er verkauft uns etwas Reelles.«
»Und auf den Adolf, da hören wir schon sowieso nicht. Der gibt uns auch nix, wenn wir nix haben.«
Die Mutter Felsenthal schob ihre runde niedrige Figur noch etwas näher. »Und wir kennen uns doch schon, als ich noch in die Schul ging, net wahr, Frau Felsenthal.«
»Und jetzt soll auch jede der Damen eine Tafel Schokolade extra haben«, rief beglückt der junge Kolonialwarenhändler. Die Angst wich endlich aus den Räumen. Der Spuk schien gebannt.
Die Frauen murmelten zustimmend.
»Ich hab aber gar nichts gekauft«, bekannte eine der Arbeiterinnen. »Ich bin nur mitgegangen, weil ich kein Nazi bin.«
»Bist zufrieden?« fragte Werner jetzt über den Ladentisch die Verkäuferin. Er schob mit seiner Mütze die herabhängen-
den Landjägerwürste beiseite und lachte das Mädchen an: »Ich habe euch die da doch alle hergebracht.«
Sie wusste nicht, warum er es noch erklärte. Blaue Augen hat er, dachte sie und eine Stimme wie eine Glocke.
»Darf ich dich mittags abholen, dann erklär ich dir alles«, sagte er. Er hatte sich plötzlich Mut gemacht.
»Sie können mir ruhig Sie sagen«, entgegnete sie.
Werner hörte die Zustimmung in der Stimme. Er streifte den Kopf wieder zurück durch die baumelnden Tüten und Würste. »Na dann komm um zwölf.«
Er sah seine Arbeiterfrauen an: »Nun kommt es nur noch drauf an, dass uns möglichst viele gesehen haben. Alles fertig? Dann los! Wir gehen geschlossen wieder zurück. Und wenn ihr was singen wollt: Jedenfalls kein Judenblut, was vom Messer spritzt. Auf Wiedersehen, Herr Felsenthal.«

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