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John Dos Passos - Drei Soldaten (1921)
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VIERTER TEIL

Rost

1

Am Wegrande in einer der großen, teigfarbenen Pfützen waren kleine, grüne Frösche. John Andrews verließ auf einen Augenblick die langsam vorwärts marschierende Kolonne, um sich die Frösche anzusehen. Ihre dreieckigen Köpfe ragten aus dem Wasser in der Mitte der Pfütze hervor. Er beugte sich hinüber, die Hände auf den Knien, um sich so die Last des Gepäcks auf seinem Bücken zu erleichtern. Er konnte die kleinen, topasfarbigen Augen sehen. Es war ihm, als füllten sich seine Augen mit Tränen der Rührung über die kleinen, biegsamen Körper der Frösche. Irgend etwas in ihm sagte ihm beständig, er müsse weiter laufen und sich seiner Kolonne wieder anschließen, er müsse weiter durch den Schlamm vorwärtsmarschieren, doch er blieb zurück und starrte in den kleinen Teich, die raschen Bewegungen der Frösche beobachtend. Dann bemerkte er in dem Wasser sein Spiegelbild. Er sah es neugierig an. Er konnte nur die Umrisse seines Gesichtes erkennen und die Silhouette des Gewehrlaufes, der ihm von der Schulter herabhing. So, das hatten sie also aus ihm gemacht! Er heftete die Augen wieder auf die Frösche, die mit elastischen, leichten Beinbewegungen in dem teigfarbenen Wasser schwammen.
Ganz abwesend, als ob er überhaupt keine Verbindung mit alledem habe, was um ihn herum vorging, hörte er das Knallen der berstenden Schrapnells unten an der Straße. Er hatte sich müde aufgerichtet und einen Schritt vorwärts getan, da sank er in die Pfütze hinein. Ein Gefühl der Befreiung kam über ihn. Seine Beine versanken im Schlamm. Er lag, ohne sich zu bewegen. Die Frösche waren verschwunden, aber von irgendwoher zog sich langsam ein kleiner, roter Strom in das teigfarbene Wasser. Er beobachtete die unregelmäßigen Kolonnen der Männer, die in ihren olivfarbenen Uniformen vorbeizogen. Ihre Tritte dröhnten in seinen Ohren. Er fühlte triumphierend sich von ihnen getrennt, als ob er irgendwo an einem Fenster stehe und Soldaten vorbeimarschieren sehe, oder in einem Theater bei irgendeinem langweiligen, monotonen Stück. Weiter und weiter entfernte er sich von ihnen, bis sie ganz klein geworden waren, wie Spielsoldaten, die man im Staub einer Dachstube vergessen hat. Das Licht war so schwach, dass er nichts mehr sehen konnte. Er konnte nur noch die Tritte hören, die unaufhörlich durch den Schlamm gingen.

John Andrews stand auf einer Leiter, die entsetzlich schwankte. Er wusch die Fenster der Baracken mit einem kiesigen Schwamm. Er begann in der linken Ecke und seifte die kleinen, schiefen Scheiben eine nach der anderen ein. Seine Arme waren wie Blei, und er fühlte, dass er von der schwankenden Leiter herunterfallen werde, doch jedes Mal, wenn er sich umdrehte, um hinunterzuschauen oder um hinunterzuklettem, sah er die Mütze des Generals und das vorstehende Kinn, das unter dem Schirm der Mütze zu sehen war, und seine Stimme, die «Achtung!» bellte, erschreckte ihn so, dass die Leiter noch mehr schwankte. Dann fuhr er fort, die schiefen Scheiben mit Seife einzuschmieren, endlose Stunden lang, obschon jedes Gelenk seines Körpers im Schwanken der Leiter schmerzte, als ob es in einer Zange gepackt sei. Ein helles Licht flammte drinnen hinter den Scheiben, die er methodisch eine nach der anderen einseifte. Die Fenster waren Spiegel. In jeder Scheibe konnte er sein dünnes Gesicht sehen mit dem Schatten eines Gewehrlaufes auf dem Rücken. Das Schwanken hörte plötzlich auf. Er versank in einer tiefen, abgrundschwarzen Grube.
Eine schrille, gebrochene Stimme sang in sein Ohr:

«Ist ein Mädchen im Herzen von Maryland,
Es ist das Mädchen mein...»

John Andrews öffnete die Augen. Es war ganz dunkel. Nur eine Reihe schiefer, gelber Fenster glänzte hell. Ein Himmel voller Sterne stand dunkel dahinter. Sein Bewusstsein wurde plötzlich ganz wach. Er begann sich Rechenschaft über das, was vorgegangen war, abzulegen, eilig und erschreckt. Er wandte den Kopf ein wenig. In der Dunkelheit konnte er die Gestalt eines Mannes erkennen, der flach neben ihm ausgestreckt lag und der seinen Kopf seltsam von einer Seite auf die andere bewegte und aus voller Lungenkraft mit schriller, gebrochener Stimme sang. In diesem Augenblick bemerkte Andrews auch, dass der Geruch von Karbol überwältigend stark war, und dass er den ihm so vertrauten Geruch von Blut und schweißigen Kleidern übertäubte. Er bewegte die Schultern so, dass er die beiden Griffe der Krankenbahre fühlen konnte, dann schaute er wieder hinauf zu den drei hellen, gelben Fenstern, die eines neben dem anderen in die Dunkelheit hineinragten. Natürlich, es waren die Fenster irgendeines Hauses in der Nähe. Er bewegte die Arme ein wenig. Sie waren wie Blei, doch unverletzt. Dann bemerkte er, dass seine Beine wie Feuer brannten. Er versuchte sie zu bewegen, doch es wurde ihm wieder schwarz vor den Augen in plötzlichem Schmerz. Die Stimme gellte ihm immer noch in die Ohren:

«Ist ein Mädchen im Herzen von Maryland,
Es ist das Mädchen mein...»

Man konnte jetzt auch eine andere Stimme hören, sanfter, die zärtlich und ruhig sprach: «Un' er sagte, man würde mich ganz hinunter in den Süden bringen, da sei ein kleines Haus am Strand, so warm un' so ruhig...» Der Gesang des Mannes neben ihm wurde zu einem ganz tonlosen Krächzen, wie ein Phonograph, der abgelaufen ist:

«Und Maryland ward Feenland...
Als sie sprach, will dein Mädchen sein.»

Eine andere Stimme setzte plötzlich stöhnend ein und ergoss sich dann in verworrenen Flüchen. Die ganze Zeit über sprach die sanfte Stimme weiter. Andrews strengte sich an, sie zu hören. Sie besänftigte seinen Schmerz, als ob irgendein kühlendes, wohlriechendes Öl über seinen Körper gegossen werde.
«Un' da wird sein ein Garten voller Blumen, Rosen und Rosenbüschen dort unten, ganz im Süden, und es wird so warm und so ruhig sein, und die Sonne wird den ganze Tag scheinen, und der Himmel wird so blau sein...»
Andrews fühlte, dass seine Lippen die Worte wiederholten, wie Lippen, die ein Gebet nachsprechen:
«Un' es wird so warm und ruhig sein, ganz still und ohne irgendeinen Lärm. Un' der Garten wird voller Rosen sein, un'...»
Doch die anderen Stimmen fielen ein und ertränkten diese sanfte Stimme im Stöhnen und in abgerissenen, winselnden Flüchen.
«Un' er sagte, ich würde in dem Gartenhaus sitzen, und die Sonne werde so ruhig und so warm sein, un' der Garten so schön duften, un' der Strand werde ganz weiß sein, un' die See...»
Andrews fühlte seinen Kopf plötzlich in die Luft steigen und dann auch die Füße. Er schwang sich hinaus aus der Dunkelheit in einen hellen, glänzenden Korridor. Seine Beine pochten vor stechendem Schmerz. Das Gesicht eines Mannes mit einer Zigarette im Munde erschien neben dem seinen. Eine Hand fummelte an seinem Halse herum, wo die Erkennungsmarke war, und er las: «Andrews,  1 432 286». Doch er horchte auf die Stimme draußen im Dunkeln hinter ihm, die in krächzenden, delirierenden Tönen schrie:

«Ist ein Mädchen im Herzen von Maryland,
Es ist das Mädchen mein...»

Dann entdeckte er, dass er selbst laut stöhnte. Sein Bewusstsein erfüllte sich ganz mit dem seltsamen Rhythmus seines Stöhnens. Die einzigen Teile seines Körpers, die überhaupt noch existierten, waren seine Beine, und irgend etwas in seiner Kehle, das stöhnte und stöhnte. Weiße Gestalten hockten um ihn. Er sah die behaarten Unterarme eines Mannes in Hemdsärmeln. Lichter flammten auf und erloschen. Seltsame Gerüche drangen in seine Nase und zirkulierten durch seinen ganzen Körper, doch nichts konnte seine Aufmerksamkeit von dem Singsang seines Stöhnens ablenken. Regen fiel ihm ins Gesicht. Er bewegte seinen Kopf von einer Seite auf die andere. Sein Mund war trocken wie Leder. Er streckte die Zunge aus und versuchte den Regen mit ihr aufzufangen. Unsanft wurde er auf der Bahre hin und her geschleudert. Er erhob den Kopf vorsichtig und fühlte eine ungeheure Freude, dass er den Kopf noch heben konnte.
«Halt den Kopf unten», bellte eine Stimme neben ihm. Er hatte den Rücken eines Mannes in einem glitzernden, nassen Regenmantel an dem einen Ende der Bahre gesehen. «Gebt doch auf mein Bein acht», stöhnte er winselnd immer und immer wieder, wie er selbst bemerkte. Plötzlich fühlte er einen Ruck, und er fand sich selbst, auf eine hölzerne Decke schauend, von der die weiße Lackfarbe sich abgeschabt hatte. Er roch Karbol und konnte das Stoßen einer Lokomotive fühlen. Er begann zurückzudenken. Wie lange war es her, dass er sich die kleinen Frösche angeschaut hatte? Ein lebendiges Bild der Pfütze mit ihrem teigfarbenen Wasser und den kleinen, dreieckigen Köpfen der Frösche kam ihm ins Bewusstsein. Es erschien ihm so lange her, wie die Erinnerungen der Kindheit. Sein ganzes Leben vorher war nicht so lang, wie die Zeit, die vergangen war, seit der Wagen sich in Bewegung gesetzt hatte und sein Körper in der Bahre hin und her schwankte. Der Schmerz in seinem Bein wurde schlimmer und schlimmer. Es schien ihm, als ob sein übriger Körper einschrumpfe. Unter ihm schrie eine krächzende Stimme bei jedem Stoß des Ambulanzwagens. Er kämpfte gegen den Wunsch, zu stöhnen, doch zuletzt gab er nach und lag da, verloren in dem monotonen Singsang seines Stöhnens.
Der Regen war für einen Augenblick wieder in seinem Gesicht. Dann wurde sein Körper aufgehoben. Eine Reihe Häuser und rötlich-brauner Bäume und Schornsteine, die gegen einen bleiernen Himmel standen, schwangen sich plötzlich in sein Blickfeld, wurden jedoch gleich darauf von einer Decke und einem Treppenaufgang ersetzt. Andrews stöhnte immer noch schwach. Er starrte in das Gesicht des Mannes, der das untere Ende der Bahre trug. Es war ein weißes Gesicht mit Blattern um den Mund und gutmütig dummen, wässerigblauen Augen. Andrews sah in die Augen des Mannes und versuchte zu lächeln, doch der Mann, der die Bahre trug, sah ihn nicht an.
Dann, nach vielen, endlosen Stunden, ergriffen ihn plötzlich raue Hände, zogen seine Kleider aus und legten ihn auf ein Bett, wo er ächzend lag und den kühlen Desinfektionsgeruch, der in den Laken war, einatmete. Er hörte Stimmen über seinem Kopfe: «Nich' sehr schlimm, diese Beinwunde.»
«Sie sagten doch, wir würden amputieren müssen.»
«Na, was ist denn mit ihm los?»
«Vielleicht ein Granatsplitter...»
Kalter Angstschweiß übergoss Andrews. Er lag absolut still mit geschlossenen Augen. Ein Krampf des Aufbäumens nach dem anderen ging durch ihn durch und durch. Nein, noch hatten sie ihn nicht gebrochen, noch hielt er seine Nerven zusammen, sagte er immer und immer wieder zu sich selbst. Doch er fühlte, wie seine Hände, die er über seinem Leib gefaltet hielt, zitterten. Der Schmerz in den Beinen verschwand in dem Schrecken. Er versuchte verzweifelt sein Bewusstsein auf irgend etwas außerhalb zu konzentrieren. Er versuchte, an eine Melodie zu denken, die er singen konnte, aber er hörte nur die Stimme, die ihm, wie es schien, schon Monate und Jahre lang in die Ohren schrillte:

«Ist ein Mädchen im Herzen von Maryland,
Es ist das Mädchen mein...»

Die schrillende Stimme und der Schmerz in seinem Bein vermischten sich seltsam, bis sie eins geworden schienen und der Schmerz nur ein Pochen in dem wütenden Singen geworden schien. Er öffnete die Augen. Dunkelheit, die sich zu einem schwachen, gelblichen Schein abschwächte. Hastig überschaute er sich selbst, bewegte den Kopf und die Arme. Er fühlte sich sehr kühl und sehr schwach und ruhig. Er musste eine lange Zeit geschlafen haben. Er strich mit seiner rauen, schmutzigen Hand über sein Gesicht. Die Haut fühlte sich weich und kühl an. Er drückte seine Wange auf das Kissen und fühlte, wie er zufrieden lächelte und wusste nicht, warum.
Die Königin von Saba trug einen Sonnenschirm mit kleinen, scharlachroten Glocken am Rand, die ein sanftes Klingen ertönen ließen, wie sie auf ihn zuging. Sie trug ihr Haar hoch aufgesteckt und stark gepudert mit blauem Irispuder, und auf ihrer langen Schleppe, die ein Affe trug, waren in lustigen Farben die Zeichen des Tierkreises eingestickt. Sie kam näher: Es war doch nicht die Königin von Saba; es war eine Pflegerin, deren Gesicht er in der Dunkelheit nicht sehen konnte und die ihren Arm berufsmäßig unter seinen Kopf legte und ihm aus einem Glas zu trinken gab, ohne ihn anzusehen. Er sagte: «Danke schön», mit seiner natürlichen Stimme, die ihn in der Stille überraschte. Doch sie ging weiter, ohne zu antworten, und er sah, dass sie ein Tablett voller Gläser hatte, die wie kleine Glocken geklungen hatten, als sie auf ihn zugekommen war. Trotz der Dunkelheit bemerkte er die selbstbewussten Bewegungen der Pflegerin, wie sie schweigend von einem Bett zum andern ging und das Tablett mit den Gläsern vor sich hielt. Er drehte den Kopf auf den Kissen herum, um sie zu beobachten, wie sie ihren Arm unter den Kopf des Mannes neben ihm legte, um dem zu trinken zu geben.
«Eine Jungfrau», sagte er zu sich selbst. «Wirklich eine Jungfrau.» Und er kicherte leise, trotz des stechenden Schmerzes in seinem Bein. Er fühlte plötzlich, sein Bewusstsein wache aus einer Betäubung auf. Die Schwermut, die ihn Monate hindurch niedergedrückt hatte, war plötzlich gewichen. Er war frei. Der Gedanke stieg fröhlich in ihm auf, dass, so lange er in diesem Bett im Hospital liegen werde, niemand Befehle gegen ihn schreien werde, niemand ihm sagen werde, das Gewehr zu reinigen, keiner da sein werde, den man grüßen müsse, kein Sergeant, dem es zu schmeicheln gelte. Hier würde er den ganzen Tag liegen können, seine eigenen Gedanken denken, sein eigenes Leben leben.
Vielleicht war er schwer genug verwundet, um aus dem Heer entlassen zu werden. Der Gedanke daran ließ sein Herz wie wild schlagen. Das bedeutete ja, dass er, der sich selbst aufgegeben hatte, der sich hatte niedertreten lassen, ohne Widerstand, in den Schlamm der Sklaverei, der keinen Ausweg aus dieser Tretmühle erblickt hatte, als den Tod, leben werde. Er, John Andrews, würde leben.
Und plötzlich schien es ihm unfassbar, dass er sich je aufgegeben hatte, dass je die Disziplin über ihn die Oberhand gewinnen konnte. Er sah sich noch einmal, wie er sich früher gesehen hatte, bevor sein Leben sich ausgelöscht hatte, bevor er ein Sklave unter Sklaven geworden war. Er erinnerte sich an den Garten, wo er in seiner Knabenzeit im drösenden Sommer nachmittags unter den Myrtenbäumen träumend saß, während die Kornfelder rauschten und in der Hitze schimmerten. Er erinnerte sich an den Tag, wo er nackt in der Mitte des Zimmers gestanden hatte, während der Rekrutierungssergeant ihn beklopfte und abmaß. Er wunderte sich plötzlich, welcher Tag wohl sei, konnte es wirklich wahr sein, dass das nur ein Jahr her war? Ja, in diesem Jahr waren alle anderen Jahre seines Lebens ausgelöscht worden. Jetzt konnte er ein neues Leben beginnen. Er würde dieses feige Kriechen vor äußeren Dingen aufgeben. Ohne Bedenken er selbst sein.
Der Schmerz in den Beinen lokalisierte sich nach und nach in
den Wunden. Eine Zeitlang kämpfte er dagegen, um weiter denken zu können, doch ein beständiges Pochen drängte sich immer mehr in sein Bewusstsein, obschon er verzweifelt seine blassen Erinnerungen auffrischen wollte, an all das denken, was lebendig und schön in seinem Leben gewesen war und sich einen neuen Boden für einen Widerstand gegen die Welt schaffen, von dem aus er neu zu leben beginnen könne; doch langsam wurde er wieder das klagende Stück schmerzenden Fleisches, der in der Tretmühle gebrochene Sklave. Er begann wieder zu stöhnen.
Kaltes, starrgraues Licht filterte hinein und ertränkte den gelblichen Schein der Lampe, der zuerst verglimmte und dann verschwand. Andrews beobachtete die Reihe der Bettstellen ihm gegenüber und die dunklen Balken der Decke über seinem Kopfe. «Dieses Haus muss sehr alt sein», sagte er zu sich selbst, und dieser Gedanke erregte ihn etwas. Wie seltsam, dass die Königin von Saba an sein Bett kam! Es war Jahre her, dass er von all dem geträumt hatte; von dem Mädchen an einem Kreuzweg, singend unter der Straßenlampe und Rosen zerpflückend, all die halberratenen Aspekte, all die Wünsche der Phantasie... Das war die Königin von Saba. Er flüsterte die Worte laut: «la reine de Saba, la reine de Saba», und mit dem Zittern der Erwartung, demselben Zittern, das er als Knabe fühlte, am Abend vor Weihnachten, mit dem Gefühl der neuen, großen Dinge, die seiner warteten, legte er seinen Kopf auf die Arme, wie auf ein Kissen und begann sanft einzuschlafen.
«So was können auch nur diese Franzmänner, aus so einer Dreckbude ein Hospital machen», sagte der Diensthabende, der mit den Beinen weit auseinander und mit den Händen auf den Hüften dastand und mit dem Gesicht einer Reihe von Bettstellen zugewandt zu allen sprach, die sich wohl genug fühlten, ihm zuzuhören.
«Ist doch ganz kunstvoll gemacht hier, nich'?» meinte Appelbaum, der Andrews zunächst lag, ein knochiger Mann mit großen, erschreckten Augen und einem roten Gesicht, das aussah, als ob die Haut davon abgeschält sei.
«Schau dir die Arbeit an der Decke an. Muss ordentlich was gekostet haben.»
Andrews lag bequem in seinem Bett und sah auf die Szene, wie von einer anderen Welt aus. Er wollte keine Verbindung mit dem Gespräch um ihn herum, mit den Männern, die schweigend lagen oder sich stöhnend herumwarfen in ihren langen Bettstellen, die die Renaissancehalle füllten. In dem gelblichen Schein der elektrischen Lichter konnte er sehr schwach eine Reihe Plastiken erkennen. Sie schienen ihm vertraut und freundschaftlich zu sein. Er fühlte sich zu Hause in dieser weiten Halle, in der all die kleinen Quälereien der Armee unwirklich schienen und die verwundeten Soldaten ausrangierte Automaten, zerbrochene Spielzeuge, die man in Reihen weggelegt hatte. Andrews wurde aus seinen Gedanken aufgerissen. Appelbaum sprach zu ihm. Er wandte den Kopf.
«Wie gefällt es dir, verwundet zu sein, Junge?»
«Fein!»
«Ich denke auch. Besser, als in der verdammten Armee da draußen.»
«Wo hat's dich denn gefasst?»
«Hab' jetzt nur noch einen Arm. Ist mir aber ganz, ganz egal... Habe eben meinen letzten Wagen gefahren. Das ist alles.»
«Was bedeutet das?»
«Ich war früher Droschkenkutscher.»
«'ne schöne Beschäftigung.»
«Sicher. Man kann viel Geld verdienen, wenn man's richtig anfasst.»
Der Diensthabende legte sein Gesicht ernst in Falten und blinzelte bedeutsam.
«Können Sie etwas für mich tun?» fragte Andrews.
«Sicher, wenn es keine große Mühe macht.»
«Wollen Sie mir ein Buch kaufen, ein französisches Buch?» sagte Andrews lächelnd.
«Ein französisches Buch? Nun, ich werde sehen, ob es zu machen ist. Wie heißt es?»
«Von Flaubert... Wenn Sie ein Stück Papier und einen Bleistift haben, werde ich es aufschreiben.»
Andrews kritzelte den Titel auf ein Blatt Papier und händigte das dem Diensthabenden aus.
«Was? Was für ein Antoine? Donnerwetter, das wird wohl 'ne mollige Geschichte sein, was? Ich wünschte, ich könnte französisch lesen. Aber ich gehe jetzt. Gute Nacht.»
Der Diensthabende ging geräuschvoll hinaus und verschwand.
Die Lichter erloschen, außer der Kerze auf dem Tisch der Pflegerin am Ausgang.
«Wovon handelt das Buch, Junge?» fragte Appelbaum und drehte seinen Kopf auf dem dürren Hals, bis er Andrews voll ins Gesicht sehen konnte.
«Oh, es erzählt von einem Mann, der alles so sehr erstrebt, dass er am Ende denkt, nichts sei wert, dass es erstrebt werde.»
«Du kommst wohl von der Universität?» fragte Appelbaum sarkastisch.
Andrews lachte.
«Ich wollte gerade davon erzählen, wie ich Droschkenkutscher war. Viel Geld verdient, ehe ich eingezogen wurde. Bist du auch eingezogen worden, oder freiwillig gemeldet?»
«Eingezogen.»
«Ich auch. Halte nicht viel von den Kerls, die sich wunder was einbilden, weil sie Soldaten sind.» «Ich auch nicht.»
«So?» kam eine Stimme von der anderen Seite von Andrews, eine dünne Stimme, die stotterte. «Ich hätte mir mein ganzes Geschäft verdorben, wenn ich nicht eingetreten wäre. Von mir kann keiner behaupten, dass ich mich nicht gleich gemeldet hätte.»
«Na, das ist eben dein Standpunkt», meinte Appelbaum. «Aber ist dein Geschäft nicht trotzdem verdorben?»
«Nee, kann es jeden Tag wieder aufnehmen. Hat einen guten, alten Ruf.»
«So?»
«Ich bin von Beruf Leichenbestatter. Schon mein Vater hatte dasselbe Geschäft.»
«Dann bist du ja hier am rechten Fleck», warf Andrews ein.
«Du hast kein Recht, mir das zu sagen, junger Mann», antwortete der Leichenbestatter ärgerlich. «Ich habe menschliche Gefühle. Ich werde mich in dieser dreckigen Schlachtanstalt nie zu Hause fühlen.»
Die Pflegerin ging an ihren Bettstellen vorbei.
«Wie können Sie nur solch grauenhafte Dinge sagen», sagte sie. «Das Licht ist schon gelöscht. Ihr müsst jetzt Ruhe halten. Und Sie?» Sie strich über das Bettzeug des Leichenbestatters. «Erinnern Sie sich doch einmal daran, was die Hunnen in Belgien taten. Arme Miss Cavell, eine Pflegerin, gerade wie ich!»
Andrews schloss die Augen. Der Raum war ruhig, nur das rasselnde Geräusch des schnarchenden Atmens der Verwundeten um ihn herum ertönte.
«Ich dachte, sie wäre die Königin von Saba», sagte er zu sich selbst mit einer grinsenden Grimasse. Dann dachte er an die Musik, die er der Königin von Saba hatte schreiben wollen, zu jener Zeit, da er noch nicht sein eigenes Leben abgestreift hatte wie ein Hemd, und an das Zimmer, wo man ihn abgemessen, bevor man einen Soldaten aus ihm gemacht hatte. In der Dunkelheit und Verlassenheit seiner Verzweiflung stehend, konnte er das Geräusch einer Karawane in der Ferne hören, das Klingen des Sattelzeuges, die schallenden Hörner, das Schreien der Maulesel und die heiseren Stimmen der Männer, welche Lieder sangen auf verlassenen Straßen. Er schaute auf, und vor sich konnte er sehen, wie neben ihren scheuen, wilden Maultieren die drei grünen Reiter regungslos mit ihren langen Zeigefingern auf ihn deuteten. Dann brach die Musik in einen plötzlichen, heißen Wirbelwind aus, voller Flöten und Kesselpauken und tönender Hörner und winselnder Dudelsäcke, und Fackeln flammten rot und gelb, bildeten ein Lichtzelt über ihm, an dessen Ende Maulesel sich zusammendrängten und die braunen Treiber und die großen Kamele mit ihren Schabracken, und die Elefanten mit ihren edelsteinbestickten Decken. Nackte Sklaven beugten ihre glänzenden Rücken vor ihm und breiteten einen Teppich vor seinen Füßen aus. Im Flackern der Fackeln bewegte sich die Königin von Saba auf ihn zu, bedeckt mit Smaragden und goldenen Ornamenten, von einem Affen begleitet, der hinter ihr her hüpfte und das Ende ihrer langen Schleppe hielt. Sie legte ihre Hand mit ihren feinen, phantastischen Nägeln auf seine Schulter, und in ihre Augen schauend fühlte er plötzlich ganz nahe und wirklich all die glühenden Wünsche seiner Phantasie.
Oh, wenn er nur frei sein könnte, zu arbeiten! Alle Monate, die er in seinem Leben verschleudert hatte, schienen wie eine Prozession von Geistern vor seinen Augen auf ihn zuzumarschieren. Und er lag in seinem Bett, starrte mit offenen weiten Augen an die Decke und hoffte verzweifelt, dass seine Wunden lange brauchen würden zum Heilen.

«Nun Jungens, ihr sterbt wohl schon vor Begierde, zu wissen, was der Krieg macht!» Eine runde Person mit einer großen
Hornbrille brach in den Krankensaal ein wie eine Operettenkönigin auf die Bühne. Sie rauschte an den Bettreihen vorbei, sprach im Gehen.
«Seht ihr, ich war grade an der Front. Aufregend, nich'?»
Sie hockte sich am Ende von Appelbaums Bett nieder.
«Muss doch nicht etwa gleich sagen, mit wem ich da ging, nich'? Ich bin die erste Frau, die in den Schützengräben war, wenigstens an der Stelle... Sie waren alle so nett. Habe mit dem Leutnant in seinem Unterstand Tee getrunken. Oh, ich war so aufgeregt! Man schoss da gerade nich', aber am Morgen, da war geschossen worden. Jetzt weiß ich aber auch, wie ihr armen Jungen gelitten haben müsst. Furchtbar!... Ihr da drüben, ihr müsst aber darum nicht eifersüchtig sein. Am Nachmittag werde ich mich zu euch rübersetzen. Morgen Nachmittag, da werde ich zu euch kommen!»
Sie holte sich vom Schreibtisch der Pflegerin einen Stuhl und ließ sich darin nieder, wie ein zusammenfallender Ballon. Einige der Männer richteten sich in ihren Kissen auf, um sie anzusehen.
«So, da sind wir. Ihr müsst nicht missmutig sein, nich'? Oh, ich wollte euch doch erzählen, was der Krieg macht. Wundervoll, Jungens, wundervoll. Aber zuerst... Ich habe hier ein Stück Papier und 'n Bleistift. Wenn jemand will, dass ich einige Zeilen für ihn schreibe... Aber ihr schaut ja alle so wohl aus, ihr werdet eure Korrespondenz schon allein erledigen können. Aber ich bin ja hier, und wenn ich will, kann ich auch diskret sein...»
Sie kicherte ein wenig. Ein schwaches Kichern lief antwortend die Reihen der Betten hinunter.
«Also, wenn ihr eurem Schatz etwas schreiben wollt, dann sagt mir's, und ich werde keiner Menschenseele etwas sagen. Ganz bestimmt nich'. Doch ich wollte euch ja erzählen: Sieg über Sieg! Jungens, wir haben eine Menge deutscher Städte genommen. Haben alle so komische Namen. Kann mich nicht daran erinnern...»
«Deutsche Namen muss man gar nicht behalten wollen», warf Appelbaum herausfordernd ein.
«Ganz recht, Jungens, wenn der kommandierende General hier wäre, ich glaube, ich würde ihm jetzt 'nen Kuss geben.» Sie kicherte verschämt und schaute durch ihre Hornbrille auf den Boden. «Ich glaube, ihr seid alle ganz wild danach, wieder gesund zu werden und ihnen auf die Fersen zu kommen.»
«Ach, der General, der ist ja ganz doof», sagte der Leichenbestatter.
«Da haste ganz recht», kam eine andere Stimme aus der Reihe der Betten.
«Aber Jungens, wenn ihr so sprecht, muss ich ja weggehen.» Die Frau stand auf. «Ich weiß ganz genau, dass ihr alles geleistet habt, möchte euch am liebsten dafür umarmen.» Sie kicherte hastig und fuhr fort: «Aber ihr müsst auch daran denken, dass, obschon ihr Jungens die Muskeln habt, der Mann hinter der Front das Gehirn dazu. Natürlich erscheinen euch die Leute hinter der Front manchmal barsch und ungerecht. Aber ihr müsst Geduld haben, Jungens. Denn sicher wollen die Offiziere immer nur euer Bestes. Denkt mal, Oberst Josephson erzählte mir gestern, als ich mit ihm und Major Pike speiste — Major Pike, der erzählt solch entzückende Geschichtchen —, dass er oft die ganze Nacht drei- oder viermal hintereinander auf war, und ich weiß, dass solche Männer Tag und Nacht nur euer Gutes im Herzen haben... Armer Major Pike! Musste fort, ehe die Chocolat soufflé kam. Diese französischen Restaurants sind so langweilig, langsam und teuer! Die Preise sind tatsächlich shocking. Die Franzosen plündern uns aus, wo sie nur können... Ich sage euch, Jungens, ihr könnt geradezu glücklich sein, eure Armeeküche zu haben. Seht mal, ich muss sogar meinen Zucker mit mir rumtragen... , sonst würde ich nie welchen kriegen... Doch wir müssen jetzt mal an die Arbeit gehen, nich'? Na, wer will zuerst einen Brief geschrieben haben?»
Andrews starrte auf das Bett und erblickte ihren großen Schenkel unter dem braunen Kleid, als sie sich über den Mann gegenüber beugte.
«Also, du? Gut. Aber ihr anderen dürft jetzt nicht zuhören... » Sie zog ihren Stuhl in den Gang zwischen die beiden Betten und setzte sich, mit dem Bleistift an den Lippen. Andrews hörte das Flüstern einer Stimme und das Kratzen des Bleistiftes auf dem Papier.

Appelbaum saß auf seinem Bettrande in einer reinen, neuen Uniform, deren linker Ärmel leer herunterhing und der noch die Falten zeigte, in die man ihn gebügelt hatte.
«So, du gehst also wirklich», meinte Andrews und rollte den Kopf hinüber in den Kissen, um ihn anschauen zu können.
«Da kannst du dich darauf verlassen, Andy... Auch du könntest schon hier fortkommen, wenn du dich ein bisschen darum kümmern wolltest.»
«Oh, ich wünschte zu Gott, dass ich könnte... Nicht, dass ich nach Hause gehen wollte jetzt, aber... Wenn ich nur aus der Uniform heraus könnte...»
«Du bist nicht der einzige», kam die stottrige Stimme des Leichenbestatters hinter Andrews.
«Ich dachte, du hättest dich freiwillig gemeldet, Leichenbestatter?»
«Ja, ich hab's getan, bei Gott. Aber ich dachte nicht, dass es so sein würde.»
«Hast du vielleicht geglaubt, es würde ein Picknick sein?»
«Zum Teufel, das ist mir alles egal, alles egal, Gas schlucken, oder verschüttet werden, oder irgend etwas anderes. Aber ich dachte, wir würden hier Ordnung schaffen... Wir hatten ein lebhaftes Geschäft da drüben in Tilletsville.»
«Wo?» unterbrach Appelbaum lachend.
«Tilletsville. Kennst du denn keine Geographie?»
«Fahr nur fort, erzähle uns was von Tilletsville», warf Andrews beruhigend ein.
«Nun, was glaubt ihr wohl, als Senator Wallace starb, wer dem seinen Leichnam in Ordnung bringen musste, na wer denn wohl? Natürlich wir. Und ich sollte ein schmuckes Mädchen heiraten. Wusste, ich hatte genug, um auszukommen. Aber dann meldete ich mich freiwillig zur Infanterie, wie so'n dummes Schwein, weil jedermann sagte, dass wir der Welt die Demokratie erkämpfen werden, und dass keiner mehr mit einem was zu tun haben wolle, der sich daran nicht beteiligt.»
Er begann plötzlich zu husten. Endlich konnte er schwach mit seiner kleinen, dünnen Stimme sagen: «Ja, nun bin ich hier, und mit der Demokratie...»
«Demokratie ist... Das ist Demokratie: wir essen stinkigen Gulasch, un' dieses fette Weib geht mit dem Oberst aus und frisst Chocolat soufflé... Wahre Demokratie! Aber ich will euch was sagen. Man darf nicht immer Schlachtvieh sein...» stotterte Appelbaum heraus.
«Es gibt mehr Schlachtvieh auf der Welt, als irgend etwas anderes», sagte Andrews.
Appelbaum in seiner Uniform, die in Falten um seinen mageren Körper hing, ging unsicheren Schrittes zur Tür hinaus, von den neidischen Blicken aller begleitet.
«Der denkt wohl, er wird bald Präsident sein», sagte der Leichenbestatter bitter.
«Wird's auch wahrscheinlich werden», meinte Andrews.
Er machte sich wieder in seinem Bett zurecht und versank wieder in die dumpfe Kontemplation des bohrenden, kriechenden Schmerzes, in dem die zerrissenen Sehnen seines Schenkels sich langsam wieder aneinander knüpften. Er versuchte verzweifelt, den Schmerz zu vergessen. Es gab doch soviel, an das er denken wollte, wenn er nur vollkommen ruhig liegen und die zerfetzten Enden von Gedanken, die auf der Oberfläche seines Bewusstseins herumschwammen, aneinanderstücken könnte. Er zählte die Tage, die er nun im Hospital war. Fünfzehn. Konnte es wirklich so lange schon sein? Bis jetzt hatte er noch nichts gedacht! Bald würden sie ihn, wie Appelbaum gesagt hatte, in die Klasse A versetzen und in die Tretmühle zurückschicken, und er würde noch nicht seinen Mut und die Beherrschung seiner selbst wiedergewonnen haben. Welcher Feigling war er doch gewesen, sich zu unterwerfen! Der Mann neben ihm hustete weiter. Andrews starrte für einen Augenblick auf die gelbe Silhouette des Gesichtes auf den Kissen mit der spitzen Nase und den kleinen, gierigen Augen. Er dachte an das glänzende Leichenbestattergeschäft, an die schwarzen Handschuhe, an die langen Gesichter, an sanfte, taktvolle Stimmen. Dieser Mann und sein Vater vor ihm hatten davon gelebt, von sich Dinge zu behaupten, die sie nicht fühlten, Realitäten mit Gerank von Krepp und anderem Flitter vorzutäuschen; für diese Leute starb nie jemand; man schied hinweg, man ging hinüber. Trotzdem, es musste ja Leichenbestatter geben. Dieser Beruf war in keinem Sinne schmutziger als irgendein anderer. Und um sein Geschäft nicht zu verderben, darum war der Leichenbestatter freiwillig eingetreten, und auch, um der Welt die Demokratie zu erkämpfen. Diese Phrase trat Andrews an wie eine Flut von Volksliedern, von patriotischen Nummern auf einer Vaudevillebühne. Er erinnerte sich an die großen Flaggen, die triumphierend über der fünften Avenue wehten und an die Massen, die pflichtgemäß «hoch» schrieen. Aber das waren ja nur gültige Gründe für einen Leichenbestatter. Waren es für ihn, John Andrews, triftige Gründe? Nein, er hatte keinen Beruf. Er war nicht in die Armee hineingetrieben worden von der öffentlichen Meinung, er war nicht hineingeschwemmt worden von irgendeiner Woge kritiklosen Vertrauens in die Phrasen gekaufter Propagandisten. Er hatte eben nicht die Kraft zu leben. Ein Gedanke kam ihm ins Bewusstsein. Wie viele hatten doch während der langen Tragödie der Geschichte sich selbst lächelnd geopfert um der Reinheit ihrer Idee willen! Er aber, er hatte nicht den Mut gehabt, einen Muskel nur zu bewegen für seine Freiheit. Er hatte fast freudig sein Leben als Soldat gewagt für eine Sache, die er für vollkommen sinnlos und verbrecherisch hielt. Welches Recht zu existieren hat überhaupt ein Mensch, der zu feige war, um für das, was er dachte und fühlte, einzustehen, für seine ganze Art, für alles, was ihn unterschied von seinen Mitmenschen, um nicht ein Sklave zu sein, um mit der Mütze in der Hand dazustehen und zu warten auf irgendeinen stärkeren Willen, der ihm gebieten sollte, zu handeln.
Ekel stieg wie plötzliche Übelkeit in ihm auf. Sein Bewusstsein hörte auf, Phrasen und Gedanken zu formulieren. Er lieferte sich dem Ekel aus, wie ein Mann, der zu viel getrunken hat, der bis jetzt aber seinen Willen fest an der Kandare hatte und sich plötzlich Hals über Kopf der Trunkenheit überlasst.
Er lag sehr still mit geschlossenen Augen, horchte auf die Geräusche des Saales, die Stimmen der sprechenden Männer und die Hustenanfälle, die über den Mann neben ihm herfielen. Der stechende Schmerz quälte monoton. Er fühlte sich hungrig und dachte, ob nicht bald Abendbrotzeit sei. Wie wenig bekam man doch in diesem Hospital zu essen! Er rief den Mann im gegenüberliegenden Bett an:
«Heh, Storky, wie spät ist es?»
«Es ist Essenszeit. Hast wohl guten Appetit auf ein Beefsteak und Zwiebel und gebratene französische Kartoffeln?» «Halt's Maul.»
Ein Klappern von Zinngeschirr am anderen Ende des Saales veranlasste Andrews, sich weiter in seinen Kissen aufzurichten.
Nachdem er gegessen hatte, nahm er wieder die «Tentation de Saint Antoine» auf, das Buch lag auf seinem Bett neben seinem unbeweglichen Bein; er vertiefte sich darin, las die prächtig formulierten Sentenzen mit gierigem Eifer, als ob das Buch eine Medizin sei, aus der er tiefes Vergessen trinken könne.
Er legte das Buch nieder und schloss die Augen. Sein Bewusstsein war voll eines seltsam fließenden Glanzes wie der Ozean in einer warmen Nacht, wenn jede Welle sich blass und glänzend bricht und geheimnisvolle, milchige Lichter wie von Ewigkeiten her an die Oberfläche aus dem Dunkel des Wassers heraufsteigen und glimmen und verlöschen. Seltsame, fließende Harmonien durchströmten sein Fleisch, wie ein grauer Himmel beim Hereinbrechen der Nacht plötzlich mit endlos wechselnden Flecken von Licht und Farbe und Schatten sich füllt.
Als er dann versuchte, seine Gedanken zu fassen, ihnen einen definitiven musikalischen Ausdruck zu geben, war er plötzlich leer. Wie in einem tiefen Wasser eine Sandbank, die eben noch voller kleiner silbriger Fische war, plötzlich dunkel und leer erscheint, wenn ein Schatten über das Wasser fällt und man statt schimmernder beweglicher kleiner Körper nur noch die Reflexion seiner eigenen Gestalt im Wasser sieht.

John Andrews wachte auf und fühlte eine kalte Hand auf seinem Kopfe.
«Fühlst du dich wohl?» hörte er eine Stimme in seinem Ohr.
Er sah hinauf in ein puffiges Gesicht von mittleren Jahren mit einer mageren Nase und grauen Augen und starken Schatten darunter. Andrews fühlte die Augen, die ihn forschend ansahen. Er sah das rote Dreieck auf dem Khakiärmel des Mannes.
«Ja», sagte er.
«Wenn du nichts dagegen hast, möchte ich ein wenig mit dir reden.»
«Habe nichts dagegen. Haben Sie einen Stuhl?» sagte Andrews lächelnd.
«Ich denke, es war vielleicht nicht ganz recht, dich aufzuwekken. Aber sieh mal, es war gerade so, du warst der Nächste, und ich fürchtete, ich würde dich vergessen, wenn ich dich jetzt übergehe.»
«Ich verstehe», sagte Andrews mit dem plötzlichen Entschluss, dem Mann die Initiative der Unterhaltung wegzunehmen.
«Wie lange sind Sie schon in Frankreich? Lieben Sie den Krieg?» fragte er hastig.
Der Mann lächelte traurig.
«Du scheinst ja ein wackerer Kerl zu sein», meinte er. «Du hast es wohl sehr eilig, wieder an die Front zu kommen und noch ein paar Hunnen zu sehen.» Er lächelte wieder nachsichtig. Andrews antwortete nicht.
«Nein, mein Sohn, mir gefällt's hier nicht», sagte der Mann nach einer Pause. «Ich wünschte, ich wäre zu Hause. Aber es ist doch angenehm, zu wissen, dass man seine Pflicht tut.»
«Kann sein», meinte Andrews.
«Hast du denn schon von dem großen Luftangriff unserer Jungen gehört? Frankfurt ist bombardiert worden. Wenn sie nur Berlin vom Erdboden wegwischen könnten!»
«Sag mal, hasst du sie denn wirklich so?» fragte Andrews leise. «Denn falls du sie wirklich so sehr hasst, kann ich dir etwas sagen, was dich halbtot kitzeln muss vor Freude. Beug dich mal 'rüber.»
Der Mann beugte sich neugierig herüber.
«Einige deutsche Gefangene kommen jeden Tag um sechs Uhr abends zu diesem Hospital. Wenn du sie wirklich hasst, so brauchst du dir ja nur einen Revolver von einem unserer Offiziere zu borgen und die ganze Bande über den Haufen zu schießen... »
«Sag mal, wo hat man dich denn gemustert, Junge?» Der Mann setzte sich mit einem Ruck und dem Ausdruck des Schreckens auf. «Weißt du denn nicht, dass Gefangene heilig sind?»
«Weißt du denn nicht, was unser Oberst uns sagte, ehe wir in die Argonnenoffensive hineingingen: je mehr Gefangene ihr macht, desto weniger werdet ihr zu essen kriegen. Und weißt du denn nicht, was den Gefangenen, die wir machten, geschah? Warum hasst du die Hunnen?»
«Weil sie Barbaren sind, Feinde der Zivilisation. Du müsstest eigentlich genug Bildung haben, um das zu wissen», sagte der Mann und erhob seine Stimme in zorniger Empörung. «Welcher Kirche gehörst du eigentlich an?»
«Keiner.»
«Aber du musst doch mit irgendeiner Kirche in Beziehung stehen. Du kannst doch in Amerika nicht wie ein Heide aufgewachsen sein. Jeder Christ gehört oder gehörte irgendeiner Kirche an durch die Taufe.»
«Ich habe mit dem Christentum nichts zu schaffen.»
Andrews schloss die Augen und wandte den Kopf weg. Er fühlte den Mann über sich schweben, noch unentschlossen. —
Nach einer Weile öffnete er die Augen. Der Mann beugte sich über das nächste Bett.
Durch das Fenster auf der anderen Seite konnte er ein kleinwenig blauen Himmels sehen. Wie diese Leute sich am Hass erfreuen konnten! Dann war es wirklich besser, an der Front zu sein. Die Menschen waren wirklich humaner, wenn sie einander töteten, als wenn sie nur darüber sprachen. So war die Zivilisation nichts anderes, als ein ungeheures Gebäude des Truges, und der Krieg statt ein Produkt des Zerfalles ihr völligster und endgültigster Ausdruck. — Oh, es musste doch noch etwas anderes geben, als Gier und Hass und Grausamkeit. Waren das auch alles Trugbilder, diese gigantischen Phrasen, die wie fröhliche Drachen hoch über der Menschheit flatterten? Drachen! Ja, das war es. Und Gebilde aus Seidenpapier, die man an einer Schnur über sich herzieht, Ornamente, die man nicht ernst nehmen soll. Er dachte an die lange Prozession von Männern, die von der unaussprechbaren Flüchtigkeit des Menschenlebens erschüttert, versucht hatten, die Dinge anders zu gestalten, die Unweltliches gedacht hatten. Rätselhafte Gestalten waren sie - Demokrit, Sokrates, Epikur, Christus, so viele und so vage in dem silbrigen Nebel der Geschichte, dass er kaum wusste, ob sie nicht nur in seiner Einbildung lebten; Lukrez, der heilige Franz, Voltaire, Rousseau und so viele andere, bekannte und unbekannte, in den tragischen Jahrhunderten; manche von ihnen hatten geweint, und andere hatten gelacht, und ihre Gedanken waren aufgestiegen, glitzernd, Seifenblasen, um die Menschen zu verwirren, auf einen Augenblick, und um dann zu zergehen. Er fühlte den wilden Wunsch, sich ihnen einzureihen, sein Leben zu leben, wie er es sah, trotz alledem, noch einmal die Falschheit all der Anschauungen zu verkünden, unter deren Decke Gier und Angst mit mehr und mehr Schmerz die schon fast unerträgliche Agonie menschlichen Lebens füllte.
Sobald ich aus dem Hospital herauskomme, werde ich desertieren: dieser Entschluss formte sich plötzlich in ihm und ließ das aufgeregte Blut triumphierend durch seinen Körper schießen. Es gab sonst nichts; man musste desertieren. Er sah sich schon selbst im Dunkeln auf seinem lahmen Bein weghumpeln, die Uniform abstreifen, sich in irgendeiner Ecke Frankreichs verlieren oder durch die Wachen hindurch nach Spanien in die Freiheit entweichen. Er war bereit, alles zu ertragen, jeder Art Tod ins Antlitz zu schauen, um einiger Monate Freiheit willen, in welchen er die Degradation dieses letzten Jahres vergessen könnte. Das sollte sein letzter Gang unter dieser Last sein.
Eine ungeheure Aufregung ergriff ihn. Es schien das erste Mal in seinem Leben, dass er beschlossen hatte, zu handeln. Alles andere war zielloses Umhergetriebensein. Das Blut sang ihm in den Ohren.
Die Lichter gingen aus, und der Krankenwärter kam und goss Schokolade mit einem angenehm beruhigenden Geräusch in die Zinntassen. Mit dem Fettgeschmack der Schokolade im Munde und ihrer Wärme im Magen schlief er ein.

Als er aufwachte, war Lärm im Saal. Rötliches Sonnenlicht strömte durch das gegenüberliegende Fenster herein, und von draußen kam ein wirres Geräusch: läutende Glocken und Sirenenpfeifen.
Andrews schaute auf das gegenüberliegende Bett hinüber. Storky saß aufrecht im Bett mit großen, weitaufgerissenen Augen.
«Leute, der Krieg ist aus!» «Schmeißt doch den Kerl raus!» «Halts Maul!»
«Bindet den Ochsen draußen fest!» schrie es aus allen Enden des Saales.
«Leute!» rief Storky noch lauter. «Es ist wahr, der Krieg ist vorbei. Ich träumte gerade, der Kaiser käme auf der Vierzehnten Avenue auf mich zu und pumpte fünf Cents von mir für ein Glas Bier. Der Krieg ist vorbei. Hört ihr nicht die Glocken?»
«Dann wollen wir uns alle auf die Beine machen und nach Hause gehen.»
«Haltet dochs Maul! Lasst einen doch schlafen!»
Es wurde wieder ruhig im Saal. Aber alle Augen waren offen. Die Männer lagen seltsam still in ihren Betten, wartend und voller Staunen. Plötzlich erschien der Major mit der Mütze über dem roten Gesicht, eine Messingglocke in seiner Hand, die er frenetisch läutete.
«Leute!» schrie er mit dem tiefen Brüllen des Mannes, der die Ergebnisse des Baseballspieles verkündet. «Der Krieg ist heute morgen um 4 Uhr 3 zu Ende gewesen... Der Waffenstillstand ist unterzeichnet. Nieder mit dem Kaiser!»
Dann läutete er wie wild die Glocke und tanzte den Gang zwischen den Betten hinunter, an der einen Hand die Oberschwester, die einen kleinen, gelbköpfigen Leutnant an der anderen hielt, der wieder eine andere Schwester und so weiter. Die Reihe tanzte lustig durch den Krankensaal, sang die Nationalhymne, und immerzu läutete der Major seine Glocke. Die Männer, die gesund genug waren, setzten sich im Bett auf und schrieen «hoch». Die anderen wälzten sich in ihren Kissen, gestört durch den Lärm.
«Nun, was hältst du davon, Leichenbestatter?» fragte Andrews.
« Nichts .»
«Warum?»
Der Leichenbestatter wandte seine kleinen, schwarzen Augen Andrews zu und sah ihm gerade ins Gesicht.
«Du weißt, was mit mir los ist außer der Wunde.» «Nein.»
«Wenn man so hustet wie ich... Bin lungenkrank, junger Mann.» «Woher weißt du?»
«Sie wollen mich morgen in eine Lungenheilstätte bringen.» «Zum Teufel auch.»
Andrews Worte verloren sich in dem Hustenanfall, der den Mann neben ihm packte.

«Heim, Jungens, heim,
Zu Hause wollen wir sein!»

Alle, die gesund genug waren, sangen mit. Storky führte an. Er stand auf dem Ende seines Bettes in seinem hellroten Pyjama, der zu kurz war und die langen, knochigen Beine zeigte.
«Heim! Ich werde nie wieder nach Hause kommen», sagte der Leichenbestatter, als der Lärm ein wenig ruhiger geworden war.
«Weißt du, was ich wünschte? Ich wünschte, der Krieg würde weiter fort gehen, bis all' diese Hunde erschlagen wären.» «Welche?»
«Die Leute, die uns hier rübergebracht haben.» Er begann wieder schwach zu husten.
«Aber die werden ja gerade in Sicherheit sein, wenn jeder andere...» begann Andrews.
Er wurde von einer donnernden Stimme unterbrochen. «Achtung!»

«Heim, Jungens, heim,
Zu Hause wollen wir sein!»

ging der Sang weiter.
Storky schaute in den Krankensaal hinunter und warf sich, da er den Major erblickte, so schnell wie möglich in seine Decken zurück.
«Achtung!» donnerte der Major wieder. Eine plötzliche unangenehme Stille trat ein, nur von dem Husten des Mannes nebenan unterbrochen.
«Wenn ich noch einmal irgendwelches Geräusch von hier höre, schmeiße ich euch alle aus dem Hospital raus. Wenn ihr nicht laufen könnt, könnt ihr ja kriechen. Der Krieg ist zwar vorbei, aber ihr Kerls seid noch immer im Heere. Vergesst das nicht.»
Der Major blickte die Reihen der Betten auf und ab. Er wandte sich auf den Hacken und ging aus der Tür. Der Saal war still. Draußen pfiffen die Sirenen, Glocken läuteten, und dann und wann hörte man singen.

 

2

Der Schnee schlug gegen die Fensterscheiben und fiel auf das Zinndach des Vorgebäudes, das am Hospital stand.
Andrews malte sich aus, dass er schnell durch die Straßen ginge, den Schnee im Gesicht, und das Leben der Stadt verwirrend um sich, Gesichter, die in der Kälte auf ihn zukamen, helle Augen unter Huträndern, die ihn einen Augenblick ansahen, weiche Formen von Frauen, die undeutlich den Umriss der Brüste und Hüften vermuten ließen. Er dachte nach, ob er je wieder frei sein werde, nach Belieben durch die Straßen der Städte zu gehen. Er streckte die Beine aus; seltsam steif und zitternd waren sie. Aber es waren nicht die Wunden, die sie so schwer erscheinen ließen. Es war die Stagnation des Lebens um ihn herum, die in alle Ritzen seines Bewusstseins einströmte, so dass er sie nie wieder abschütteln konnte, die Stagnation staubiger, zerbrochener Automaten, die alles eigene Leben verloren hatten, deren Glieder so lange gedrillt worden waren, dass keine eigenen Bewegungen übrig geblieben waren, die jetzt dasaßen, schlaff, welk, versunken in Langeweile und auf Befehle wartend.
Andrews wurde plötzlich aus seinen Gedanken gerissen. Er hatte die Schneeflocken in ihrem Tanze vor der Fensterscheibe beobachtet. Da hörte er, wie irgend jemand seine Hände aneinander rieb. Er schaute auf. Ein kleiner Mann mit Pausbacken und stahlgrauem Haar, das fest an seinem Schädel aufgekämmt war, stand am Fenster, rieb seine kleinen, fetten, weißen Hände gegeneinander und gab bei jedem Atemzug ein Schnauben von sich. Andrews bemerkte, dass der Mann ein Geistlicher war.
«Sie sehen schon ganz gut erholt aus, mein Freund», sagte eine singende Geistlichenstimme.
«Nehme schon an, dass ich's bin.»
«Herrlich, herrlich. Aber würden Sie nicht hier mit eintreten?»
Er folgte Andrews und sprach in predigendem Tone:
«Wir wollen ein kleines Gebet sprechen, und dann will ich euch, Jungens, einige interessante Dinge erzählen.»
Die Soldaten schlenderten langsam in das Zimmer, setzten sich auf die Stühle und waren nach einigem Plaudern ruhig. Einige verließen das Zimmer, und andere kamen auf Zehenspitzen herein und setzten sich in die erste Reihe. Andrews sank in einen Stuhl in verzweifelter Resignation, vergrub seinen Kopf in den Händen und starrte auf den Boden vor seinen Füßen.
«Leute», hub die Stimme des Mannes an, «ich will euch Hochwürden Dr. Skinner vorstellen, der», die Stimme des Mannes bebte plötzlich vor tiefer patriotischer Rührung, «gerade von dem Okkupationsheer zurückkehrt.»
Bei dem Wort «Okkupationsheer» klatschten sie alle, als ob eine Feder berührt worden sei und schrieen «hoch».
Ehrwürden Dr. Skinner schaute sich die Versammlung mit lächelndem Vertrauen an und erhob die Hände um Schweigen, so dass man seine dicken, rosigen Handflächen sehen konnte.
«Zuerst, meine lieben Freunde, lasst uns einen Augenblick im stillen Gebet unserem Schöpfer danken.»
Seine Stimme hob sich und fiel, als ob er wie gewöhnlich vor seiner Gemeinde gutgekleideter und gutgenährter Menschen spräche.
«... weil Er uns Sicherheit gewährte und die Beruhigung unserer Betrübnisse, und lasset uns beten, auf dass Er uns gesund an Körper und rein im Herzen unseren Familien, unseren Frauen, Müttern und denen, die voller Sorge auf unsere Rückkehr warten, wiedergebe. Und dass wir den Rest unseres Lebens im treuen Dienst unseres großen Vaterlandes verbringen werden, für dessen Sicherheit und Ruhm wir unsere Jugend als williges Opfer geboten haben... Lasset uns beten.»
Schweigen überzog den Raum. Andrews konnte das selbstbewusste Atmen der Männer um ihn hören und das Rascheln des Schnees auf dem Zinndach. Nach einer langen Pause begann die Stimme wieder in singenden Tönen:
«Vater unser, der du bist im Himmel... Amen!»
Nach dem Amen erhoben alle den Kopf, freudig. Man räusperte sich, Stühle wurden gerückt. Man setzte sich zurecht, um zuzuhören.
«Jetzt, meine Freunde, will ich euch in kurzen Worten einen kleinen Blick in Deutschland hinein tun lassen, so dass ihr euch vorstellen könnt, wie unsere Kameraden von der Besatzungsarmee es sich unter den Hunnen bequem machen. Ich speiste zu Weihnachten in Koblenz. Was haltet ihr davon? Nie hätte ich gedacht, dass ich Weihnachten nicht zu Hause und bei meinen Lieben sein werde. Aber noch unerwartetere Dinge passieren doch auf dieser Welt! Weihnachten in Koblenz unter der amerikanischen Flagge!»
Er hielt einen Augenblick an, um das Ende des einsetzenden Klatschens abzuwarten.
«Der Truthahn war fein, kann ich euch nur sagen. Ja, unseren Jungens in Deutschland, denen geht es sehr gut. Sie warten nur auf den Augenblick, um, wenn nötig, ihren glorreichen Vormarsch nach Berlin fortzusetzen. Denn es tut mir leid, Jungens, sagen zu müssen, dass die Deutschen den von uns erhofften Sinneswechsel nicht vollzogen haben. Sie haben allerdings den Namen ihrer Institutionen verändert, aber den Geist haben sie nicht verändert... Welch' schwere Enttäuschung für unseren großen Präsidenten, der sich so bemüht hat, den Deutschen Vernunft beizubringen, ihnen Verständnis dafür einzuflößen, welche Schrecken sie allein und mit Absicht auf die Welt gebracht haben. Doch wehe, sie sind noch weit davon entfernt. Sie versuchen mit aufrührerischer Propaganda, die Moral unserer Truppen zu unterminieren» — Ehrwürden Dr. Skinner erhob seine fetten, rosigen Hände und lächelte gütig — «die Moral unserer Truppen zu unterminieren, so dass die strengsten Verordnungen dagegen getroffen werden müssen. Ja, in der Tat, meine lieben Freunde, ich fürchte, dass wir zu früh unseren siegreichen Vormarsch eingestellt haben. Jetzt müssen wir wachsam und auf der Hut sein und die Entscheidung der großen Männer abwarten, die in kurzer Zeit zur Konferenz in Paris zusammenkommen werden... Lasset mich, meine lieben Freunde, der Hoffnung Ausdruck geben, dass ihr bald von euren Wunden genesen werdet, bereit seid, freudig Dienst zu tun in den Reihen der glorreichen Armee, die noch für einige Zeit auf der Wacht sein muss, als Amerikaner und Christen die Zivilisation zu verteidigen, die ihr so edel vor einem ruchlosen Feinde gerettet habt... Lasset uns singen.»
Die Leute standen auf, außer einigen, die keine Beine mehr hatten, und sangen den ersten Vers der Hymne. Ehrwürden Dr. Skinner zog seine goldene Uhr heraus und machte ein ärgerliches Gesicht.
«Oh, ich werde den Zug versäumen», murmelte er. Der Diensthabende half ihm in seinen umfangreichen Mantel, und sie beide eilten zur Tür hinaus.
«Der hatte feine Gamaschen an», sagte der Mann ohne Beine, den man in einen Stuhl neben dem Ofen gesetzt hatte.
Andrews setzte sich neben ihn, lachend. Es war ein Mann mit hervorstehenden Backenknochen und mächtigen Kiefern, dessen hellbraune Augen und sanfte Lippen seinem Gesicht einen Ausdruck großer Milde gaben. Andrews schaute nicht auf seinen Körper.
«Einer hat gesagt, dass der vom Roten Kreuz kam und Zigaretten austeilen wollte... haben uns diesmal zum Narren gehalten», sagte Andrews.
«Willst du 'ne Zigarette haben? Ich habe eine», sagte der Mann ohne Beine; mit seiner großen, bleichen, zusammengeschrumpften Hand hielt er ihm die Zigarette hin.
«Danke.» Als Andrews ein Streichholz anzündete, musste er sich über den Mann ohne Beine beugen, um dem auch Feuer zu geben. Sein Blick glitt dabei an der Uniform des Mannes herunter auf die Hosen, die leer vom Stuhl herabhingen. Ein kalter Schauder durchfuhr ihn; er dachte an die Narben auf seinen eigenen Schenkeln.
«Hast du es auch in die Beine bekommen, Kamerad?» fragte der Mann ohne Beine ruhig.
«Ja, aber ich hatte Glück... Wie lange bist du schon hier?»
«Seitdem Christus Korporal war. Zwei Wochen, nachdem wir zuerst an die Front kamen, seitdem bin ich hier... das war am 16. November 1917... habe nicht viel vom Krieg gesehen... habe aber auch sicher nicht viel verpasst.»
«Nein... Aber du hast trotzdem schon genug von der Armee gesehen.»
«Das ist wahr... Der Krieg wäre vielleicht gar nicht so schlimm, wenn es nicht wegen der Armee wäre.» «Du kommst bald nach Hause, nicht?» «Vielleicht... wo kommst du her?» «New York», antwortete Andrews.
«Ich komme von Cranston, Wisconsin. Kennst du das Land da? Viele Seen dort. Man kann dort tagelang Kanu fahren. Es war eine schöne Zeit da... Haben wie die Wilden gelebt. Einmal habe ich eine Fahrt gemacht, drei Wochen lang, ohne überhaupt ein Haus zu sehen. Bist du schon mal so lange Kanu gefahren?»
«Nein, aber es muss sicher herrlich sein, tagelang im Kanu auf dem Wasser zu sein.»
«Morgens, wenn man aufwacht und die Decken abschüttelt, springt man gleich ins Wasser und nimmt ein ordentliches Bad. Donnerwetter, ist das schön, zu schwimmen, wenn der Morgennebel noch auf dem Wasser liegt und die Sonne gerade die Kronen der Birken berührt... und nachdem man den ganzen Tag gepaddelt hat und müde ist und sonnverbrannt ist bis unter die Füße, dann um das Feuer sitzen mit irgendeinem Huhn, das man röstet und das Zischen des Fettes im Feuer hören... Oh, Junge!» Er dehnte seine Arme weit.
«Dieser verdammten kleinen Pfarrsau von vorhin hätte ich den Hals umdrehen mögen», sagte Andrews plötzlich.
«So?» Der Mann ohne Beine wandte seine braunen Augen Andrews mit einem Lächeln zu, «der hat wahrscheinlich genau soviel Schuld wie irgendein anderer... Diese Sorte gibt's sicher in Deutschland auch.»
«Glaubst du etwa, dass wir jetzt der Welt die Demokratie erkämpft haben?» fragte Andrews leise.
«Wie sollt' ich das wissen? Du hast sicher noch niemals einen
Eiswagen durch die Stadt geführt... aber ich hab's getan, einen ganzen Sommer hindurch... Das war ein Leben! Um drei Uhr in der Früh aufstehen und ein- oder zweihundert Pfund Eis in die Eiskästen der Leute tragen. Das war ein Leben! Ich war mit einem großen Norweger namens Olaf, das war der stärkste Kerl, den ich kenne. Und trinken konnte der! Einmal putzte der in einer Tour fünfundzwanzig trockene Martini-Cocktails herunter und schwamm mit den Cocktails im Magen über den See... ich war früher hundertundachtzig Pfund schwer, und er konnte mich mit der einen Hand hochheben und mich über die Schulter legen... Das war ein Leben! Nachts spät ins Bett und morgens früh um drei heraus, frisch wie eine Katze.»
«Was macht dein Freund Olaf jetzt?» fragte Andrews.
«Er starb auf dem Transport hierüber... sie haben ihn über Bord geworfen... Willst du noch eine Zigarette?»
«Nein, danke», sagte Andrews.
Sie schwiegen. Das Feuer rohrte im Ofen. Keiner sprach ein Wort. Die Männer streckten sich schlaftrunken in den Stühlen. Dann und wann spie einer aus. Draußen vorm Fenster konnte Andrews weiche, weiße, tanzende Schneeflocken sehen. Seine Glieder waren schwer; sein Bewusstsein war dumpf wie eine alte Rumpelkammer, wo zwischen alten verrosteten Maschinenteilen und staubigen Koffern haufenweise zerbrochenes Spielzeug liegt.
Unten im Büro, in einer von abgestandenem Bier und Zigarettenrauch stickigen Luft, wartete Andrews lange Zeit, ungeduldig hin und her gehend.
«Was wollen Sie?» fragte ein rothaariger Sergeant, ohne von dem Haufen Papier auf seinem Schreibtisch aufzusehen.
«Ich warte auf meine Reisepapiere.»
«Sind Sie nicht der Mann, dem ich sagte, er soll um drei Uhr wiederkommen?» «Es ist drei Uhr.» «Hm.»
Der Sergeant sagte zu dem Mann an der Schreibmaschine, der sich langsam umwandte: «Geh mal hinein und schau zu, ob der Leutnant die Papiere unterzeichnet hat.»
Der Mann stand auf, dehnte sich unschlüssig und schob sich durch eine Tür neben dem Ofen hinaus. Der rothaarige Sergeant lehnte sich in seinem Armstuhl zurück und steckte sich eine Zigarette an.
«Zum Teufel», sagte er gähnend. Der Mann mit dem Schnurrbart neben dem Ofen ließ das Buch von seinen Knien auf den Boden rutschen und gähnte auch.
«Dieser verdammte Waffenstillstand nimmt einem alle Lust zum Arbeiten», meinte er.
Der andere kam zurück und sank in einen Stuhl vor der Schreibmaschine, die langsam wieder zu ticken begann. Andrews machte ein scharrendes Geräusch auf dem Boden.
«Na, was ist mit den Reisepapieren?» fragte der rothaarige Sergeant.
«Der Leutnant ist nicht da», antwortete der andere von der Schreibmaschine.
«Hat er sie denn nicht auf seinem Tisch zurückgelassen?» rief der rothaarige Sergeant ärgerlich.
«Konnt's nicht finden.»
«Werde wohl wieder selbst gehen müssen, danach schauen!»
Der rothaarige Sergeant stampfte aus dem Zimmer. Einen Augenblick später kam er mit einem Bündel Papiere zurück.
«Sie heißen Johnes?» schnauzte er Andrews an. «Snivisky?»
«Nein, Andrews, John.»
«Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?»
Der Mann mit dem Schnurrbart stand plötzlich auf. Ein demütig lächelnder Ausdruck überzog sein Gesicht.
«Guten Tag, Hauptmann Higginsworth», sagte er freudig. Ein untersetzter Mann mit einer Zigarre, die ihm aus dem breiten Munde heraushing, kam ins Zimmer. Wenn er sprach, wackelte ihm die Zigarre im Munde. Er trug grünliche Glacehandschuhe, sehr eng für seine großen Hände, und seine Gamaschen glänzten wie Mahagoni. Der rothaarige Sergeant wandte sich um und grüßte lässig.
«Sie gehen wohl wieder zu 'nem Vergnügen, Herr Hauptmann?» fragte er.
Der Hauptmann grinste. «Sagt mal, Kerls, habt ihr hier ein paar Rote-Kreuz-Zigaretten? Ich habe nur Zigarren. Man kann doch einer Dame keine Zigarre anbieten.» Der Hauptmann grinste wieder. Ein verständnisvolles Kichern ging durch das Zimmer.
«Genügen einige Päckchen? Ich habe welche hier», meinte der rothaarige Sergeant und öffnete die Schublade seines Schreibtisches.
«Sehr fein.» Der Hauptmann ließ sie in seine Tasche gleiten und schwankte hinaus. Der Sergeant setzte sich wieder an seinen Schreibtisch, mit einem wichtigtuerischen Lächeln.
«Haben Sie die Papiere gefunden?» fragte Andrews zage. «Ich soll den Zug um 4 Uhr 2 nehmen...»
«Kann nichts finden... Sagten Sie nicht, Sie heißen Anderson?»
«Andrews, John Andrews.»
«Da, hier. Warum sind Sie nicht früher gekommen!»

Die scharfe Luft des rauen Winterabends sprühte Andrews entgegen und ließ ein Gefühl der Befreiung in ihn einströmen. Er ging mit schnellen Schritten durch die grauen Straßen der Stadt. Hinter Fenstern glühten schon Lampen rötlich. Er sagte immer wieder zu sich selbst, dass eine Epoche seines Lebens abgeschlossen sei. Befreit fühlte er, dass er nie dieses Hospital oder irgendeinen Menschen daraus wieder sehen würde. Er dachte an Chrisfield. Es war Wochen und Wochen her, seit er wieder an ihn dachte. Jetzt stieg plötzliche Zuneigung zu dem Jungen aus Indiana in ihm auf. Aber er wusste noch nicht einmal, ob Chrisfield noch am Leben war. Eine wilde Freude ergriff ihn. Er, John Andrews, lebte! Was kümmerte es ihn, wenn alle, die er kannte, starben! Es gab amüsantere Gefährten, als er bisher gekannt, klügere Leute, als er bisher gesprochen, stärkere Menschen, von denen er lernen konnte.
Die kalte Luft zirkulierte durch seine Nase und Lungen. Seine Arme dehnten sich stark und kräftig. Er konnte die Muskeln seiner Beine fühlen, wie sie sich streckten und zusammenzogen beim Gehen.
Der Wartesaal des Bahnhofes war kalt und stickig, voll von dem Geruch ausgeatmeter Luft und unreiner Uniformen. Französische Soldaten in ihren langen, blauen Mänteln schliefen auf den Bänken oder standen in Gruppen herum, aßen Brot und tranken aus ihren Bechern. Eine Gaslampe in der Mitte strömte unklares Licht aus. Andrews setzte sich in eine Ecke, verzweifelt und resigniert. Vier Stunden noch musste er auf den Zug warten. Schon schmerzten ihn die Beine, und er fühlte sich erschöpft. Die Freude, das Hospital verlassen und frei durch die Straßen laufen zu können in der leuchtenden Abendluft, wich schnell einer drückenden Verzweiflung. Sein Leben würde weiter diese Sklaverei unreiner Körper sein, zusammengepfercht in Räume, wo die Luft schlecht war vom vielen Atmen. Was bedeutete es nun, dass der Kampf aufgehört hatte! Die Armeen werden fortfahren, Leben mit Leben zu zermalmen, Fleisch in Fleisch zu erdrücken. Würde er je wieder frei dastehen können, wundervolle, fröhliche Stunden zu erleben, welche ihn für all das Furchtbare, das er in dieser Tretmühle ertragen musste, belohnen würden? Er hatte keine Hoffnung. Sein Leben würde weiter so sein, wie dieser schmutzige, schlecht riechende Warteraum, wo Leute in Uniformen in schmieriger Luft schliefen, bis man sie hinausbeordern würde, um dann regungslos und endlos in Reihen zu stehen, wie Spielsoldaten, die ein Kind in einer Dachstube vergessen hat.
Andrews stand plötzlich auf und ging hinaus auf den leeren Bahnsteig. Ein kalter Wind blies. Irgendwo draußen, am Güterbahnhof, ließ eine Lokomotive laut Dampf ab, und Wolken weißen Rauches zogen durch den schwach erleuchteten Bahnhof. Er ging auf und ab, das Kinn in seinen Mantel vergraben und die Hände in den Taschen, als jemand ihn anlief.
«Oh, es tut mir leid», sagte der Mann, ein Amerikaner, und sah Andrews forschend ins Gesicht.
«Tut nichts», meinte Andrews.
«Trinken wir einen zusammen», sprach der andere. «Bin ohne Urlaub fort. Wo gehst du hin?»
«Nach 'm Nest in der Nähe von Bar-le-Duc, zurück zu meiner Division. War im Hospital.»
«Lange?»
«Seit Oktober.»
«Donnerwetter, wollen 'nen Curacao trinken. Wird dir gut tun. Siehst blass aus. Heiße Henslowe.»
Sie setzten sich an einen der ungewaschenen Marmortische.
«Ich gehe nach Paris», sagte Henslowe. «Mein Urlaub ist seit drei Tagen aus. Werd' nach Paris gehen und mich da krank schreiben lassen wegen doppelseitiger Lungenentzündung oder irgend 'ner anderen Geschichte. Dieses Heer ist ja langweilig.»
«Hospital ist auch um nichts besser», antwortete Andrews mit einem Seufzer, «obschon ich niemals die Freude vergessen werde, als ich verwundet wurde und raus war. Dachte damals, es genüge, um nach Hause geschickt zu werden.»
«Ich möchte keinen Augenblick dieses Krieges verpasst haben. Aber jetzt ist's vorbei. Reisen ist heute das Schlagwort. War gerade zwei Wochen in den Pyrenäen. Nîmes, Arles, Les Baux, Carcassonne, Perpignan, Lourdes, Gavarnie, Toulouse. Was hältst du von einer solchen Reise? In was für 'ner Truppe warst du?»
«Infanterie.»
«Das muss ja die Hölle gewesen sein, nicht? Warum kommst du nicht mit mir nach Paris?»
«Will mich nicht erwischen lassen», stammelte Andrews.
«Ach, keineswegs. Kenne die Schliche. Musst nur von den Bahnhöfen wegbleiben, schnell gehen und deine Schuhe immer ordentlich putzen, dass sie richtig glänzen. Und außerdem bist du ja 'n kluger Kerl, was?»
«Nicht so schlimm... Wollen eine Flasche Wein zusammen trinken. Kann man hier nichts zu essen kriegen?»
«Es gibt hier nichts Anständiges. Kann hier nicht aus dem Bahnhof rausgehen, weil ein Militärpolizist draußen vor der Tür auf und ab geht... Aber man kann ja im Marseille-Express zu Abend essen.»
«Aber ich kann doch nicht mit nach Paris... » «Aber sicher. Wie heißt du denn?» «John Andrews.»
«Nun, John Andrews, alles, was ich sage, ist: mach dir 'ne gute Zeit, trotz allem.»
Er setzte die Flasche so hart auf den Tisch nieder, dass sie zerbrach und der rote Wein über den schmutzigen Marmor floss und glitzernd auf den Boden tropfte. Einige französische Soldaten, die in Gruppen herumstanden, wandten sich um.
«V'la un gars qui gaspille le bon vin», schrie ein kleiner Mann mit rotem Gesicht und langem, herabhängendem Schnurrbart.
«Pour vingt sous j'mangerai la bouteille», schrie ein kleiner Mann, schob sich vorwärts und beugte sich trunken über den Tisch.
«Gib acht», sagte Henslowe. «Andrews, der sagt, er will die Flasche hier für einen Franc auffressen...»
Er legte einen glänzenden Silberfranc auf den Tisch, neben die Reste der zerbrochenen Flasche. Der Mann ergriff den Hals der Flasche mit einer schwarzen Hand, die wie eine Klaue aussah. Er war unsagbar schmutzig, hatte einen langen Bart, der wie von Motten zerfressen aussah, und rote Flecken auf den Backen. Seine Uniform war voller Dreck. Als die anderen sich um ihn drängten und ihn davon abzuhalten suchten, sagte er nur: «M'en fou, c'est mon metier» und rollte mit den Augen, so dass das Weiße darin in dem schwachen Licht aussah wie die Augen eines toten Dorsches.
«Er will das wirklich fressen!» schrie Henslowe.
Die Zähne des Mannes glitzerten und krachten dann auf die Ecken des Glases nieder. Es gab ein entsetzliches, knackendes Geräusch. Er schwenkte den Flaschenhals.
«Der frisst das wirklich!» schrie Henslowe brüllend vor Lachen. «Und du fürchtest dich, nach Paris zu fahren.»
Eine Lokomotive ratterte in den Bahnhof, dumpf zischend.
«Das ist der Zug nach Paris. Tiens!»
Er drückte den Franc in die schmutzstarrende Hand des Mannes.
«Komm mit, Andrews.»
Als sie den Raum verließen, hörten sie wieder das knackende Geräusch, da der Mann ein anderes Stück der Flasche abbiss. Andrews folgte Henslowe über den dampferfüllten Bahnsteig zur Tür eines Wagens erster Klasse. Sie kletterten hinein; Henslowe zog sofort das schwarze Tuch über der Lichtglocke hinunter; das Abteil war leer. Er warf sich mit einem Seufzer des Behagens auf die weiche Polsterung des Sitzes nieder.
«Aber was nun?» stammelte Andrews.
«M'en fou. C'est mon metier», unterbrach ihn Henslowe.
Der Zug verließ die Station.

 

3

Henslowe goss Wein aus einem braunen, irdenen Krug in die Gläser, in denen er hellrot glitzerte. Andrews lehnte sich in seinem Stuhl zurück und schaute mit halbgeschlossenen Augen auf den Tisch mit seinem weißen Tischtuch, auf dem kleine verbrannte Brotstückchen ausgestreut waren, und durch die Fenster auf den Platz draußen, wo zitronengelbe Gaslampen spärliches Licht gossen, und auf die dunklen Giebel der kleinen Häuser, die draußen herumhockten. An einem Tisch an der Wand gegenüber saß ein lahmer Junge mit weißem, bartlosem Gesicht und sanften, dunkelfarbigen Augen, nahe bei dem Mädchen, das um ihn war und das nie die Augen von seinem Gesicht ließ. Ein Ofen summte leise in der Mitte des Raumes, und aus der halboffenen Küchentür kam rötliches Licht und das Zischen einer Bratpfanne.
«Ich möchte reisen», sagte Henslowe und dehnte die Worte schläfrig aus. «Abessinien, Patagonien, Turkestan, Kaukasus, irgendwohin und überall hin. Was sagst du dazu, wenn du und ich nach Neuseeland gingen und Schafe züchteten?»
«Aber warum nicht hier bleiben? Nichts kann so schön, so wundervoll wie das hier sein.»
«Ich werde auf 'ne Woche nach Neuguinea fahren. Ich kann nirgendwo mehr bleiben. Es ist mir jetzt im Blut, nach all diesem Mord. Der Krieg hat einen Wanderer aus mir gemacht, einen Abenteurer.»
«Gott, ich wünschte, er hätte aus mir auch so was Interessantes gemacht.»
«Binde an deinen Skrupeln einen Felsen fest und schmeiß das Ganze von der Pont Neuf hinunter in die Seine. Oh, Junge, das ist ja jetzt geradezu das goldene Zeitalter, so nach eigenem Belieben leben zu können!»
«Du bist noch nicht aus der Armee raus?»
«Meine Sorge. Ich trete ins Rote Kreuz ein.»
«Wie?»
«Weiß schon, wie das zu machen ist.»
«Wenn du mir sagst, wie ich aus diesem Heer rauskomme, wirst du mir wahrscheinlich das Leben retten», sagte Andrews ernst.
«Es gibt zwei Wege. Aber ich werde dir später davon erzählen; sprechen wir über etwas Wichtigeres. Du schreibst Musik?»
Andrews nickte und lehnte sich dann in seinen Stuhl zurück.
«Es ist wunderbar ruhig und weich hier», sagte er. «Man vergisst so leicht, dass es überhaupt Freude im Leben gibt.»
«Es ist eine Zirkusparade.»
«Hast du schon etwas Trostloseres als eine Zirkusparade gesehen? Das ist einer jener Witze, bei denen man nicht lachen kann.»
«Justine, encore du vin», rief Henslowe. «So, du kennst ihren Namen?» «Ich lebe hier.»
Justine mit ihren roten Händen, die so viel Geschirr abgewaschen hatten, von dem andere Leute gut gegessen hatten, setzte einen roten Hummer auf den Tisch nieder.
«Weißt du», sagte Andrews plötzlich, schnell und erregt sprechend, während er sich das unordentliche Haar aus der Stirn strich, «ich hätte nichts dagegen einzuwenden, am Ende eines Jahres erschossen zu werden, wenn ich die ganze Zeit hier leben könnte mit einem Klavier und einer Million Blatt Notenpapier... Es würde sich schon lohnen.»
«Aber das hier ist ja ein Platz, um zurückzukehren... Stell dir nur vor... hierher zurückkehren von dem tibetanischen Hochland, wo du fast ertrunken bist und skalpiert wurdest und die Tochter eines afghanischen Häuptlings geliebt hast, die sich die Lippen immer rot einschmierte, so dass ein süßer Geschmack blieb, wenn man sie viel geküsst hat.»
Henslowe strich leicht über seinen kleinen, braunen Schnurrbart
«Aber welchen Wert hat es, die Dinge nur zu sehen und zu fühlen, ohne sie ausdrücken zu können?»
«Welchen Wert hat es überhaupt zu leben? Nur um des Spaßes willen, Mann, verflucht noch mal.»
Sie starrten beide schweigend aus dem Fenster in den Nebel, der sich dicht dagegen gelagert hatte, wie Baumwolle, nur weicher und mit einer grünlich goldenen Farbe.
«Die Militärpolizisten werden uns die Nacht nicht kriegen», sagte Henslowe und schlug mit der Faust auf den Tisch. «Zum Donnerwetter noch mal. Erinnerst du dich an den Mann, der die Weinflasche zerbiss? Der gab um nichts was. Und du sprichst von Ausdrücken. Warum drückst du das nicht aus? Ich denke, das ist der Wendepunkt deines Lebens. Das ließ dich ja nach Paris kommen. Du kannst es nicht ableugnen.»
Sie lachten beide laut. Andrews versuchte, mit den blassen Violettaugen des lahmen Jungen und den dunklen Augen des Mädchens Kontakt zu bekommen.
«Wollen ihnen davon erzählen», sagte er noch lachend, und sein Gesicht, das nach den Monaten im Hospital noch immer blutlos war, rötete sich plötzlich.
«Salut!» rief Henslowe, wandte sich um und erhob das Glas. «Nous rions, parceque nous sommes gris de vin gris!»
Dann erzählte er ihnen von dem Mann, der Glas gegessen hatte. Er stand auf und erzählte gestenreich und langsam, mit seiner gedehnten Stimme. Und Justine lächelte.
«Und Ihr lebt hier?» fragte Andrews, nachdem sie alle gelacht hatten.
«Immer. Nur selten gehe ich in die Stadt. Es ist so schwierig. Mein linkes Bein ist ganz abgestorben!»
Er lächelte wie ein Kind, das von einem neuen Spielzeug erzählt.
«Und du?»
«Wie könnte ich wo anders sein», antwortete das Mädchen. «Es ist ein Unglück, aber es ist so.»
Sie schlug mit der Krücke auf den Boden und machte ein Geräusch, als ob jemand damit ginge. Der Junge lachte und legte den Arm fester um ihre Schulter.
«Ich möchte gern hier leben», sagte Andrews einfach.
«Warum tun Sie es nicht?»
«Aber siehst du denn nicht, dass er Soldat ist?» flüsterte das Mädchen.
Der Junge runzelte die Stirn.
«Er ist es sicher nicht aus freien Stücken», meinte er.
Andrews schwieg. Unsagbare Scham ergriff ihn vor diesen Menschen, die nicht begreifen konnten, dass man sich der Schmach des Soldatseins beugte.
«Die Griechen pflegten zu sagen», meinte er bitter und brauchte ein Wort, das ihm schon lange im Sinn gelegen hatte, «dass, wenn ein Mann Sklave wird, er am ersten Tage die Hälfte seiner Tugend verliert.»
«Wenn ein Mann ein Sklave wird», wiederholte der Lahme sanft, «verliert er am ersten Tage die Hälfte seiner Tugend.»
«Wozu Tugend? Wir brauchen Liebe», sagte das Mädchen.
«Ich habe deine Tomaten gegessen, Freund Andrews», warf Henslowe ein, «Justine wird uns noch welche geben.»

Draußen hatte der Nebel alles ausgelöscht in gleichmäßige Dunkelheit, die stellenweise in der Nähe der spärlichen Straßenlampen gelb und rot gefleckt war. Andrews und Henslowe fühlten ihren Weg tastend die langen Treppenabsätze hinunter
aus der ruhigen Dunkelheit in das unruhige Licht und Geräusch bevölkerter Straßen hinaus. Der Nebel stieg ihnen in die Kehle und strich an ihren Backen vorbei, wie feuchte Hände.
«Warum sind wir von diesem Restaurant fortgegangen? Ich hätte noch gern etwas mehr mit diesen Leuten gesprochen», sagte Andrews, «und wir hatten ja auch noch keinen Kaffee getrunken.»
«Aber Mann, wir sind hier in Paris. Wir werden hier nicht lange bleiben. Wir können uns das nicht leisten, lange Zeit an einem Ort zu bleiben. Schon bald Schluss.»
«Der Junge ist ein Maler. Er sagt, er lebt davon, Spielzeug anzufertigen. Hast du gehört?»
Sie gingen schnell eine große, abschüssige Straße hinunter. Unter ihnen erschien bereits der goldene Glanz eines Boulevards. Andrews fuhr fort zu sprechen, fast zu sich selbst:
«Oh, ein wundervolles Leben müsste es sein, hier oben in einem kleinen Zimmer, von dem aus man die große, graue Ausdehnung der Stadt überschauen kann, zu leben, irgendeine absurde Arbeit, von der man existieren kann, zu haben, und alle freie Zeit mit Arbeiten und Konzertbesuchen ausfüllen. Eine ruhige, weiche Existenz... Denke an mein Leben früher. Sklavenarbeit in diesem eisernen, metallenen, ehernen New York, Artikel über Musik in der Sonntagszeitung schreiben müssen, Gott, und dies... »
Sie setzten sich an einen Tisch in einem lärmenden Cafe.
«Möchtest du das nicht abstreifen?»
Andrews riss an seiner Uniform mit beiden Händen:
«Oh, ich möchte diese Knöpfe über das ganze Cafe fliegen lassen, die Likörgläser zerschmettern, diesen Dandies von französischen Offizieren ins Gesicht, die so stolz über sich selbst aussehen, dass sie lange genug am Leben geblieben sind, um siegreich zu sein.»
Der Kellner war ein feierlicher Mann mit einem Bart, der nach dem Vorbild des Premierministers geschnitten war. Er kam mit einer Flasche, die er vor sich hielt und wie religiös erhob. Er spitzte die Lippen mit dem Ausdruck demütigen Zuvorkommens und goss die weiße, glänzende Flüssigkeit in die Gläser. Als er geendet hatte, hielt er die Flasche auf mit einer tragischen Geste. Nicht ein Tropfen kam heraus. «Es ist das Ende der guten, alten Zeiten!» sagte er.
«Nieder mit den guten, alten Zeiten!» sagte Henslowe. «Ich bin für die guten neuen Zeiten, die wie Zirkusparaden sind!»
«Ich weiß nicht, für wie viele Leute wohl deine Zirkusparaden gut sind», sagte Andrews.
«Wo wirst du die Nacht verbringen?» fragte Henslowe.
«Weiß nicht. Werde wohl schon ein Hotel oder so was Ähnliches finden.»
«Komm doch mit mir und besuche Berte. Die hat sicher Freunde.»
«Ich will allein umhergehen. Nicht, dass ich Bertes Freunde verachte», meinte Andrews. «Aber ich sehne mich so nach Einsamkeit.»

John Andrews ging die Straße hinunter, die voll treibenden Nebels war. Dann und wann fuhr eine Droschke an ihm vorbei und ratterte fort in die Dunkelheit. Verstreute Gruppen von Leuten strömten um ihn, ihre Schritte klangen hohl im Nebel. Es war ihm gleich, welchen Weg er ging; er marschierte weiter, kreuzte breite, menschengefüllte Straßen, wo die Lichter Muster von Gold und Orange auf den Nebel stickten, strich über weite, verlassene Plätze, tauchte in enge Straßen, wo andere Schritte dann und wann einen Augenblick scharf ertönten und wieder erstarben und nichts in seinen Ohren zurückließen, wenn er stillstand, um zu horchen, als das entfernte Atmen der Stadt. Endlich kam er am Fluss herauf, wo der Nebel am dichtesten und kältesten war, und wo er das Wasser an den Pfeilern der Brücke vorbeigurgeln hören

konnte.
Die Lichter flammten auf und verblassten, glühten und verblassten, wie er weiterschritt, und manchmal konnte er sogar die nackten Zweige von Bäumen erkennen, in den Lichtstreifen der Lampen. Der Nebel liebkoste ihn beruhigend, und Schatten schnellten an ihm vorbei, ließen ihn die sanften Kurven von Wangen und aus dem Nebel und der Dunkelheit heraus glänzende Augen erkennen. Freundliche, vertraute Menschen schienen den Nebel bevölkert zu haben. Das ferne Murmeln der Stadt traf auf sein Ohr wie der Laut von Freundesstimmen.
Von dem Mädchen an einem Kreuzweg, singend unter den Lampen der Strasse und Rosen zerpflückend ... all die Wünsche deiner Phantasie...
Das murmelnde Leben um ihn herum setzte sich in lange,
modulierte Sentenzen um, Sentenzen, die ihm ein Gefühl ruhigen Wohlseins gaben, als ob er auf ein Basrelief schaue, das tanzende, aus Porzellan geformte Menschen in irgendeiner attischen Werkstatt darstellt.
Einmal blieb er stehen und beugte sich eine Weile gegen den mit Feuchtigkeit behangenen Pfahl einer Laterne. Zwei Schatten formten sich beim Zugehen auf ihn zu den Gestalten eines lahmen Jungen und eines barhäuptigen Mädchens, die eng umschlungen waren. Der Junge hinkte ein wenig, und seine Sammetaugen schauten sehnsüchtig aus. John Andrews war plötzlich voll pochender Erwartung, als ob die beiden auf ihn zukommen würden und ihre Hände auf seine Arme legen und irgendein Geheimnis von ungeheurer Bedeutung für sein Leben enthüllen würden. Aber als sie in den vollen Schein der Lampe traten, sah Andrews, dass er sich geirrt hatte. Es waren nicht der Junge und das Mädchen, mit denen er gesprochen hatte.
Er ging eilig fort und tauchte in winklige Straßen unter, wo er über das holprige Pflaster schritt und dann und wann durch das Fenster eines Ladens im Licht eine Gruppe von Menschen erschaute, die ruhig am Tisch unter der Lampe saßen, oder er blickte in eine Bar hinein, wo ein müder kleiner Junge mit schweren Augenlidern und aufgerollten Ärmeln, die graue Arme sehen ließen, Gläser abwusch, oder eine alte Frau, ein formloses Bündel schwarzer Kleider, den Fußboden fegte. Aus Torbogen hörte er Sprechen und sanftes Lachen. Fenster sandten von oben gelbe Strahlen von Licht durch den Nebel. In einem Torbogen zeigte das vage Licht einer Lampe zwei Gestalten, die in enger Umarmung in eins wuchsen. Als Andrews vorbeiging und seine schweren Armeestiefel laut auf das nasse Pflaster schlugen, hoben sie ihre Köpfe langsam. Der Junge hatte Sammetaugen und blasse, bartlose Wangen, das Mädchen war barhäuptig und blickte mit ihren braunen Augen unablässig in das Gesicht des Jungen. Andrews' Herz schlug wie wild. Endlich hatte er sie gefunden! Er machte einen Schritt auf sie zu und ging dann schnell weiter, sich ganz im kühlen, verschwimmenden Nebel verlierend. Wieder hatte er sich geirrt. Der Nebel wirbelte um ihn herum, verbarg sehnsüchtige, freundliche Gesichter; Hände, bereit, seine zu ergreifen, Augen, bereit, in seinen Blicken zu leuchten, Lippen, noch kalt vom Nebel und ganz bereit, von seinen Lippen berührt zu werden: Von dem Mädchen an einem Kreuzweg, singend unter den Lampen der Strasse...
Und er ging fort, weiter, allein durch den treibenden Nebel.

 

4

Andrews verließ die Station unwillig, zitterte in dem grauen Nebel, in dem die Häuser der Dorfstraße und die Reihen der Motorlastzüge und die wenigen Gestalten der französischen Soldaten, die in langen, formlosen Mänteln herumstanden, wie dunkle, unbestimmte Flecken in dem wirren Dämmerlicht erschienen. Sein Körper fühlte sich dumpf und stickig an von einer Nacht, die er in der warmen, fettigen Luft eines überfüllten Eisenbahnabteils verbracht hatte. Er gähnte und dehnte sich und stand unentschlossen in der Mitte der Straße, sein Gepäck auf den Schultern. Außer Sichtweite, hinter der dunklen Masse des Stationsgebäudes, pfiff eine Lokomotive, und ein Zug ratterte ab in die Ferne. Andrews horchte auf den schwachen Rhythmus des Fahrens mit einem kranken Gefühl der Verzweiflung. Es war der Zug, der ihn von Paris zurück zu seiner Division gebracht hatte.
Er ging ziellos eine Weile durch die Stadt, hoffte ein Café zu finden, wo er einige Minuten sitzen könnte, um einen letzten Blick auf sich selbst zu werfen, ehe er wieder in die fürchterliche Atmosphäre dieses Armeelebens untertauchen würde. Nicht ein Licht zeigte sich. Alle Läden der kleinen Häuser waren geschlossen. Mit missmutigen, unlustigen Schritten ging er die Straße hinunter, die man ihm gewiesen hatte. Über ihm der Himmel klärte sich auf und zerstreute den Nebel, der schwer über der Erde hing, nach allen Seiten in großen, undeutlichen Wellen. Seine Schritte tönten hart auf dem gefrorenen Weg. Gelegentlich tauchte aus dem Nebel die Silhouette eines Baumes am Wegrande auf, dessen Äste klar und rötlich im Sonnenlicht standen.
Andrews sagte zu sich selbst, dass der Krieg vorbei sei und dass er in einigen Monaten auf jeden Fall frei sein werde. Was machten ein paar Monate mehr oder weniger schon aus! Aber diese
Gedanken wurde von der blinden Panik fortgeschwemmt, die über ihn hinwegging wie die wilde Flucht aufgescheuchter Büffel. Da gab es keine Gegenargumente. Sein Bewusstsein war so mit Revolte erfüllt, dass sein Fleisch schmerzte und ihm schwarze Flecken vor den Augen tanzten. Einen Augenblick dachte er daran, ob er vielleicht verrückt geworden sei. Enorme Pläne stiegen im Tumult seines Bewusstseins auf und lösten sich dann plötzlich wie Rauch im Winde. Man muss fortlaufen, und wenn man gefangen wird, Selbstmord begehen. Man muss eine Meuterei in seiner Kompanie anfangen, durch seine Worte die Kameraden zur Raserei treiben, dass sie den Gehorsam verweigern, dass sie die Offiziere auslachen, wenn diese ihnen mit rotem Gesicht Befehle entgegenschreien; die ganze Division muss über die froststarrenden Hügel fortmarschieren ohne Waffen, ohne Flaggen; alle Soldaten, alle Armeen aufrufend, sich anzuschließen, weiter zu marschieren, singend, um den Nachtmahr des Krieges aus dem Blut herauszulachen. Das Bewusstsein des Menschen, in einem Blitzstrahl der Erleuchtung wird es wieder zum Leben erwachen! Welchen Sinn hatte es, den Krieg zu beenden, wenn es weiter noch Heere gab?
Aber das war ja alles Rhetorik. Sein Bewusstsein ertränkte sich in Rhetorik, um gesund zu bleiben. Sein Bewusstsein spritzte Rhetorik aus wie ein Schwamm, um nicht dem Irrsinn Antlitz in Antlitz gegenüberzustehen.
Die ganze Zeit tönten seine harten Schritte auf der gefrorenen Straße in seinen Ohren, brachten ihn näher und näher zu der Stadt, wo die Division einquartiert war. Er kletterte einen langen Hügel hinauf. Der Nebel wurde dünner um ihn und glänzte im Sonnenlicht. Dann schritt er in der vollen Sonne über den Kamm eines Hügels, den fahlen, blassgelben Himmel über sich. Hinter ihm und vor ihm füllte der Nebel die Täler. In dem Tal zu seinen Füßen konnte er im Schatten des Hügels, auf dem er stand, einen Kirchturm und einige Dächer sehen, die aus dem Nebel wie aus einem Meer herausragten. Zwischen den Häusern riefen Signale zum Essen. In der Dorfstraße traf Andrews einen Mann, den er nicht kannte und fragte ihn, wo das Büro sei. Der Mann, der irgend etwas kaute, wies schweigend auf ein Haus mit grünen Läden auf der gegenüberliegenden Seite der Straße.
An einem Pult saß Chrisfield und rauchte eine Zigarette. Als
er aufsprang, bemerkte Andrews, dass er die beiden Streifen des Korporals auf seinem Ärmel hatte. «Hallo, Andy!»
Sie schüttelten sich warm die Hände.
«Wie geht's?»
«Fein», sagte Andrews.
Eine plötzliche Bangigkeit überfiel ihn.
«Du bist jetzt Korporal. Gratuliere.»
«Hm, hm, schon 'nen Monat her.»
Sie schwiegen. Chrisfield saß wieder in seinem Stuhl.
«Was für 'ne Stadt ist das hier?»
«Das ist 'n Mistloch hier, dieser Schutthaufen. Ein richtiges Mistloch. Werden bald weitermarschieren. Okkupationsarmee. Aber das hätte ich dir nicht sagen dürfen. Sag's bestimmt nicht weiter.»
«Wo liegt unsere Abteilung?»
«Du wirst sie nicht wieder erkennen. Wir haben fünfzehn Neue.»
«Gibt's Zivilisten in der Stadt?»
«Aber sicher. Komm mit mir, Andy... Aber warte noch 'n Augenblick. Dann werden wir um das Exerzieren rumkommen. Findet seit dem Waffenstillstand jeden Tag statt. Haben Befehl gegeben, den Drill zu verdoppeln.»
Sie hörten draußen eine Stimme, die Befehle ausschrie, und die enge Straße füllte sich plötzlich mit dem Lärm von Stiefel, die im Gleichschritt auf dem Boden klangen. Andrews blieb mit dem Rücken gegen das Fenster stehen. Irgend etwas in seinen Beinen schien mit den anderen Beinen da draußen mitzugehen.
«Da marschieren sie ab», sagte Chrisfield. «Der Leutnant ist heute mit ihnen. Willst du was zu essen?»

Die Marketenderstube war leer und dunkel. Andrews saß an einem Klavier, ohne zu spielen. Er dachte daran, wie er einst die ganze verkrampfte Einsamkeit seines Lebens hatte ausdrücken wollen. Unbewusst, wie er daran dachte, hatten die Finger der einen Hand einen Akkord gesucht, der auf dem verstimmten Klavier wie ein Rasseln klang. «Gott, wie dumm», murmelte er laut und zog seine Hände weg. Plötzlich begann er abgebrochene Bruchstücke von Dingen, die er kannte, zu spielen. Er veränderte den Rhythmus willkürlich, mischte Fetzen von Ragtimes hinein, plötzlich hörte er auf und begann im Ernst zu spielen. Hinter ihm ertönte ein Husten, das einen künstlichen, diskreten Unterton hatte. Er spielte fort, ohne sich umzusehen. Dann sagte eine Stimme: «Wunderbar, wunderbar.» Andrews wandte sich um und sah in ein dreieckig geformtes Gesicht mit breiter Stirn und hervorstehenden Augenbrauen.
«Oh, fahren Sie fort zu spielen, es ist schon Jahre her, dass ich Debussy nicht gehört habe.»
«Es war nicht Debussy.»
«So, es war nicht Debussy? Es war trotzdem wunderschön. Fahren Sie fort. Ich werde hier stehen und zuhören.»
Andrews fuhr einen Augenblick fort, zu spielen, machte einen Fehler, begann wieder, machte denselben Fehler, schlug auf die Tasten mit den Fäusten und wandte sich um.
«Kann nicht spielen», sagte er.
«Oh, Sie können, mein Junge. Wo haben Sie es gelernt? Ich würde eine Million Dollars zahlen, um so spielen zu können wie Sie.»
Andrews sah ihn schweigend an.
«Sie kommen wohl gerade aus dem Hospital zurück?»
«Ja.»
«Sehen Sie, wir müssen versuchen, uns richtig gut kennen zu lernen. Mein Name ist Spencer Sheffield. Spencer B. Sheffield... Und außer Ihnen und mir gibt es in der ganzen Division keine Seele, mit der man sprechen kann. Es ist schrecklich, keine intellektuellen Leute um sich zu haben. Sie kommen wohl aus New York?»
Andrews nickte.
«Soso, ich auch. Sie haben wahrscheinlich einige meiner Sachen im <Vain Endeavon gelesen... Was, Sie haben nie den <Vain Endeavor> gelesen? Sie haben wohl nicht viel in intellektuellen Kreisen verkehrt? Kommt bei Musikern übrigens oft vor.»
«Bin nie in <Kreisen> herumgekommen. Und ich werde auch nie...»
«Wir werden die Sache schon in Ordnung bringen, wenn Sie nach New York zurückkommen. Und jetzt setzen Sie sich nochmals ans Klavier und spielen Sie mir Debussys Arabesque. Ich weiß, Sie lieben das ebenso wie ich. Aber zunächst, wie ist Ihr Name?»
«Andrews.»
«Ihre Leute kommen wohl aus Virginia?» «Ja.»
Andrews stand auf.
«Dann sind Sie mit den Penneltons verwandt?»
«Vielleicht bin ich auch mit dem Kaiser verwandt.»
«Wissen Sie, meine Mutter war ein Fräulein Spencer aus Spencer-Falls, Virginia, und Ihre Mutter war ein Fräulein Pennelton, also sind Sie und ich Cousins. Ist das nicht ein Zufall?»
«Ja. Aber ich muss wieder zu den Baracken zurück.»
«Kommen Sie öfters hierher!» rief Spencer B. Sheffield ihm nach. «Und klopfen Sie zweimal an, damit ich weiß, wer es ist.»
Vor dem Hause, wo er einquartiert war, traf Andrews den neuen Sergeanten, der ihm einen Brief übergab. Der Brief war von Henslowe.
«Andy», begann der Brief, «ich habe endlich die Erlaubnis. Der Kursus beginnt am 15. Februar. Reiche sofort ein Gesuch ein, an der Universität Paris irgend etwas studieren zu können. Lüge zusammen, was Du kannst. Poussiere die Sergeanten, Leutnants und ihre Freundinnen und Wäscherinnen. Dein Henslowe.»
Sein Herz hüpfte vor Aufregung. Andrews lief hinter einem Sergeanten her, an einem Leutnant vorbei, ohne ihn zu grüßen.
«Was soll das heißen?» schnarrte der.
Andrews salutierte und stand stramm.
«Warum haben Sie mich nicht gegrüßt?»
«Ich war in Eile und sah Sie nicht. Ich habe Dringendes für die Kompanie zu erledigen, Herr Leutnant.»
«Sie brauchen nicht zu denken, dass Sie aus der Armee raus sind, weil der Waffenstillstand unterzeichnet ist! Rühren!»
Andrews salutierte. Der Leutnant grüßte.
Er wandte sich schnell auf den Hacken um und ging weg. Andrews erreichte den Sergeanten.
«Sergeant Coffin, kann ich Sie einen Augenblick sprechen?»
«Ich hab's sehr eilig.»
«Haben Sie schon etwas davon gehört, dass man Erlaubnis kriegen kann, hier auf einer französischen Universität zu studieren?»
«Wird nicht stimmen. Eine solche Mitteilung ist nicht eingegangen.»
«Da können Sie schon recht haben.»
Die Straße war dunkelgrau. Ein Gefühl entsetzlichster Hilflosigkeit überkam Andrews. Verzweiflung und Rebellion stieg in ihm auf. Er hastete die Straße hinunter, zu dem Gebäude, wo die Kompanie einquartiert war. Es war schon zu spät zum Essen. Die graue Straße war leer. Ein Fenster strömte rötliches Licht aus und warf auf die Mauer des gegenüberliegenden Hauses einen großen, glühenden Schein.
«Wenn du mir nicht glaubst, frag den Leutnant... Unsere Leute haben heißere Arbeit getan, als diese verdammten Trainschweine. Nicht, Toby?»
Toby war gerade in das Cafe hereingekommen, ein großer Mann mit einem braunen Bulldoggengesicht und einer Narbe auf der linken Wange. Er sprach langsam und feierlich in südlichem Dialekt.
«Denke schon», war alles, was er sagte. Er setzte sich auf die Bank neben dem anderen Manne, der fortfuhr:
«Das will ich meinen, dass du denkst... Ihr Schipper habt keine Ahnung davon, was da los war.»
«Schipper!» Der Ingenieur schlug mit der Faust auf den Tisch. Sein mageres Gesicht, das voller Pickel war, wurde wild-rot:
«Wir haben wahrscheinlich nicht halb so viel Gräben ausgehoben wie ihr Infanteristen. Und wenn wir sie aushoben, krochen wir nicht rein und blieben nicht darin wie verdammte, feige Kaninchen.»
«Ihr Kerls kommt nicht genügend nahe an die Front.»
«Wie ihr verdammten, feigen Kaninchen!» schrie der Ingenieur, und sein Pickelgesicht verzerrte sich im Lachen. «Ist das vielleicht nicht wahr?»
Er schaute sich im Zimmer um, um seine Worte bestätigt zu bekommen. Die Bänke an den beiden langen Tischen waren voll von Infanteristen, die ihn ärgerlich anschauten. Das veranlasste ihn, seine Stimme ein wenig zu dämpfen.
«Infanterie ist verflucht notwendig. Gebe das zu. Aber wo würdet ihr Kerls sein, wenn wir euch nicht die Telefonleitungen gelegt hätten!»
«Im Oregonwald, wo wir waren, mein Junge, da gab's keine Telefonleitungen. Wozu braucht man Telefonleitungen, wenn man vorgeht. Schau her... Ich wette eine Flasche Cognac, dass meine Kompanie mehr Verluste als deine hatte.»
«Nimm die Wette an, Joe!» warf Toby ein, ein plötzliches Interesse an der Unterhaltung bekundend. «Gut, es sei.»
«Wir hatten fünfzehn Tote und zwanzig Verwundete», verkündete der Ingenieur triumphierend.
«Wie schwer verwundet?»
«Was geht's dich an? Gib den Cognac her.»
«Was mich's angeht? Zum Teufel, wir hatten auch fünfzehn Verwundete und zwanzig Tote. Nicht wahr, Toby?»
«Ich denke schon, du hast recht», meinte der.
«Hab ich etwa nicht recht?» fragte der andere Mann und wandte sich an die Umsitzenden.
«Sicherlich! Du hast recht!» schrieen verschiedene.
«Dann bleibt die Sache unentschieden», meinte der Ingenieur.
«Nein», warf Toby ein. «Wir müssen die Verwundeten vergleichen. Der, der die schlimmsten Verwundeten hat, bekommt den Cognac. Ist das etwa nicht fair?»
«Sicher.»
«Sieben von uns wurden schon nach Hause geschickt!» brüllte der Ingenieur.
«Von uns acht! Nicht wahr?»
«Sicher!» grölten alle im Zimmer.
«Wie schlimm waren sie verwundet?»
«Zwei von ihnen waren blind», stellte Toby fest.
«Das ist nischt!» polterte der Ingenieur und sprang auf, als ob er beim Poker einen Trick legen wolle. «Bei uns wurde einer ohne Arme und Beine nach Hause geschickt, und drei bekamen Lungenschwindsucht vom Gas.»
John Andrews hatte in einer Ecke des Zimmers gesessen. Er stand auf.
«Das ist nischt! Das ist nischt! Einem unserer Sergeanten musste eine neue Nase aufgepfropft werden...»

Die Dorfstraße war voll tiefen Schlammes. Andrews wanderte auf und ab, ziellos. Schließlich entschloss er sich, zu Sheffield zu gehen. Er klopfte zweimal an und hoffte fast, es würde keine Antwort kommen. Sheffields winselnde, heisere Stimme fragte: «Wer ist da?» «Andrews.»
«Kommen Sie nur herein. Sie wollte ich gerade sehen.»
Spencer Sheffield saß an einem kleinen Pult in einem Zimmer, dessen Wände aus ungehobelten Brettern und einem kleinen Fenster bestanden. Hinter dem Pult waren haufenweise Kekspackungen und Zigarettenschachteln aufgebaut.
Andrews sah sich nach einem Stuhl um.
«Oh, ich vergaß ganz, ich sitze ja auf dem einzigen Stuhl hier im Zimmer», sagte Spencer Sheffield lachend.
«Oh, schon gut. Was ich Sie fragen wollte: wissen Sie etwas über...»
«Kommen Sie doch mit mir in mein Zimmer», unterbrach ihn Sheffield, «ich habe ein nettes, kleines Zimmerchen mit einem offenen Feuer, gerade neben dem Zimmer von Leutnant Bleezer... und da werden wir über alles sprechen... Ich sterbe fast vor Ungeduld, mal mit jemand über geistige Dinge zu reden.»
«Wissen Sie etwas davon, dass Leute ausgesucht und auf französische Universitäten geschickt werden sollen?»
«Oh, das ist ja ein fabelhafter Plan. Es gibt in der ganzen Welt nur eine einzige amerikanische Regierung, Junge, keine andere würde an so was denken.»
«Aber haben Sie eigentlich etwas davon gehört?»
«Nein; aber ich werde sicher was davon hören... würden Sie vielleicht das Licht anknipsen?... So, nun folgen Sie mir... wir können jetzt ein schönes Gespräch miteinander haben. Sie müssen mir alles erzählen.»
«Aber wissen Sie denn wirklich nichts über die Universitätsahngelegenheit? Man sagt, der Kursus soll schon am fünfzehnten Februar beginnen», begann Andrews wieder mit leiser Stimme.
«Ich werde Leutnant Bleezer fragen, ober etwas davon weiß», sagte Sheffield beruhigend, legte einen Arm vertraulich um Andrews Schulter und schob ihn in die Tür hinein. Sie gingen durch einen dunklen Flur in ein kleines Zimmer, wo ein Feuer leuchtend im Herd brannte und einen viereckigen schwarzen Tisch aus Walnussholz und zwei leere Lehnstühle, die mit Leder gepolstert waren, flackernd erhellte.
«Sind Sie schon lange in Frankreich?» fragte Andrews und ließ sich in einen der Stühle am Feuer nieder. «Wollen Sie rauchen?» Er bot Sheffield eine verkrumpelte Zigarette an.
«Nein, danke, ich rauche nur Spezialsorten. Ich habe ein schwaches Herz. Deswegen wurde ich auch bei der Armee nicht angenommen. Aber dass Sie Soldat geworden sind, das ist herrlich von Ihnen. Es war immer mein Traum, das zu tun, mich in diesen namenlosen, marschierenden Zug einzureihen.»
«Ich meinerseits denke, es war verdammt närrisch, um nicht zu sagen, verbrecherisch», meinte Andrews dumpf, indem er lange in das Feuer starrte.
«Das kann nicht Ihr Ernst sein. Oder meinen Sie etwa, dass Sie Fähigkeiten hätten, die für Ihr Vaterland in einer anderen Stellung wertvoller gewesen wären?... Ich habe viele Freunde, die so fühlten.»
«Nein... Ich glaube, dass es unrecht von einem Menschen ist, sich selber zu betrügen... Ich glaube, dass diese Menschenschlächterei keinen Sinn hat... Ich habe so gehandelt, als ob ich glaubte, sie habe einen Sinn... aus Nachlässigkeit oder Feigheit... Eines oder das andere... das ist schlecht.»
«Sie müssen nicht so sprechen», sagte Sheffield eilig. «Sie sind also Musiker, nicht wahr?» Er fragte diese Frage mit einem heiter-vertraulichen Ausdruck.
«Pflegte früher ein wenig Klavier zu spielen. Wenn Sie das meinen...» sagte Andrews. «Aber ich muss jetzt gehen. Wenn Sie etwas von der Universitätsahngelegenheit hören, benachrichtigen Sie mich bitte.»
«Aber gewiss, mein Lieber, gewiss.»
Sie schüttelten sich die Hand und Andrews stolperte den dunklen Gang hinunter zur Tür. Als er in der rauen Nachtluft stand, sog er den Atem tief ein. Im Licht, das aus einem Fenster herauskam, sah er auf seine Uhr. Es war noch Zeit, zum Büro des Regimentssergeanten zu gehen.
Das Regimentsbüro befand sich in einem großen Zimmer, das einst mit düsteren und schlecht gemalten Bildern in der Art von Puvis de Chavannes geschmückt war, aber die Wände waren von den fünf Jahren militärischer Benutzung so zerkratzt und beschmutzt, dass überhaupt nichts mehr von den Bildern erkennbar war.
Das Büro war fast leer. Die mit Papieren aller Art bedeckten Schreibtische und die schweigenden Schreibmaschinisten verliehen dem Zimmer ein seltsames Aussehen völliger Trostlosigkeit. Andrews ging kühn an den nächsten Schreibtisch heran. Hinter dem Tisch saß zusammengekauert über einem Haufen von Papieren ein kleiner Mann mit wenigen gelblichen Haaren, der seine Augen zu Andrews hinaufschraubte, als dieser an seinen Tisch herantrat.
«Na, hast du mir die Sache in Ordnung gebracht?» fragte er.
«Welche Sache?» erwiderte Andrews.
«Oh, ich dachte, du wärst ein anderer.» Das Lächeln verließ die dünnen Lippen des Offiziers. «Was willst du eigentlich?»
«Können Sie mir sagen, was man in der Universitätsahngelegenheit tun kann? Wo man das Gesuch einreichen kann?»
«Gesuch, Gesuch! Was geht mich Ihr Gesuch an. Wer hat Ihnen denn eigentlich gesagt, hierher zu kommen und mich damit zu belästigen?»
Andrews verließ das Zimmer. Plötzlich erhob er die Augen und sah vor sich einen Mann, der ihm schon vorhin im Regimentsbüro aufgefallen war.
«Welche Universität haben Sie besucht?» fragte der ihn unvermittelt.
«Harvard.»
«Harvard... Ich komme aus dem Nordwesten. Sie wollen also hier in Frankreich zur Universität gehen, wenn möglich. Ich auch.»
«Wollen Sie nicht mitkommen und was trinken?»
Der Mann zog die Brauen zusammen, setzte seine Mütze fest auf den Kopf und sah sich geheimnisvoll um. «Ja», sagte er. Sie patschten zusammen die schlammige Dorfstraße hinunter.
«Ich heiße Walters. Wie heißen Sie?» Er sprach leise, kurz und abgerissen.
«Andrews.»
«Andrews, Sie dürfen über diese Sache nicht reden. Wenn jemand davon erfährt, sind wir unten durch. Aber studierte Leute müssen zusammenhalten.»
«Oh, ich werde bestimmt nicht darüber reden», sagte Andrews.
«Es ist fast zu schön, um wahr zu sein. Der eigentliche Befehl ist noch nicht raus. Aber ich habe ein Zirkular gesehen. Welche Universität wollen Sie besuchen?»
«Sorbonne, Paris.»
«So ist's richtig. Kennen Sie das hintere Zimmer bei der Baboon?» Walters bog plötzlich zur Linken in eine Allee ein und brach durch eine Öffnung in einer Hagedomhecke.
«Man muss Augen und Ohren offen halten, wenn man in dieser Armee etwas erreichen will», sagte er.
Sie setzten sich auf eine Bank, die um den Schornstein herumgebaut war.
«Monsieur désire?» Eine Frau mit einem Kind auf dem Arm kam an sie heran.
«Das ist Babette! Ich nenne sie Baboon», sagte Walters mit einem kurzen Lachen.
«Schokolade!» rief Walters der Frau zu. Er wandte sich wieder an Andrews. «Jetzt wollen wir mal über unsere Affäre reden. Wir müssen sofort ein Gesuch schreiben. Ich werde das morgen mit der Schreibmaschine abschreiben lassen und Sie morgen Abend um acht Uhr hier treffen und es Ihnen geben..., dann unterschreiben Sie es sofort und geben es Ihrem Sergeanten, verstanden?»
Die Frau, diesmal ohne Kind, erschien in dem Dunkel des Zimmers mit einer Kerze und zwei Schalen, aus denen Dampf stieg, in der Hand. Walters trank seine Schale Schokolade in einem Zug aus, grunzte und fuhr zu sprechen fort:
«Geben Sie mir 'ne Zigarette, ja?... Sie müssen aber die Geschichte verdammt schnell erledigen, denn sobald der Befehl herauskommt, wird die ganze Division behaupten, sie habe die Universität besucht. Woher wussten Sie eigentlich davon?»
«Ein Freund aus Paris...»
«So, Sie waren in Paris?» sagte Walters bewundernd, «ist es dort wirklich so, wie man sagt? Diese Franzosen sind tatsächlich ganz unmoralisch. Schauen Sie sich mal diese Frau da an. Die schläft mit jedem, ohne erst lange zu fragen. Hat auch ein Kind.»
«Wem muss man eigentlich das Gesuch abgeben?»
«Wahrscheinlich dem Oberst. Sind Sie katholisch?»
«Nein.»
«Ich auch nicht. Sehr schade. Haben Sie schon bemerkt, was im Hauptquartier der Division getrieben wird? Das ist eine richtige Kathedrale. Gibt keinen einzigen Freidenker... Aber ich werd's schon schaffen... Wenn Sie mich auf der Straße treffen, kennen Sie mich nicht, verstehen Sie?»
«Gut.»
Walters eilte zur Tür hinaus. Andrews saß allein, schaute auf die flackernden kleinen Flammen, die aus dem Herd herauszüngelten und schlürfte seine Schokolade aus der warmen Schale, die er zwischen den Handflächen hielt. Er erinnerte sich an eine Rede aus irgendeinem sehr schlechten romantischen Stück, das er gesehen hatte, als er noch sehr klein war: «Über euren Köpfen schwinge ich das Kreuz von Rom.» Er begann zu lachen und rutschte auf der glatten Bank hin und her. Die Frau stand mit ihrem roten Gesicht und den Händen in die Hüften gestützt, da, sah ihn an, erstaunt, während er lachte und lachte.
«Mais quelle gaité, quelle gaité», sagte sie immer wieder.
Das Stroh unter seinem Körper raschelte schwach bei jeder schläfrigen Bewegung, die Andrews in seinen Decken machte. In einer Minute wird das Signal kommen, man wird aufspringen müssen aus seinen Decken, seine Kleider anziehen und mit all den anderen in der Dorfstraße antreten. Es konnte doch nicht sein, dass nur ein Monat vergangen war, seit er aus dem Hospital zurückgekommen war. Nein, er hatte schon ein ganzes Leben in diesem Dorfe verbracht, war jeden Morgen von diesem Signal aus seinen warmen Decken herausgeschleppt worden, hatte zitternd in Reih und Glied auf den Appell gewartet, in langer Linie sich aufgestellt zum Essenholen, in langer Linie sich eingereiht, um die Essenreste in die Trankfässer zu werfen, sein Geschirr in dem fettigen Wasser zu waschen, das hundert andere vorher für ihr Geschirr benutzt hatten, war aufmarschiert zum Drill, schlammige Straßen entlanggetrottet, von endlosen Zügen von Lastkraftfahrzeugen bedreckt noch zweimal zum Essen angestanden, um schließlich von einem anderen Signal wieder in seine Decken hineingezwungen zu werden, schwer zu schlafen mit dem Geruch schweißiger wollener Kleidung, ausgeatmeter Luft und staubiger Decken in den Lungen. In einem Augenblick wird das Signal jetzt kommen, ihn sogar aus diesen elenden Gedanken herausreißen und ihn wie einen Automaten herauswerfen in den Befehlsbereich anderer Männer. Kindische, trotzige Wünsche stiegen in ihm auf. Wenn der Signalbläser doch sterben würde! Er konnte sich ihn so gut vorstellen! Ein kleiner Mann mit einem breiten Gesicht und roten Backen und einem kleinen rötlichen Schnurrbart und gebogenen Beinen, der auf seiner Decke wie ein Kalb auf der Marmorplatte in einem Fleischerladen lag. Welcher Unsinn! Es gab ja noch andere Signalbläser. Er wunderte sich, wie viele solcher Signalbläser es wohl in dieser Armee geben mochte. Er konnte sie sich alle vorstellen in schmutzigen, kleinen Dörfern, in steinigen
Baracken, in großen Lagern, wie sie ihren kleinen Messinghörnern einen vorbereitenden Schlag geben, bevor sie ihre Backen aufblasen und einer Million — oder waren es zwei oder drei Millionen Menschen? — das Leben stehlen und warme Körper in rohe Automaten verwandeln, die geschäftig gehalten werden müssen, damit sie nicht störrisch werden, bevor die Mordzeit wieder da ist. Das Horn tönte.

Nach dem Dienst klopfte Andrews an Sheffields Tür an.
«Was ist los, Junge? Sie sehen ja aus, als ob es mit Ihnen zu Ende ginge», sagte Sheffield und bat Andrews, einzutreten. Andrews hatte sich in einen Stuhl fallen lassen und saß, mit seinem Gesicht in den Händen vergraben, schaute durch die Finger auf das Feuer, plötzlich stand er auf und schrie schrill: «Ich kann dieses Leben nicht mehr ertragen! Hören Sie! Keine überhaupt ausdenkbare Zukunft ist dies wert! Wenn ich jetzt nach Paris kann — gut. Wenn nicht, desertiere ich, und alles ist mir ganz gleich.»
«Aber ich habe Ihnen doch schon versprochen, alles zu tun, was ich kann.»
«Gut. Dann tun Sie es jetzt», unterbrach ihn Andrews brutal. «Wenn Sie wollen — ich werde zum Oberst gehen und ihm erzählen, was für ein großer Musiker Sie sind.» «Gehen wir jetzt zusammen!»
«Es wird aber sehr komisch aussehen, mein Lieber.» «Ist mir ganz gleichgültig. Sie können mit ihm sprechen. Sie scheinen ja mit allen Offizieren gut Freund zu sein.»
«Sie müssen warten, bis ich mich fertiggemacht habe», sagte Sheffield.
«Gut, ich warte.» Andrews ging auf und ab im Schlamm vor dem Hause, knallte mit den Fingern vor Ungeduld, bis Sheffield herauskam. Dann gingen sie schweigend ab.
«Warten Sie jetzt eine Minute», flüsterte Sheffield, als sie an ein weißes Haus kamen, wo der Oberst wohnte. Nach einigem Warten fand sich Andrews an der Tür eines hell erleuchteten Schreibzimmers. Ein starker Zigarrengeruch quoll heraus. Der Oberst, ein ältlicher Mann mit gütigem Bart, stand vor ihm mit einer Kaffeetasse in der Hand. Andrews salutierte nach Vorschrift.
«Man erzählt mir, Sie seien ein guter Pianist. Schade, dass ich es nicht eher wusste», sagte der Oberst in freundlichem Ton. «Sie wollen nach Paris gehen, um dort zu studieren?»
«Zu Befehl.»
«Wie schade, dass ich es nicht vorher wusste. Die Liste ist vollkommen fertig. Aber vielleicht — im letzten Augenblick wenn niemand sonst gehen will. — Ich kann mir immerhin Ihren Namen notieren.» Der Oberst lächelte gnädig und ging ins Zimmer zurück.
«Danke verbindlichst, Herr Oberst», sagte Andrews und salutierte.
Ohne ein Wort zu Sheffield zu sagen, lief er fort, die dunkle Dorfstraße hinunter, in sein Quartier.

Nachdem Andrews eine Weile durch das Fenster in das Café «Braves Allies» hineingeschaut hatte, ging er ein wenig die; Straße hinunter und starrte dann in derselben Stellung in das «Repos des Poilus» hinein, wo ein großes Schild «American spoken» das ganze Fenster einnahm. Zwei Offiziere gingen vorbei. Seine Hand ging automatisch zum Gruß wie ein Signal. Es war schon dunkel. Nach einer Weile sinnlosen Herumstehens empfand er die Kälte des Windes, der durch die Straßen strich, zitterte und begann ziellos durch die Straßen zu wandern. Er bemerkte Walters, der auf ihn zukam und wollte ohne ein Wort vorbeigehen, als Walters ihn ansprach, ihm ins Ohr murmelte: «Komm zu Baboon», und mit seinen großen, schnellen, geschäftsmäßigen Schritten weiterging. Andrews stand eine Weile unentschlossen, mit gebeugtem Kopfe da, dann ging er die Allee hinauf und in Babettes Küche. Das Feuer brannte nicht. Er starrte wie krank auf die graue Asche, bis er endlich Walters Stimme neben sich hörte: «Ich habe alles für Sie in Ordnung gebracht.»
«Was meinen Sie?»
«Was ich meine? Schlafen Sie, Andrews? Man hat einen Namen von der Schulliste gestrichen. Das ist alles. Wenn Sie sich beeilen und keiner Ihnen zuvorkommt, werden Sie in Paris sein, ehe Sie es wissen.»
«Das ist anständig von Ihnen, zu mir zu kommen und mir das zu sagen.»
«Hier ist Ihr Gesuch», sagte Walters und zog ein Papier aus seiner Tasche. «Gehen Sie damit zum Oberst, lassen Sie es ihn unterzeichnen, und dann springen Sie hinüber zum Büro des Sergeanten... Die Reisepapiere werden jetzt gerade ausgestellt. Auf Wiedersehen!»
Walters war verschwunden. Andrews war wieder allein und starrte auf die graue Asche.
Plötzlich sprang er auf und eilte zu den Stabsquartieren. Im Vorraum vom Büro des Obersten wartete er eine lange Zeit, sah auf seine Stiefel, die dick vom Schlamm beschmiert waren. «Diese Stiefel werden einen schlechten Eindruck machen», sagte eine Stimme in ihm immer und immer wieder. Ein Leutnant wartete auch auf den Obersten, ein junger Mann mit rosigen Backen und einer milchweißen Stirn, der seinen Hut in der einen Hand hielt, mit ein Paar khakifarbenen Handschuhen, und der sich immer mit der anderen Hand über sein helles, gutgebürstetes Haar strich. Andrews fühlte sich schmutzig und übel riechend in seiner schlechtsitzenden Uniform. Der Anblick dieses tadellos gekleideten jungen Mannes in gutsitzenden Breeches, mit seinen manikürten Nägeln und sauber polierten Gamaschen machte ihn wild. Er hätte mit ihm kämpfen mögen, beweisen, dass er der Bessere sei, ihn niederdebattieren, ihn seinen Rang und sein wichtigtuerisches Aussehen vergessen machen... Der Leutnant war hineingegangen, um mit dem Obersten zu sprechen, Andrews bemerkte, dass er irgendeine Karte, die an der Wand aufgehängt war, zu studieren begonnen hatte.
«Machen Sie, dass Sie reinkommen», flüsterte ihm jemand zu, und er stand mit seiner Mütze in der Hand vor dem Oberst, der ihn streng ansah und die Papiere, die er auf dem Tisch liegen hatte, mit wichtigen Gesten befingerte. Andrews salutierte. Der Oberst machte eine ungeduldige Bewegung.
«Kann ich mit Ihnen sprechen, Oberst, über mein Universitätsgesuch?»
«Ich nehme an, Sie haben Erlaubnis, zu mir zu kommen?» «Zu Befehl, nein.»
Andrews kämpfte verzweifelt um irgendein Wort, das er sagen konnte.
«Nun, dann werden Sie besser gehen und sich die Erlaubnis holen.»
«Aber Herr Oberst, es ist keine Zeit mehr. Die Reisepapiere werden gerade jetzt ausgestellt. Man sagte mir, ein Name sei auf der Liste gestrichen worden.» «Zu spät.»
«Aber Herr Oberst, Sie wissen ja gar nicht, wie wichtig das ist. Ich bin Musiker von Beruf, und wenn ich nicht wieder üben kann, ehe ich entlassen werde, wird es unmöglich sein, eine Beschäftigung zu finden... Ich habe eine Mutter und eine alte Tante, die von mir abhängen; meine Familie hat schon bessere Tage gesehen... Nur wenn ich in meinem Beruf ein wirklich hervorragendes Niveau erreiche, kann ich soviel verdienen, um sie erhalten zu können, und ein Mann in Ihrer Stellung, Herr Oberst, müsste wissen, was auch nur einige wenige Monate Studien in Paris für einen Pianisten bedeuten können.»
Der Oberst lächelte.
«Lassen Sie mich Ihr Gesuch sehen», sagte er.
Andrews händigte es ihm mit zitternder Hand aus. Der Oberst machte mit einem Bleistift einige Bemerkungen in einer Ecke.
«Falls Sie das dem Sergeanten zur rechten Zeit geben können, gut und in Ordnung.»
Andrews salutierte und eilte ab. Ein plötzliches Gefühl des Ekels hatte ihn überkommen. Er konnte kaum den wütenden Wunsch unterdrücken, dies Papier zu zerreißen. «Gott, Herr, Herr, Herr», murmelte er zu sich selbst und lief den ganzen Weg zu dem viereckigen isolierten Gebäude, wo das Regimentsgebäude war. Er blieb keuchend vor dem Schreibtisch des Regimentssergeanten stehen. Der Sergeant sah ihn forschend an.
«Hier ist ein Gesuch um Teilnahme an dem Universitätssemester in Sorbonne. Oberst Wilkins sagte mir, ich solle zu Ihnen laufen, er wünsche sehr, dass es sofort erledigt werde.»
«Zu spät», sprach der Regimentssergeant.
«Aber der Oberst sagte, es müsse gemacht werden.»
«Kann nichts mehr daran machen, zu spät», sprach der Regimentssergeant.
Das Zimmer und die Leute in Hemdsärmeln vor den Schreibmaschinen wirbelten um ihn herum. Plötzlich hörte er eine Stimme hinter sich:
«Heißt der etwa Andrews, John?»
„Woher soll ich das wissen?« murrte der Sergeant.
«Weil ich für den die Papiere schon ausgestellt habe. Ich weiß gar nicht, wieso.»
Es war Walters Stimme, sein Staccato und sein geschäftsmäßiger Ton.
«Warum wollen Sie denn mich dann damit belästigen? Geben Sie mir das Papier.»
Der Regimentssergeant nahm das Papier aus Andrews' Hand und sah flüchtig darauf.
«Gut. Sie reisen morgen, Eine Kopie des Befehls wird morgen früh bei Ihrer Kompanie sein», brummte der Regimentssergeant.
Andrews sah auf Walters, als er hinausging. Doch der erwiderte seinen Blick nicht. Als er wieder in der frischen Luft stand, stieg Verachtung in ihm auf, schneidender als vorher. Die Wut über seine Erniedrigung trieb ihm Tränen in die Augen. Irgend etwas in ihm schrie wie die Stimme jenes fluchenden Verwundeten unaufhörlich wütende Schimpfworte; nachdem er eine Zeit gegangen war, hielt er plötzlich mit geballten Fäusten an. Es war völlig dunkel, der Himmel war vom Monde hinter den Wolken schwach erleuchtet. Als das Geräusch seiner Tritte erstarb, hörte er das schwache Lispeln fließenden Wassers. Er stand still in der Mitte der Straße und fühlte, wie alles in ihm langsam sich beruhigte. Er sagte einige Male leise zu sich selbst: du bist ein Narr, John Andrews. Dann ging er langsam und voller Gedanken zurück ins Dorf.

 

5

Andrews fühlte einen Arm um seine Schultern.
«Habe dich wie verrückt gesucht, Andy», hörte er Chrisfields Stimme, die ihn aus der Träumerei seines Gehens herausriss. Er konnte Chrisfields von Cognac schweren Atem in seinem Gesicht fühlen.
«Gehe morgen nach Paris, Chris.»
«Weiß schon, Junge, weiß schon, deswegen will ich ja mit dir reden.»
«Gut», meinte Andrews, «gehen wir zu Babette.» Chrisfield hing sich an seine Schulter und ging schwankend
neben ihm. Er stolperte, und fast wären sie beide gefallen. Sie lachten, und lachend traten sie in die dunkle Küche ein, wo sie die Frau mit dem roten Gesicht und ihrem Baby neben dem Feuer sitzen fanden. Die Frau stand auf, und automatisch mit dem Baby redend, ging sie, um Licht und Wein zu holen.
Andrews sah im Licht des Feuers in Chrisfields Gesicht. Seine Backen hatten die kindliche Rundung verloren, an die sich Andrews noch so gut erinnerte, als sie zuerst miteinander gesprochen und Zigarrenstummel vor den Baracken des Übungslagers aufgefegt hatten.
«Ich sage dir, Junge, solltest mit uns nach Deutschland kommen... In Paris gibt's nur Huren.»
«Sieh, Chris, ich will ja nicht wie ein König oder wie ein Sergeant oder wie ein Generalmajor leben. Ich will leben, wie John Andrews.»
«Was willst du in Paris, Andy?»
«Musik studieren.»
«Hm, wenn ich eines Tages in'n Kino gehen werde und man das Licht anmacht, werd' ich wohl meinen alten Freund Andy auf dem Klavier herumklopfen sehen.»
«Vielleicht... Wie lange bist du schon Korporal, Chris?»
«Oh, ich weiß nicht.» Chrisfield spie auf den Boden zu seinen Füßen. «Komisch, nich'? Du und ich waren mal richtige Freunde.»
Andrews antwortete nicht. Chrisfield saß schweigend, seine Augen blickten starr ins Feuer.
«Ich habe ihn erwischt... Es war so leicht...» sagte er plötzlich. «Habe ihn erwischt, das ist alles.»
«Du meinst...?»
Chrisfield nickte: «Hm, hm, im Oregonwald», sagte er.
Andrews antwortete nicht. Er fühlte sich plötzlich sehr müde. Er dachte an alle die, die er in Stellungen des Todes gesehen hatte.
«Hätte nie gedacht, dass es so leicht sei», murmelte Chrisfield.
Die Frau kam durch die Tür mit einer Kerze in der Hand. Chrisfield hörte plötzlich zu sprechen auf.
«Morgen gehe ich nach Paris!» rief Andrews plötzlich brüllend aus. «Da hört das Soldatsein für mich auf.»
«In Deutschland wird's schon Spaß geben, Andy, da kannst du dich drauf verlassen. Der Sergeant sagte, wir gehen nach Kob... Wie heißt das Nest eigentlich?» «Koblenz.»
Chrisfield goss ein Glas Wein ein, trank es in einem Zuge aus und wischte sich nachher den Mund mit dem Rücken der Hand.
«Erinnerst du dich noch, Andy, wie wir beide Zigarettenstummel auf dem verdammten Übungsfeld aufkehrten?» «Seitdem ist einige Zeit vergangen.» «Vielleicht werden wir uns nicht wieder treffen.» «Warum nicht?»
Sie schwiegen wieder, starrten in das verglimmende Feuer.
Im unbestimmten Licht der Kerze stand die Frau, mit den Händen auf dem Leib, und schaute sie starr an.
«Wenn man jetzt aus der Armee raus müsste, wüsste man gar nicht, was anfangen, nich', Andy?»
«Auf Wiedersehen, Chris», sagte der nur und sprang auf.
«Auf Wiedersehen, Andy, alter Kerl! Werde den Wein bezahlen.»
Chrisfield winkte mit der Hand zu der Frau hinüber, die langsam im Schein der Kerze näher kam. «Danke, Chris.»
Andrews schritt aus der Tür. Ein kalter, nadelartiger Regen fiel. Er schloss seinen Rockkragen und lief die schmutzige Dorfstraße hinunter.

 

6

Hingestreckte Körper in grauen Uniformen lagen über dem zarten, grünen Gras am Wegrande. Die Kompanie war in Ruhe. Chrisfield saß auf einem Baumstumpf und spielte lässig mit seinem Taschenmesser. Judkins lag ausgestreckt neben ihm.
«Warum zum Teufel werden wir hier geschliffen wie die Wilden, Korporal? Die glauben wahrscheinlich, wir würden sonst das Gehen verlernen.»
«Das ist doch besser, als den ganzen Tag rumlungern und wünschen, zu Hause zu sein», sagte einer, der auf der anderen Seite saß und den Tabak in seine Pfeife mit dicken Fingern hineinstopfte.
«Das macht einen geradezu krank, den ganzen Tag in Reihen herumtreten. Und diese verfluchten Franzmänner, die einen immerzu anstarren!»
«Die lachen uns nur aus. Verdammt noch mal!» brach eine andere Stimme ein.
«Werden bald zum Okkupationsheer stoßen», sagte Chrisfield fröhlich. «Deutschland, das wird ein richtiges Picknick sein.»
«Weißt du auch, was das heißt?» schrie Judkins und setzte sich plötzlich wieder ganz aufrecht. «Weißt du, wie lange die Truppen in Deutschland sein werden? Fünfzehn Jahre.»
«Mensch, so lange können sie uns doch nicht dort behalten!»
«Die können mit uns machen, was sie wollen. Wir müssen ihnen immer die Suppe ausfressen. Ja, mit gebildeten Leuten wie Andrews oder Sergeant Coffin, da ist das was anderes. Die können sich an Offiziere ranmachen, die poussieren, aber alles, was wir können, ist salutieren und sagen: <Zu Befehl, Herr Leutnant, ja> und <Zu Befehl, Herr Leutnant, nein> und sie auf uns rumreiten lassen, wie sie wollen. Ist das etwa nicht so, Korporal?»
«Hast recht, Judkins, wir haben immer die Suppe auszufressen.»
«Dieser verdammte gelbe Hund, dieser Andrews, geht jetzt nach Paris und hat dort die Universität frei und alles andere.» «Andy ist kein gelber Hund, Judkins.»
«Warum ging er dann bauchkriechend herum, wenn er mehr wusste als der Leutnant?»
«Ist doch kein gelber Hund», antwortete Chrisfield.
«Trotzdem, diese Kerls, die nach Paris gehen, die haben doch nicht einen Strich mehr getan, als wir anderen... Ich habe noch nicht ein einziges Mal Urlaub gehabt.»
«Ach, lassen wir das.»
«Nein, wenn wir einmal nach Hause kommen und die Leute wissen, wie man uns behandelt hat, dann wird eine große Untersuchung kommen, das kann ich nur sagen», meinte einer der Männer.
«Es kann einen geradezu verrückt machen... An diese Leute in Paris zu denken, die jetzt mit Wein und Weibern sich die Zeit vertreiben, wo wir hier stehen müssen und Gewehre reinigen und geschliffen werden... Mit denen möchte ich mal ins reine kommen.»
Das Signal tönte.
«Antreten!» schrie der Sergeant. «Achtung! Rechts um! Gradeaus! Marsch! Kerls, ihr habt immer noch kein Mark in den Knochen! Bauch rein! Knochen grade! In Gruppen rechts schwenkt! Marsch!»
Die Kompanie marschierte durch die schmutzige Straße ab. Ihre Schritte waren alle gleich. Ihre Arme bewegten sich alle im selben Rhythmus. Ihre Gesichter hatten alle denselben Ausdruck. Ihre Gedanken waren alle dieselben.
Das Tramp-Tramp-Tramp ihrer Schritte erstarb langsam auf dem Wege.
Vögel sangen zwischen knospenden Bäumen. Im frischen Gras waren noch die Spuren der Soldaten zu sehen...

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