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John Dos Passos - Drei Soldaten (1921)
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DRITTER TEIL

Maschinen

1

Felder und nebelgraue Wälder glitten langsam vorbei an den fahrenden Güterwagen, die über die Schienen holperten und stolperten, stundenlang an Abhängen und Wiesen anhielten, wo eine ungeheure Ruhe herrschte und wo man durch das Gewirr der Soldatenstimmen hindurch die Lerchen im Himmel singen hören konnte; die dann wieder über Brücken ratterten und an den Ufern tiefgrüner Flüsse vorbeifuhren, wo die Pappeln gerade sich mit frischen Blättern bekleideten und in denen von Zeit zu Zeit ein Fisch hochsprang. Die Männer, die sich in die Türöffnungen hineingedrängt hatten, lehnten ermattet und stumpf einer auf die Schultern des anderen gestützt, beobachteten, wie die Äcker vorbeiglitten und die Wiesen, wo das grüne Gras goldig war von Butterblumen, und schauten sich die Städtchen an mit ihren kleinen roten Dächern, die in knospenden Bäumen und Bergen von Pfirsichblüten fast untertauchten. Durch den Geruch des Dampfes, des Kohlenstaubes und ungewaschener Körper in Uniformen hindurch kam der Duft feuchter Felder, frisch gedüngter Ackerstücke, von Vieh und Weideland, auf dem die Blumen gerade in Blüte standen.
«Möchte gern mal für 'ne Weile in diesem Land leben, Andy», sagte Chrisfield.
«Wir können ihnen ja sagen, sie sollen uns hier freilassen.»
«Wie dies hier kann die Front nicht ausschauen», meinte Judkins und steckte seinen Kopf heraus zu Andrews und Chrisfield, sodass die Borsten seines unrasierten Kinns Chrisfield in die Backen kratzten. Er hatte einen großen, viereckigen Kopf mit kurzgeschnittenem hellem Haar und porzellanblauen Augen, die unter weißen Lidern aus dem roten, sonnverbrannten Gesicht herausschauten, einen eckigen Kiefer, der unter einem kleinen Bart ein wenig grau aussah.
«Sag, Andy, wie lange sind wir schon in diesem rotzigen Zuge...?»
«Was ist denn los? Du wirst wohl alt, Chris?» fragte Judkins lachend.
Chrisfield hatte seinen Platz verlassen, um sich zwischen Andrews und Judkins durchzuzwängen.
«Wir sind auf diesem Zuge vier Tage und fünf Nächte, und wir haben noch die Bation für einen halben Tag bei uns. Wir müssen also bald irgendwo hinkommen», sagte Andrews.
«So wie hier kann es an der Front nicht ausschauen.»
«Auch dort muss Frühling sein, wie hier», sagte Andrews.
Flockige, grünlich gefleckte Wolken bewegten sich über den Himmel, wurden manchmal dunkel und tiefblau, und ein kleiner Regenguss kam an den Hügeln herunter, manchmal aber hellten sie sich ganz auf und wurden weiß im klaren Sonnenlicht, dann warfen die Pappeln blaue Schatten, und der Rauch der Lokomotive bekam einen gelben Schein.
«Komisch, wie klein alles ist», sagte Chrisfield. «Draußen in Indiana würden wir ein Kornfeld dieser Größe überhaupt nicht anschauen.»
«Ich möchte Indiana mal im Frühling sehen», sagte Andrews. «Nun, du wirst schon kommen, wenn der Krieg aus ist und wir nach Hause gehen, nich' Andy?» «Natürlich komme ich.»
Sie kamen durch die Vororte einer Stadt. Reihen kleiner Backstein- und Stuckhäuser erschienen an den Straßen entlang. Es begann zu regnen. Der Himmel leuchtete in gelben und lila Farben. Die Schieferdächer und die grauen Straßen der Stadt glänzten heiter im Regen. Die kleinen Fleckchen im Garten waren ganz hell smaragdgrün. Dann schaute man auf Reihen und Reihen roter Schornsteine, die über nassen Schieferdächern standen. In der Ferne erhob sich der purpurgraue Turm einer Kirche und die unregelmäßigen Formen alter Gebäude. Sie passierten eine Station. «Dijon», las Andrews. Auf den Bahnsteigen standen französische Soldaten in ihrer blauen Uniform, mit vielen Zivilisten durchsetzt.
«Donnerwetter, das sind ja fast die ersten richtigen Zivilisten, seit ich über See kam», meinte Judkins.
Sie hatten die Station verlassen und fuhren an endlosen Güterzügen vorbei. Endlich machte der Zug halt. Eine Pfeife ertönte.
«Keiner aussteigen!» schrie der Sergeant aus dem ersten Waggon.
«Die wollen uns wohl hier in dem Rotzwagen halten, wie Stücker Vieh?» murmelte Chrisfield.
«Möchte mal aussteigen und 'n bisschen in Dijon Spazierengehen.»
«Ich werde 'n bisschen schlafen», meinte Chrisfield.
Er streckte sich auf dem Gepäckhaufen am Ende des Wagens aus. Andrews saß in seiner Nähe und starrte auf seine schmutzigen Stiefel und fuhr mit seiner langen Hand, die jetzt genau so braun wie die Chrisfields war, dem Kameraden durch das helle, kurz geschnittene Haar.
Chrisfield lag und sah aus halb geschlossenen Augen hinauf in das hagere Gesicht von Andrews, das sich scharf im Licht abhob, und er fühlte ein warmes Lächeln in seinem Innern, und er sagte zu sich selbst: das ist ein anständiger Kerl. Dann dachte er an den Frühling in Indianas Ebenen, an die Vögel, die im Mondlicht auf den blühenden Bäumen hinter dem Hause singen. Fast konnte er die schwere Süße der Akazienblüten riechen, genauso, wie vor langer, langer Zeit, als er auf der Treppe nach dem Abendbrot zu sitzen pflegte, ermüdet von der schweren Feldarbeit des Tages, während aus der Küche das Geräusch von der Hausarbeit seiner Mutter kam. Er wünschte nicht, wieder dort zu sein, aber es war angenehm, dann und wann einmal daran zu denken, wie das gelbe Farmhaus aussah und die rote Scheune und die kleinen, niedrigen Ställe, deren Schindeln immer abfielen. Ein dumpfes Staunen war in ihm, wie es wohl an der Front sein werde. Es konnte dort nicht grün und angenehm sein, so wie hier das Land war. Die Kameraden hatten ihm gesagt, es sei wie die Hölle dort draußen. Das war ihm aber alles gleichgültig. Dann schlief er ein.

Langsam wachte er auf. Das warme, angenehme Gefühl des Schlafes wich bald, und er fühlte sich steif und zerschlagen, da
er auf einem unregelmäßig zusammengeschichteten Haufen von Gepäck mit den Nägeln einer Stiefelsohle in den Schultern gelegen hatte. Andrews saß noch genauso wie vorher in Gedanken verloren. Die übrigen standen an den offenen Türen oder lagen auf dem Gepäck herum.
Chrisfield stand auf, dehnte sich, gähnte und ging an die Tür, um hinauszuschauen. Ein schwerer, bedeutungsvoller Schritt war auf dem Kies draußen zu hören. Ein großer Mann mit schwarzen Augenbrauen, die über der Nase zusammenwuchsen, und einem ganz schwarzen, struppigen Bart, ging an der Tür vorbei. Die Abzeichen des Sergeanten waren auf seiner Uniform zu sehen.
«Sieh doch, Andy!» schrie Chrisfield, «dieser Hurenkerl ist Sergeant.»
«Wer denn?» fragte Andrews, stand lächelnd auf und schaute in Chrisfields schwarze Augen. «Du weißt schon, wen ich meine.»
Chrisfields runde Backen waren über und über rot. Seine Augen stachen unter ihren großen schwarzen Lidern und seine Fäuste waren geballt.
«Oh, ich weiß, Chris. Ich dachte nicht, dass er in diesem Regiment sei.»
«Gott verfluche ihn», murmelte Chrisfield leise und warf sich wieder auf sein Gepäck zurück.
«Halt die Kandare fest, Chris», sagte Andrews. «Vielleicht müssen wir alle unsere Schecks bald einlösen... Dann brauchen wir uns um solche Dinge nicht mehr sorgen.»
Andrews streckte sich wieder neben Chrisfield aus. Nach einiger Zeit setzte sich der Zug lebhaft in Bewegung. Die Bäder holperten und stolperten wieder über die Schienen, und die Schmutzklumpen auf den splittrigen Brettern des Bodens hüpften auf und nieder.
Chrisfield legte den Kopf auf seinen Arm wie auf ein Kissen und schlief wieder ein, noch immer rot vor Wut und Aufregung. Andrews schaute durch die Finger hindurch in den schwarzen Güterwagen hinein, auf die Kameraden, die sich am Boden ausgestreckt hatten, deren Köpfe mit jeder Bewegung des Wagens hin und her gingen, er sah auf die graugrünen Wolken und die Fetzen glitzernden blauen Himmels, die er hinter den Silhouetten der Köpfe und Schultern der an den Türen stehenden Soldaten erblicken konnte.
Die Räder rollten weiter, endlos. Der Wagen hielt mit einem Ruck an, so dass alle aufwachten und einer von dem Ruck umfiel. Draußen tönte eine Pfeife schrill.
«Alles raus!... Raus!...» jelpte der Sergeant.
Die Leute stiegen steif und frierend aus den Wagen und gaben das Gepäck von Hand zu Hand heraus, bis es einen wirren Haufen von durcheinander geworfenen Tornistern und Gewehren bildete.
«Alles aussteigen!» schrie der Sergeant wieder.
Die Soldaten traten langsam an mit ihren Tornistern und Gewehren. Leutnants schwirrten herum in ihren steifen, eng anliegenden Uniformen. Schließlich kam das Kommando «Rühren!» und die Soldaten lehnten sich auf ihre Gewehre und starrten unbeweglich hinaus. In der Ferne konnte man einen Laut hören, als ob irgend jemand nachlässig einen eisernen Vorhang schüttle. Der Himmel war voll kleiner Flecken von Rot und Gelb, und die purpurne Abendröte stand hell über allem.
Der Marschbefehl kam. Sie marschierten eine ausgefahrene Straße hinunter, wo die Pfützen so tief waren, dass sie unaufhörlich die Marschreihen verlassen mussten, um überhaupt vorwärts zu kommen. In einem kleinen Fichtenwald an der Seite waren schwere Motorlastzüge und Munitionswagen aufgereiht. Das Abendessen wurde in einer Feldküche gekocht, die von den Wagenführern umstanden war. Hinter dem Walde zog sich die Kolonne auf einem Felde hin. In der Feme war eine Gruppe Stein- und Stuckhäuser zu sehen, deren Dächer zerstört waren. Auf dem Felde hielten sie an. Das Gras war glänzend grün, und die fernen Hügel hatten klare, tiefblaue Schatten. Kleine Schwaden milchblauen Nebels lagen über dem Feld.
«Kein Licht! Denkt daran, dass wir angesichts des Feindes sind. Ein Zündholz kann die ganze Abteilung vernichten», verkündete der Leutnant dramatisch, nachdem er den Befehl zum Aufbau der Schlafzelte gegeben hatte. Als die Zelte fertig waren, standen die Leute in dem kühlen weißen Nebel, der ständig dichter wurde, hemm und aßen ihre kalten Bationen.
«Lass uns reingehen, Chris, ehe uns die Knochen einfrieren», sagte Andrews.
Wachen waren aufgestellt worden und liefen auf und ab mit wichtigtuenden Schritten. Sie schauten einander an, forschten in den kleinen Wald hinein, wo die Wagenführer standen.
Chrisfield und Andrews krochen in ihr kleines Zelt, rollten sich in ihre Decken ein und rückten so nahe aneinander, wie nur möglich. Zuerst war es sehr kalt und hart, und sie zitterten lange vor Kälte, bis schließlich die Wärme ihrer Körper die dünnen Decken füllte. Andrews schlief zuerst ein, und Chrisfield lag und lauschte seinem tiefen Atem. Auf seinem Gesicht lag etwas sehr Zorniges. Er dachte an den Mann, der in Dijon an dem Zuge vorbeigegangen war. Das letzte Mal, als er diesen Mann, den Anderson, gesehen hatte, war im Übungslager. Damals war er noch Korporal gewesen. Er erinnerte sich an den Tag, wo der Korporal wurde. Es war nicht lange vorher, dass Chrisfield in einer Nacht in den Baracken mit seinem Messer auf ihn losgegangen war. Einer hatte seine Hand gerade zur rechten Zeit zurückgehalten. Anderson hatte damals ein wenig bleich ausgesehen und war dann weggegangen. Doch er hatte seitdem nie mehr ein Wort mit Chrisfield gesprochen. Wie Chrisfield mit geschlossenen Augen dalag, eng gegen Andrews' schlafenden Körper gepresst, konnte er das Gesicht des Mannes deutlich sehen, die Augenbrauen, die über der Nase sich schlossen und das Kinn, das von dem schweren Bart fast schwarz war. Schließlich ließ die Spannung in seinem Bewusstsein nach. Einen Augenblick dachte er an Frauen, an ein blondhaariges Mädchen, das er vom Zug aus gesehen hatte, und plötzlich erdrückte ihn Schlaf, und alles wurde weich und warm und schwarz, und nur die eine Empfindung blieb: die Kälte auf der einen und die Wärme des Körpers auf der anderen Seite.
Mitten in der Nacht wachte er auf und kroch aus dem Zelt. Andrews folgte ihm. Ihre Zähne schlugen ein wenig aneinander, und sie dehnten ihre steifen Beine. Es war kalt, doch der Nebel war gewichen. Die Sterne schienen hell. Sie gingen ein klein wenig in das Feld hinaus, von der Gruppe der Zelte fort.

 

2

Ein schwaches, raschelndes und atmendes Geräusch wie von zusammengepferchten Tieren kam von dem schlafenden Regiment. Irgendwo plätscherte ein Bach. Sie horchten auf, aber sie konnten keine Schüsse hören. Sie standen Seite an Seite und sahen in die
Unendlichkeit der Sterne hinauf. Ein scharfes, zischendes Geräusch entstand im Grase, als Chrisfield sein Wasser ließ.
«Da ist der Orion», sagte Andrews.
«Wo?»
«Dieser Haufen Sterne dort heißt Orion. Siehst du sie? Soll so aussehen, wie ein Mann mit einem Bogen. Doch ich sehe ihn immer wie einen Kerl, der über den Himmel schreitet.»
«Viele Sterne heute, nich'? Donnerwetter, was ist das?»
Hinter den dunklen Hügeln erhob sich ein Glühen und sank dann wieder hinab, wie in einer Schmiede.
«Die Front muss in der Richtung sein», sagte Andrews fröstelnd.
«Ich denke, wir werden das morgen wissen.»
«Ja, morgen Nacht werden wir wohl mehr darüber wissen», meinte Andrews.
Einen Augenblick standen sie schweigend und lauschten auf das Murmeln des Baches.
«Gott, wie still ist es hier. Das kann doch nicht die Front sein. Riech mal.»
«Was ist denn?»
«Riecht wie ein Apfelbaum, der in Blüte steht irgendwo.»
«Lass uns wieder reingehen, ehe unsere Decken kalt werden.»
Andrews starrte noch immer hinauf nach der Sterngruppe, die er vorhin mit Orion bezeichnet hatte. Chrisfield hielt ihn noch am Arm. Sie krochen wieder in das Zelt zurück, rollten sich zusammen ein und fielen sofort wieder in schweren Schlaf.
Soweit er sehen konnte, erblickte Chrisfield Tornister und Köpfe, die mit dem Marschrhythmus auf und nieder gingen. Ein feiner, warmer Regen fiel und vermischte sich mit dem Schweiß, der ihm vom Gesicht hernieder rann. Die Kolonne marschierte schon eine lange Zeit eine gerade Straße hinunter, die vom vielen Verkehr verbraucht und aufgerissen war. Felder und Hecken, auf denen gelbe Blumen in Blüte standen, wichen einer Reihe Pappeln. Die hellen, nassen Baumstämme und steifen Zweige, mit Grün beladen, reihten sich unaufhörlich aneinander, so unaufhörlich, wie das Schreiten der Füße und das Knarren des Gepäcks, das ihm unaufhörlich in den Ohren tönte.
«Sag, gehen wir an die Front?»
«Verdammt, wenn ich das wüsste.»
«Es gibt hier ja gar keine Front.»
Die Sätze kamen kurz und schweratmend heraus.
Die Kolonne schwenkte auf die andere Seite der Straße, um einem Zug Lastkraftwagen auszuweichen. Chrisfield fühlte, wie der Schmutz über ihn hinweg spritzte, als Wagen nach Wagen an ihm vorbeiratterte. Mit dem nassen Rücken der einen Hand versuchte er den Schmutz aus seinem Gesicht zu wischen, doch seine vom Regen erweichte Haut konnte das nicht ertragen. Er stieß einen Fluch aus. Sein Gewehr drückte schwer wie ein eiserner Tragbalken.
Sie kamen in eine Stadt; durch offene Türen konnten sie behagliche Küchen mit glänzenden Kupferkesseln und mit sauberen Steinböden sehen, vor den Häusern waren kleine Gärten, voll von Krokussen und Hyazinthen. Sie marschierten über den Platz, der mit kleinen gelben, runden Pflastersteinen bedeckt war. Die Kirche hatte einen Spitzbogen in der Tür, den Cafes waren die Namen farbig aufgemalt. Männer und Frauen schauten aus Türen und Fenstern. Die Kolonne verlangsamte sichtlich den Schritt, doch marschierte sie weiter, und als die Häuser seltener wurden und am Wege weiter auseinander standen, schwand den Leuten die Hoffnung auf einen Halt. Die Ohren waren taub geworden von dem unregelmäßigen Trapp der Stiefel auf der Steinchaussee. Die Füße waren schwer wie Blei, die Schultern, schwielig geworden, wurden wund vom unaufhörlichen Schweiß. Die Köpfe hingen hinunter, die Augen hefteten sich auf die Hacken des Vormannes, die sich hoben, um wieder niederzufallen, endlos. Marschieren wurde für jeden zu einem persönlichen Kampf mit seinem Gepäck, das irgend etwas Lebendiges bekommen hatte, bösartig und übermächtig geworden schien.
Der Regen hörte auf, und der Himmel wurde ein wenig lichter, nahm dann eine etwas gelbliche Färbung an, als ob die Wolken, welche die Sonne verbargen, dünn geworden seien.
Die Kolonne hielt in der Nähe einer Gruppe von Äckern und Scheunen, die an der Landstraße entlang lagen. Die Leute streckten sich in allen Richtungen längs des Weges und bedeckten mit der Schmutzfarbe ihrer Uniformen das helle Grün des Grases. Chrisfield lag in dem Feld neben der Straße und presste sein heißes Gesicht in den weißen Frühlingsklee. Das Blut pochte ihm in den Ohren. Seine Arme und Beine schienen auf dem Boden festgewurzelt zu sein, als ob er nie in der Lage sein würde, sie wieder zu bewegen. Er schloss die Augen. Langsam stieg ein Frösteln in seinem Körper auf. Er setzte sich auf und ließ den Tornister fallen. Irgendeiner gab ihm eine Zigarette, und er zog ein wenig süßlichen Bauch ein. Andrews lag neben ihm, den Kopf auf seinem Tornister, rauchend, seine blauen Augen schauten seltsam aus dem flammenden Bot seines schmutzbespritzten Gesichtes heraus. Chrisfield nahm die ihm angebotene Zigarette und suchte in seiner Tasche nach einem Streichholz. Eine Pfeife gellte. Langsam erhoben sich die Männer vom Boden und marschierten in Linien auf. Die Kompanien marschierten getrennt ab. Chrisfield hörte, wie der Leutnant zum Sergeanten sagte: «Verdammte Geschichte das. Warum haben sie uns nicht an die erste Stelle geschickt?»
«So kommen wir wohl gar nicht an die Front?» brummte der Sergeant.
«Front?» puffte der Leutnant heraus.
Er war ein kleiner Mann, der wie ein Jockey mit rauem, rotem Gesicht aussah, das jetzt in Ärger sich purpurn färbte.
«Man wird uns wohl hier einquartieren», meinte jemand.
Sofort wiederholten es alle: «Wir werden hier wohl einquartiert werden.»
Sie marschierten eine lange Weile in Formation. Das Gepäck schnitt ihnen in den Bücken und in die Schultern. Endlich rief der Sergeant Befehle aus:
«Nehmt euer Zeugs mit nach oben!»
Oben kamen sie auf einen dunklen Boden, wo die Luft schwer war vom Geruch des Heus und eines Kuhstalles, der darunter lag. In den Ecken war ein wenig Stroh, und diejenigen, die zuerst kamen, breiteten ihre Decken darauf aus. Chrisfield und Andrews warfen sich in eine Ecke, von wo sie durch ein Loch hinunter in den Hof sehen konnten. Dort liefen weiße und gefleckte Hühner mit schnellen Bewegungen herum. Eine Frau in mittleren Jahren stand in dem Torweg des Hauses und sah die Haufen khakigekleideter Soldaten misstrauisch an, die jetzt langsam sich in alle Türen der Scheunen hineinschoben. Ein Offizier ging an sie heran mit einem kleinen roten Buch in der Hand. Ein Gespräch über irgend etwas ging peinlich langsam vor sich. Der Offizier wurde sehr rot. Andrews warf seinen Kopf zurück und lachte. Chrisfield lachte auch, er wusste kaum warum. Über ihren Köpfen konnten sie die Tauben auf dem Dache hören: ein beständiges schläfriges Ru-ku-ku-ku. Der Geruch in der Scheune veränderte sich allmählich, und man roch das Essen, das in der Feldküche fertig gestellt wurde.
«Hoffentlich geben sie uns was Anständiges zu essen, bin hungrig wie ein Drescher.»
«Ich auch», sagte Andrews.
«Du kennst doch ihre Sprache ein wenig, Andy.»
Andrews nickte mit dem Kopfe.
«Wir können vielleicht ein paar Zigaretten von der Dame da unten bekommen, oder irgend etwas anderes. Versuchs mal nach dem Essen.»
Sie lagen beide im Stroh und schlossen die Augen. Ihre Wangen brannten noch vom Regen. Alles schien sehr friedlich. Die Kameraden um sie herum sprachen leise und schläfrig. Draußen kam ein neuer Regenguss herunter und schlug weich auf die Ziegel des Daches. Chrisfield glaubte, noch nie in seinem Leben habe er es so bequem gehabt, obschon seine durchnässten Schuhe die kalten Füße drückten und seine Knie feucht und kalt waren. Doch in dem ermüdenden Geräusch des Regens und der Stimmen, die ruhig um ihn herum sprachen, schlief er ein. Er träumte, er sei zu Hause in Indiana, doch anstelle seiner Mutter, die sonst immer am Herd in der Küche kochte, war dort die Französin, die vorhin im Torweg gestanden hatte, und neben ihr stand der Leutnant mit einem kleinen roten Buch in der Hand. Plötzlich begann der aus voller Lunge zu schreien: «Du verdammter ... » Aber er konnte scheinbar nichts anderes sagen. «Du verdammter... » begann er wieder. Der Leutnant sah ihn an, zog die schwarzen Augenbrauen, die sich über der Nase trafen, zusammen. Es war der Sergeant Anderson. Chrisfield zog sein Messer und lief gegen ihn an. Aber dann war es Andy, sein Schlafkamerad, den er gestochen hatte. Er warf die Arme um Andys Körper und weinte... Er wachte auf, Essgeschirr klirrte überall um ihn in dem dunklen Heuboden. Die Kameraden waren schon dabei, die Treppe hinunterzugehen.

Die Lerchen erfüllten die bläuliche Luft mit einem beständigen Klingen kleiner Glocken. Chrisfield und Andrews schlenderten über ein Feld, das auf dem Bücken eines Hügels lag. Unten im Tal konnten sie eine Gruppe roter Dächer und das weiße Band der Straße sehen, wo lange Züge von Lastkraftwagen vorwärts krochen wie Käfer. Die Sonne war gerade hinter den blauen Hügeln auf der anderen Seite des Tales untergegangen. Die Luft war voll von dem Geruch des Klees und des Hagedorns der Hecken. Sie zogen den Atem tief ein beim Durchqueren des Feldes. «Es ist schön, von der Masse da fortzukommen», sagte Andrews. Chrisfield ging schweigend weiter und zog seine Füße schwer über den Klee. Eine bleierne Dumpfheit lastete auf ihm, wie eine schnürende Decke um seine Glieder, so dass es ihm Anstrengung verursachte, zu gehen, Anstrengung, zu sprechen, doch darunter schienen ihm seine Muskeln sich zu spannen und zu zittern, als ob er vor einem Kampf um ein Mädchen stände.
«Warum zum Teufel schicken sie uns denn nicht nach vorn?» sagte er plötzlich.
«Ja, das würde besser sein, als so... warten, warten, warten.»
Sie gingen weiter, das Zwitschern der Lerchen über ihnen, das Geräusch ihrer Füße im Klee und das schwache Klimpern einiger Kupfermünzen in Chrisfields Tasche und in der Ferne das unregelmäßige Surren eines Aeroplans. Beim Weitergehen beugte sich Andrews des Öfteren hinunter und pflückte ein paar weiße Kleeblumen. Der Aeroplan kam plötzlich näher und stürzte in einer großen Kurve über dem Feld. Alles ertrank in seinem Gebrüll. Sie konnten den Führer und den Beobachter genau erkennen, ehe noch das Flugzeug wieder aufstieg und in den purpurnen Wolkenfetzen des Himmels verschwand. Der Beobachter hatte einmal mit der Hand gewinkt, als sie vorbeifuhren. Sie standen still in dem dämmerigen Feld, starrten hinauf in den Himmel, wo noch immer einige Lerchen zwitscherten.
«Möchte schon einer von den beiden sein», sagte Chrisfield.
«So?»
«Ich würde alles darum geben, aus dieser beschissenen Infanterie rauszukommen. So ist's kein Leben, wie ein Neger behandelt zu werden.»
«Nee, das ist kein Leben.»
«Wenn sie uns wenigstens an die Front schicken würden... aber alles, was wir tun, ist Drill und Schießen und Drill und Bajonettübungen und wieder Drill. Kann einen ja verrückt machen.»
«Wozu darüber sprechen, Chris?» Andrews lachte. «Da ist das Flugzeug wieder.»
«Wo?»
«Da hinten. Gerade an dem Waldende.» «Dort ist der Flugplatz.» «Die haben 'n schönes Leben.»
«Bin im Übungslager um 'ne Versetzung zu den Fliegern eingekommen, aber nichts mehr davon gehört. Sonst wäre ich nicht mehr in diesem Dreck.»
«Es ist herrlich schön auf dem Hügel an diesem Abend», sagte Andrews und schaute träumend auf den hell orangefarbenen Streifen Licht, wo die Sonne untergegangen war. «Gehen wir hinunter und trinken 'ne Flasche Wein.»
«So ist's recht. Ob wohl das Mädchen heute Nacht auch unten ist?»
«Antoinette? Junge, die möcht' ich mal 'ne Nacht für mich haben!»
Ihre Schritte wurden schneller, als sie einen grasbewachsenen Weg hinuntergingen, der durch hohe Hecken zu einem Dorfe führte. Es war fast dunkel im Schatten der Büsche auf beiden Seiten. Über ihren Köpfen wurden die purpurnen Wolken von blassem, gelbem Licht überspült, das allmählich in Grau verblasste. Vögel zwitscherten und bewegten sich zwischen den jungen Blättern. Andrews legte seine Hand auf Chrisfields Schulter. «Wollen langsam gehen», sagte er. «Nich' zu schnell hier rauskommen.»
Er packte nachlässig kleine Büschel Heckenblumen im Vorbeigehen.
«Nich'», meinte Chrisfield. «Wir werden heute nichts mehr zu essen kriegen. Es muss schon spät sein.»
Sie beschleunigten ihre Schritte wieder und kamen nach einem Augenblick an die ersten fest geschlossenen Häuser des Dorfes. In der Mitte der Straße war ein Feldgendarm, der mit gespreizten Beinen stand und seinen Polizeiknüppel lässig hin und her baumeln ließ. Er hatte ein rotes Gesicht, seine Augen waren auf das obere Fenster des Hauses geheftet, dessen Läden herabgelassen waren, durch die Bitzen kamen einige Streifen gelben Lichtes. Er schwankte ein wenig unentschieden hin und her. Plötzlich kam ein Offizier aus der kleinen grünen Tür des Hauses. Der Feldgendarm riss mit einem Sprung die Hacken zusammen und grüßte, hielt die Hand an die Mütze. Langsam erstarben die Schritte, als der Offizier die Straße hinunterging, dann nahm der Feldgendarm seine frühere Haltung wieder ein. Chrisfield und Andrews waren auf der anderen Seite vorbei und in die Tür eines kleinen, baufälligen Hauses geschlüpft, dessen Fenster mit schweren hölzernen Läden geschlossen waren. Sie kamen in ein Zimmer, das einst die gute Stube eines Bauernhauses gewesen war. Der Leuchter mit seinem Kristall und dem roten Samt unter einer Glasplatte bewies, dass das Mobiliar herausgenommen war und dass diese vier groben, viereckigen Tische erst nachträglich hineingestellt worden waren. An einem der Tische saßen drei Amerikaner und an einem anderen ein junger französischer Soldat, der über seinem Tisch zusammengesunken traurig in ein Glas Wein schaute.
Ein Mädchen in einer verblichenen Bluse, die die starken Rundungen ihrer Schultern und Brüste hervortreten ließ, kam ins Zimmer, die Hände in den Taschen einer dunkelblauen Schürze, gegen die ihre runden Arme golden-braun abstachen. Ihr Gesicht hatte dieselbe goldene Farbe unter einer Last dunkelblonden Haares. Sie lächelte, als sie die beiden Soldaten sah und zog ihre dünnen Lippen über ihre hässlichen gelben Zähne hinauf.
«Ca va bien Antoinette?» fragte Andrews.
«Oui», sagte sie und sah über ihre Köpfe auf die französischen Soldaten, die an der anderen Seite des Zimmers saßen.
«Eine Flasche vin rouge, vite», befahl Chrisfield.
«Brauchst heute Nacht nicht so verdammt vite zu sein, Chris», sagte einer der anderen Leute.
«Vite? Wird heute keine Kontrolle sein, der Korporal hat es mir selbst erzählt.»
Andrews sah auf den Franzosen, der mit dem Gesicht im Schatten saß und dessen schwarze Augenlider die Augen bedeckten. Purpurn hatte sich seine olivfarbene Haut über den Backenknochen gefärbt. Chrisfield drehte sich ein wenig in seinem Stuhl um und sah auf den Franzosen. Er fühlte in seinen Augen für einen Moment den Blick der gelbbraunen Augen des Mannes. Andrews lehnte sich zurück gegen die Wand und schlürfte seinen dunkelfarbigen Wein, die Augen träumerisch zusammengezogen. Chrisfield knuffte ihn.
«Wach doch auf, Andy, schläfst du?»
«Nein», antwortete Andrews lächelnd.
«Nimm doch einen Schluck Cognac!»
Chrisfield goss unsicher noch zwei Gläser ein. Seine Augen lagen wieder auf Antoinette. Die verblichene Bluse war am Nacken mit Haken zusammengehalten. Die ersten drei Haken waren auf und ließen eine golden braune Haut und ein bisschen weißer Wäsche zum Vorschein kommen. Seine Augen verfolgten die Reihe der Haken, bis diese in der blauen Schürze verschwanden. Die verblichene Baumwolle ihrer Bluse zeigte deutlich die Umrisse ihrer Brüste. Chrisfield sah sich mit beiden Händen die Bluse packen und aufreißen. Sein Blut brannte von dem Cognac. Er benetzte seine Lippen mit der Zunge.
«Sag mal, Andy», brummte er und legte seinen Arm um den Nacken des Freundes. «Willst du die Nacht mit dem Mädchen bleiben? Sonst sprich mit ihr für mich, ja, Andy?... Will nicht, dass der verdammte Franzose da sie bekommt, bei Gott nicht! Sprich mit ihr für mich, Andy.» Andrews lachte. «Werd's versuchen», meinte er. «Antoinette, j'ai un ami», begann er und wies mit seiner langen schmutzigen Hand auf Chrisfield.
Antoinettes Gesicht wurde ruhig und schön. Chrisfield lehnte sich in seinem Stuhl zurück mit einem leeren Glas in der Hand und beobachtete seinen Freund bewundernd.
«Sag ihr, was ich will. Andy. Mach weiter, Andy», flüsterte er laut.
«Antoinette, mon ami vous admire», sagte Andrews in sehr höflichem Tone.
Eine Frau steckte ihren Kopf in die Tür: sie hatte genau dasselbe Gesicht und Haar, wie Antoinette, um zehn Jahre älter, aber die Haut statt gold-braun schmutzig und faltig.
«Viens», sagte die Frau schrill. Antoinette stand auf, schob sich an Chrisfield vorbei, seine Beine mit ihren Böcken streifend, und verschwand. Der Franzose erhob sich und durchkreuzte das Zimmer, grüßte ernst und ging hinaus. Chrisfield sprang auf. Das Zimmer war wie eine große Mühle, die sich um ihn herum wirbelte.
«Dieser Franzmann ist ihr nachgegangen!» schrie er.
«Setz dich und trink noch eins, Chris», sagte Andrews. «Ich muss noch etwas zu trinken haben. Habe den ganzen Abend noch nichts Ordentliches getrunken.» Er zog ihn auf den Stuhl zurück. Chrisfield wollte wieder aufstehen. Andrews hängte sich an ihn, so dass der Stuhl umflog. Sie fielen beide auf die roten Ziegel des Bodens.
«Setz dich und trink noch eins, Chris», sagte Andrews.
Chrisfield bemerkte, wie Judkins sich über ihn beugte mit seinem breiten Grinsen auf seinem großen roten Gesicht. Er stand wieder auf und setzte sich missmutig auf seinen Stuhl. Andrews saß ihm schon gegenüber, ruhig und still als sei nichts geschehen.
Alle Tische waren jetzt besetzt. Irgendeiner sang dösend und schläfrig.

«Indiana», schrie Chris, «das ist das Land des lieben Gottes.» Plötzlich fühlte er, dass er Andy alles von seiner Heimat und den großen weiten Kornfeldern, schimmernd und glitzernd in der Julisonne, erzählen könne und von dem großen Teich, in dem er so oft gebadet hatte. Alles stand plötzlich wie lebendig vor ihm: er zog den weinartigen Duft des Obstes ein, er sah die Viehherden, die ihre wiederkäuenden Mäuler bewegten, wie sie am Tor warteten, um ans Wasser zu kommen, er sah den gelben Staub beim Korndreschen, er fühlte den sanften Hauch des Abendwindes, der kühlend über seinen Hals und Nacken strich, wenn er nach einem Tag voll heißer Sonne sich auf einem großen Haufen Heu ausstreckte. Doch alles, was er sagen konnte, war:
«Indiana ist wie das Land des lieben Gottes, nicht Andy?»
«Oh, der hat viele solcher Länder», murmelte Andrews.
«Habe zu Hause mal 'n Hagelstück gesehen, fünfundzwanzig Zentimeter im Umfang. Bei Gott, ich hab's gesehen.»
«Kann man wohl gut als Geschoss verwenden, was?»
«'s gibt kein Geschoss, das solchen Schaden anrichten kann, wie unsere Gewitter zu Hause», brüllte Chris.
«Ob wir wohl mal 'ne richtige Schießerei sehen werden?»
«Keine Sorge, mein Lieber», sagte irgendeiner vom anderen Ende des Zimmers. «Wirst noch genug davon sehen. Dieser Krieg wird verdammt lange dauern...»
«Möchte heute Nacht einige Hunnen in die Finger kriegen, bei Gott, Andy», murmelte Chris mit unterdrückter Stimme. Er fühlte, dass seine Muskeln sich in wilder Wut zusammenzogen. Er sah durch halbgeschlossene Augen auf die Männer im Zimmer und dachte plötzlich, es müsse doch herrlich sein, eine Granate in eine Masse Menschen hineinzuschleudern. Dann erblickte er das Gesicht von Anderson, ein schweres, weißes Gesicht mit Augenbrauen, die über der Nase zusammenliefen, und einem bläulichen glattrasierten Kinn.
«Wo ist der Kerl, Andy? Ich will ihn kaltmachen.»
Andrews erriet, was er meinte. «Setz dich und trink noch was, Chris», sagte er. Der begann trunken zu fluchen.
Chrisfield sah eine Frau, die neben dem Tisch mit dem Rücken ihm zugewandt stand. Andy zahlte gerade. «Antoinette», sagte er, stand auf und legte die Arme um ihre Schultern. Mit einer schnellen Bewegung der Ellbogen schob sie ihn in seinen Stuhl zurück. Sie drehte sich um. Er sah das schmutzfarbene Gesicht und die dünnen Brüste der älteren Schwester. Sie sah ihm überrascht in die Augen. Er grinste trunken. Als sie das Zimmer verließ, machte sie ihm mit dem Kopfe ein Zeichen, ihr zu folgen. Er stand auf, schwankte aus der Tür und zog Andrews hinter sich her. In dem inneren Zimmer war ein großes Bett mit Gardinen, wo die Frauen schliefen und außerdem eine Feuerstelle, wo gekocht wurde. Es war dunkel. Nur in einer Ecke flackerte schwach eine Kerze auf einem Tisch. So konnte man nur unregelmäßige Schatten und das große gardinenverhangene Bett sehen. Plötzlich erblickte Chrisfield das Gesicht des Franzosen. Der war in Hemdsärmeln. Das Kerzenlicht fiel ihm plötzlich in die Augen. Chrisfield fühlte seine ganze Wut plötzlich wie eine Flamme in sich aufbrechen.
«Du warst mit dem Mädel!» schrie er und sprang auf den Mann zu. Etwas Hartes schlug ihm gegen den Schenkel, und die Kerze ging aus. Andrews hielt ihn am Arm fest.
«Verdammter Narr, halt dich doch ruhig», sprach die Stimme des Freundes ihm immer und immer wieder ins Ohr. Der Franzose, irgendwo im Dunkel des Zimmers, hatte auch etwas gesagt, verschiedene Male.
«Die Boches... Flugzeuge...»
Sie waren still. Über sich hörten sie das Surren der Flugzeuge, bald stärker bald schwächer wie das Summen einer Fliege gegen eine Fensterscheibe. Der Franzose zündete ein Streichholz an und sah sich alle neugierig an. Antoinette lehnte gegen das Bett mit ausdruckslosem Gesicht. Ihr schweres Haar hatte sich aufgelöst und fiel in goldenen Wellen um ihre Schultern. Die alte Frau kicherte.
«Komm, wollen mal sehen, was los ist, Chris», sagte Andrews.
Sie gingen hinaus in die dunkle Dorfstraße.
«Zum Teufel mit den Weibern, Chris! Das ist der Krieg!» rief Andrews mit lauter, betrunkener Stimme, als sie Arm in Arm die Straße hinunter wankten.
«Das ist der Krieg!» Chrisfield fühlte, wie die Hand seines Freundes sich über seinen Mund legte. Er ließ sich führen und fühlte, wie er auf die eine Seite der Straße gedrängt wurde. Irgendwo im Dunkeln hörte er die Stimme eines Offiziers.
«Bringen Sie diese Leute mal zu mir!»
«Zu Befehl!» kam eine andere Stimme.
Langsam drangen schwere Schritte die Straße herauf in ihrer Richtung. Andrews schob ihn noch weiter an einem Haus entlang, bis sie plötzlich beide in eine Mistgrube fielen.
«Lieg ruhig, um Gottes willen», murmelte Andrews und warf einen Arm über Chrisfields Brust. Ein dicker Geruch von Hundemist erfüllte ihre Nasen. Sie hörten die Schritte näher kommen, unentschlossen hin und her wandeln und dann wieder in der Richtung, aus der sie gekommen waren, abgehen. Inzwischen wurde das Surren der Motoren oben immer lauter und lauter.
«Nun?» kam die Stimme des Offiziers.
«Hab' sie nicht finden können», sagte die andere Stimme.
Chrisfield begann zu kichern. Er fühlte, er werde gleich in ein schallendes Gelächter ausbrechen müssen. Das nahende Flugzeug hörte auf zu surren, die Nacht schien plötzlich totenstill zu sein. Andrews sprang auf. Die Luft wurde von einem fauchenden Geräusch durchschnitten, dem eine krachende Explosion folgte. Sie sahen die Mauer über ihrer Grube plötzlich für einen Augenblick rot aufleuchten. Chrisfield stand auf und erwartete brennende Ruinen zu sehen. Die Dorfstraße lag da, dunkel wie immer. Ein kleines Licht glitzerte vom Schein des Mondes, der noch immer unter dem Horizont stand. Ein Fenster in dem gegenüberliegenden Hause glänzte gelb. Darin war eine blaue Silhouette in Offiziersuniform zu sehen. Eine kleine Gruppe stand in der Straße drunten.
«Was war das?» schrie die Gestalt am Fenster mit entschiedener Stimme.
«Deutsches Flugzeug hat eine Bombe abgeworfen, Herr Major», antwortete eine Stimme atemlos.
«Warum zu Teufel schließt er das Fenster nicht?» murmelte eine Stimme die ganze Zeit. «Direkt eine Zielscheibe für die Boches.»
«Was passiert?» fragte der Major.
In der Stille sangen die Motoren, drohend in der Luft wie gigantische Moskitos.
«Da scheinen noch mehr zu sein», meinte der Major in langen gedehnten Tönen.
«Oh ja, massenhaft», antwortete eine eifrige Stimme.
«Um Gottes willen, sagen Sie ihm doch, dass er das Fenster schließt, Leutnant», murmelte eine andere Stimme.
«Wie kann ich es ihm sagen? Sagen Sie es ihm!»
«Wir werden alle getötet werden, das ist alles!»
«'s gibt keine Unterstände oder Gräben hier!»
«Das ist die Schuld des Hauptquartiers!» sagte der Major aus seinem Fenster.
«Dort ist ein Keller!» schrie die eifrige Stimme.
Drei laute Explosionen in schneller Folge ertränkten alles in einem roten Schein. Die Straße war plötzlich voll von Dorfleuten, die liefen, um Schutz zu suchen.
«Wir machen besser, dass wir nach Hause kommen», sagte Andrews.
Sie kletterten vorsichtig aus ihrer Grube heraus. Chrisfield war überrascht, dass er zitterte. Seine Hände waren kalt. Es fiel ihm schwer, nicht mit den Zähnen zu klappern.
«Wir werden jetzt mindestens eine Woche nach diesem Mist stinken. Machen wir, dass wir aus diesem dreckigen Dorfe fortkommen», murmelte Andrews.
Sie liefen fort, durch einige Obstgärten, brachen durch eine Hecke und kletterten über offene Felder den Hügel hinauf. Unten an der Hauptstraße hatte ein Luftabwehrgeschütz zu bellen begonnen, und der Himmel glitzerte von explodierenden Schrapnells. Das Put-Put-Put eines Maschinengewehrs setzte irgendwo ein. Chrisfield lief den Hügel hinauf, gleichen Schrittes mit seinem Freund. Hinter ihnen krachte Bombe auf Bombe, und über ihnen schien die Luft voll zu sein von explodierenden Schrapnells und von surrenden Flugzeugen. Der Cognac lag ihnen noch immer etwas im Blut. Auf der Anhöhe hielten sie an und schauten zurück. Chrisfield fühlte eine zitternde Bewegung, die ihm schneller durch die Adern sprang als der Cognac. Er legte die Arme um die Schultern des Freundes. Sie schienen das einzige Lebendige in einer wirbelnden Welt zu sein. Unten im Tal brannte ein Haus hell. Aus allen Richtungen kam das Bellen der Luftabwehrgeschütze, und oben setzte sich unbekümmert der Singsang der Motoren fort. Plötzlich brach Chrisfield in Lachen aus.
«Bei Gott, 's gibt immer einen Spaß, wenn ich mit dir ausgehe, Andy», sagte er.
Sie wandten sich wieder um und eilten auf der anderen Seite den Hügel hinunter nach den Bauernhäusern zu, wo sie einquartiert waren.

 

3

So weit er sehen konnte, standen die grauen Stämme der Buchen, hellgrün von dem Moos, das sie auf der einen Seite überwachsen hatte. Der Boden war tief mit den im letzten Herbst gefallenen Blättern bedeckt, die wütend unter jedem Schritte raschelten. Über sich im unruhigen, flackernden Licht der Baumkronen und durch die dunkelgrünen Blätter hindurch konnte er dann und wann einen Flecken grauen Himmels sehen, grauer als die silbrigen Stämme, die sich beim Vorwärtsmarschieren um ihn herum bewegten. Er strengte seine Augen an, bis sie von der ewigen Wiederholung der grauen und grünen Flecken geblendet waren. In der Ferne konnte er Batterien hören: «Pong, pong, pong», und dann klangen die Wälder, als ob Hagel niederginge, wenn eine schwere Granate über die Baumkronen hinwegsauste, um in einem dumpfen Krachen meilenweit entfernt zu verenden. Chrisfield war von Schweiß durchnässt. Das Gefühl dafür, dass er Arme und Beine hatte, war ihm fast verloren gegangen. Alle Sinne waren auf Augen und Ohren konzentriert und in der Aufmerksamkeit auf sein Gewehr angespannt. Er stellte sich vor, er sehe etwas Graues, das sich bewegt und schießt. Sein Zeigefinger juckte, gekitzelt von dem Wunsche, den Hahn abzuziehen. — Ich werde sehr sorgfältig zielen — dachte er bei sich. Er stellte sich einen Fetzen Grau vor, der hinter einem grauen Baumstamm hervorkommt; er hörte den scharfen Knall seines Gewehrs und sah den Fetzen Grau sich in den gefallenen Blättern wälzen. Ein Zweig schlug ihm den Helm vom Kopfe, rollte ihn vor die Füße und schlug mit einem metallischen Laut
gegen die Wurzel eines Baumes. Ein plötzlicher Schrecken machte ihn fast blind. Es schien, als ob sein Herz von einer Seite der Brust auf die andere rolle. Er stand steif, als ob ihn der Schlag gerührt habe, bevor er sich niederbeugen konnte und den Helm aufheben. Ein seltsamer Blutgeschmack war in seinem Munde.
«Ich werde ihn schon fassen», murmelte er zwischen zusammengepressten Zähnen. Seine Finger zitterten noch, als er sich niederbeugte, um den Helm aufzuheben, den er sehr sorgfältig wieder aufsetzte und mit dem Riemen unter dem Kinn befestigte. Wütender Ärger hatte ihn erfasst. Er ging wieder weiter. Überall standen die silbrigen Stämme der Buchen, alle mit einem hellgrünen Streifen auf der einen Seite. Und bei jedem Schritt rauschten die gefallenen Blätter wütend und laut. Fast außer Sichtweite, zwischen den Baumstämmen, lag ein Holzklotz. Doch beim Näher kommen sah er, dass es keiner war, es war ein Bündel graugrünen Tuches. Ohne zu denken, schlenderte Chrisfield näher. Die silbrigen Stämme der Buchen begannen sich um ihn zu drehen. Es war ein Deutscher, der ausgestreckt zwischen den Blättern lag. Chrisfield war wütend glücklich, sein Blut pumpte durch seine Adern. Er konnte die Knöpfe auf dem Bücken des langen deutschen Mantels sehen. Er trat den Deutschen. Er konnte die Rippen an seinen Zehen durch das Leder seines Stiefels fühlen. Er trat noch einmal und noch einmal mit seiner ganzen Kraft. Der Deutsche rollte schwer herum. Er hatte kein Gesicht. Chrisfield spürte, wie der Hass plötzlich aus ihm herausebbte. Wo das Gesicht gewesen war, war jetzt eine schwammige Masse von Purpur und Gelb und Rot, die Hand war an den verwesenden Blättern kleben geblieben, als der Körper herumrollte. Große Fliegen mit hellen, glänzend grünen Körpern schwirrten umher. In der braunen, schmutzigen Hand lag ein Revolver. Chrisfield fühlte Kälte sein Bückgrat hinaufsteigen. Der Deutsche hatte sich selbst erschossen! Er wandte sich plötzlich weg, atemlos, um sich dem Rest der rekognoszierenden Truppe anzuschließen. Die schweigenden Zweige wirbelten um ihn herum und wellten sich in großen Bogen über seinem Kopfe. Der Deutsche hatte sich selbst erschossen! Darum hatte er kein Gesicht!
Chrisfield schloss sich den anderen an. Der Korporal wartete auf ihn.
«Hast du was gesehen?» fragte er.
«Nein, nichts», murmelte Chrisfield, fast unhörbar.
Der Korporal setzte sich wieder an die Spitze des Zuges. Chrisfield war wieder allein. Die Blätter rauschten wütend und laut unter seinen Schritten.

 

4

Chrisfield schaute hinauf auf die Blätter in den Kronen der Walnussbäume, die metallscharf gegen den hellen, farblosen Himmel abstachen und mit Zacken von Gold umrändert waren, wo das Sonnenlicht durch sie hindurchfiel. Er stand steif und bewegungslos, obschon in seinem linken Knöchel ein heftiger Schmerz war, so stark, dass es schien, als ob der geschwollene Knöchel den Stiefel sprengen wolle. Er konnte fühlen, dass Soldaten zu beiden Seiten von ihm standen. Es schien, als ob die aufmarschierte Linie strammstehender Soldaten in grauen Uniformen endlos auf irgend jemand warte, sie aus ihrer Erstarrung zu befreien, und sich ununterbrochen um die ganze Welt erstreckte. Er blickte hinunter auf das zertrampelte Gras des Feldes, wo das Regiment aufmarschiert war. Irgendwo hinter ihm konnte er das Klirren von Sporen an den Hacken irgendeines Offiziers hören. Dann ertönte plötzlich das Geräusch eines Motors auf der Straße, und Schritte, die die aufmarschierte Reihe von Soldaten hinunterkamen. Eine Gruppe von Offizieren ging eilig vorbei mit heftigen Schritten, als ob sie ihr ganzes Leben lang nichts getan hätten als an Kolonnen aufmarschierter Soldaten vorbeizuschreiten. Chrisfield sah auf ihren Khakischultern Adler, dann einen einzelnen Stern und einen doppelten Stern. Der General ging zu schnell vorbei, als dass Chrisfield sein Gesicht hätte erkennen können. Chrisfield fluchte, weil sein Knöchel so weh tat. Seine Augen glitten wieder hinauf an den Räumen entlang bis zu der Stelle, wo die golden umrandeten Blätter der Baumkronen in den hellen Himmel hineinreichten. So, also dafür hatte er diese Woche in den Gräben gelegen, dafür hatte er die Kugeln in das Unbekannte, gegen die grauen Flecken, die sich im grauen Schlamm herumbewegten, abgeschossen. Irgend etwas kroch ihm mitten über den Bücken hinauf. Er war nicht sicher, ob es eine Laus war, oder ob er sich das nur einbilde. Ein Befehl war ausgerufen worden. Automatisch hatte er seine Stellung geändert. Irgendwo weit weg marschierte ein kleiner Mann auf die lange graue Linie zu. Ein Wind hatte sich erhoben und raschelte in den steifen Blättern des Hains. Der Wind in den Bäumen tönte weit und rhythmisch wie das strömende Wasser, das an dem Transportschiff, auf dem er herübergekommen war, vorbeischäumte. Die goldigen Blätter und die olivfarbenen Schatten tanzten herum, als ob sie irgend etwas wegfegen wollten, hinauf in den hellen Himmel. Ein Gedanke stieg in Chrisfield auf. Wenn die Blätter in breiteren und immer breiteren Kurven schwingen könnten, bis dieser ganze Krieg weggefegt sein würde, all diese Schmerzen und Läuse und Uniformen und Offiziere mit Ahornblättern oder Adlern oder Einzelstern oder Doppelstern oder dreifachen Sternen auf ihren Schultern. Plötzlich erschien er sich selbst in seiner alten, bequemen Kleidung, mit offenem Hemd, der Wind liebkoste seinen Nacken wie ein Mädchen. Wie schön war es, auf einem Heuhaufen unter der heißen Sonne von Indiana zu liegen. «Komisch, an all das zu denken», sagte er zu sich selbst. Bevor er Andy kannte, würde er nie daran gedacht haben. Was war jetzt über ihn gekommen?
Das Regiment marschierte in Kolonnen zu vieren ab. Chrisfields Knöchel schmerzte scharf und heiß bei jedem Schritt. Seine Uniform war zu eng, und der Schweiß lief ihm den Rücken hinunter; um ihn herum waren schwitzende Gesichter. Die wollenen Uniformen mit ihren hochgeschlossenen Kragen waren wie Zwangsjacken an diesem heißen Nachmittag. Chrisfield marschierte mit geballten Fäusten. Er wollte mit irgend jemand kämpfen. Sein Bajonett in irgend jemands Körper rennen, wie er es mit der Puppe während des Bajonettdrills gemacht hatte. Er wollte sich ganz nackt ausziehen, er wollte die Handgelenke eines Mädchens so lange pressen, bis es schrie.
Seine Kompanie marschierte an einer anderen Kompanie vorbei, die aufmarschiert war vor einer zerschossenen Scheune, deren Dach in der Mitte eingesackt war wie der Bücken einer alten Kuh. Der Sergeant stand vor der Kompanie mit gekreuzten Armen und sah sich die Vorbeimarschierenden kritisch an. Er hatte ein weißes, schweres Gesicht und schwarze Augenbrauen, die über der Nase zusammenliefen. Chrisfield starrte ihn an, als sie vorbeimarschierten, aber Sergeant Anderson schien ihn nicht zu erkennen. Das ärgerte ihn so, als ob ihn ein Freund geschnitten habe.
Die Kompanie löst sich plötzlich in eine Gruppe von Männern auf, die ihre Uniformen und Hemden aufknöpften vor einer kleinen Unterkunftshütte, die vor Jahren, während der Marneschlacht, von den Franzosen gebaut worden war. So hatte es einer Andy erzählt.
«Was träumst du von Indiana?» sagte Judkins und knuffte Chrisfield jovial in die Rippen.
Chrisfield ballte die Fäuste und holte zu einem Schlag in Judkins Gesicht aus, den dieser gerade zur rechten Zeit noch abwehrte. Judkins' Gesicht war flammend rot.
«Was ist denn mit dem los?» sprudelte Judkins atemlos heraus.
Kameraden waren zwischen sie getreten.
«Lasst mich an ihn ran!»
«Halt doch das Maul!» sagte Andrews und zog Chrisfield weg.
Die Kompanie zerstreute sich langsam. Einige legten sich in das lange, unbeschnittene Gras in den Schatten des Hauses.
Andrews und Chrisfield gingen schweigend die Straße hinunter. Chrisfield hinkte. Zu beiden Seiten der Straße waren Felder mit reifem Weizen, der golden in der Sonne stand. Weit weg waren niedrige grüne Hügel, die mit dem reifen Getreide zusammen in blau und blassgelb verblichen. Hier und da durchbrach ein Haufen Bäume oder eine Reihe Pappeln die glatte Oberfläche der langen Hügel. In den Hecken tanzten blaue Kornblumen, die im Winde wippten. An der Wegbiegung verlor sich das Geräusch der Division, und man hörte nur noch die Bienen über den Blumen schwirren.
«Du bist ein wilder Mann, Chris. Was zum Teufel war in dich gefahren, als du Judkins ins Gesicht schlagen wolltest? Der hätte dich doch nur verprügelt; er ist zweimal so stark wie du.»
Chrisfield ging schweigend weiter.
«Bei Gott, ich denke, du solltest genug davon haben. Ich denke, du hättest endlich einmal genug davon, immer wieder Streit anzufangen. Du kannst doch selbst keine Schmerzen vertragen, nicht?»
Andrews sprach in kurzen Sätzen, bitter, die Augen gesenkt.
«Habe mir gestern den Knöchel verstaucht, als ich vom Transportwagen herunter fiel...»
«Dann melde dich krank. Sieh, Chris, ich kann diese Geschichte nicht mehr mitmachen, bin krank davon. Man sollte sich Heber erschießen, als noch einen Tag länger dabei bleiben.»
«Lass das, Andy. Komm, wir wollen schwimmen gehen. Da unten am Weg ist ein Teich.»
«Ich habe Seife in der Tasche. Wir können uns den Schmutz etwas abwaschen.»
«Geh nicht so schnell, Andy... Du hast mehr gelernt als ich. Solltest mir sagen können, warum ein Kerl so verrückt werden kann... Denke immer, hab 'nen Teufel in mir.»
Andrews rieb die sanfte Seide eines Mohnblattes gegen sein Gesicht. «Wie das wohl wirken wird, wenn ich etwas davon esse?» meinte er.
«Warum?»
«Man soll einschlafen, wenn man sich in ein Mohnfeld legt. Würdest du das nicht gern wollen, Chris, und nicht wieder aufwachen, bis der Krieg vorbei ist und man wieder Mensch sein kann?»
Andrews biss in die grüne Kapsel, die er in der Hand hatte. Ein milchiger Saft kam heraus. «Bitter. Ich denke, das ist Opium», sagte er.
«Was ist das?»
«Etwas, was dich einschlafen lasst und wundervolle Träume verursacht. In China...»
«Träume?» unterbrach ihn Chrisfield. «Die letzte Nacht hatte ich einen. Träumte von einem, der sich selbst erschossen hatte; vor einiger Zeit beim Rekognoszieren...»
«Was war da?»
«Nichts weiter. Ein Fritzie lag da im Wald, der hatte sich erschossen.»
«Das ist besser als Opium», sagte Andrews, zitternd vor plötzlicher Erregung.
«Träumte, die herumsummenden Fliegen seien Aeroplane... Erinnerst du dich an das Dorf, wo wir zuletzt in Ruhe lagen?»
«Und an den Major, der das Fenster nicht schließen wollte — gewiss erinnere ich mich daran.»
Sie legten sich auf die Rasenböschung, die von der Straße zum Teich hinunterführte. Die Straße war durch das hohe Schilf verborgen, durch das der Wind sanft lispelte. Über ihnen strömten ungeheure weiße Kumuluswolken, die, übereinander gehäuft wie phantastische Galeonen, vom Winde getrieben, sich langsam in den grünlichen Himmel hineintrieben. Die Wolken spiegelten sich in dem silbrigen Glitzern des Teiches, hin und wieder ragten Grasbüschel aus dem Wasser heraus, einige Blüten trieben auf der Oberfläche. Einige Zeit lagen sie auf dem Rücken, bevor sie sich auszuziehen begannen. Sie sahen hinauf in den Himmel, der ganz weit und frei schien wie der Ozean, weiter und freier als der Ozean. Andrews zog seine Kleider langsam aus.
«Herrlich, die Sonne zu fühlen und den Wind auf dem Körper, nicht, Chris?»
Andrews ging auf den Teich zu und lag flach auf dem Bauch in dem feinen, weichen Gras am Bande. «Es ist herrlich, seinen Körper zu fühlen», sagte er mit träumerischer Stimme. «Die Haut so weich und geschmeidig, und nichts in der Welt fühlt sich so schön an, wie ein Muskel... Was sollte ich tun ohne meinen Körper!»
Chrisfield lachte.
«Schau mal, wie mein Knöchel geschwollen ist.»
«Chris», sagte Andrews. «Komm weg von diesen stinkigen Uniformen. Du wirst dich wieder wie ein Mensch fühlen, so Sonne auf dem Körper, statt wie ein lausiger Soldat.»
«Hallo, Leute!» kam plötzlich die Stimme eines Marketenders.
«Hallo!» antwortete Chrisfield missmutig und hinkte zum Wasser.
«Wo hast du die Seife?» fragte Andrews.
«Ihr wollt wohl schwimmen, Kerls?» meinte der Marketender. Dann fügte er in überzeugtem Tone hinzu: «Feine Sache.»
«Solltest auch 'reinkommen», sagte Andrews.
«Danke, danke... Wollt ihr nicht lieber 'n bisschen unter Wasser gehen?... Da drüben sehen euch zwei französische Mädchen von der Straße aus zu.» Der Marketender kicherte leise.
«Macht nichts», sagte Andrews und seifte sich ordentlich ein.
«Haben das wahrscheinlich gern», warf Chrisfield ein. «Ich weiß, die haben keinen Anstand... Aber trotzdem... »
«Warum sollten sie nicht auf uns schauen. Vielleicht werden nicht mehr viele Leute Gelegenheit dazu bekommen.»
«Wie meinst du das?»
«Hast du schon jemals gesehen, was ein kleiner Granatsplitter aus einem menschlichen Körper machen kann?» fragte Andrews voller Wut.
Er warf sich in das Wasser und schwamm nach der Mitte des auf eine Sandbank in dem warmen, seichten Wasser und schaute zurück auf den Marketender, der noch immer am Rande stand. Hinter ihm waren andere Männer, die sich auch auszogen, und bald war der grasbewachsene Abhang voll von nackten Männern und gelblich-grauer Unterkleidung. Als Chrisfield heraus kam, fand er Andrews bei seinen Kleidern mit gekreuzten Beinen sitzen. Er griff nach seinem Hemd und zog es an.
«Gott, ich kann mich gar nicht entschließen, das verdammte Ding wieder anzuziehen», sagte Andrews ziemlich leise, fast, als ob er zu sich selbst spräche. «Ich fühle mich so rein; freiwillig wieder Schmutz und Sklaverei anziehen? Ich denke, ich werde nackt über die Felder gehen.»
«Heißt dem Vaterlande dienen Sklaverei, mein Freund?» Der Marketender, der zwischen den Badenden umherstreifte, setzte sich in seiner reinen Uniform und mit seinen gut polierten Stiefeln, die seltsam von der schmutzbedeckten und schweißdurchtränkten Kleidung der Leute um ihn abstach, in das Gras neben Andrews.
«Da hast du verdammt recht, das nenne ich Sklaverei.» «Du wirst Scherereien kriegen, mein Junge, wenn du so redest», sagte der Marketender und senkte die Stimme vorsichtig. «Nun, was nennst du denn eigentlich Sklaverei?» «Du musst immer daran denken, dass du freiwillig für die Sache der Demokratie arbeitest... Damit deine Kinder einst in Frieden leben können...»
«Hast du je einen Menschen totgeschossen?» «Nein, natürlich nicht... Doch ich hätte mich zum Dienst gemeldet. Nur meine Augen sind zu schwach.»
«Das glaube ich schon, dass deine Augen schwach sind», sagte Andrews, schwer atmend.
«Oh, es muss schrecklich, schrecklich dort draußen sein», fuhr der Marketender fort. «Aber ihr werdet die Geschichte schon bald ins reine bringen. Ihr werdet den Kaiser in Berlin schon bald aufhängen.»
«Ist mir ganz schnurzegal...»
«Andy, ich werde verrückt, wenn ich nicht bald eine Frau erwische.»
«Denkt daran, dass eure Frauen, eure Schwestern und Bräute und Mütter für euch in diesem Augenblick beten.»
«Ich wünschte irgend jemand würde mich in ein reines Hemd
'reinbeten», sagte Andrews und begann seine Kleider anzuziehen.
«Oh, wenn ihr rein bleiben könntet und als unbeschmutzte Sieger zu denen zurückkehren, die euch Heben», murmelte der Marketender.
«Wie lange bist du schon hier drüben?» fragte Andrews.
«Gerade drei Monate.» Das schmutzige Gesicht des Mannes hellte sich auf: «Aber diese drei Monate sind mir mehr wert, als alle anderen Jahre meines Lebens... Hier habe ich das große Herz von Amerika schlagen hören. Vergesst nie, dass ihr an einem großen, christlichen Kreuzzug teilnehmt.»
«Du meinst wohl, dass Jesus zugleich mit dem Schwert das Maschinengewehr und das Giftgas auf die Welt mitgebracht hat? Vielleicht tat er es auch», sagte Andrews voll innerer Wut, während er sich hinunter beugte, um seine Schuhe zuzumachen.
«Du meinst das doch nicht wirklich? Du kannst das doch nicht meinen!»
«So, du glaubst also, es sei eine bessere Beschäftigung, Deutsche, die wir nicht kennen, erschießen und sich bei französischen Weibern, die wir auch nicht kennen, Geschlechtskrankheiten holen, als zu Hause das Land zu bebauen und reine Kinder zu zeugen.»
«Aber denke doch an die Größe des Opfers. Opfern, das ist der wahre Dienst an Gott!»
«Ja, andere opfern... Komm, Chris, wir wollen weitergehen.»
Sie verließen den Marketender, der jetzt zwischen den anderen Männern am Rande des Teiches hin und her lief, doch von der Straße her konnten sie noch seine hohe Stimme hören.
«Und so etwas wird dich und mich überleben», sagte Andrews.
«Sag mal, Andy, wie viel zahlen sie eigentlich einem solchen Marketender?»
«Weiß nicht.»
Sie kamen gerade zur rechten Zeit zum Essen. Alles sprach und lachte, war lebendig geworden vom Geruch des Essens und dem Geklapper der Essgeschirre. In der Nähe der Feldküche sah Chrisfield den Sergeanten Anderson und Higgins, dem anderen Sergeanten, sprechen. Sie lachten zusammen, und er hörte Anderson mit seiner tiefen Stimme jovial sagen: «Wir haben diese Zeit durchgemacht, Higgins, wir werden schon weiter durchkommen.» Die beiden Sergeanten sahen sich an, warfen einen väterlichen Blick auf ihre Leute und lachten laut. Chrisfield fühlte sich machtlos wie ein Ochse unter dem Joch. Alles, was er tun konnte, war arbeiten und sich anstrengen und stramm stehen, während dieser weißgesichtige Anderson herumlungern durfte, als ob er der Eigentümer der Erde sei. Er hielt seinen Teller vor sich, der Küchensoldat platschte das Fleisch und die Sauce hinein. Er lehnte sich gegen die geteerte Wand, aß sein Essen und sah voll Missmut hinüber zu den beiden Sergeanten, die lachten und sprachen, während die Leute ihrer beiden Kompanien wie Hunde eilig ihr Essen herunterschluckten. Chrisfield blickte plötzlich zu Anderson hinüber, der im Gras hinter dem Hause saß, über die Weizenfelder hinausschaute, während der Rauch seiner Zigarette in Spiralen über sein Gesicht und sein Haar hinaufstieg. Er sah friedlich aus, fast glücklich. Chrisfield ballte die Fäuste und fühlte Hass gegen diesen Menschen stechend in sich aufsteigen. «Habe den Teufel in mir», sagte er.

Die Fenster waren so nahe dem Grase, dass das schwache Licht, welches in die Hütte hineinsickerte, eine grünliche Färbung annahm. Das gab den braunen Gesichtern das kränkliche Aussehen von Leuten, die in Büros arbeiten. Schwalben hatten oben unter dem Dach ihr Nest gebaut, ihr Unrat lag auf dem Fußboden in weißen Flecken, und jetzt, da alle fort waren, konnte Chrisfield klar das Piep-Piep der kleinen Schwalben in ihren Nestern hören. Er saß regungslos auf dem Ende einer der Bettstellen, sah hinaus durch die offene Tür, in die blauen Schatten hinein, die größer und größer auf dem Grase der Wiese zu werden begannen. Seine Hände hingen unbeweglich zwischen seinen Beinen. Er pfiff lässig durch die Zähne. Seine Augen schauten unter ihren langen Wimpern in die Ferne, obwohl er nichts dachte. Er fühlte ein wohliges Behagen um sich. Es war angenehm, allein in den Baracken zu sein, wenn die anderen draußen üben mussten. So würde niemand Befehle in ihn hineinschreien. Eine warme Müdigkeit überkam ihn. Sein Kopf fiel hinunter auf die Brust.
Er wachte mit einem Ruck auf. Ein großer Mann stand schwarz in der hellen Türöffnung. «Was tust du hier?» fragte eine tiefe Bassstimme.
Chrisfields Augen blinzelten. Automatisch stand er auf. Es
konnte ja ein Offizier sein! Seine Augen wurden plötzlich brennend. Es war das Gesicht von Anderson, das zwischen ihm und dem Licht stand. In der grünlichen Dunkelheit sah die Haut kalkig weiß aus im Kontrast zu den schwarzen Augenbrauen, die über der Nase zusammenliefen, und den dunklen Stoppeln auf dem Kinn.
«Wie kommt es, dass du nicht bei deiner Kompanie bist?»
«Bin Barackenwache», murmelte Chrisfield. Er konnte das Blut in seinen Gedanken und Schläfen hämmern fühlen und in seinen Augen Stechen wie Feuer. Er starrte auf den Boden vor Andersons Füße.
«Die Befehle lauteten, dass die ganze Kompanie raus sollte und keine Wachen zurücklassen. Werden uns darüber unterhalten, wenn Sergeant Higgins zurück ist.»
«Du sagst also, dass ich lüge?»
Chrisfield fühlte sich plötzlich kühn und fröhlich.
Wut kroch langsam in ihm auf. Es schien, als ob er selbst irgendwo entfernt von sich stände und sich selbst beobachte, wie langsam die Wut sich seiner bemächtigte.
«Hier muss saubergemacht werden... Der General kommt vielleicht zur Inspektion», fuhr Anderson kalt fort.
«Du sagst also, dass ich lüge», sprach Chrisfield und legte so viel Unverschämtheit wie nur möglich in seine Stimme. «Du erinnerst dich meiner wohl nicht?»
«Doch, du bist einmal mit dem Messer auf mich losgegangen», sagte Anderson ganz kühl und warf sich in die Brust. «Ich denke, du wirst jetzt etwas Disziplin gelernt haben. Mach hier mal 'n bisschen sauber.»
«Denk' nicht dran.»
«Mach da sauber, oder du wirst schon sehen!» rief der Sergeant mit seiner tiefen Raspelstimme.
«Wenn ich je aus diesem Mist hier rauskomme, werde ich dich über den Haufen schießen! Du bist genug auf mir rumgeritten.» Chrisfield sprach langsam, genauso kühl wie Anderson.
«Wir werden sehen, was das Kriegsgericht dazu zu sagen hat.»
«Das ist mir schnurzegal.»
Sergeant Anderson drehte sich auf dem Absatz um und ging fort.
Er spielte mit dem obersten Knopf seiner Uniform. Schon konnte man das Geräusch marschierender Füße hören und dann den Befehl «Abtreten!» Dann drängten die Leute sich in Scharen zusammen, lachten und sprachen. Chrisfield saß ruhig am Ende seiner Lagerstelle und sah hinaus, in den hellen Türrahmen hinein. Draußen stand Sergeant Anderson und sprach mit dem Sergeanten Higgins. Sie schüttelten sich die Hände, und Anderson verschwand. Chrisfield hörte Sergeant Higgins ihm nachrufen: «Das nächste Mal, wenn ich dich sehe, werde ich wohl die Hacken zusammen nehmen müssen und grüßen.»
Andersons dumpf dröhnendes Lachen verhallte allmählich. Sergeant Higgins kam in die Baracke, ging an Chrisfield heran und sagte mit harter Dienststimme: «Du bist verhaftet... Small, bewache diesen Mann, hol dein Gewehr und einen Patronengürtel.»
Er ging hinaus. Alle schauten neugierig auf Chrisfield. Small, ein Mann mit rotem Gesicht und langer Nase, die ihm über die Oberlippe herunterhing, schob sich blöde hinüber an seinen Platz neben Chrisfields Lagerstelle und ließ sein Gewehr mit großem Krach auf den Boden fallen. Jemand lachte, Andrews ging zu ihnen, mit einem beunruhigten Blick in den blauen Augen.
«Was ist los, Chris?» fragte er leise.
«Habe dem Dreckkerl gesagt, dass er mir gestohlen bleiben kann», sagte Chrisfield mit gebrochener Stimme.
«Andy, niemand sollte mit dem spaßen», meinte Small. «Weiß überhaupt nicht, warum mir immer solch dreckige Arbeit aufgehalst wird.»
Andrews ging weg, ohne Antwort zu geben.
«Keine Sorge, Chris, werden dir nichts tun», sagte Judkins und grinste ihn gutmütig von der Tür aus an.
«Ist mir auch schnurzegal», antwortete Chrisfield. Er legte sich zurück auf seine Lagerstelle und sah hinauf an die Decke. Die Baracken waren voll von dem Geräusch des Saubermachens. Judkins fegte den Boden mit einem Besen. Ein anderer schlug die Schwalbennester mit einem Bajonett herunter. Die Nester fielen auf den Boden und erfüllten die Luft mit einem Geflatter von Federn und dem Geruch von Vogelschmutz. Die kleinen, nackten Körper der Schwalben mit ihren orangefarbenen Schnäbeln gaben einen dumpfen Laut, als sie auf die Bretter des Bodens aufschlugen, wo sie liegen blieben und schwach quiekten.
Inzwischen flogen die großen Schwalben mit schrillem Geschrei in der Baracke hin und her.
«Heb sie doch auf!» sagte Small. Judkins fegte gerade die kleinen, quiekenden Körper mit dem Schmutz und Staub hinaus. Ein etwas dicker Mann, älter als die übrigen, beugte sich hinab und hob die kleinen Vögel, eins nach dem anderen auf und spitzte seinen Mund mit zärtlichem Ausdruck. Er formte aus seinen beiden Händen eine Art Nest, aus dem sich die langen Hälse und die offenen, orangefarbenen Schnäbel herausstreckten. Andrews stieß in der Tür auf ihn.
«Hallo, Dad», sagte er. «Was ist los?»
«Ich hob die gerade auf. Sie konnten diese armen kleinen Biester nicht ungestört lassen dort oben. Bei Gott, es schaut so aus, als ob sie ausgezogen wären, allem Schmerz zuzufügen, Vogel, Tier und Mensch.»
«Krieg ist kein Picknick», warf Judkins ein.
«Das ist kein Grund, noch mehr Schmerzen zu bereiten, als man sowieso muss.»
Ein Gesicht mit spitzem Kinn und einer Nase, über der eine pergamentfarbene Haut sich spannte, erschien in der Tür.
«Hallo», rief der Marketender. «Ich wollte euch nur sagen, dass ich die Kantine morgen eröffne. Es wird Schokolade, Zigaretten, Seife und alles geben.» Alle riefen Beifall. Der Marketender strahlte vor Freude. Seine Augen fielen auf die kleinen Vögel in Dads Händen.
«Wie konntest du nur», sagte er. «Ein amerikanischer Soldat darf nicht grausam sein. Ich hätte das nie geglaubt.»
«Da wirst du noch viel zu lernen haben», murmelte Dad und wackelte auf seinen Säbelbeinen hinaus in die Dämmerung. Chrisfield hatte die Szene an der Tür die ganze Zeit über beobachtet. Eine heftige Nervosität, die er niederkämpfen wollte, kam über ihn. Es war nutzlos, immer und immer zu wiederholen, dass alles zwecklos sein werde. Die Aussicht, allein vor die Offiziere gebracht zu werden, ins Kreuzverhör von diesen kurzen, scharfen Stimmen genommen zu werden, erschreckte ihn. Was sollte er machen? fragte er sich immer und immer wieder. Er würde verwirrt werden und Dinge sagen, die er gar nicht meinte, oder schließlich gar nichts zu sagen wissen. Wenn nur Andy mit ihm gehen könnte, meinte er. Andy war gebildet wie die Offiziere. Er hatte mehr Wissen als dieses ganze Pack zusammen. Der würde sich selbst und seinen Freund verteidigen können. Wenn sie es nur gestatten würden!
Chrisfield hörte dem Sprecher in seiner Nähe zu, als ob die Laute aus einer anderen Welt kämen. Er war schon ganz abgeschnitten von den Kameraden. Er würde verschwinden, und sie würden nie wissen und sich auch nie darum kümmern, was aus ihm geworden sei.
Das Zeichen zum Essenholen kam, und die Soldaten reihten sich auf. Er konnte ihre Worte draußen hören, und das Klappern ihrer Essgeschirre, als sie sie öffneten. Er lag auf seinem Lager und starrte hinaus in das Dunkel. Ein schwaches blaues Licht kam noch von draußen und überstrich das rote Gesicht von Small und seine lange, gebogene Nase, von der ein glitzernder Tropfen herabhing, mit einer seltsam violetten Farbe.

Chrisfield fand Andrews, als dieser gerade ein Hemd in dem Bache wusch, der durch die Trümmer des Dorfes hindurch floss. Der blaue Himmel, an dem rosa-weiße Wolken standen, gab dem hellen Wasser einen bläulichen Schimmer. Unten, am Grunde, konnte man zerschlagene Helme und Ausrüstungsgegenstände sehen. Andrews wandte den Kopf. Er hatte Schmutz auf der Nase und Seifenflecken auf dem Kinn.
«Hallo, Chris!» sagte er und sah ihn mit seinen leuchtenden blauen Augen an. «Wie geht's?»
Seine Stirn zog sich besorgt zusammen.
«Zweidrittel des Monatssoldes und Urlaubsentziehung», sagte Chrisfield froh.
«Da bist du ja gut weggekommen.»
«Ja, ja, sagten, ich sei ein guter Schütze und so; und so ließen sie mich diesmal laufen.»
Andrews begann sein Hemd zu reiben. «Dies Hemd ist mir so schmutzig geworden, dass ich kaum glaube, es jemals wieder rein zu bekommen», sagte er.
«Gib mal her, Andy, ich werd's waschen. Du kannst so was nicht.»
«Doch ich werd's tun.»
«Mach dass du wegkommst!»
«Danke dir schön.»
Andrews stand auf und wischte mit seinem nackten Unterarm den Schmutz von der Nase.
«Ich werde das Aas doch erschießen», sagte Chrisfield, das Hemd reibend. «Sei nicht so'n Idiot, Chris!» «Und ich tu's doch, bei Gott!»
«Was hat denn das für'n Sinn? Du wirst ihn wahrscheinlich doch nie wiedersehen!» «Ich werd's doch tun!»
Er wrang das Hemd sorgfältig aus und schlug es Andrews um das Gesicht.
«Da ist es», sagte er.
«Bist 'n guter Kerl, Chris, auch wenn du im allgemeinen ein Idiot bist.»
«In ein oder zwei Tagen werden wir wohl an die Front gehen.»
«Kolossal viel Artillerie ist die Straße da rauf gezogen. Französische, britische, alle möglichen Sorten.»
Sie gingen langsam über die Straße. Ein Motorradfahrer sauste an ihnen vorbei.
«Solche Leute haben 'nen Spaß bei der Geschichte», sagte Chrisfield.
«Ich glaube, dabei hat keiner sehr viel Spaß.»: «Und wie steht es mit den Offizieren?» «Die sind zu sehr damit beschäftigt, sich wichtig zu fühlen, als dass sie einen wirklichen Spaß haben könnten.»

Der harte, kalte Regen schlug ihm wie Hagel ins Gesicht. Nirgendwo Licht, und kein Laut, als das Pfeifen des Windes im Grase. Seine Augen waren angespannt, die Dunkelheit zu durchdringen, so angespannt, bis rote und gelbe Flecken ihm vor den Augen tanzten. Er ging sehr langsam und sorgfältig und hielt irgend etwas sehr behutsam in seiner Hand unter dem Regenmantel. Er fühlte sich voll einer seltsamen, unterdrückten Wut. Es schien, als ob er hinter sich selbst hergehe und seine eigenen Bewegungen beobachtete, und was er sah, machte ihn schreiend glücklich, so dass er den Wunsch verspürte, zu singen. Er wandte sich, so dass der Regen ihm auf die Backen schlug. Unter seinem Helm fühlte er sein Haar voll Schweiß, der sich mit dem Regen in seinem brennenden Gesicht mischte. Seine Finger umklammerten sorgfältigst das Ding, das er in der Hand hielt. Er stoppte und schloss die Augen für einen Augenblick. Durch das Pfeifen
des Regens hindurch hörte er Männer in ihren Unterständen sprechen. Als er die Augen schloss, sah er das weiße Gesicht von Anderson vor sich mit dem unrasierten Kinn und den Augenbrauen, die über der Nase zusammenwuchsen. Plötzlich fühlte er die Mauer eines Hauses vor sich. Er streckte die Hand aus. Seine Hand zog sich sofort von dem rauen, nassen Teerpapier zurück, als ob sie auf etwas Totes gestoßen sei. Er tastete sich sehr vorsichtig an der Wand entlang. Wirre Sätze kamen ihm in den Sinn. Ohne zu denken, was damit gemeint sei, formten sich die Worte: «der Welt die Demokratie erkämpfen» (Anm.: Wilsons Worte im Kongress zur Begründung der Kriegserklärung.) in seinem Kopfe. Sie beruhigten sehr, sie bändigten seine Gedanken. Er sagte sie sich immer und immer wieder. Inzwischen griff seine freie Hand sorgfältig an den hölzernen Fensterladen herum. Die Ladenteile öffneten sich, kreischten laut beim -Öffnen, lauter als der Regen, der auf die Dächer fiel. Ein Wasserstrom ergoss sich vom Dach her auf sein Gesicht.
Plötzlich veränderte ein Streifen Licht alles. Die Dunkelheit war mitten entzwei geschnitten. Der Regen glitzerte wie ein Bettvorhang. Chrisfield sah ein kleines Zimmer, worin eine Lampe brannte. An einem Tisch, der mit gedruckten Blättern verschiedener Größe bedeckt war, saß ein Korporal. Hinter ihm eine Bettstelle und ein Haufen Ausrüstungsgegenstände. Der Korporal las ein «Magazin». Chrisfield sah ihn lange Zeit an. Seine Finger umschlossen fest einen glatten Stock. Niemand sonst war im Zimmer. Eine Art Panik erfasste Chrisfield. Er marschierte geräuschvoll vom Fenster weg und schob die Tür auf. «Wo ist Sergeant Anderson?» fragte er atemlos. «Der Korporal ist da, wenn es irgendwas Wichtiges gibt. Anderson ist nicht hier. Vorgestern ist er abgefahren.»
Chrisfield stand wieder draußen im Regen. Er schlug ihm gerade ins Gesicht, so dass seine Augen voll Wasser liefen. Er zitterte. Plötzlich erfasste ihn Schrecken. Der glatte Stab, den er hielt, schien zu brennen. Er ging geradeaus, die Straße hinunter, immer schneller und schneller, als ob er irgend etwas zu entfliehen versuche. Er stolperte über einen Haufen Steine. Automatisch zog er die Handgranate ab und warf sie weit weg. Dann war es einen Augenblick ruhig. Da spritzte plötzlich eine rote Flamme aus dem weichen Feld auf. Er fühlte das scharfe Krachen in der
Erde. Er ging schnell weiter durch den Regen. Hinter sich, an der Tür des Hauses, konnte er erregte Stimmen hören. Er setzte seinen Weg unbekümmert fort. Der Regen machte ihn fast blind. Als er endlich im Licht anhielt, war er so geblendet, dass er gar nicht sehen konnte, wer im Weinladen war.
«Nun, Chris?» fragte Andrews Stimme.
Chrisfield wusch sich den Regen mit den Lidern aus den Augen. Andrews saß mit einem Haufen von Papier und einer Champagnerflasche da und schrieb. Andys Stimme beruhigte die Nerven, so schien es Chrisfield. Er wusste, er würde immer weiter so sprechen, ohne Pause. «Du bist ein richtiger Vollblutidiot», fuhr Andrews leise fort. Er nahm Chrisfield am Arm und brachte ihn in das kleine hintere Zimmer, wo ein großes Bett mit einer braunen Decke war und ein kleiner Küchentisch, auf dem die Reste einer Mahlzeit standen.
«Was ist denn los? Dein Arm zittert ja wie der Teufel, warum... Oh, pardon, Crimpette, c'est un ami. Du kennst Crimpette, was?» Er wies zu einer jungen Frau, die am Bette saß, hinüber. Sie hatte ein rosiges Gesicht und violette Schatten unter den Augen und aufgelöstes Haar. Ein schmutziges graues Musenkleid, das halb offen stand, hielt ihre großen Brüste und ihre etwas dicke Gestalt schlecht zusammen. Chrisfield sah sie gierig an und fühlte, wie sich seine Wut in ein einziges Begehren entlud.
«Sag mal, Andy, wird die...» fragte er mit eifriger Stimme.
«Ich denke schon. Aber was ist denn mit dir, Chris, du bist wohl verrückt, das Lager ohne Erlaubnis zu verlassen.»
«Mach dass du rauskommst, Andy. Bin nicht deiner Art. Mach dass du rauskommst.»
«Du bist ein wilder Kerl, wollen einen trinken.»
«Nich' jetzt.»
Andrews saß da mit seiner Flasche und seinen Papieren, schob die zerbrochenen Teller weg, um auf dem fettigen Tisch Platz zu machen, nahm einen Schluck aus seiner Flasche, steckte dann das Ende seines Bleistiftes in den Mund und starrte schwer auf das Papier.
«Nein, im Grunde bin ich doch wie du, Chris», sagte er über die Schulter. «Nur man hat mich zahm gemacht. Oh, Gott, wie zahm ich bin!»
Chrisfield hörte nicht auf das, was Andrews sagte. Er stand vor der Frau und starrte ihr ins Gesicht. Sie sah ihn blöde und erschrocken an. Er kramte in den Taschen nach etwas Geld. Da er gerade seinen Sold bekommen hatte, hatte er eine Fünfzigfrancs-note bei sich. Er breitete sie sorgfältig vor ihr aus. Ihre Augen glitzerten, die Pupillen schienen kleiner zu werden, da sie sich auf das kleine, farbige Stück Papier hefteten. Plötzlich ergriff er es, zerknitterte es und steckte es brutal zwischen ihre Brüste. Sie grinste automatisch und begann ihr Kleid zu öffnen. Etwas rot war auf ihren dicken Backen erschienen.
«Monsieur permet?» fragte sie Andrews.
«Was geht's mich an!» Er beugte sich über seine Papiere.

Einige Zeit später setzte sich Chrisfield vor Andrews nieder. Er hatte immer noch seinen nassen Regenmantel an.
«Du denkst wohl, ich bin ein Schwein?» sagte er, wieder mit seiner gewöhnlichen Stimme. «Glaube übrigens, du hast recht.»
«Nein, ich denke das nicht», sagte Andrews. Irgend etwas veranlasste ihn, seine Hand auf Chrisfields Hand zu legen, die auf dem Tisch ruhte. Sie strömte ein Gefühl kühler Gesundheit aus.
«Sag, warum zittertest du so, als du hier reinkamst? Jetzt scheinst du wieder in Ordnung zu sein.»
«Oh, ich weiß nicht», antwortete Chrisfield mit sanfter, voller Stimme.
«Das Bett quiekte vorhin», sagte Andrews. Chrisfield lachte laut und natürlich und schlug mit der Faust auf den Tisch.
«So», sagte er. «Es quiekte?»
Sie schwiegen eine lange Zeit. Hinter sich konnten sie die Schritte der hin und her gehenden Frau hören. «Wollen nach Hause gehen», meinte Chrisfield. «Gut... Bon soir, Crimpette.»
Draußen hatte der Regen aufgehört. Ein stürmischer Wind hatte die Wolken in Fetzen gerissen. Hier und dort waren am Himmel Gruppen von Sternen zu sehen. Sie marschierten fröhlich durch die Pfützen.
«Ich wünschte, ich wäre wie du, Andy», sagte Chrisfield.
«Du wirst nicht so sein wie ich, Chris. Ich bin überhaupt kein Mensch, ich bin zahm. Oh, du weißt nicht, wie verflucht zahm ich bin.»
«Wenn man was gelernt hat, kommt man bestimmt in der Welt vorwärts.»
«Ja, aber welchen Sinn hat das überhaupt, vorwärts kommen in einer Welt, zu der man nicht gehört, die man hasst, in der man nicht vorwärts kommen will. Chris, ich gehöre zu denen, denen Wissen Qual ist. Ich denke, das Beste wäre, in dieser Schächterei mit geschlachtet werden. Wir sind eine zahme Generation... Menschen wie du dürfen nicht getötet werden...»
«Ich tauge nichts... Mir ist auch alles schnurzegal. Bin müde.»
Als sie durch die Tür in ihr Quartier hineinschlüpften, sah der Sergeant Chrisfield forschend an. Andrews sprach ihn sofort an.
«Die Zweiunddreißiger sagen, wir würden am Donnerstag losmarschieren.»
«Die wissen viel darüber!»
«Es wird aber ganz bestimmt behauptet!»
«Dummköpfe! Will dir was ganz im Vertrauen sagen, Andrews. Es wird noch vor Donnerstag sein, oder ich bin ein Boche!»
Sergeant Higgins setzte ein mysteriöses, bedeutungsvolles Gesicht auf. Chrisfield ging an sein Lager, zog sich still aus und legte sich unter seine Decken. Er streckte seine Arme mehrmals matt aus. Während Andrews noch mit dem Sergeanten sprach, fiel er in Schlaf.

 

5

Der Mond lag zwischen den Wolken am Horizont, wie ein großer roter Kürbis zwischen seinen Blättern. Chrisfield schielte hinauf durch die Zweige der Apfelbäume, die vor Äpfeln schwer hinunterhingen und der frischen Luft einen weinartigen Duft gaben. Er saß auf dem Boden, die Beine schlaff vor sich ausgestreckt, an den rauen Stamm eines Apfelbaumes gelehnt. Ihm gegenüber, ebenfalls an einen Apfelbaum gelehnt, war die quadratische Gestalt von Judkins. Zwischen ihnen lagen zwei leere Cognacflaschen. Um sie herum rauschte der Obstgarten mit seinen hängenden Zweigen, die ein krachendes Geräusch machten, wenn der Herbstwind in Stößen durch sie hindurchfuhr. Schwer stieg der Geruch feuchter Wälder und verwesender Früchte und das ganze Gären überreifer Felder auf. Chrisfield fühlte, wie der Wind sein feuchtes Haar ihm in die Stirn wehte, und durch das
Summen des Cognacs in seinem Kopf hindurch hörte er das Plum-Plum-Plum der Äpfel, die bei jedem Windstoß herunterfielen und das Schwirren der Nachtinsekten und ganz weit in der Ferne das endlose Brüllen von Kanonen, wie das Tam-Tam bei einem Tanz.
«Hast du gehört, was der Oberst gesagt hat?» fragte Judkins mit einer von zu vielem Trinken heiseren Stimme.
Chrisfield rülpste und nickte vage mit dem Kopf. Er dachte an Andrews' helle Wut, als man sie hatte abtreten lassen, wie er sich hingesetzt hatte auf einen Baumstamm in der Nähe der Feldküche und auf den Flecken Erde hinabstarrte, den er mit seinem Stiefel bearbeitete.
«Dann», fuhr Judkins fort, indem er versuchte, die feierliche Stimme des Obersten zu imitieren, «was die Gefangenen angeht» — er schluckte und machte eine unsichere Geste mit der Hand. «Was die Gefangenen angeht, das überlasse ich euch. Aber denkt daran... denkt daran, was die Hunnen in Belgien gemacht haben, und ich will hinzufügen, dass wir kaum genug Lebensmittel für uns selbst haben, und je mehr Gefangene ihr macht, desto weniger werdet ihr selbst zu fressen haben. So!» sagte er.
«Und je mehr Gefangene ihr macht, desto weniger werdet ihr selbst zu fressen haben.»
Judkins machte eine triumphierende Bewegung mit seiner Hand. Chrisfield griff nach der Cognacflasche. Sie war leer. Er schwenkte sie einen Augenblick in der Luft. Dann warf er sie an den Baum ihm gegenüber. Ein Regen kleiner Äpfel fiel über Judkins nieder. Er stand unsicher auf.
«Ich sage euch, Kerls», stotterte er, «Krieg ist kein Picknick.»
Chrisfield ergriff einen Apfel. Seine Zähne knirschten im Fleisch des Apfels.
«Süß», sagte er.
«Süß? Gar nischt...» murmelte Judkins. «Krieg ist kein Picknick... Ich sage euch, wenn ihr Gefangene macht...» er schluckte wieder. «Der Oberst sagte, dann haue ich euch die Jacke voll. Brecht ihnen die Eingeweide raus!»
Seine Stimme wurde plötzlich kindisch. «Donnerwetter, Chris, ich werde krank», flüsterte er.
«Sieh dich vor», sagte Chrisfield und schob ihn weg. Judkins lehnte sich gegen einen Baum und kotzte.
Der Vollmond war über den Wolken aufgestiegen und füllte den Obstgarten mit kühlem, goldigem Licht. Der Lärm der Kanonen war lauter geworden, wie das Rollen von Kegeln auf einer harten Kegelbahn, dazwischen ein unaufhörliches Brüllen, als ob schwere, eiserne Decken hin und her geschüttelt werden.
«Da draußen ist's sicher wie in der Hölle», meinte Chrisfield.
«Mir ist jetzt besser», sagte Judkins. «Wollen noch ein bisschen Cognac holen gehen.»
«Bin hungrig», erwiderte Chrisfield. «Die alte Frau da drüben soll uns ein paar Eier kochen.»
«Zu spät», murmelte Judkins.
«Wie spät ist's eigentlich?»
«Weiß nicht. Habe meine Uhr verkauft.»
Sie gingen ziellos durch den Garten. Sie kamen an ein Feld voll großer Kürbisse, die im Mondlicht glänzten und tief schwarze Schatten warfen. In der Ferne konnte man waldbewachsene Hügel sehen. Chrisfield nahm einen mittelgroßen Kürbis in die Hand und warf ihn so kräftig er konnte in die Luft. Er platzte in drei Stücke, als er auf dem Boden aufschlug und die feuchten gelben Samenkörner herausspritzten.
«Kräftiger Kerl bist du», sagte Judkins und warf einen größeren in die Luft.
«Da drüben ist ein Bauernhaus.»
In diesem Augenblick ertönte ein Hahnenschrei über die schweigenden Felder. Sie liefen zu den dunklen Bauernhäusern hinüber.
«Sieh dich vor, da sind vielleicht Offiziere einquartiert.»
Sie gingen vorsichtig um die viereckige, schweigende Gruppe von Gebäuden herum. Kein Licht. Die große, hölzerne Tür des Hofes öffnete sich leicht, ohne Geräusch. Auf dem Dache der Scheune stand das Taubenhaus schwarz und scharf gegen die Mondscheibe. Ein warmer Geruch von Ställen strömte ihnen in die Nase, als sie sich hineinschlichen. Drinnen fanden sie einen Tisch, auf dem viele Birnen zum Reifen ausgelegt waren. Chrisfield biss in eine hinein. Der süße Saft lief ihm das Kinn hinunter. Er aß die Birne schnell und gierig und biss dann in eine andere.
«Füll dir die Taschen damit», flüsterte Judkins.
«Sie könnten uns erwischen.»
«Ach was, erwischen. Morgen oder übermorgen machen wir Offensive.»
«Möchte schon ein paar Eier haben.»
Chrisfield machte eine der Scheunentüren auf. Der Geruch von Milch und Rahm und Käse quoll ihnen entgegen.
«Komm hierher», flüsterte er. «Willst du Käse?»
Eine Menge Käse war auf dem Brett aufgeschichtet und leuchtete hell in dem Mondlicht, das zur Tür hereinkam.
«Taugt nicht zum Essen», meinte Judkins und bohrte mit seinen schweren Fäusten an einem der neuen, weichen Käse herum.
«Lass das doch.»
«Wir haben sie doch vor den Hunnen gerettet, das ist alles», meinte Judkins.
An der nächsten Tür fanden sie Hühner. Plötzlich gab es ein lautes Geräusch, und alle Hühner schrieen vor Schrecken.
«Mach, dass wir fortkommen», murmelte Judkins und lief nach dem Tor des Bauernhauses.
Schrille Schreie von Frauen im Hause ertönten hinter ihnen. Eine Stimme: «Ce sont les boches, ce sont les boches!» übertönte das Geschrei der Hühner.
«Verflucht», meinte Judkins atemlos. «Dazu haben sie kein Recht, diese französischen Weiber, sich so zu benehmen!»
Sie duckten sich in dem Obstgarten. Das Huhn, das Judkins noch in der Hand hielt und an den Beinen herumschwenkte, schrie jämmerlich. Judkins packte es am Hals. Sie zertraten die am Boden liegenden Äpfel, als sie den Obstgarten schnell durchschritten.
«Wir haben sie doch vor den Hunnen gerettet.» «Andy denkt nicht so.»
«Wenn du wissen willst, was ich über diesen Andy denke: halte nicht viel von dem Kerl. Das ist'n Hetzer», sagte Judkins. «Ist nicht wahr.»
«Ich hörte den Leutnant das sagen, das ist ein gottverfluchter Hetzer, dieser Kerl.»
Chrisfield fluchte missmutig.
«Wart mal ab, sag ich dir, Mensch, Krieg ist kein Picknick. Was wollen wir übrigens mit dem Huhn machen?» fragte Judkins. «Weißt du noch, was dem Eddy White passierte?» «Wir sollten es doch lieber hier lassen.»
Judkins schwang das Huhn um seinen Kopf und warf es so kräftig er konnte in die Büsche. Sie gingen die Straße hinunter zwischen den Kastanien nach ihrem Dorfe. Es war dunkel, nur unregelmäßige Streifen hellen Mondlichtes lagen weiß wie Milch zwischen den dunklen Schatten der Blätter. Rings um sie herum erhob sich der kühle Geruch von Wäldern, reifen Früchten, sterbenden Blättern und des ganzen herbstlichen Landes.

Die Kompanie war in der Dorfstraße mit ihrem Gepäck aufmarschiert und wartete auf die Befehle zum Vorwärtsmarschieren. Dünne Streifen weißen Nebels lagen noch in den Bäumen über den kleinen Gärten. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, die Reihen von Wolken in dem blassblauen Himmel glänzten rot und golden. Die Leute standen in unregelmäßigen Linien, ein wenig vornübergebeugt vom Gewicht ihrer Ausrüstung. Sie bewegten sich hin und her, stampften mit den Füßen und schlugen die Arme zusammen; Nasen und Ohren waren rot von der Kälte des Morgens. Ihr Atem stieg wie Bauch empor.
Unten in der nebeligen Straße erschien eine graue Limousine, die langsam näher kam. Sie hielt vor der aufmarschierten Kompanie. Der Leutnant kam eilig aus dem gegenüberliegenden Hause und zog ein Paar Handschuhe an. Die Kompanie schaute neugierig auf die Limousine. Sie konnten sehen, dass zwei der Reifen flach gedrückt und dass das Glas zerbrochen war. Kratzer waren auf dem Lack, und in der Tür befanden sich drei lange, ausgezackte Löcher. Ein leises Gemurmel lief die Linie der Kompanie herab. Die Tür öffnete sich schwer, und ein Major in einem hellen lederfarbenen Mantel stolperte heraus. Der eine Arm, der in blutige Tücher eingewickelt war, lag in einer Schlinge, die aus einem roten Taschentuch gemacht war. Sein Gesicht war weiß und starrte vor Schmutz. Der Leutnant salutierte.
«Um Gottes willen, wo ist hier eine Verbandsstation?» fragte der Major mit lauter, zittriger Stimme.
«In diesem Dorf gibt es keine, Major.»
«Wo zum Teufel ist denn eine?»
«Weiß nicht», sagte der Leutnant in demütigem Tone.
«Warum zum Teufel wissen Sie das nicht? Diese ganze Organisation ist faul, taugt nichts... Major Standy ist gerade getötet worden. Wie heißt dies verfluchte Dorf?»
«Thiaucourt.»
«Wo ist das, zum Teufel?»
Der Chauffeur hatte sich herausgelehnt. Er hatte keine Mütze auf.
«Wir wollen nach Chalons, Leutnant.»
«Ja, Chalons-sur... Chalons-sur-Mame», ergänzte der Major.
«Der Quartiermacher hat eine Karte», sagte der Leutnant. «Letztes Haus auf der linken Seite.»
«Schnell», flüsterte der Major. Er bemühte sich, die. Tür zu öffnen. Der Leutnant öffnete sie für ihn. Als er die Tür geöffnet hatte, konnten die Zunächststehenden einen kurzen Blick in das Innere des Wagens werfen. In der einen Ecke war ein großer, in Decken gehüllter Gegenstand zu sehen, der auf dem Sitz festgeschnallt war. Durch die Decken quoll Blut.
Bevor er einstieg, beugte sich der Major heraus und zog ein wollenes Tuch heraus, das er mit seinem gesunden Arm von sich forthielt. Der Wagen bewegte sich langsam weiter, und die ganze Dorfstraße hinunter starrten die Soldaten, die in Erwartung der Befehle da standen, auf die drei zackigen Löcher in der Tür.
Der Leutnant sah auf das Tuch, das in der Mitte der Straße lag. Er berührte es mit seinem Fuße. Es war voller Blut, das stellenweise in Klumpen getrocknet war.
Der Leutnant und die Leute seiner Kompanie sahen das Tuch an, schweigend. Die Sonne war aufgegangen und schien auf die Dächer der kleinen Häuser hinter ihnen. Weit unten an der Straße hatte sich ein Regiment in Marsch gesetzt.

 

6

Als sie das nächste Mal Halt machten, stand Chrisfield neben einer Batterie französischer 7,5er. Er sah neugierig die Franzosen an, die auf Holzklötzen in ihren hellblauen Hemdsärmeln herumsaßen, Karten spielten und rauchten. Ihre Gesten irritierten ihn.
«Sag ihnen doch, dass wir avancieren», sagte er zu Andrews.
«So?» fragte der. «Gut. Dites-donc, les boches, courentils comme les lapins?» rief er. Einer der Männer wandte den Kopf und lachte.
«Er sagt, sie laufen schon vier Jahre lang denselben Weg», übersetzte Andrews. Er ließ sein Gepäck von den Schultern herabgleiten, setzte sich darauf und fischte sich eine Zigarette heraus. Chrisfield nahm den Helm ab und strich sich mit seiner schlammbedeckten Hand durch das Haar. Er nahm ein Stück Kautabak und setzte sich, indem er die Hände über die Knie legte.
«Wie lange zum Teufel werden wir diesmal hier warten müssen?» murmelte er.
Die Schatten gespaltener Bäume krochen langsam über die Straße. Die französischen Artilleristen aßen ihr Abendbrot. Ein langer Zug Lastautos holperte vorbei und bespritzte die auf beiden Seiten der Straße zusammengedrängten Leute mit Dreck. Die Sonne ging unter, und eine Menge Batterien unten im Tal fingen an zu feuern und machten ein Gespräch unmöglich. Die Luft war voll von dem Gekreisch der Granaten. Die Franzosen dehnten sich und gähnten und krochen in ihre Gräben. Chrisfield beobachtete sie neidisch. Die Sterne begannen im grünen Himmel hinter den hohen, zerrissenen Bäumen herauszukommen. Chrisfields Beine schmerzten vor Kälte. Er begann plötzlich, wahnsinnig gespannt, auf irgend etwas, was geschehen würde, zu horchen, aber die Kolonne wartete regungslos in der wachsenden Dunkelheit. Chrisfield kaute beständig und versuchte an nichts als an den Geschmack des Tabaks im Munde zu denken.
Die Kolonne setzte sich wieder in Bewegung. Als sie die Höhe eines anderen Hügels erreichte, fühlte Chrisfield einen seltsamen, süßlichen Geruch, der ihm in der Nase Schmerz verursachte. «Gas», dachte er und legte seine Hand an die Gasmaske, die ihm um den Hals hing. Aber er wollte nicht der erste sein, der sie umlegte. Er marschierte weiter, fluchte auf den Sergeanten und auf den Leutnant. Aber vielleicht waren die schon davon getötet. Er sah plötzlich, wie das ganze Regiment langsam, vom Gas überwältigt, auf der Straße zusammensank.
«Riechst du was, Andy?» flüsterte er.
«Ich rieche was von toten Pferden und Bananenöl und Speiseeis, und von toten Ratten. Aber was geht uns das jetzt alles an», erwiderte Andrews lachend. «Das ist das dreckigste Geschäft überhaupt...»
«Er ist verrückt», murmelte Chrisfield zu sich selbst. Er sah in die Sterne hinauf, in den schwarzen Himmel, der sich mit der marschierenden Kolonne vorwärts zu bewegen schien. Oder standen sie und die Sterne still, während die Bäume sich von ihnen fortbewegten und mit ihren langen, dünnen Armen winkten? Er konnte fast das Getrampel der Schritte auf der Straße
nicht hören, so laut war der Lärm der Kanonen vor und hinter ihm. Von Zeit zu Zeit platzte eine Rakete vor ihm, und ihr rotes und grünes Licht vermengte sich für einen Augenblick mit den Sternen. Doch nur direkt über sich konnte er die Sterne sehen. Überall sonst waren weiße und rote Leuchtkugeln, die aufstiegen und fielen, als ob der Horizont in Feuer stände.
Wie sie die Böschung hinunter zu marschieren begannen, hörten die Bäume plötzlich auf, und sie sahen das Tal vor sich, voll von dem Schein der Kanonen und dem weißen Licht platzender Geschosse. Es war, als ob man in einen Ofen voll glühender Asche hineinschaue. Der Hügelabhang war voll krachender Detonation und gelber, züngelnder Flammen. In einer Batterie in der Nähe der Straße konnten sie die dunklen Gestalten der Artilleristen, die in phantastischen Silhouetten gegen das Bot des Himmels abstachen, sehen. Betäubt und geblendet setzten sie ihren Marsch auf der Straße fort. Chrisfield schien es, als ob sie jeden Augenblick in die flammende Mündung einer Kanone hineinmarschieren würden. Am Fuße des Hügels neben einem kleinen Hain unversehrter Bäume hielten sie wieder an. Ein neuer Zug von Motorlastwagen kroch an ihnen vorbei, ungeheure Flecken in der Dunkelheit. Da in der Nähe keine Batterien waren, konnten sie das Rollen der Wagen über die unebene Straße von einem Granatloch in das andere hören.
Chrisfield legte sich in einen trockenen Graben und döste, mit dem Kopf auf seinem Gepäck. Rings um ihn herum lagerten sich andere Männer. Irgendeiner hatte seinen Kopf auf Chrisfields Bein gelegt. Der Lärm hatte ein wenig nachgelassen. Durch seinen Halbschlaf hindurch konnte er die Männer sprechen hören, leise, als ob sie Furcht hätten, laut zu reden; auf der Straße riefen die Führer der Motorwagen sich schrill an. Die Wagen hörten auf zu fahren; es wurde so still, dass Chrisfield in Schlaf fiel. Irgend etwas weckte ihn; steif vor Kälte und Schrecken. Einen Augenblick dachte er, man habe ihn allein gelassen, die Kompanie sei schon weitermarschiert. Über ihm war ein Surren, wie von gigantischen Moskitos, das immer stärker anschwoll. Er hörte die Stimme des Leutnants schreien. «Sergeant Higgins! Sergeant Higgins!» Der Leutnant stand plötzlich schwarz ab vor einem Flammentuch. Chrisfield konnte seine Mütze sehen und seinen steif abstehenden Rock. Er wurde von der Explosion erfasst. Seine Ohren dröhnten. Die Kolonne marschierte wieder vorwärts, und er hörte Stöhnen in der Dunkelheit. Das Getrampel der Füße und das Geräusch der Ausrüstungsgegenstände ließ keinen anderen Laut aufkommen. Er fühlte, wie seine Schultern wund wurden unter dem Zug des Gepäcks. Dann und wann zeigte ihm der Schein der hinter ihm platzenden Aeroplanbomben zerstörte Lastkraftwagen auf der Seite der Straße. Irgendwo ratterte ein Maschinengewehr. Aber die Kolonne marschierte vorwärts, ermüdet von dem Gepäck und von der tötenden Spannung.
Die Dunkelheit war hell wie im Gewittersturm. Langsam überwand sie der grauende Morgen. Chrisfield hörte auf zu marschieren. Seine Augenlider stachen, als ob die Augäpfel flammend heiß seien. Er konnte Beine und Füße nicht fühlen. Die Kanonen dröhnten unaufhörlich weiter, wie ein Hammer, der ihm ewig auf den Kopf schlug. Er ging langsam weiter, dann und wann stolperte er gegen seinen Vordermann. Erde war auf beiden Seiten. Plötzlich stolperte er ein paar Treppen hinunter in einen Graben, wo es ganz schwarz war. Ein unbekannter Geruch kam ihm entgegen und verursachte ein Unwohlsein, doch seine Gedanken schienen ihn aus einer ungeheuren Entfernung zu erreichen. Er stieg den Wall hinauf. Seine Knie schlugen gegen eine Schlafstelle mit Betttüchern darin. In der nächsten Sekunde sank er auf dem Bett in tiefen Schlaf.
Als er aufwachte, war sein Bewusstsein sehr klar. Das Dach des Unterstandes war aus Holz. Ein heller Fleck in der Ferne war eine Tür. Er hoffte verzweifelt und voller Angst, dass er keinen Dienst habe. Er wunderte sich, wo Andy sei. Dann erinnerte er sich, dass Andy ein verrückter Kerl, ein Hetzer sei, Judkins hatte ihn doch so genannt. Er setzte sich mit Mühe auf, zog die Schuhe aus und wickelte sich in die Decke. Rings um ihn ertönte Schnarchen und das tiefe Atmen schlafender Menschen. Er schloss die Augen.
Er stand vor einem Kriegsgericht. Er stand mit den Händen an den Seiten vor drei Offizieren an einem Tisch. Alle drei hatten dieselben weißen Gesichter mit schweren blauen Unterkiefern und Augenbrauen, die über der Nase zusammentrafen. Sie lasen laut aus Papieren vor, aber obschon er seine Ohren anstrengte, konnte er nicht hören, was sie sagten. Alles, was er hören konnte, war ein schwaches Stöhnen. Irgend etwas hatte einen unbekannten seltsamen Geruch, der ihn störte. Er konnte nicht ruhig strammstehen, obschon die wütenden Augen der Offiziere ihn von überallher anstarrten.
«Sergeant Anderson, was ist das für ein Geruch?» fragte er immer und immer wieder mit verschüchterter, weinerlicher Stimme. «Sag mir doch, was das für ein Geruch ist.» Doch die drei Offiziere vor dem Tisch lasen immer weiter aus ihren Papieren. Das Stöhnen wurde immer lauter und lauter in seinen Ohren, bis es zu einem schrillen Schreien anwuchs. Eine Granate war in seiner Hand. Er zog sie ab und warf sie. Er sah die Uniform des Leutnants vor einem großen, weißen Flammentuch. Irgend etwas sprang ihn an. Er rang um sein Leben mit Anderson, der sich plötzlich in eine Frau mit ungeheuren Brüsten verwandelte. Er erdrückte sie und wandte sich, um sich gegen die drei Offiziere zu wehren, die gegen ihn anstürmten mit ihren festgeschnürten Uniformen, die ihnen immer enger um den Leib wuchsen, bis sie aussahen wie Wespen. Dann verschwand alles, und er wachte auf.
Der seltsame, störende Geruch war immer noch da. Er saß auf der Ecke der Lagerstelle, wand sich auf seinem Lager, sein Körper war voller Läuse.
«Donnerwetter, ist doch komisch, hier zu sein, wo die Fritzies eben raus sind», hörte er eine Stimme sagen.
«Halt's Maul, wir avancieren!» kam eine andere Stimme.
«Ach was, avancieren! Haben doch noch überhaupt keinen Deutschen gesehen.»
«Aber ich kann sie riechen», sagte Chrisfield und stand plötzlich auf. Sergeant Higgins Gesicht erschien in der Tür.
«Antreten!» kommandierte er. Dann fügte er mit seiner gewöhnlichen Stimme hinzu:
«Drauf und dran, Kerls!»

Chrisfield fing sich mit seiner Gamasche in dem Gestrüpp am Ende einer Lichtung. Er versuchte durch Hin- und Hertreten sein Bein freizubekommen. Schließlich gelang es ihm, doch die zerrissene Gamasche schleppte hinterher. Draußen im Sonnenlicht sah er in der Mitte der Lichtung einen Mann neben irgend etwas am Boden knien. Ein Deutscher lag dort mit dem Gesicht nach unten und einem roten Loch im Rücken. Der Mann durchsuchte seine Taschen. Er sah auf, in Chrisfields Gesicht. «Souvenir», sagte er.
«Zu welchem Regiment gehörst du, Junge?» «Hunderteinundvierziger», sagte der Mann und stand langsam wieder auf.
«Wo zum Teufel sind wir?» «Wenn ich das wüsste!»
Die Lichtung war menschenleer außer den beiden Amerikanern und dem Deutschen mit dem Loch im Rücken. In der Ferne hörten sie die Artillerie und in der Nähe das Put-Put-Put einzelner Maschinengewehre. Die Blätter der Bäume in der Nähe mit ihren braunen und rötlichen und gelben Schatten tanzten im Sonnenlicht.
«Sag mal, das dreckige Geld da ist wohl nichts wert?» fragte Chrisfield.
«Deutsches Geld? Nee. Ich habe eine feine Uhr.»
Der Mann zeigte eine goldene Taschenuhr und sah Chrisfield die ganze Zeit über aus halbgeschlossenen Augen forschend an.
«Ich sah einen, der hatte einen Säbel mit goldenem Griff», meinte Chrisfield.
«Wo denn?»
«Oh, da hinten im Wald.» Er schwenkte die Hand vage. «Muss meine Kompanie finden. Kommst du mit?»
Chrisfield setzte sich auf das andere Ende der Lichtung zu in Bewegung.
«Mir geht's hier ganz gut», sagte der andere und legte sich wieder auf das Gras in die Sonne.
Die Blätter raschelten, als Chrisfield durch den Wald ging. Die Einsamkeit erschreckte ihn. Er ging weiter, so schnell er konnte mit seiner Gamasche, die noch immer hinter ihm her schleppte. Später kam er an eine Wiese, die den Wald gerade abschnitt, drunten in einem Flecken Sonnenlicht sah er eine Gestalt, der er sich eilig näherte. Es war ein junger Mann mit rotem Haar und hellem Gesicht. An dem goldenen Abzeichen am Kragen seines Hemdes sah Chrisfield, dass er einen Leutnant vor sich hatte.
Er hatte keinen Rock oder Kopfbedeckung, und seine Kleidung war voll grünlichen Schleimes, als ob er mit dem Bauch in einer Dreckpfütze gelegen habe.
«Wo gehen Sie hin?»
«Weiß nicht.»
«Gut, kommen Sie mit.»
Der Leutnant begann, so schnell er konnte, weiter zu marschieren und schwang die Arme wild um sich. «Haben Sie irgendwelche Maschinengewehrnester gesehen?» «Nicht ein einziges.» «Hm.»
Er folgte dem Leutnant, der so schnell ging, dass er fast Schwierigkeit hatte, mitzukommen.
«Wo ist die Artillerie, das will ich wissen!» schrie der Leutnant, plötzlich einhaltend und mit der Hand durch sein rotes Haar fahrend. «Wo zum Teufel ist die Artillerie?» Er sah Chrisfield wild an aus seinen grünen Augen.
«Hat keinen Sinn, vorwärts zu gehen ohne Artillerie.» Er begann, weiterzugehen noch schneller als vorher. Plötzlich sahen sie vor sich olivfarbene Uniformen, Maschinengewehre begannen rings herum in plötzlichen Stößen zu feuern. Chrisfield bemerkte plötzlich, dass er vorwärtslief über ein Feld voller Stoppeln zwischen einer Gruppe von Männern, die er nicht kannte. Das peitschenähnliche Geräusch von Gewehren klang zusammen mit dem Rattern der Maschinengewehre. Kleine weiße Wolken segelten über den blauen Himmel, und vor ihm war eine Gruppe Häuser, die dieselbe weiße Farbe mit grünen Schatten hatte wie die Wolken.
Er stand in einem Hause mit einer Granate in jeder Hand. Die plötzliche Einsamkeit erschreckte ihn wieder. Vor dem Hause war der Lärm der Maschinengewehre, der manchmal plötzlich von dem Bersten der Granaten unterbrochen wurde. Er sah auf den roten Fußboden und auf das Bild einer Frau, das an der Wand ihm gegenüber hing. Er war in einer kleinen Küche. Im Herd brannte etwas Feuer, irgend etwas kochte in einem schwarzen Topfe. Chrisfield ging auf den Zehen hinüber und sah hinein. Auf dem Grunde des kochenden Wassers sah er einige Kartoffeln. Am anderen Ende der Küche war zwischen zwei zerbrochenen Stühlen eine Tür. Chrisfield kroch hinüber. Die Ziegel schienen ihm unter den Füßen zu schwinden. Er legte den Finger auf das Schloss und machte es plötzlich auf. Er hielt den Atem an und stand eine Zeitlang auf die Türe sehend. Dann zog er sie auf. Ein junger Mann mit blondem Haar saß am Tische, den Köpf in den Händen. Chrisfield fühlte Freude in sich aufsteigen, als er sah, dass die Uniform des Mannes grün war. Sehr kühl hielt er
die Granate eine Sekunde in der Hand.   Dann warf er sie. Er
selbst sprang mit einem Satz in die Mitte der Küche zurück. Der blondhaarige Mann hatte sich nicht bewegt. Seine blauen Augen starrten noch gerade vor sich. Auf der Straße traf Chrisfield auf einen großen Mann, der lief und lief. Der Mann hielt seinen Arm krampfhaft fest und sagte: «Der Train rückt nach!» «Welcher Train?»
«Unserer! Wir müssen laufen, damit er uns nicht einholt!»
Er keuchte nach Luft. Rote Flecken waren auf seinem Gesicht. Sie liefen zusammen die leere Dorfstraße hinunter. Im Vorbeilaufen sahen sie den kleinen rothaarigen Leutnant, der gegen eine weißgewaschene Wand gelehnt stand, seine Beine waren eine Masse von Blut und zerrissenem Zeug. Er schrie unaufhörlich mit schriller, delirierender Stimme, die sie noch weit die offene Straße hinunter verfolgte: «Wo ist die Artillerie? Ich will das wissen! Wo ist die Artillerie?»

Die Wälder waren grau und nass in der Dämmerung. Chrisfield stand steif auf von dem Blätterhaufen, auf dem er geschlafen hatte. Er fühlte sich benommen vor Kälte und Hunger, einsam und verlassen. Rings um ihn waren Leute aus anderen Divisionen. Ein Hauptmann mit einem mächtigen Schnurrbart ging auf und ab, in eine Decke gewickelt, auf der Straße, gerade hinter einer Gruppe von Birken. Chrisfield hatte ihn beobachtet, wie er hin und her ging, hin und her hinter den nassen Stämmen der Bäume, seitdem es hell geworden war. Er stampfte mit den Füßen die feuchten Blätter, dann ging er weg von dieser Gruppe. Niemand schien es zu beachten. Die Bäume schlossen sich hinter ihm. Er konnte nichts sehen als feuchte, graugrüne Bäume und die gelben Blätter, die ihm in jeder Richtung die Aussicht versperrten. Er wunderte sich dumpf, warum er gerade in dieser Richtung weitermarschiere. Irgendwo im Untergrund seines Bewusstseins war der vage Gedanke, seine Kompanie zu finden. Sergeant Higgins und Andy und Judkins und Small — was wohl aus ihnen geworden sein mag? Er dachte an die Kompanie, wie sie zum Essen aufmarschiert war und an den Geruch fettigen Essens, der aus der Feldküche aufstieg. Er war entsetzlich hungrig. Er hielt an und lehnte sich gegen den moosbedeckten Stamm eines Baumes. Die leichte Wunde in seinem Bein hämmerte so, als ob alles Blut seines Körpers dort hinabtreibe. Jetzt, da seine raschelnden Tritte aufgehört hatten, war der Wald absolut still und ruhig, nur manchmal tropfte Tau von den Blättern und Zweigen. Er strengte seine Ohren an, um irgendein anderes Geräusch zu hören. Dann bemerkte er, dass er einen Baum anstarrte, der voll kleiner, roter Holzäpfel war. Er pflückte eine Handvoll gierig. Aber sie waren hart und sauer und schienen ihn noch hungriger zu machen. Der saure Geschmack in seinem Munde machte ihn wütend und ärgerlich. Er trat gegen den dünnen Stamm des Baumes, während ihm Tränen des Schmerzes in die Augen traten. Er fluchte laut in einem weinerlichen Singsang, dann marschierte er ab durch den Wald, die Augen auf den Boden geheftet. Zweige peitschten ihn bösartig ins Gesicht. In hängenden Ästen verfing er sich; doch er zwang sich vorwärts. Plötzlich stolperte er gegen irgend etwas Hartes, das zwischen den Blättern lag. Er hielt an und sah erschreckt um sich. Zwei Granaten lagen gerade unter seinem Fuß, und ein wenig weiter saß ein Mann mit offenem Munde gegen einen Baum gelehnt. Chrisfield dachte zuerst, er schlafe, weil seine Augen geschlossen waren. Er sah die Granaten sorgfältig an, steckte sie dann in die Tasche, schaute zu dem Manne hinüber, der zu schlafen schien und marschierte weiter. Dann betrat er einen andern Weg im Walde, an dessen Ende er Sonnenlicht sehen konnte. Der Himmel über ihm war voll schwerer purpurner Wolken, die hier und da gelblich gespritzt waren. Wie er im Sonnenlicht marschierte, dachte er, er hätte sich doch die Taschen des Mannes, der dort an den Baum gelehnt saß, ansehen sollen. Er stand einen Augenblick still, zögernd, dann begann er wieder weiter in der Richtung auf das Sonnenlicht zu marschieren. Irgend etwas glitzerte in dem unregelmäßigen Durcheinander von Sonne und Schatten. Ein Mann saß da, auf dem Boden, die Mütze über die Augen gezogen, so dass man den kleinen goldenen Streifen seiner Mütze im Sonnenlicht sehen konnte. Chrisfields erster Gedanke war, dass der vielleicht etwas zu essen bei sich habe. «Leutnant!» schrie er. «Wissen Sie, wo man was zu essen kriegen kann?»
Der Mann hob langsam den Kopf. Chrisfield zitterte über und über, als er das weiße, schwere Gesicht von Anderson sah; sein unrasierter Bart stand sehr schwarz auf seinem viereckigen Kinn. Eine große Wunde mit geronnenem Blut, die sich von den Augenbrauen über die linke Backe bis in die Ecke des Mundes erstreckte, ließ sein Gesicht wie einen Klumpen erscheinen.
«Gib mir etwas Wasser», sagte Anderson mit schwacher Stimme.
Chrisfield gab ihm seine Feldflasche schweigend. Er bemerkte, dass Andersons Arm in einer Schlinge lag und dass er gierig trank und das Wasser über sein Kinn und seinen Arm goss.
«Wo ist Oberst Evans?» fragte Anderson mit schwacher Stimme.
Chrisfield antwortete nicht und sah ihn nur dumpf an. Die Feldflasche war ihm aus der Hand gefallen und lag auf dem Boden vor ihm. Das Wasser glitzerte im Sonnenlicht, wie es durch die rotbraunen Blätter lief. Ein Wind hatte sich erhoben und rauschte in den Bäumen. Ein Schauer gelber Blätter fiel ringsum herunter.
«Zuerst warst du Korporal, dann Sergeant und jetzt Leutnant», sagte Chrisfield langsam.
«Sag mir lieber, wo Oberst Evans ist. Du musst es wissen! Er war vor einiger Zeit da oben an der Straße irgendwo», sagte Anderson und versuchte aufzustehen.
Chrisfield ging weg, ohne zu antworten. Seine Hand lag kalt um die Granate in seiner Tasche. Er ging langsam und blickte auf seine Füße.
Plötzlich bemerkte er, dass er sie abgezogen hatte. Er strengte sich an, sie aus der Tasche heraus zu bekommen. Sie saß in der engen Tasche fest. Sein Arm und seine kalten Finger, die die Granate umklammerten, schienen paralysiert zu sein. Dann durchströmte ihn warme Freude. Er hatte sie geworfen.
Anderson war aufgestanden, schwankte hin und her, vorwärts und rückwärts. Die Explosion ließ den Wald erzittern. Ein dicker Regen gelber Blätter kam herunter. Anderson lag flach am Boden, so flach, als ob er in die Erde eingesunken sei.
Chrisfield zog auch die andere Granate ab und warf sie mit geschlossenen Augen. Sie platzte zwischen den dicken, frischgefallenen Blättern.
Ein paar Tropfen Regen fielen. Chrisfield ging weiter, schnell, mit einem Gefühl von Wärme und Stärke. Der Regen schlug ihm hart und kalt gegen den Bücken. Er marschierte, mit den Augen auf dem Boden. Eine Stimme in fremder Sprache hielt ihn an. Ein Mann in zerfetzter grüner Uniform mit einem Bart, der vor Schmutz klumpig war, stand vor ihm mit erhobenen Händen. Chrisfield brach in Lachen aus. «Komm», sagte er, «schnell.»
Der Mann schlotterte vor ihm her. Er zitterte so, dass er fast hei jedem Schritt fiel. Chrisfield gab ihm einen Tritt. Der Mann schlotterte weiter, ohne sich umzudrehen. Chrisfield trat ihn wieder, fühlte das Rückgrat des Mannes und das weiche Fleisch seiner Schenkel an seinen Zehen bei jedem Tritt. Er lachte die ganze Zeit so, dass er kaum sehen konnte, wo er hinging. «Halt!» kam eine Stimme.
«Da ist ein Gefangener!» rief Chrisfield noch lachend.
«Nicht viel dran an deinem Gefangenen», sagte der Mann und zeigte mit dem Bajonett auf den Deutschen.
«Der ist verrückt, denke ich. Ich werde ihn in <Verwahrung> nehmen. Hat keinen Sinn mehr, den noch ins Lager zu schicken.»
«Gut», meinte Chrisfield und lachte immer noch. «Sag mal, wo kann man was zu essen kriegen? Ich habe seit anderthalb Tagen nichts gehabt.»
«Da oben ist eine Rekognoszierungstruppe, die werden dir etwas geben. Was macht ihr da oben?» Der Mann wies die Straße hinauf.
«Gott, wie soll ich das wissen? Ich habe seit anderthalb Tagen nichts zu essen gehabt.»

Der warme Geruch des Essens stieg ihm aus dem Geschirr in die Nase. Chrisfield stand, fühlte sich warm und bedeutsam, füllte den Mund mit weichen, fettigen Kartoffeln, während die anderen ihn ausfragten. Langsam begann er sich satt und zufrieden zu fühlen, und ein Wunsch, zu schlafen, überkam ihn. Ein Mann gab ihm ein Gewehr, er musste mit der Truppe weiter vorwärts. Durch den Wald.
«Da liegt ein Offizier», sagte der Hauptmann, der an der Spitze ging, «zwei von euch Kerls gehen zurück und holen eine Decke und bringen ihn an die Wegkreuzung zurück. Armer Kerl!»
Der Hauptmann marschierte weiter. Chrisfield sah gerade vor sich. Er fühlte sich nicht mehr einsam, jetzt, da er wieder in Reihen marschierte. Seine Füße schlugen im Gleichschritt mit den anderen Füßen den Boden. Jetzt braucht man nicht mehr daran zu denken, ob man links oder rechts gehen soll. Man tut, was die andern tun.

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