Der Verräter
  Toni suchte Kerekes Sandor in der ganzen Stadt. Er fragte die  Zeitungsverkäufer, forschte in den Vorstädten und Ziegeleien, in den  Lagerräumen, in den Holzhütten, wo Kerekes Sandor den letzten  Nachrichten zufolge geschlafen hatte. Er war nicht zu finden. Kerekes  war verschwunden, und in Toni wuchsen Zweifel und die Schwere der  Verantwortung. Was geschieht, wenn Kerekes Sandor aus der Schule  schwatzt? Wenn er es schon getan hat? Es ging um die Existenz der  Partei, es ging um eine zu wichtige Angelegenheit, als dass er das  Geheimnis hätte für sich behalten können. 
    Er entschied sich für  Jandak. Er erreichte ihn weder in der Redaktion noch im Sekretariat und  ging darum in die Wohnung. Das Arbeitszimmer des Abgeordneten war für  Toni eine Überraschung. Ein helles Zimmer voll erträglicher Eleganz mit  einer großen Bücherei. Über dem Schreibtisch hing das Bild Lenins. Der  Metallarbeiter hatte ein natürliches Misstrauen gegen den Besitz.  Jandak ließ ihn in einem Ledersessel Platz nehmen und bot ihm  Zigaretten an. Toni rauchte nicht. 
    „Ich habe eine große Dummheit gemacht", sagte er. Er konnte sich nur  schwer dazu entschließen, in dieser Umgebung zu sprechen, und seine  Stirn zog sich in Falten. 
    „Der Genosse Krousky, eine Dummheit? Erzähle." Als Toni den Fall  Kerekes Sandor berichtet hatte, kratzte sich Jandak mit der rechten  Hand hinter dem linken Ohr und zog die Nase hoch. 
    „Verflucht nochmal, na, vielleicht geht es gut aus." Toni hatte etwas  anderes erwartet. Dieser leichtsinnige Ton war ihm unangenehm. Beide  Männer blickten sich lange in die Augen. Toni hart und finster, der  Abgeordnete nachdenklich. 
    „Hast du einen Vorschlag, was man tun könnte?" fragte Jandak endlich. 
    „Ja, schließt mich aus der Partei aus." Toni erbleichte dabei. Jandak  dachte nach, zwinkerte mit den Augen. 
    „Weshalb?" 
    „Das ist doch klar, weshalb", fuhr ihn Toni an. Er war weiß wie Papier,  und die Stimme überschlug sich vor Aufregung. 
    „Falls sie mich finden, werden sie keinen Prozess gegen mich, sondern  gegen die Partei führen. Dass sie daraus einen Raubmord machen, ist  sicher. Sie werden dann damit gegen die Partei agitieren. Schließt mich  aus, solange noch niemand etwas weiß. Wenn sie mich fassen, will ich  nicht mehr Genosse sein." 
    Der Abgeordnete blickte den bleichen Mann, seine flammenden Augen an.  Er blickte ihn mit Bewunderung an, ja noch mehr, liebevoll. Er  wusste> was ihm proletarische Ehre bedeutete, und was er opfern  wollte. Er war ergriffen und nahe daran, Toni zu umarmen. 
    „Wir haben keinen Anlass, dich auszuschließen", sagte er weich. 
    „Auch daran dachte ich", antwortete Toni hart, „ich bin Bezirkskassierer.  Ich werde Geld unterschlagen." Er schluckte schwer. 
    Jandak blickte dem Arbeiter freundschaftlich in die Augen und schüttelte  ablehnend den Kopf. 
    „Nein, Toni, in einigen Wochen gibt es Kampf. Die Bourgeoisie hat von  so genannten Arbeiterführern die Erlaubnis erhalten, die Löhne  herabzusetzen. Schon deshalb darf die Partei ihren Kongress nicht  abhalten, der für den Herbst einberufen ist. Es ist heute schon klar,  dass wir eine fünfundachtzigprozentige Mehrheit hätten, und dass ihnen  nur ein Teil der Parteibürokratie zur Seite steht. Sie werden diesmal  die Spaltung herbeiführen, und der Kampf wird hart sein. Du stehst zu  sehr im Vordergrund. Ein linker Vertrauensmann, der Geld unterschlägt,  das ist in dieser Situation schlimmer, als wenn dem Genossen Krousky  die entfernte Mittäterschaft an der Ermordung magyarischer  Konterrevolutionäre nachgewiesen wird. Dass ein Vertrauensmann in einer  so großen Fabrik am Vorabend entscheidender Kämpfe freiwillig aus der  Partei austritt, können wir gleichfalls nicht zulassen. Es bleibt uns  nichts anderes übrig, als Kerekes einem glücklichen Zufall zu  überlassen. Erwähne zu niemandem ein Wort, auch ich werde schweigen." 
    Toni verließ unbefriedigt die Wohnung des Abgeordneten. 
    Der Prozess gegen Milan Iwanowitsch und gegen die ganze Räuberbande  fand früher statt als angenommen worden war. Die Regierung war in  Ungelegenheiten. Die Blätter der Opposition begannen, sich mit einer  hässlichen Korruptionsaffäre zu befassen, die sich bei staatlichen  Kohlenlieferungen ereignet hatte. 
    Einflussreiche Abgeordnete der Majorität waren kompromittiert, die  Fäden führten bis in die Ministerien. Es war darum ratsam, die  Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit abzulenken und inzwischen die  Korruptionsaffäre im stillen zu erledigen. 
    Der Prozess dauerte fünf Tage. Es waren achtzig Zeugen geladen. Es gab  neun Angeklagte, sieben Männer und zwei Frauen. Ihre blonde  Kurorteleganz hatte in der Untersuchungshaft stark gelitten. Im ganzen  war es eine bunte Gesellschaft ungarischen, slowakischen, rumänischen,  jüdischen und Zigeunergeblüts, je nach Bedarf weltmännisch höflich oder  diebesfrech, aber ständig in Bewegung, und der schöne Baron Czengery  Tassilo, der ehemalige Honvedkadett, der zweite von Kerekes Sandors  Peinigern, war auch darunter. 
    Milan Iwanowitsch gab die ihm zur Last gelegten Diebstähle zum Teil zu.  Den Mord leugnete er mit verzweifelter Entschiedenheit. Es erweckte  einige Überraschung, als dieser große schwarze Mann sich in einer  erregten Phase des Prozesses erhob und mit ausgestreckten Armen und  gespreizten Fingern ausrief: 
    „Ich habe ein leichtsinniges Leben geführt, aber ich bin kein Mörder.  Nie habe ich etwas Ähnliches getan, ich bin viel zu feige dazu." 
    Er verfiel in hysterisches Weinen, und man wusste nicht, ob es als  Aufschrei eines Unschuldigen oder als Ausbruch eines südlichen  Schauspielertemperaments zu werten sei...  
    Alle übrigen Angeklagten leugneten die ihnen zur Last gelegten  Verbrechen mit der Zähigkeit erfahrener Fachleute, die nicht mehr an  die mildernden Umstände eines vollen Geständnisses glauben und  entschlossen sind, sich nur dafür verurteilen zu lassen, was man ihnen  nachweisen konnte. 
    Milan Iwanowitsch verriet einen nach dem anderen, indem er Beweise über  Beweise aus Prag, Karlsbad, Marienbad, Wien, Warschau, Budapest und  Bukarest zusammentrug. Er spielte den Kronzeugen und erwartete hierfür  die Barmherzigkeit der Geschworenen. Die Mitangeklagten hassten ihn  darum. Ihre Blicke waren Gift und Messer. Und zwischen ihnen und ihm  musste ein Justizsoldat sitzen, um ihn zu schützen. Die schöne Frau  Maria Florescu spie ihm eine Flut rumänischer Schimpfworte ins Gesicht,  die er zwar nicht verstand, die aber ihren funkelnden Augen nach zu  schließen sicher schrecklich waren. 
    Der Abgeordnete Jandak verfolgte die Prozessnachrichten mit großem  Interesse. Er war zufrieden. Alles ging gut, und soweit es um  Iwanowitsch ging, kam er zu der Überzeugung, dass dieser Mann ein  Schuft sei, für den der Galgen kein Unrecht bedeutete. Der Abgeordnete  Jandak war zu beschäftigt, als dass er bei der ganzen Verhandlung hätte  anwesend sein können. Aber am Tage der Urteilsfällung war er  nachmittags im Gerichtssaal — nur auf einen Sprung. Er hatte keine  Zeit. Um 4 1/2 Uhr war er in das Schulministerium bestellt, und abends  hatte er eine Versammlung. 
    Der Gerichtssaal war zum Platzen voll. Es herrschte größte Aufregung.  Die Pressebank war bis auf den letzten Platz besetzt. Die Luft war  trotz geöffneter Fenster dumpf. 
    Der Vorsitzende verhörte eben den Hotelportier des „Blauen Stern",  namens Müller. Der Portier war bereits am zweiten Tag des Prozesses  eingehend vernommen worden, aber es hatten sich so viele Widersprüche  ergeben, dass die Geschworenen den Wunsch ausgesprochen hatten, vor der  Urteilsfällung den Zeugen nochmals zu vernehmen. Herr Müller war  Hauptbelastungszeuge, und von seinen vier bis fünf Minuten hing vieles  ab. Er hatte bereits bei der Polizeivernehmung über die Zeit, während  der sich der Angeklagte im ersten Stock des Hotels aufhielt, folgende  Angaben gemacht: 
    „Meiner Schätzung nach war er vier bis fünf Minuten oben. Ich lege mich  nicht auf vier bis fünf Minuten fest, aber ich behaupte trotzdem, dass  er nicht länger als eine Viertelstunde oben gewesen ist." 
    Der Zeuge beharrte auf dieser Aussage auch beim Verhör. Diese Minuten waren der  Brennpunkt des Prozesses: 
    Ist es möglich, in einer Zeitspanne von vier bis höchstens fünfzehn  Minuten jemanden durch zwanzig Axtschläge zu töten, das Zimmer zu  durchsuchen, die gesuchten Wertgegenstände und das gesuchte Dokument zu  finden, das Zimmer wieder in Ordnung zu bringen, Wasser in die  Waschschüssel einzulassen, sich mit Schwamm und Seife die blutigen  Hände abzuwaschen und wegzugehen? 
    Der Staatanwalt behauptete, dass für die Suche nach Geld, Dokumenten  oder Geheimnissen keinerlei Beweis vorliege, und dass alles übrige sich  bequem in einer Viertelstunde erledigen lasse, gegebenenfalls auch in  fünf Minuten, wobei davon abzusehen sei, dass man nicht kontrollieren  könne, ob der Zeuge Müller die Zeit richtig abgeschätzt habe. Der  Verteidiger bezeichnete es als absurde, unhaltbare Behauptung, dass  eine solche Folge verschiedener Handlungen in weniger als einer halben  Stunde zu vollbringen sei. Der Portier vom „Blauen Stern" wurde vom  Präsidenten, vom Staatsanwalt, vom Verteidiger und von den Geschworenen  ins Kreuzverhör genommen. Wie viel Minuten waren es eigentlich gewesen? 
    Jeder einzelne wiederholte diese Frage aufs neue und jeder in einer anderen  Form. 
    Der Angeklagte blickte aus schwarzen Augen ängstlich auf den Mund des  Zeugen, wohl wissend, dass von dessen Antwort sein Leben abhing. 
    Herr Müller schwankte nicht ein einziges Mal. „An die fünf Minuten, — sicher  nicht mehr als eine Viertelstunde." 
    Er verharrte eigensinnig bei dieser Aussage. 
    Der Vorsitzende legte seine Uhr auf den Tisch und fragte den Zeugen, wie lange  er wohl nun verhört worden sei. 
    „Etwas über eine halbe Stunde", antwortete der Portier, und der  Vorsitzende konstatierte, dass das Verhör 26 Minuten gedauert hatte.  Diese Schätzung war in Anbetracht der im Gerichtssaal herrschenden  Erregung sehr genau. 
    Aber der Staatsanwalt war entschlossen, sich nicht zu ergeben und kämpfte um  jede Minute. 
    „Herr Müller", sagte er, „war es vielleicht nicht doch länger als eine  Viertelstunde, vielleicht achtzehn oder zwanzig Minuten?" 
    „Nein", antwortete der Portier ärgerlich. „Sie sagen nein", parodierte  ihn ein wenig der Staatsanwalt, „aber woher kommt Ihre Sicherheit? Ist  dieses, Ihr ,nein', nicht eher eine Charakterfrage? Ich kenne viele  Leute, die sich lieber zerschneiden lassen würden, nur um nicht ,ja'  sagen zu müssen, wenn sie schon einmal ,nein' gesagt haben. Sie halten  es für ausgeschlossen, dass es länger als eine Viertelstunde gedauert  hat?" 
    „Ja, ich bin überzeugt, dass es nicht einmal fünf Minuten waren." 
    „Bitte, erklären Sie mir Ihre Sicherheit, wenn Sie selbst zugeben, dass  Sie nicht auf die Uhr geschaut haben." „Ich habe Erfahrung." 
    „Ach", der Staatsanwalt winkte mit der Hand ab, „wir glauben Ihrer  Portiererfahrung nicht mehr, Herr Zeuge. Sie haben mit der gleichen  Sicherheit den Angeklagten Iwanowitsch als Juden bezeichnet, sogar als  auffälligen Juden. Wenn jeder schwarzhaarige Mensch bei Ihnen ein Jude  ist, erscheint es mir sehr wahrscheinlich, dass selbst eine längere  Zeitspanne bei Ihnen nur fünf Minuten dauert. Im übrigen —  entschuldigen Sie bitte, Ihr Beruf bringt das ja auch mit sich — Sie  sagen den Gästen ,in einer Minute, in einer Minute bitte', und dann  dauert es vielleicht auch mal eine Stunde." 
    Dieser Witz rief auf der Geschworenenbank Lachen hervor. Der Protest des  Verteidigers fiel ins Leere. 
    Nach dem Plädoyer des Staatsanwalts und des Verteidigers begaben sich  die Geschworenen zur Beratung. Der Staatsanwalt hatte schon während des  Studiums der Akten gezweifelt, ob nach diesen vier oder fünf Minuten  Müllers und den beiden vollkommen unerklärlichen Motiven dieses  Verbrechens sich acht Geschworene finden würden, die bereit wären,  Iwanowitsch dem Galgen auszuliefern. Er beschuldigte deshalb zur  Sicherheit den internationalen Verbrecher aller Raubtaten, Diebstähle  und Einbrüche, die in letzter Zeit in der ganzen Republik geschehen  waren. Er klagte ihn auch solcher Verbrechen an, für die es keinen  anderen Beweis gab, als dass sie eben geschehen waren. 
    Die Beratung der Geschworenen dauerte eine Dreiviertelstunde, und der  Abgeordnete Jandak, der gewohnt war, seine Versammlungen pünktlich  abzuhalten, zog schon mehrere Male ungeduldig die Uhr. 
    Als die Volksrichter im Gänsemarsch auf ihre Plätze zurückgekehrt,  verstummte mit einemmal jeder Laut. Der ganze Saal lauschte mit  äußerster Spannung dem Verdikt, das der Obmann der Geschworenen, ein  Gutsverwalter, feierlich verlas: 
    „Die Geschworenen haben die Fragen wie folgt beantwortet: 
    Erste Hauptfrage: Ist Milan Iwanowitsch schuldig, am achtundzwanzigsten  Mai dieses Jahres gegen einhalb acht Uhr morgens in einem Zimmer des  Hotels ,Blauer Stern' den ungarischen Grafen Emmerich Belaffi gefesselt  und ihm in feindlicher Absicht und, um ihn zu töten, mit einer Axt mehr  als zwanzig Schläge gegen den Kopf versetzt und solcherart gehandelt zu  haben, dass daraus der Tod des Grafen folgte? 
    Antwort: Fünf ,Ja', sieben ,Nein'." 
    In den Augen des Angeklagten, die verzweifelt auf den Mund des Lesenden  gerichtet waren, ließ die Spannung nach, und der fiebrige Ausdruck in  ihnen erlosch. Der Abgeordnete Jandak lachte befriedigt. 
    Der Vorsitzende legte den Kneifer auf den Tisch, und es war so still im  Saal, dass diese Bewegung zu hören war. Die Tür war von  Stenotypistinnen und Referendaren umstellt, die gekommen waren, um das  Urteil zu hören. 
    In der dumpfen Stille las der Obmann weiter: „Zweite Hauptfrage: Ist Milan  Iwanowitsch schuldig?" 
    Und nun folgten einunddreißig Fragen wegen Raubes, Diebstahls,  Betruges, Urkundenfälschung, Falschspiels, Einbruchs, Kuppelei,  falscher Anmeldung, Überschreitung des Waffenverbots, Hasardspiels usw. 
    Die einstimmige Antwort war: Ja. 
    Die Geschworenen hatten die Absicht des Staatsanwalts vollauf  begriffen; auch sie kamen zu der Überzeugung, dass Iwanowitsch, selbst  wenn man ihn des Raubmordes nicht überfuhren konnte, ein gefährliches  Individuum sei, dem man auf der andern Seite zulegen musste, was auf  der einen nicht reichte. 
    Zwölf Stimmen Ja. 
    Zwölf Stimmen Ja. 
    Zwölf Stimmen Ja. 
    Iwanowitsch verstand die Verhandlungssprache soweit zur Genüge. Sein  Kopf sank tiefer und tiefer, und seine Augen blickten tot vor sich hin. 
    Den Urteilsspruch wartete Jandak nicht mehr ab. Er stellte fest, dass  es ein Viertel nach vier war, und dass er höchste Eile hatte. Er lief  aus dem Gerichtssaal hinaus. Das Strafmaß erfuhr er erst am nächsten  Tage aus den Zeitungen. Iwanowitsch wurde zu zwölf Jahren Zuchthaus  verurteilt, die übrigen Angeklagten von einem bis zu fünf Jahren. Von  den Angeklagten ging nur einer straflos aus, der ehemalige Honvedkadett  Czengery Tassilo. 
    Unter den Geschworenen waren zwei Frauen, und der Baron Czengery  Tassilo war ein schöner Jüngling, dessen ungezwungenes Wesen ihn  sympathisch machte. Seine rabenschwarzen Haare, seine feurigen Augen  waren zu schön — und überdies sprach er als einziger fließend die  Landessprache, während die anderen sie nur radebrechten. 
    Der Abgeordnete Jandak eilte aus dem Gerichtsgebäude hinaus und sprang  auf eine Straßenbahn, die eben vorbeifuhr. Er fuhr zum  Unterrichtsministerium. Das Lächeln nach dem Urteil der Geschworenen  saß noch auf seinen Lippen, aber er hatte keine Zeit mehr, an den  Prozess zu denken. Es kam häufig vor, — und darin lag die  Annehmlichkeit seines Lebens, dass Eindruck auf Eindruck folgte, und  dass er erst daheim, im Bett, Zeit hatte, zu ordnen und zu vergleichen. 
    Der Minister, ein Parteigenosse, hatte ihn zu sich gebeten. Das war  sehr sonderbar. Was konnte der Minister ihm, dem Revolutionär Jandak,  sagen, wo sie sich doch morgen trennen würden? 
    Der Abgeordnete hatte seinen Augen nicht getraut, als er des Morgens  den Brief des Ministers erhalten hatte, der mit kleinen kräftigen  Buchstaben geschrieben war, in denen noch die ursprüngliche  Schwerfälligkeit des Arbeiters gewahrt blieb, die aber in letzter Zeit  seltsame Schnörkel ansetzten. Der Brief sagte nichts über den Zweck des  Besuches, er enthielt nur eine freundschaftliche Bitte um eine  Unterredung in „dringender Angelegenheit". 
    Es war kein Anlass, nicht hinzugehen. 
    Der Minister altert. Seine neue Würde macht ihn gesprächig, und wenn  der Besuch sonst keinen Zweck hat, wird vom Minister doch einiges zu  erfahren sein. 
    Der Portier des Barockpalastes in der Kannelitergasse war orientiert,  der Amtsdiener gleichfalls. Der Minister begrüßte den Abgeordneten  herzlich, und sein Händedruck war freundschaftlich. 
    „Verzeih, bitte", sagte er aufrichtig und warm, „ich hätte dich selbst  aufgesucht, aber ich bin von morgens bis abends eingespannt, es ist zum  Verzweifeln, wie viel Arbeit ich habe, und wenn ich nur für kurze Zeit  in den Exekutivausschuss der Partei gehe, muss ich gleich in der Nacht  nacharbeiten." 
    Jandak lachte ein wenig boshaft. Er wusste das. Man überhäufte die  Arbeiterminister mit einer Flut unnötiger Arbeit, damit sie die  Verbindung und den Zusammenhang mit dem Proletariat verlören. 
    „Du warst noch nie hier", erinnerte sich der Minister. 
    „Nein, du hast es sehr nett hier." Jandak blickte umher, und das Lächeln,  mit dem er eingetreten war, verließ ihn nicht. 
    „Komm, ich zeige dir, wie wir uns eingerichtet haben." Der Minister  führte den Gast durch die Säulen- und Karyatidenpracht des Palastes,  durch weiße Gänge und Säle, die in Büroräume des „Ministeriums für  Kultus und Unterricht" umgewandelt waren. Er zeigte ihm die Teppiche,  Gobelins, Bibliotheken, die Bilder mittelalterlicher und moderner  Meister, und seine zufriedene Stimme und seine Augen, die vor Freude  glimmten, sprachen: 
    „Sieh, Genosse Jandak, das ist die Demokratie! Hier fanden früher die  Beratungen der feudalen Tyrannen statt, hier berieten sie, wie man das  Volk noch besser knechten und ausbeuten könnte. — Und nun kennen wir  hier keinen anderen Gedanken als den, wie man dem Volk am besten dienen  kann. Hier herrschte noch vor zwei Jahren mittelalterliches Dunkel,  jetzt ist das Ministerium für Unterricht hier untergebracht. Hier  regierten noch vor kurzem fremde Fürsten, die Fürsten Kamil und Alaine  Rohan. Jetzt befehle ich hier, Gustav Habrmann, ehemaliger Drechsler,  der in den achtziger Jahren vier Jahre Zuchthaus wegen Komplotts gegen  die Sicherheit des Staates absitzen musste!" 
    Und als er die Holzschnitte eines modernen Zeichners zeigte, fragten seine  Augen: 
    „Siehst du, wie ich die moderne Kunst fördere? Unsere Künstler werden  nicht mehr wie in der Monarchie hungern müssen, die Kunst wird unter  unserer Arbeiterhand aufblühen." 
    Und der bange, traurig-ernste Blick, den er im Gobelinsaal auf Jandak  heftete, bedeutete: Ist es tatsächlich möglich, dass sich in unserem  Land ein Verbrecher oder Irrsinniger findet, der diese schwer errungene  Freiheit vernichten wollte? Ist es möglich, dass er sich in den Reihen  der Arbeiter finden würde, denen unser Herz und unsere ganze Arbeit  gehört? 
    Jandak ging durch Gänge und Säle, nickte mit dem Kopf und lächelte  geduldig, so wie ein Erwachsener einem Kind zulächelt. Er kannte zu  genau den Ursprung und den Zweck dieser Pracht. 
    Der Abgeordnete und der Minister kehrten in das Arbeitszimmer zurück  und saßen einander in Ledersesseln gegenüber. Die Füße ruhten auf  Perserteppichen. Der ernste Ausdruck Habrmanns bezeugte, dass nun der  eigentliche Zweck des Besuches folgen würde, die politische Aussprache. 
    Der Minister blickte mit seinen traurig-schönen Augen auf Jandak. Der  Abgeordnete hatte Habrmann schon lange nicht so aus der Nähe gesehen.  Der ehemalige Arbeiter und Provinzjournalist hatte sich in einen  eleganten amerikanischen Gentleman verwandelt. Er war glatt rasiert und  gekämmt. Kleider, Wäsche und Schuhe schienen erst gestern in einem  ersten Geschäft auf dem Broadway gekauft zu sein. Bloß die Augen waren  unverändert geblieben. Sie waren schön und weich und hatten jenen  eigenartig leuchtenden Glanz, der immer aufs neue fesselte. Jandak  kannte den Ursprung dieses Glanzes. Er wurde im Gefängnis geboren.  Solche Augen verblieben den traurigen Gefangenen für ihr Leben, den  Gefangenen, die vier Jahre aus einer Entfernung von viereinhalb  Schritten auf die Wand ihrer Zelle geblickt und ihre ganze weiße Enge  eingeatmet hatten. 
    Der Minister sah nicht gut aus, man merkte, dass er ermüdet und überarbeitet  war, und dass sich das Alter meldete. 
    Habrmann beugte sich nach langem Schweigen ganz nahe zu Jandak. Der  Abgeordnete hatte seine Hände auf die Knie gelegt, und der Minister  legte die seinigen auf sie. 
    „Jandak", Habrmanns Stimme klang traurig, „Jandak, alter Kamerad", die  Augen Habrmanns waren trauriger als je zuvor. „Was macht ihr nur?" 
    „Na, was machen wir?" lachte der Abgeordnete. 
    „Eine falsche Politik, Karl, eine furchtbare Politik." Der Minister fasste  mit den Händen an die ergrauenden Schläfen. 
    „Begreif mich doch, Freund, begreif mich doch." 
    „Ich höre", sagte der Abgeordnete. Was nun kam, war schon viel weniger  überzeugend als die Augen Habrmanns und die Wärme seiner Hände, denn  Habrmann war nur in Gefühlen groß. 
    „Revolution, jawohl, Revolution. Ist denn Habrmann kein Revolutionär,  hat er denn nicht sein ganzes Leben dafür gearbeitet und gelitten? Aber  es geht nicht darum, dass die Arbeiterschaft in der Revolution  geschlagen werde, es geht darum, dass sie siege! Die Revolutionszeit  ist vorbei! Es ist ein furchtbarer Irrtum, sich an die Russen anlehnen  zu wollen. In Russland ist keine soziale Revolution im Marxistischen  Sinne, es ist eine verspätete Form der Lösung des Agrarproblems, das  bei uns schon seit achtundvierzig gelöst ist." 
    Der heroische Kampf des russischen Proletariats ergreift auch Habrmann tief,  aber: 
    „Glaubst du denn, dass der westliche Kapitalismus gestatten wird, dass  die Arbeiter ein Sechstel der Welt beherrschen. Die kapitalistische  Bestie ist zu groß, die kapitalistische Bestie wird sie ersticken." 
    „Sieh mal", sagte Jandak zu sich, „die Terminologie ist unverändert  geblieben, sie bleibt dieselbe auch bei der Propagierung  kapitalistischer Ansichten." Und er fragte: 
    „Was für euch ein Grund ist, den Sozialismus zu verraten und sich gegen  ihn in den Dienst der kapitalistischen Bestie zu stellen... ?" 
    „Sprich nicht so aufgeregt, Karl! Hör auf mich! Von heute in einem  halben Jahr gibt's keine Sowjets mehr in Russland. Was dort kommen  wird, wissen wir nicht. Gebe es das Schicksal, dass die Demokratie  kommt, aber es ist höchste Gefahr, dass die Reaktion in ihrer  furchtbarsten Gestalt kommt. Was macht ihr dann, wenn ihr das Schicksal  der Arbeiterschaft auf diese einzige Karte gesetzt habt?" 
    » Vor einem Jahr habt ihr mit der gleichen Bestimmtheit behauptet, dass  die Sowjets in drei Monaten zu Ende sein würden", antwortete Jandak ein  wenig boshaft. 
    „Ja, wir glaubten dies, und wir haben uns geirrt. Aber waren Koltschak,  Denikin und der polnische Krieg Kleinigkeiten? Das waren die letzten  Schläge, die das russische Proletariat noch ertragen hat. Aber jetzt  nähert sich das Ende der Revolution sehr schnell. Das Land ist  verwüstet, die Eisenbahnen fahren nicht, die Industrie feiert, Hunger  und Elend sind ungeheuer. Der Staat hat keine Finanzen. Das ist das  Ende, trotz aller Opfer und Heldentaten!" 
    Der Minister versank in Schweigen. Dann setzte er sich auf den Rand des  Sessels, noch näher zum Abgeordneten heran, und fuhr fort: 
    „Ich sollte dir dies nicht verraten. Aber es geht um wichtige Dinge,  und dann, welches Staatsgeheimnis könnte zwischen uns stehen, Genosse?" 
    Dann sagte er Wort für Wort eindringlichst und mit Betonung, so dass  sich Jandak der Verkündung des Geschworenenurteils erinnern musste. 
    „Es wird eine furchtbare Intervention gegen Russland vorbereitet, eine  furchtbare und großzügige Intervention, ein riesiger Angriff von außen,  der mit einem Aufstand im Innern verbunden sein wird. Das ist der  letzte Schlag. Das erschütterte Russland wird ihn nicht mehr ertragen.  Nach einem halben Jahre ist es mit den Sowjets vorbei, das ist die  letzte Frist, Genosse Jandak." 
    Diese Nachricht machte auf den Abgeordneten nicht den Eindruck, den der  Minister erhofft hatte. Jandak lachte sogar bei dieser Mitteilung, und  diese „Frivolität" tat Habrmann weh. 
    „Glaubst du, dass der russische Bauer den Großgrundbesitzern den Boden  zurückgeben wird?" fragte 
    Jandak. 
    „Nein, er wird ihn nicht hergeben, er wird sich bis zum letzten  Blutstropfen wehren, aber sie werden den armen Muschik erschlagen." 
    „Ich habe andere Informationen von der inneren Kraft 
    Russlands." 
    „Deine Informationen sind einseitig und falsch, Karl. Wir haben größere  Möglichkeiten, uns zu informieren, und wenn Russland noch so stark  wäre, kann es gegen die ganze Welt bestehen?" 
    Jandak zuckte die Achseln. Es hatte keinen Sinn zu streiten. Er kannte  diese Gründe alle zu gut, die Gründe und Gegengründe. Es hatte keinen  Sinn. Alles, was von beiden Seiten gesagt werden konnte, war auf  Hunderten von Arbeiterversammlungen bereits gesagt worden. Habrmann  wusste dies nicht. Er wusste zwar, dass Versammlungen über  Versammlungen stattfanden, dass dort „unverantwortliche Elemente" gegen  die Regierung und den Staat schürten, und dass sie die kleinen  Schwierigkeiten und Kinderkrankheiten der demokratischen Republik dazu  benutzten, um das Proletariat „zu verhetzen". Er wusste dies aus den  Zeitungen und aus dem Ministerrat. Aber wie die Arbeiter wirklich  dachten, wusste er nicht. Er hatte keine Zeit, er war Minister. 
    „Genosse Jandak, ich sage dir Dinge, die ich dir nicht sagen dürfte",  sagte er ernst, erhob sich aus seinem Sessel, stellte sich neben den  Abgeordneten und blickte ihn an: 
    „Wir haben Nachrichten, dass ihr einen Putsch vorbereitet." 
    Die Augen des Ministers bekamen einen traurigen Ausdruck, er atmete  tief, und es war zu sehen, dass ihm die Bangigkeit die Brust  zusammenschnürte. 
    „Jandak, was wollt ihr machen gegen die kapitalistischen Kanonen?" 
    Es klang tragisch. 
    „Der Ministerpräsident ist Parteigenosse", antwortete Jandak, sich zur  Ruhe zwingend, „ihr entscheidet. Ohne euren direkten Befehl darf man  die Kanonen nicht gegen die Arbeiter verwenden. Oder seid ihr der  Bourgeoisie schon so verfallen, dass ihr auch dazu bereit seid?" 
    Aus den Augen des Abgeordneten schlug Feuer, und der Minister senkte die seinen  vor ihnen. 
    „Jandak", sagte er väterlich, „höre mich an, wir wollen unterstellen,  dass ihr euch der Regierungsgewalt bemächtigt und einige Wochen unter  furchtbaren Opfern regieren könnt. Aber was geschieht in einem halben  Jahr, wenn Russland zusammenbricht? Denk doch bis ans Ende, Genosse,  Kamerad Jandak." 
    Der Minister faltete die Hände zu einer flehentlichen Bitte. 
    „Weißt du, wer dann regieren wird? Nicht die Arbeiter wie heute, aber  die äußerste Reaktion, Großindustrie, Banken, der Klerus und die  Soldateska. Jandak, erbarmt euch der Arbeiterschaft!" Der Minister  weinte. 
    „Bewahrt sie vor einem Blutbad, nehmt den Arbeitern nicht das, was wir für sie  erobert haben." 
    Die Tränen liefen aus den Augen des Ministers. Sie liefen über die  glatten Wangen eines amerikanischen Gentlemans. Jandak erschrak. Das  Lächeln, mit dem er eingetreten war, verging ihm. Habrmann glaubte an  das, was er sagte. 
    Seine Tränen sind ehrlich! 
    Der Minister setzte sich von neuem in den Sessel. Er nahm ein  Batisttuch aus der Brusttasche und trocknete sich die Augen. Sie  schwiegen eine Zeitlang, dann wollte Habrmann fortfahren: 
    „Sieh mal, Jandak, du sprichst von euren Informationen über Russland... " 
    Aber in dem Augenblick, als der Minister zum väterlichen Ton  zurückfand, erfasste Jandak ein wilder Hass gegen ihn, ein  unerbittlicher Hass, der ihn ganz erfüllte. Er konnte sich nicht länger  beherrschen und sprang auf. 
    „Was erzählst du mir da dauernd von vergossenem Arbeiterblut,  kapitalistischen Kanonen? Was für kapitalistische Kanonen? Das sind  eure Kanonen. Ihr habt die Macht in der Hand. Eure soziale Pflicht ist  es, sie gegen die Bourgeoisie zu kehren. Das wirst du allerdings nicht  machen! Im Gegenteil, du weißt, dass du sie gegen uns wenden wirst,  weil es die Bourgeoisie befiehlt. Aber dann jammere nicht! Gesteh, dass  du der Bourgeoisie verfallen bist und markiere nicht den Beschützer des  Proletariats." 
    Sie standen einander gegenüber, und Jandak schrie dies in die Ohren des  Ministers. Plötzlich sah er, dass diese Augen ihn weitgeöffnet  anblickten, und dass in diesen Augen Kummer und Schmerz war ob des  unerhörten Unrechts. 
    „Ich?" sagte Habrmann. 
    „Du!" war die wütende Antwort. 
    „Ich will Arbeiterblut vergießen, das sagst du mir, Karl?" 
    „Keinem anderen." 
    „Ich?" 
    Dem Minister kamen von neuem die Tränen. Jandak winkle mit der Hand ab. Er  machte einige Schritte durch das Arbeitszimmer. 
    Dabei fiel es ihm ein, dass er hier nichts mehr zu suchen hatte, und  wie sinnlos dies alles sei. Er trat schnell an Habrmann heran. 
    „Leb wohl!" Habrmann fasste ihn ängstlich an der Schulter: 
    „Nein, Karl, du darfst nicht gehen. So wollen wir nicht auseinander  gehen. Es ist ausgeschlossen, du musst mich noch anhören." 
    Der Minister begann von neuem. Er sprach lange. Jandak hörte verdrossen  zu und war ärgerlich, dass er sich hatte aufhalten lassen. 
    „Versprich mir, Genosse Jandak, dass ihr vor einem halben Jahr nichts unternehmen  werdet." 
    „Ich verspreche nichts. Ein halbes Jahr und noch ein halbes Jahr und  noch ein halbes Jahr, nur solange, bis die Bourgeoisie gegen uns  gerüstet ist. Wenn sie soweit ist, dann jagt sie euch einfach davon,  weil sie euch dann nicht mehr brauchen wird!" Der Minister war traurig. 
    „Versprich mir wenigstens, dass du über meine Worte nachdenken wirst." 
    „Na, das kann ich dir ja versprechen." „So, — nun das genügt mir  einstweilen." 
    Jandak hielt die Unterredung für beendet. Er erhob sich, der Minister auch. 
    Er begleitete ihn zur Tür. „Was macht dein Junge?" 
    „Er geht jetzt ins Kittchen", lachte der Abgeordnete ironisch: „Ihr  habt ihn ja für vierzehn Tage eingelocht." Die Augen des Ministers  leuchteten auf, er fasste die Hand des Abgeordneten warm: 
    „Das ist gut, dort wird er hassen lernen. Der Junge hat mir stets  gefallen. Leiden ist eine schöne Sache, das macht den Menschen hart.  Grüß ihn herzlich von mir und bestelle ihm, dass er sich meiner  erinnern soll, wenn sich hinter ihm die Türe schließt und er merkt,  dass sie von innen keine Klinke hat. Er wird begreifen, warum ich ihm  das sagen lasse, das ist ein Eindruck, den der Mensch nie vergisst.  Bestelle ihm, dass er dort erst hassen lernen wird." Jandak erbebte. Er  dachte sich: „Begreifst du denn nicht, Gustav Habrmann, dass er dich  hassen lernen wird?" 
    Er kam aus dem Arbeitszimmer des Ministers in das Wartezimmer. 
    Zwei Jahre leben diese Menschen in Palästen, nicht ganze zwei Jahre, und schon  sind sie tot. 
    Mit dieser Feststellung war Jandaks Tag noch nicht beendet. Die Tage  Jandaks waren immer inhaltsreich, aber dies sollte der ereignisreichste  von allen werden. 
    Im Wartezimmer saß der Ministerialdirektor Podhradsky. Als er Jandak erblickte,  sprang er auf und eilte zu ihm. 
    „Ach, der Herr Abgeordnete Jandak. Meine Hochachtung!" 
    Er reichte ihm die Hand: „Wie geht es Ihnen, was machen Sie?" 
    Podhradsky verkehrte seit langen Jahren in der Gesellschaft von  Politikern. Das ursprüngliche Misstrauen gegen ihn, der damals noch  Beamter des österreichischen Innenministeriums war, hatte er durch  seine ehrliche Überzeugung, seine Informiertheit und seine persönliche  Liebenswürdigkeit verscheucht. 
    Er war ein großer und mächtiger 35jähriger Mann mit einem roten,  englisch geschnittenen Schnurrbart, stets mit äußerster Sorgfalt  gekleidet. Er war fröhlich und hatte die Manieren eines Mannes von  großer Welt. Er kannte Jandak schon lange, und nach dem Sturz  Österreichs hatten sie einige Nächte miteinander gefeiert. Podhradsky  war in das Innenministerium der jungen tschechischen Republik  eingetreten. Damals begannen sie sich auch zu duzen. Aber jetzt, wo die  Spannung zwischen Arbeiterschaft und Regierung wuchs, war es nicht  ratsam, mit dem Ministerialdirektor des Innenministeriums  zusammenzukommen. 
    Podhradsky war im übrigen korrekt. Auf der Straße grüßte er nur höflich, und  auch jetzt duzte er den Abgeordneten nicht. 
    „Kommen Sie doch zu mir herüber, Herr Abgeordneter! Sie bereiten mir  eine große Freude. Mein Zimmer ist hier über den Flur, ein paar  Schritte nur." 
    Jandak suchte eine Ausrede und zog die Uhr. 
    „Ach, lassen Sie die Uhr, nur ein paar Worte, Herr Abgeordneter. Ich  wollte schon lange mit Ihnen sprechen, und ich bitte, mir nicht zu  sagen, dass wir nichts zu erzählen hätten. Sie werden sehen, wir haben  einander viel zu erzählen. Und wenn uns nun dieser glückliche Zufall  zusammengeführt hat, — ich bitte Sie herzlich darum." 
    Jandak dachte sich: „Wenn ich schon hier bin, also gut... " 
    „Ich danke Ihnen." 
    Sie gingen über den Flur. Der Ministerialdirektor schloss eines der  leeren Büros auf, und sie traten ein, und als er Jandak zum Sessel  geführt hatte, stellte er sich neben ihn und blickte ihn mit  freudig-freundschaftlichern Ausdruck an: 
    „Wie geht es Ihnen?" 
    Er schob ihm Zigarettenschachtel, Aschenbecher und Streichhölzer hin. 
    „Ich bitte!" 
    „Ich rauche keine Regierungszigaretten." Podhradsky zog sofort sein  eigenes Zigarettenetui aus der Tasche und öffnete es. 
    „Hier sind meine, Herr Abgeordneter." 
    Er sagte dies so freundlich und nett, dass man nicht ablehnen konnte. 
    „Erzählen Sie mir doch etwas von sich. Gehen Sie noch zur ,Goldenen  Spinne'?" 
    Sein Gesicht erglänzte wie bei einer angenehmen Erinnerung. 
    Jandak war die Erinnerung an die „Goldene Spinne" weniger angenehm. Das  war der Ort, wo er mit Podhradsky am Ende des Jahres 1918 einige Nächte  durchgebummelt hatte. 
    „Das waren verrückte Zeiten damals", lachte der Ministerialdirektor. 
    „Das waren sie auch. Wir waren alle besoffen von der vermeintlichen  Freiheit." 
    „Warum vermeintlich?" 
    „Ach, wir wollen die Politik heute lassen." 
    „Es war doch sehr schön. Ich erinnere mich oft daran, wie lustig Sie  waren, und welche Lieder Sie sangen; — na, an die Erna mit dem schönen  Haar erinnere ich mich auch. Und im übrigen... " 
    Plötzlich besann er sich und lachte: 
    „Ich muss Ihnen etwas zeigen. Ich habe es beim Studium der Akten  gefunden." 
    Er trat zum Schreibtisch, auf dem zwei Aktenbündel lagen. Er öffnete eines von  ihnen und blätterte darin: 
    „Da haben wir's." 
    Es war eine Photographie. Er schaute sie belustigt an und reichte sie Jandak. 
    „Sehen Sie mal." 
    Auf der Photographie war ein Chambre separee der „Goldenen Spinne"  abgebildet. Im Vordergrund der silberne Kübel mit der Sektflasche,  dahinter ein Tisch mit Gläsern, belegten Broten und zerdrückten  Servietten. In der linken Ecke deutlich erkennbar der Abgeordnete  Jandak mit einer halbnackten Bardame auf den Knien. Im Hintergrund die  schönhaarige Erna. An ihrer linken Seite saß der Abgeordnete Petak und  führte ein Glas zum Mund. Zu ihrer Rechten der Ministerialdirektor  Podhradsky. Dieses Bild musste nur ein wenig vergrößert werden, und es  konnte in irgendeinem Arbeiterblatt als Satire auf die Bourgeoisie  erscheinen. Jandak errötete. 
    „Was ist das?" 
    „Was das ist?" lachte Podhradsky. „Das ist die ,Goldene Spinne' von  Anno neunzehnhundertneunzehn. Mit solchen Dingen unterhält sich die  Staatspolizei. Sie glaubt sich Gott weiß wie verdient zu machen, wenn  sie uns diese Photographie der ,Goldenen Spinne' bringt. Das ist doch  eine Sensation! Der Abgeordnete Jandak, der Abgeordnete Petak, der  Ministerialdirektor Podhradsky beim Sektgelage! Provinzialismus! Ich  habe erst später erfahren, dass der Kellner, der uns bediente,  Polizeispitzel war. Der hat uns ganz schön eingefangen. Das Objekt saß  in der Krawattennadel. Ein gescheiter Bengel. Diese Photographie  allerdings ist stark vergrößert." 
    Jandak flog ein Gedanke durch den Kopf: so ist das also! Er war auf  Bitten Podhradskys hierher gekommen, aus Höflichkeit, um den Kameraden  nicht zu beleidigen, und jetzt sah er, dass ihn der Kamerad in die  Falle gelockt hatte, um ihm die Schlinge um den Hals zu legen. So ist  das! Er wurde erregt. 
    „Hören Sie, Herr Ministerialdirektor", sagte er feierlich und Wort für  Wort betonend: „Es scheint, Sie haben mich nur hierher gebeten, um mir  die Photographie zu zeigen." 
    „Was fällt Ihnen ein, aber ich habe mich erinnert, dass sie Sie interessieren  könnte", antwortete Podhradsky freundlich. 
    „Um mir mit ihrer Veröffentlichung zu drohen?!" 
    „Herr Abgeordneter", rief Podhradsky bestürzt, „was sagen Sie da." 
    „Um mich politisch zu missbrauchen!" 
    „Jetzt hätte ich ein Recht, wirklich ein Recht, beleidigt zu sein.  Haben Sie mich erst heute kennen gelernt, dass Sie mich einer solchen  Sache für fähig halten?! Bitte, nehmen Sie die Photographie." 
    „Sie haben das Negativ." 
    „Wie könnte es mir einfallen, Ihnen mit der Veröffentlichung zu drohen.  Sie könnten mir ja sagen, dass ich selbst darauf photographiert bin und  in einer unangenehmeren Situation als Sie, bitte überzeugen Sie sich!" 
    Und der Ministerialdirektor lachte: „Glauben Sie, dass ich mich der  Politik wegen von meiner Frau scheiden lassen und meine Kinder  verlieren will?" 
    „Ihr Gesicht kann bei der Reproduktion verkratzt werden." 
    Podhradsky schwieg. 
    „Ihr Gesicht kann auf dem Negativ bis zur Unkenntlichkeit retuschiert  werden", wiederholte Jandak bedeutungsvoll. 
    „Das hat man mir auch gesagt", antwortete der Ministerialdirektor. Er  sagte es ernst, und er unterstrich diese Worte durch einen noch  ernsteren Blick. Jandak sprang auf: 
    „Ach, hat man Ihnen das gesagt?" Er trat zu Podhradsky. 
    „Sie irren sich, glauben Sie nicht, dass ich Sie fürchte.  Veröffentlichen Sie es! Meine Frau ist vernünftig genug, das alles zu  verstehen, wenn ich es ihr erkläre." 
    „Herr Abgeordneter!" antwortete der Ministerialdirektor ruhig und wich  nicht einen Schritt vor Jandak zurück. 
    „Die Photographie wird nicht veröffentlicht, ich gebe Ihnen mein  Ehrenwort. Sie werden mir jetzt glauben. Ich habe Ihnen nie einen Grund  gegeben, mich für wortbrüchig zu halten. Aber wenn Sie mich schon für  hinterlistig halten, gestatten Sie, dass ich Ihnen folgendes sage: Als  von der Möglichkeit gesprochen wurde, diese Photographie zu  veröffentlichen, habe ich mich, ich versichere Ihnen das auf mein Wort,  mit aller Entschiedenheit dagegen gewandt. Nicht die Rücksicht auf  meine Familie war das Ausschlaggebende, sondern lediglich die Wirkung,  die es auf die Arbeiterschaft haben würde." Jandak war sehr erregt. 
    Welche Gemeinheit, rein persönliche Angelegenheiten zu politischen  Zwecken auszubeuten! Und welche Frechheit zugleich, in einem Satz zu  versprechen, dass die Photographie nicht veröffentlicht würde und zu  drohen, dass man ihn vor der Arbeiterschaft bloßstellen wollte! 
    „Bitte", sagte er, „veröffentlichen Sie sie nur, ich habe nichts  dagegen." 
    „Wir werden sie nicht veröffentlichen, Herr Abgeordneter." Podhradsky  sagte dies mit förmlicher Höflichkeit. Jandak durchmaß das Büro einige  Male, dann blieb er vor dem Ministerialdirektor stehen und betrachtete  ihn. 
    „Ihr seid Lumpen, ihr seid Lumpen, und du bist einer der schlimmsten, und ich  alter Esel habe euch geglaubt. 
    Es geschieht mir recht, aber glaubst du denn, du Dummkopf, dass ich  mich mit eurer Photographie kaufen lasse?" „Karl, schrei nicht, nebenan  könnten noch Leute sein." Jandak senkte die Stimme. 
    „Ich weiß, was ihr wollt. Ich soll die Arbeiterschaft auf eure Seite  führen und der Bourgeoisie ausliefern. Ihr zittert vor der Revolution,  und in dieser Angst ist euch kein Mittel zu schlecht. Wie dumm seid  ihr. Ihr glaubt, dass ihr mit Photographien siegen werdet! Vor einer  Weile hat Habrmann auf mich eingeredet..." 
    Plötzlich kam ihm die Erleuchtung, als ob der Name Habrmann ihm die Augen  geöffnet hätte. 
    Er schlug mit der Faust gegen die Stirn, er trat noch einen halben Schritt  näher zu Podhradsky: 
    „Hören Sie, Herr Ministerialdirektor, Sie sind doch im Innenministerium." 
    Podhradsky blickte ihn schweigend an, es war der Blick des Beamten, den der  Vorgesetzte tadelt. 
    „Ihr Amtszimmer kann doch nicht in diesem Gebäude sein." 
    Der Ministerialdirektor schwieg. 
    „Das ist nicht Ihr Büro. Sie haben sich's für eine Stunde ausgeliehen,  und die Photographie haben Sie sich mitgebracht. Unser Zusammentreffen  war kein Zufall, Sie haben auf mich gewartet, Habrmann hat Ihnen  telefoniert." 
    Podhradsky blickte ihm in die Augen. „Ist es so oder nicht", brüllte  Jandak. „Nicht ganz, Herr Abgeordneter. Herr Minister Habrmann hat mir  nicht telefoniert. Der Minister — ich weiß 
    nicht, wie ich das ausdrücken soll, ohne die vorgeschriebene Achtung  gegen ihn zu verletzen —, entschuldigen Sie, Herr Abgeordneter, ich  sage es ohne Umschweife, Herr Minister Habrmann ist nicht gewandt genug  in diesen Sachen. Wir wussten, dass Sie hier sind." 
    „Du Komödiant", Jandak sagte dies, und Verachtung lag in seiner Stimme  und Abscheu in seiner Gebärde. „Du alter Komödiant. Ihr seid eine feine  Gesellschaft, höchste Zeit, euch zu verjagen!" 
    Und nach einer Weile: „Was willst du eigentlich von mir?" 
    Der Ministerialdirektor war jederzeit bereit, auf das „Duzen" oder  „Siezen" einzugehen, je nach Wunsch des Abgeordneten: 
    „Mit dir sprechen." 
    „Warum gerade mit mir?" 
    „Du kennst die Verhältnisse ebenso wie ich. Der Abgeordnete Deutsch und  der Abgeordnete Soukup haben kaum noch Einfluss auf die Arbeiterschaft,  den hat jetzt Doktor Schmeral, und den hast du." 
    „Warum sprichst du nicht mit Schmeral? Ihr habt wohl keine Photographie von  ihm?" 
    „Lass die Photographie, der Herr Doktor Schmeral will sich nichts sagen  lassen." Jandak lachte: 
    „Und ihr denkt euch, ich lasse mir was sagen?" 
    „Ja." Jandak lachte nochmal: 
    „Sicher?" 
    „Sicher, Karl", es klang vollkommen überzeugt. 
    Jandak setzte sich. Er ließ seinen ironischen Blick auf dem Ministerialdirektor  ruhen. 
    „Wie du siehst, sitze ich schon, du kannst in deinen Drohungen  fortfahren." 
    „Ich würde dich zuerst gern über einige Dinge informieren, von denen du  vielleicht nichts weißt." 
    „Hm... " 
    „Zum Beispiel darüber... " 
    Der Ministerialdirektor ging zum Schreibtisch, machte ein zweites Fach auf. 
    Er nahm eine Liste heraus und reichte sie Jandak. Jandak sah sie an,  dann brach er in ein Lachen aus. Nicht in jenes wütende Lachen, das er  zuerst gelacht hatte, nein, in ein fröhliches Gelächter. 
    „Da hast du das Zeug zurück, Mensch, um Gotteswillen, heb es sorgfältig  auf, dass es dir niemand stiehlt. Da lachen ja schon die Hühner drüber.  Ein Verzeichnis der Personen, die durch die Bolschewiken hingerichtet  werden sollen. In erster Linie der Präsident, als zweiter Deutsch, dann  Soukup. Ich weiß das auswendig, muss nicht einmal nachsehen. Ja,  glaubst du denn, dass ich dir auf diesen Leim gehe? Ich soll auch  hingerichtet werden." Er lachte. 
    „Ich habe dich nicht in Verdacht, dass du an dieses Dokument glaubst,  aber eins wüsste ich gern: schämst du dich denn gar nicht?" 
    „Es ist ein Dokument wie irgendein anderes, es ist nicht meine Sache,  seine Echtheit zu prüfen. Wenn es bei dir den Zweck verfehlt, kann man  nichts machen, aber zum Teil hat es seine Aufgabe schon erfüllt, sei es  nun echt 
    oder gefälscht. Ich hab gar keinen Anlass, mich zu schämen. Die Zeiten  sind zu ernst. Wir zittern. Nicht um unsere Existenz, nicht um unsere  Reichtümer, wie ihr sagt, du weißt genau, dass ich nichts besitze und  gegen dich ein Bettler bin. Aber wir fürchten den Bürgerkrieg, den ihr  entfesseln wollt. Wir zittern um Tausende von Leuten, die uns  anvertraut sind, wir fürchten um den Bestand der Republik, und in  solcher Zeit ist jedes Mittel heilig, das die Heimat vor dem Abgrund  bewahrt." 
    Jandak dachte: Ach, eine Tirade, die Anspruch erhebt auf  Gefühlsechtheit. Wie widerwärtig, niedrige Regungen hinter  idealistischen Motiven zu verbergen! 
    Er fühlte die Notwendigkeit, den Beamten zu kränken. Nicht durch  irgendein Schimpfwort, deren einige Podhradsky heute schon ertragen  hatte, nein, durch eine Beleidigung, die tief gehen würde. Er sagte: 
    „Hör mal, als du vor dem Krieg als Beamter des kaiserlichen  Innenministeriums in unsere Gesellschaft kamst, waren wir uns alle  einig, dass du ein Spitzel bist. Aber dann haben wir den ersten  Eindruck vergessen, und das war ein Fehler. Jetzt bin ich fest davon  überzeugt, dass du für Seine Majestät schmutzige Arbeit verrichtet  hast, dass du die Arbeit für Seine Majestät mit derselben Begeisterung  und dem gleichen Raffinement verrichtet hast, wie du es jetzt für die  Republik tust." 
    Er sagte dies mit einer bösartigen Ruhe. Zum ersten Mal senkte der  Ministerialdirektor bei diesem ungleichen Zweikampfe vor dem Angriff  Jandaks die Augen. Er errötete sogar. Nur ein kleines bisschen, und nur  für einen kurzen Augenblick, so, als ob er sich klarmachen wollte, dass  er kein Recht habe, sich zu erregen, kein Recht, die Wunde mit einer  anderen, schärferen zu vergelten, dass er nicht einmal das Recht habe,  das Tempo seines Angriffs zu verschärfen, und dass es seine Pflicht  sei, mit ruhigem, vorherberechnetem Schritt dem Ziel zuzustreben, das  er erreichen musste. 
    „Es ist ein Irrtum, wenn du meinst, dass ich gespitzelt habe", sagte  er, „aber es ist keine Unehre für mich, dass ich auch damals ein  gewissenhafter Beamter war. Ich schäme mich dessen nicht, dass wir auch  damals für die Ruhe und für die Sicherheit der Bürger gesorgt haben."  Jandak lachte herzlich. 
    „Na ja, ich sage ja auch nichts anderes, und du hast sehr gut dafür  gesorgt! Du hast bis zum Weltkriege dafür gesorgt. Im übrigen  scheint's, dass wir zu Ende sind. Ich glaube, ich kann jetzt gehen." 
    „Ich bitte dich noch um einen Augenblick." 
    „Was gibt's denn noch?" 
    „Ich würde gern mit dir ein wenig politisch sprechen." 
    „Politisch? Das hat schon Habrmann getan." 
    „Er hat nicht alles gesagt." 
    „Bitte! Es beginnt sogar mich zu interessieren. Ihr fürchtet den  Bürgerkrieg. Das ist begreiflich, denn ihr werdet dabei alles  verlieren. Ich könnte dir sagen, dass es gegen den Bürgerkrieg nur ein  Mittel gibt. Das wäre, dass ihr euch freiwillig eurer politischen und  eurer Eigentumsprivilegien begebt. Du wirst mir darauf antworten, dass  dies unmöglich ist, und wir werden wieder da stehen, wo wir jetzt sind.  Ihr fürchtet euch, also gut, aber was weiter?" 
    „Die gegenwärtige Ordnung lässt die Enteignung nicht zu, und wir wollen  auch die jetzige Ordnung nicht ändern, weil wir überzeugt sind, dass  sie der Mehrheit der Bevölkerung am besten entspricht... " 
    „Dass sie euch am besten entspricht!" 
    „Jawohl, ich gehöre auch zu jener Mehrheit. Wir wollen uns allerdings  anders schützen. Wir wollen eine größtmögliche Anzahl zufriedener Leute  schaffen, auf die wir uns stützen können. Man kann nicht alle  befriedigen." 
    „Das bedeutet, dass man die Arbeiterschaft nicht befriedigen kann." 
    „Ihre breitesten Schichten vorläufig nicht; du weißt, dass viele  Versuche in dieser Richtung unternommen wurden, dass der gute Wille  vorhanden war, dass ihr eure besten Leute in der Regierung habt. Die  Wirtschaftslage lässt mehr nicht zu." 
    „Sprichst du aufrichtig?" 
    „Mit unserer Bodenreform, unserer Wirtschafts- und Finanzpolitik  verfolgen wir das Ziel, in allen Schichten der Bevölkerung  selbständige, vermögende, zufriedene und dem Staate ergebene Bürger zu  schaffen." 
    „Nur unter der Arbeiterschaft nicht und alles auf Kosten der Arbeiter.  Darin liegt ja eben die Gemeinheit, die man bekämpfen muss." 
    „Auch unter der Arbeiterschaft wollen wir eine Schicht Zufriedener  schaffen." 
    „Das höre ich zum ersten Mal." 
    „Wir können nicht die Wünsche der ganzen Klasse befriedigen, aber ihre  Führer, die besten Männer der Arbeiterschaft, können wir nach den  Gesetzen der natürlichen Auswahl zu wohlhabenden und zufriedenen  Menschen machen. Eine ganze Anzahl eurer Leute ist zu Aufsichtsräten  von Banken und Wirtschaftsunternehmungen ernannt worden. Wir haben  ihnen hohe Einkommen aus politischen, kulturellen und humanistischen  Institutionen besorgt. Warum haben wir dies getan? Aus persönlicher  Sympathie? Nein, um sie von den Launen der Straße unabhängig zu machen,  um ihnen die Möglichkeit zu geben, eine staatserhaltende und reelle  Politik zu machen, die alles in allem auch für die Arbeiterschaft die  allein richtige ist. 
    Jandak lachte ironisch. 
    „Willst du auch mich korrumpieren?" 
    Der Ministerialdirektor überging die Frage und fuhr fort: 
    „Ü berdies, und warum sollte ich das leugnen, haben wir es auch getan,  um sie uns zu verpflichten. Wir haben vielen Arbeiterpolitikern noch  auf andere Weise Geld zu verdienen gegeben, zum Beispiel auf dem Wege  des Geschäfts, und sie zeigten sich hierbei... ", der  Ministerialdirektor lächelte kaum merklich, „... sehr talentiert." 
    Und jetzt fuhr er etwas langsamer als vorher und um einen Grad  eindringlicher als vorher fort. Sein Ton blieb jedoch immer der eines  Weltmannes, 
    „Ihre Frauen und Töchter waren uns ausgezeichnete Helferinnen. Das ist  schließlich nur menschlich und ganz begreiflich. Warum sollte die Frau  eines sozialistischen Politikers nicht anständig wohnen, im Auto  fahren, Seidenwäsche und Pelze tragen und eine Loge im Theater  besitzen? Frauen sind beweglicher als Männer, die man schwer vom harten  Prinzip zur praktischen Arbeit bringen kann. Also kurz gesagt, das  Geschäft hat uns gleichfalls gute Dienste geleistet, und wenn sich ein  Arbeiterpolitiker bei Lieferungen, die wir ihm anvertraut haben, nicht  so korrekt benahm, wie wir es von einem Berufskaufmann verlangen  würden, musste man eben ein Auge zudrücken. Ich spreche heute ganz  aufrichtig, wir waren froh, wenn er ein bisschen inkorrekt war. Auch  Inkorrektheit verbindet. Wer einmal ein nicht ganz reelles Geschäft mit  uns getätigt hat, muss sich dessen bewusst sein, dass wir immer die  Möglichkeit haben, dies seinen Wählern mitzuteilen." 
    „Hm... ", sagte der Abgeordnete Jandak und versuchte zu lachen. Aber  das Lachen blieb ihm in der Kehle stecken. „Du erzählst sehr  interessante Dinge von der Korruption, willst du mich vielleicht auch  korrumpieren? Hast du vielleicht die Vollmacht, mir eine  Aufsichtsratsstelle anzubieten?" 
    „Es besteht kein Zweifel, dass sich mit der Zeit auch über einen  Aufsichtsratsposten sprechen ließe, heute kann ich dir freilich keinen  anbieten." 
    „Womit willst du mich also bestechen?" Es sollte ironisch klingen, aber  die Ironie versagte. 
    „Bestechen?" 
    Der Ministerialdirektor zuckte kaum merklich die Achseln, neigte den  Kopf unmerklich zur Seite und zog das Wort in die Länge. Er blickte den  Abgeordneten von der Seite an: 
    „Das ist nicht mehr nötig." 
    Der Abgeordnete Jandak wurde weiß wie das Kanzleipapier vor ihm. 
    „Wie meinst du das?" fragte er mit einer Stimme, die sich vergeblich  bemühte, ruhig zu erscheinen. „Das ist schon geschehen." 
    Der entsetzte Abgeordnete sprang auf: „Das ist schon geschehen?" schrie  er. 
    Der Ministerialdirektor blickte ihm ruhig und ohne Antwort in die Augen. „Was  ist schon geschehen?" 
    Die Augen des Abgeordneten funkelten leidenschaftlich. „Setz dich,  Karl. Reg dich nicht auf!" „Nein, nein", schrie Jandak, „was ist  geschehen?" 
    Seine Stimme überschlug sich: „Denkst du an die Feuerlöschgeräte?"  „Ja!" antwortete Podhradsky ruhig. „Was gehen sie mich an?" 
    Es war ein wilder Aufschrei. 
    „Was gehen mich eure Feuerlöschgeräte an, und was geht ihr alle mich  an?" „Setz dich, Karl, und höre mich an!" „Damit werdet ihr mich nicht  erledigen, meine Herren!" 
    Seine Stimme zischte. 
    „Setz dich, Karl, du wirst sehen, dass wir uns einigen." „Ich fürchte mich  nicht." 
    Seine Stimme wurde aber dabei schwächer. „Ich bitte dich, höre mich an." 
    „Bitte!" sagte Jandak mit großer Geste und setzte sich, „bitte, fahr  fort. Also die Feuerlöschgeräte, — ich bin sehr neugierig." Er setzte  sich. 
    Auch der Ministerialdirektor setzte sich. Er saß dem Abgeordneten  gegenüber, heftete die Augen auf ihn und war entschlossen, ihn nicht  mehr aufspringen zu lassen. 
    „Ich spreche nicht gern davon. Wie du siehst, verwende ich dies nur als  letztes Mittel. Die Zeiten sind zu ernst, als dass ein Mittel  unverwendet bleiben könnte. Du bist ein zu gefährlicher Feind, du musst  die Propagierung des Bolschewismus unterlassen. Es gibt keinen Ausweg,  du musst, und ich lasse dich nicht früher fort, bevor du mir nicht  Garantien dafür gegeben hast!" 
    „Ich bin neugierig, wie du mich dazu zwingen willst." „Ich werde den  Bericht über die Feuerlöschgeräte veröffentlichen." 
    Jandaks Augen blitzten aufs neue auf. „Hör mal, das war doch ein  Geschäft meines Bruders!" „Gestatte, dass ich dich mit der Wiederholung  des ganzen Falles belästige, nicht wie d u ihn siehst, sondern wie wir  ihn betrachten", sagte der Ministerialdirektor. „Dein Bruder ist  Bäcker, nicht wahr. Was ging uns dein Bruder an? Was ist er schon? Ein  anständiger Bürger, der sich nicht mit Politik befasst, auf alle Fälle  ein staatsbejahender Wähler. Uns lag an deiner Person, am Abgeordneten  Jandak, an dem Arbeiterführer und Mann mit der gefährlichen Phantasie.  Es war voriges Jahr im Frühling. Hunderte von Staatsgebäuden wurden  eingerichtet. Das gab eine wunderbare Gelegenheit für  Lieferantengeschäfte. Dein Herr Bruder ist ein kluger Mann und hat das  gleich erfasst. Eines Tages kamst du mit der Anfrage zu uns, ob er  nicht die Feuerlöschgeräte für eine Gewerbeschule liefern könnte, die  dort irgendwo in eurer Gegend gebaut wurde. Du hast dir das  wahrscheinlich so vorgestellt, dass dein Bruder ein paar hundert Mark  verdienen könnte, die er gut gebrauchen kann. Bei dieser unschuldigen  Protektion gab's keine Gefahr, nicht wahr? Die Nation war in schönster  Harmonie. Wir kamen gesellschaftlich zusammen. Es war so, als ob  überhaupt keine politischen Parteien existierten. Wir waren von der  Freiheit besoffen, wie du es vorhin ausgedrückt hast. Konnte damals  jemand daran denken, dass wir uns in einem Jahr auf Leben und Tod  gegenüberstehen würden? Siehst du, ich muss dir gestehen, wir dachten  schon damals daran! Unsere Diplomatie hat uns besser informiert als du  informiert wurdest. Wir sahen, wohin die Dinge führten, und wir konnten  uns vorstellen, auf welche Seite der Abgeordnete Jandak sich seinem  ganzen Temperament nach schlagen würde. Es lag uns sehr viel an diesem  Arbeiterführer, und wenn er schon mit einer Bitte um eine  bedeutungslose Protektion zu uns kam, dachten wir nicht daran, ihn mit  einem Verdienst von ein paar hundert Mark für seinen Bruder abziehen zu  lassen. 
    Wir mussten uns des Abgeordneten Jandak für Gegenwart und Zukunft  versichern. Wir verführten dich, — ich bin aufrichtig zu dir und  bekenne es — wir verführten dich ganz wissentlich und planmäßig! Wir  taten so, als ob wir den Fall der Gewerbeschule nicht richtig  verstanden und forderten deinen Bruder auf, ein Angebot auf  zwanzigtausend Stück Feuerlöschapparate für Staatsgebäude zu machen. Es  klingt ein bisschen ungewöhnlich, dass ein Bäckermeister die Minimaxe  für den ganzen Staat liefert, aber solche Fälle gab es mehr als du  ahnst. Dein Bruder hat sich wohl über die Zahl sehr gewundert und hat  im ersten Augenblick nicht gewusst, was er damit anfangen sollte. Aber  es ging. Ihr habt schnell eine Gesellschaft für den Handel mit  Feuerlöschapparaten gegründet und sie ,Feuerschutz' genannt. Du, dein  Bruder, ein Apotheker, namens Rehak, und der Architekt Weigel. Die  beiden letzteren haben das Geld gegeben, — du warst stiller  Gesellschafter. Ihr habt in Deutschland große Bestellungen gemacht und  habt das Stück zu fünfundsechzig Mark geliefert. Um sechs Mark fünfzig  teurer als die Konkurrenz. Sie waren besser, ich zweifle nicht daran,  aus besserem Material gemacht und von größerer Haltbarkeit. Wir wollen  annehmen, dass diese sechs Mark fünfzig den Reinverdienst darstellten.  Wenn du diesen Betrag mit zwanzigtausend multiplizierst, kommst du auf  weit über hunderttausend Mark. Die Summe musste durch vier geteilt wer-  . den, also rund dreißigtausend Mark für jeden Teilhaber. Das ist zwar  kein Reichtum, aber es ist ein kleines Vermögen, das zur  wirtschaftlichen Zufriedenheit, oder wie wir Politiker sagen, zur  ,Staatsbejahung' langt. Der Abgeordnete Jandak war uns dieses Geld  wert. Wenn der Feuerlöschapparat noch um zwei Mark fünfzig teurer  gewesen wäre, wir hätten ihn trotzdem gekauft. Aber damit hat der  Abgeordnete Jandak eine Verpflichtung auf sich genommen, zumindest die  Verpflichtung, uns nicht zu schaden. Erfüllt er sie, so sind wir bis  zum Tode gute Freunde, erfüllt er sie nicht, bleibt nur der Kampf." 
    Der Ministerialdirektor schwieg eine Zeitlang, dann fuhr er fort: 
    „Sieh mal, Karl, du sagst, dass eure Apparate besser waren. Ich glaube es."  
    Er trat zum Schreibtisch, nahm einen Bogen Papier aus der Mappe, setzte sich  wieder und las: 
    „Wir haben über die Feuerlöschapparate ein Gutachten eingeholt. Ich  will dir die Wahrheit sagen, vor vierzehn Tagen, als der Kampf mit dir  unausbleiblich schien. Ich verrate dir noch mehr. Wir haben dem  Sachverständigen zu verstehen gegeben, dass es uns lieb sein würde,  wenn sein Urteil so ungünstig wie möglich wäre. Hier ist es. Es fängt  folgendermaßen an: 
    .Die Feuerlöschapparate ,Feuerschutz', die uns vorgelegt wurden, sind  von schlechtester Qualität, und, falls sie nicht ganz wertlos sind,  zumindest erheblich weniger wert als andere Fabrikate.' Dann kommt  Materialprüfung, chemische Zusammensetzung usw., du verstehst  jedenfalls ebenso wenig davon wie ich. Der Schluss lautet: 
    ,Falls für den Feuerlöschapparat im Vorjahre fünfundsechzig Mark  bezahlt wurden, dann ist er mindestens mit dreißig Mark überzahlt  worden.' Dann wäre euer Verdienst allerdings noch größer gewesen." 
    „Das ist eine Lüge, eine gemeine Lüge!" schrie Jandak. 
    „Ich bin auch überzeugt, dass das Gutachten tendenziös ist, aber zwei  Sachverständige haben es unterschrieben, die dafür bürgen. Weißt du,  was es bedeutet, wenn wir das veröffentlichen würden?" 
    Der Abgeordnete rauchte schon die dritte Zigarette aus der Dose, die  vor ihm stand. Er hatte längst vergessen, dass es Regierungszigaretten  waren. 
    „Das ist unerhört, ich werde sie verklagen." 
    „Du wirst sie nicht verklagen, ich brauche dir wohl nicht zu sagen, wie  der Prozess politisch für dich enden würde, auch wenn du ihn juristisch  gewinnst!" Jandak sprang auf. Er war bleich. 
    „Ihr seid Bestien, ihr seid menschliche Bestien." 
    „Wir sind es nicht, Karl. Wir verfechten nur die Sache der Republik, und die  ist uns heilig. 
    „Was wollt ihr denn von mir?" brüllte Jandak. 
    „Setz dich, Karl!" Der Ministerialdirektor drückte ihn auf den Stuhl  zurück. 
    „Was wollt ihr von mir?" 
    Der Ministerialdirektor stand eine Weile schweigend da, dann sagte er ernst und  gemessen: 
    „Wir verlangen, dass du innerhalb einer Woche im ,Volksrecht' einen von  dir unterschriebenen Artikel gegen den Bolschewismus erscheinen lässt." 
    „Lieber erschieß ich mich!" Der Ministerialdirektor zuckte die Achseln: 
    „Dann veröffentlichen wir das Gutachten und die Photographie aus der  ,Goldenen Spinne'. Sie hängen zwar nicht miteinander zusammen, aber die  öffentliche Meinung wird sich den Zusammenhang schon konstruieren.  Falls es notwendig ist, werden wir gegen die Gesellschaft Feuerschutz'  Strafanzeige wegen Betruges erstatten." 
    Vor den Augen des Abgeordneten erschien plötzlich der Gerichtssaal mit  seinem neugierigen Publikum, dem kleinbürgerlichen Aussehen der  Geschworenen und dem herausfordernden Lachen des Staatsanwaltes; nur  für den Bruchteil einer Sekunde, denn über ihm standen zwei Augen, die  ihn unaufhörlich ansahen; die Augen des Ministerialdirektors Podhradsky  blieben kalt und ruhig. 
    „Also doch die Photographie", lachte er auf, „auf dein Ehrenwort kann man  sich verlassen!" 
    Die kalten, blauen Augen antworteten: Ich wäre ein schlechter Diener  des Staates, würde mir mein Ehrenwort mehr bedeuten als sein Wohl. Im  übrigen habe ich mein Wort im besten Glauben gegeben und bleibe dabei.  Die Photographie wird nicht veröffentlicht, und zwar deshalb, weil du  keinen anderen Ausweg hast, als dich zu unterwerfen!" „Nein, ich  erschieße mich!" 
    Der Abgeordnete Jandak sagte es ruhig, und er stand ruhig auf. Im  Zimmer wurde es still. Im ganzen Palais war es still. Die Amtsstunden  waren beendet, und außer ihnen und dem Portier war niemand im Hause. 
    Die Fenster führten in den Garten des Fürsten Rohan. Der Garten war  leer. Der Ministerialdirektor saß am Schreibtisch und blickte vor sich  hin. 
    Der Abgeordnete Jandak ging ruhigen Schrittes auf dem Teppich auf und ab. Dann  blieb er vor dem Beamten stehen: 
    „Ich erschieße mich!" sagte er. Es klang fest und überzeugend. 
    Der Ministerialdirektor blickte dem Abgeordneten in die Augen, die  nicht zur Seite wichen. Er antwortete erst nach einer Zeit. Dann sagte  er mit seiner ruhigen, höflichen Stimme: 
    „Ich habe eben über diese Möglichkeit nachgedacht. Auch in diesem Falle  wird der Zweck erreicht. Es geht um den Bürgerkrieg, Auge um Auge. In  solcher Gefahr darf man vor dem Leben des einzelnen nicht  zurückschrecken. Wem wird dein Tod nützen? Niemandem, außer uns, deinen  politischen Gegnern. Du wirst die Familie unglücklich machen, und die  Arbeiterschaft wird einen Helfer verlieren, wie sie wenige hat. Wir  schlagen dir den einzig möglichen Weg vor. Du wirst den Artikel  schreiben." 
    „Nein!" 
    „Nicht innerhalb einer Woche. Diese Bedingung war zu hart, ich habe es  mir überlegt. Der Umschwung käme zu schnell. Du wirst ihn in einem  Monat schreiben. In dieser Zeit wirst du nichts gegen uns unternehmen  und die Arbeiter nicht aufhetzen, das lässt sich leicht durchführen. Du  bist krank, überarbeitet, brauchst Ruhe, du kannst in einer kulturellen  oder genossenschaftlichen Organisation arbeiten. Wir schätzen, wie du  weißt, die Kultur sehr hoch, und die Arbeitergenossenschaften werden  von uns unterstützt. In einem Monat können wir weiterreden — von  erfreulicheren Dingen. Ich bin überzeugt, dass sich in Kürze die  Verhältnisse so geändert haben werden, dass es bis zu unserm Tode nicht  mehr notwendig sein wird, von diesen unangenehmen Dingen zu sprechen.  Bist du damit einverstanden?" 
    Es war wieder still, beklemmend still. 
    Es war keine Uhr im Zimmer, deren Ticken und Schlagen sie gestört  hätte, und das Getöse der Straßenbahn drang nicht in diesen stillen  Winkel der Hauptstadt. 
    Jandak saß mit gesenktem Kopf im Ledersessel. Der Ministerialdirektor stand am  geöffneten Fenster. 
    Die Spannung des Kampfes wich, der Nebel senkte sich auf das  Schlachtfeld. Er kam durchs Fenster aus dem Garten der Fürsten Rohan. 
    „Eine fürchterliche Strafe", flüsterte der Abgeordnete. Nichts weiter, und  erst nach einer Minute: 
    „Eine fürchterliche Strafe für drei Monate Freundschaft mit der  Bourgeoisie. Ihr seid klug wie Schlangen und niederträchtig wie Ratten." 
    Der Ministerialdirektor antwortete nicht. 
    Er bewegte weder Lippen noch Augen, Die waren kalt, korrekt und blau. Das  Schweigen wurde quälend. 
    „Na", sagte Jandak plötzlich und erhob sich. Er trat zu dem Beamten hin  und reichte ihm die Hand: „Auf Wiedersehen!" 
    „Leb wohl, Jandak", sagte Podhradsky herzlich, ergriff die gebotene  Rechte und verneigte sich höflich. Er geleitete den Abgeordneten zur  Tür. 
    Dort sagte er, als ob der Vertrag schon abgeschlossen wäre, als ob  nichts mehr zu sagen sei, und als ob er sich eben an etwas anderes  erinnere: 
    „Halt deinen jungen Herrn ein bisschen im Zaun. Der erzählt auf den  Versammlungen Sachen, dass einem die Haare zu Berge stehen. Bestell ihm  doch, dass die vierzehn Tage nur eine sanfte Erinnerung sind, aber dass  wir ihn mal richtig einsperren lassen, und feste." 
    Jandak winkte mit der Hand ab. 
    Er fuhr nach Hause. Ein Spieler, der den Sonnabendlohn verspielt hat,  ein Boxer, der von der Weltmeisterschaft geträumt hatte und nun im Ring  von einem Anfänger k. o. geschlagen wurde, von einem Anfänger, den er  vorher gar nicht beachtet hat. Ein Bergsteiger, dem 
    dreihundert Meter vor dem Gipfel des Gaurisankar das Eis unter den  Füßen zusammenbricht, und der in den Abgrund stürzt, ein Soldat auf dem  Vormarsch, der vor vier Sekunden den kleinen Schlag ins Kreuz kaum  beachtet hat, und der nun feststellt, dass ihn die Füße nicht mehr  tragen, und dass er sterben muss. 
    Der Abgeordnete Jandak ging die Treppen zu seiner Wohnung hinauf. 
    Es war niemand daheim. Er begab sich in sein Arbeitszimmer, warf sich  auf die Chaiselongue. Er heftete seinen Blick auf das Bild Lenins, das  über seinem Schreibtisch hing; auf die Augen des Bildes, die hohe  Stirn, die Jandak halb im Scherz gern mit der seinen verglich. 
    Er war vom verlorenen Kampf erschöpft und dachte an nichts, Hirn und  Nervensystem waren nur irgendein riesenhaftes, heißes und aschgraues  Knäuel von Entsetzen. Die Gedanken begannen sich aus diesem Knäuel erst  nach geraumer Zeit zu entwirren. 
    Sollte er sich erschießen? Das war der ernsthafteste Ausweg. Dort am Fenster  beim Schreibtisch konnte er es tun. 
    Er würde auf dem Stuhl sitzen, in der Schläfe ein kleines Loch, die  Hand ohnmächtig am Körper entlanghängend. Der Browning würde auf dem  Boden liegen. Die Frau würde in Ohnmacht fallen, und die Kinder weinen.  Er dachte noch an jemand, an die Genossin Elfriede, eine kleine  Näherin, und an ihr Zimmerchen in der Vorstadt. 
    Aber würde Podhradsky vor seiner Leiche Halt machen? Nein! Zwei Tage  nach seinem Tode würde in einem der Regierungsblätter eine Notiz zu  lesen sein: 
    „Zum Selbstmord des Abgeordneten Jandak erfahren wir -... " 
    Der Abgeordnete sieht die fetten Überschriften, sieht den Artikel in  den „Tagesnachrichten" und weiß, was darin steht. Podhradsky würde  triumphieren. Seine Aufgabe ist es, die Arbeitermassen in Unsicherheit  zu bringen. Er ist ein Henker. 
    Es hat keinen Sinn, sich zu erschießen. 
    Vielleicht Podhradsky hereinlegen? Jandak denkt an einen Diebstahl der  Dokumente, an Bestechung der Beamten im Innenministerium, an die  Organisation einer nächtlichen Raubexpedition, doch jeder dieser  romanhaften, unsinnigen Gedanken muss fallen. Die Augen des Bildes  blicken den Mann auf der Chaiselongue an. Sie sind von einem  hellseherischen Spott erfüllt. Das Ende? Nein. Das ganze Innere Jandaks  wehrt sich dagegen. Es gibt einen Ausweg, es muss einen Ausweg geben!  Der Ausweg fällt ihm plötzlich und unerwartet ein, und er wundert sich  darüber, dass er nicht schon früher darauf gekommen ist. 
    Er wird zu den Arbeitern gehen und ihnen die Wahrheit sagen. Es ist  nicht einzusehen, warum nicht auch ein Arbeiterführer die bürgerliche  Gesellschaft ein wenig expropriieren soll, wo die Reichtümer der  bürgerlichen, staatlichen Lieferanten ins Ungeheure wuchsen. 
    Er sieht den Versammlungsraum. Ein düsterer Saal, kleine Fenster, die  Glühbirnen hängen an Schnüren von der Decke herab. Turngeräte, Reck und  Ringe sind an kleinen Balkon hochgezogen. Die Gipsbüsten von Marx und  Lassalle stehen an den Seitenwänden. Der Abgeordnete Jandak steht auf  dem Podium. Er spricht zur Versammlung, ein feuriger, immer  mitreißender Redner: 
    „Ja, Genossen, warum soll ich nicht auch einmal am bürgerlichen Staat  verdienen, ich bin ein Arbeiter, der sich in Ruhe seiner Arbeit für die  Sache des Proletariats und für die Revolution widmen will?" 
    Jandak blickt sich in der Versammlung um, aber die Worte bleiben ihm in  der Kehle stecken. Zweitausend Augen sind auf ihn gerichtet, und in  diesen Augen nistet die Kälte. Aus allen Körpern strömt eisige  Verachtung. Über den Köpfen der Masse steht frostiger Reif. Der Frost  füllt den ganzen Saal, und nun fühlt ihn auch der Abgeordnete Jandak  beim Atmen. Er zittert vor Kälte. Er will sich den Rock zuknöpfen, da  ruft jemand aus der Mitte des Saales: „Verräter!", und alle schreien  auf einmal „Verräter". Ein eisiger Sturm wird entfesselt, ein  furchtbarer Orkan, und Eisstücke „Verräter, Verräter" schlagen ihm ins  Gesicht. Er schützt die Augen mit den Händen. Der Sturm treibt ihn  durch die Wand aus dem Saal und schleppt ihn über Dächer und  Telegraphendrähte. 
    Jandak springt auf. 
    Er fasst sich an die Stirn. 
    Es ist kalt. 
    Er blickt ins Leere. Was nun? Es gibt doch einen Ausweg! Er wird das  Geld zurückgeben bis zum letzten Pfennig. Es waren keine  Hunderttausend, nicht einmal Fünfzigtausend. Er wird es ihnen vor die  Füße werfen. 
    Ja, aber hat er denn das Geld? Er hat es nicht. Die Frauen sind an das  bequeme Leben gewöhnt, der Sohn kauft eine Unmenge sozialistischer  Literatur, und auch er hat viel verbraucht. Elfriede will leben, und  ihr Wochenlohn von zwölf Mark bedeutet Tuberkulose. Gestern war der  Architekt hier. Nächste Woche soll in der Umgebung der Baugrund für ein  Familienhäuschen abgesteckt werden. Die Frau ist schon jetzt verliebt  in den Gedanken und träumt jede Nacht davon. 
    Er hat das Geld nicht mehr. Diese Hunde, sie haben ihn gefangen. Er sitzt im  Netz. Wie er sich auch windet, 
    wie er um sich herumschlägt, er sitzt fest.----- Diese Gauner! 
    An der Wand hängt ein russisches Revolutionsplakat, ein Bild von wilder  Schärfe und Hass. Die kapitalistische Sphinx windet sich auf diesem  Bild in Todeskrämpfen. Sie ruht auf einem hohen Steinsockel. Einer  ihrer drei Köpfe ist abgeschlagen, und aus der Wunde strömt ein Bach  von Blut. Unter ihr sind die Massen des Proletariats versammelt. Sie  setzen den Hebel ans Gestein, sie arbeiten mit Hacken und Äxten. Sie  klimmen an den Quadern hoch und klettern auf den Schultern der unter  ihnen Stehenden hinauf, Messer in der Hand, Messer im Mund, ebenso  entsetzt wie die Sphinx über ihnen. Sie klettern bis zu ihr hinauf,  bedecken ihren Leib mit ihren Körpern, stoßen ihre Waffen hinein, und  sie zerdrückt die Menschen mit ihren Klauen, zerreißt sie mit den  Zähnen, würgt sie mit den Fängen. Über das Postament fließen Bäche von  Blut, und auf die Häupter der Kämpfenden fallen Leichen. Aber die  Kleinen hören in ihrer Wildheit nicht auf. Tausend Kleine gegen ein  Ungetüm. 
    Der Abgeordnete Jandak bewundert die Wildheit dieses Bildes. Sein Blick  bleibt an einer Figur haften. Das Ungeheuer hat das Ende des Schwanzes  um sie gerollt und zerdrückt ihr die Knochen. Das Gesicht des  Gefangenen ist todfahl. Wenn das Untier die Umschlingung lockert, wird  eine Leiche herunterfallen. Jandak glaubt, seine eigenen Gesichtszüge  zu erkennen. Ja, das ist er selbst, der Abgeordnete Jandak, das  tragische Opfer im Kampf mit der Sphinx. Das Untier hat ihn eingezwängt  und lässt nicht locker. Er muss umkommen, — das ist das Schicksal des  Kämpfers. 
    Jandak glaubt es, und seine Augen füllen sich mit Tränen der Wehmut. Er  wirft sich auf die Seite, vergräbt seinen Kopf in die Seidenkissen. Es  sind Geschenke seiner Tochter. Armes Mädchen! Armer Vater! 
    Welche Melodie geht durch Jandaks Kopf, welche dumme Coupletmelodie?!  Jandak weiß es plötzlich. Die Melodie hat einen Refrain, und er erkennt  ihn entsetzt. 
    „Jandak dreht sich!" Die Melodie wurde ursprünglich zu einem Lied gegen  den Chefredakteur des „Volksrechts", Stiwin, komponiert. Er war einer  der ersten Bolschewiken im Lande. Er schrieb Artikel, schlug sich in  Versammlungen herum und gewann die Bergarbeiter. Die Arbeiterschaft  liebte ihn, die Bourgeoisie hasste ihn auf den Tod. Eines Tages  erschien im „Volksrecht" ein konterrevolutionärer Artikel, den Stiwin  geschrieben hatte. In einer Nacht fiel er ins wahre Gegenteil um.  Niemand wusste, warum. Josef Stiwin machte Karriere. Er ließ sich von  seiner Frau scheiden und heiratete eine junge Schönheit, die immer  wunderbar gekleidet war. Er zog aus seiner Zweizimmerwohnung in einen  Palast und ließ sich von einem gefeierten Maler malen. Und damals sang  ein berühmter Kabarettsänger ein Couplet mit dem Refrain: „Stiwin dreht  sich!" 
    Und jetzt hatte das Liedchen einen anderen Refrain: „Jandak dreht sich!" 
    Der Abgeordnete bohrte seinen Kopf noch tiefer in die Kissen. „Jandak  dreht sich, Jandak dreht sich, Jandak dreht sich nach rechts!" 
    Die Melodie wurde immer stärker. Er mochte sich anstrengen, soviel er  wollte, das Lied war nicht zu verjagen. Vielleicht deswegen, weil  dieses Couplet, so dumm, aufdringlich und unabwendbar es auch sein  mochte, die einzige ehrliche Sache des heutigen Tages war. 
    Jandak wird sich drehen, Jandak wird den Artikel schreiben, Jandak wird  nicht einmal mehr in die heutige Versammlung gehen. Er wird  telefonieren, dass er ernstlich krank sei. Jandak war nie ein  proletarischer Revolutionär, er war ein Genießer, ein ehrgeiziger  Schauspieler. 
    In der Diele klirrte das Schloss. Der Abgeordnete Jandak sprang auf. Er  lief zum Spiegel und strich sich das Haar glatt. Der Sohn stürzte ins  Zimmer und mit ihm die Frische seiner zwanzig Jahre. 
    „Alter!" rief er freudig und kameradschaftlich, „ich bin zu dir  gelaufen, weil ich wunderbare Nachrichten habe. In Mitteldeutschland  ist alles vorbereitet. Sie warten bloß auf den Befehl." 
    Der Vater blickte den Sohn an; das Bild des Sohnes, wie er vor ihm  stand, die Wangen vor Begeisterung gerötet, verschwamm im Nebel. 
    Der Abgeordnete fühlte sich einer Ohnmacht nahe. Er hatte das  Bedürfnis, sich hinzusetzen. „Was ist dir, Vater?" Der Vater antwortete  nicht. „Was ist dir?" wiederholte der Student verwundert. 
    Da nahm der Abgeordnete Jandak seinen ganzen Willen zusammen: 
    „Meine Nachrichten lauten anders", stotterte er. Dann gewann seine Stimme  eine unnatürliche Festigkeit: 
    „Meine Informationen sind ganz anders. Jede Aktion, die wir unternehmen, ist  zum Misserfolg verurteilt." 
    Der Student sprang zu ihm hin und fasste ihn am Rock. Aus den Augen des  Jünglings sprach Verzweiflung. „Bist du wahnsinnig geworden?" schrie er. 
  Am gleichen Abend ging Anna spät abends vor der Kolbenschen Fabrik auf und  ab. 
    Die Fabrikuhr ist schwarz, die Zeiger sind von Gold. Sie bewegen sich  mit unglaublicher Faulheit. Toni modellierte in dieser Woche das  Kugellager einer großen Drehbank und musste Überstunden machen. 
    Anna erwartete ihre schwere Stunde, und das machte sie unruhig. Sicher,  es war nicht viel dabei. Alle Arbeiterfrauen im Hause hatten Kinder.  Geburten, Fehlgeburten und Beerdigungen mit kleinen Särgen waren in der  Jesseniusgasse an der Tagesordnung. 
    Sie sagte sich das alles vergeblich. Es war ihr zu eng zu Hause, und  sie sehnte sich nach Toni. Das durfte sie niemandem sagen. Die  Nachbarinnen würden lachen, und die Genossin Tinschmann würde ihr  sagen: „Na, feine Gräfin, wollen Sie sich vielleicht jetzt schon ins  Bett legen? Ich habe elf Kinder, neun lebende und zwei tote, die vielen  Abtreibungen nicht gerechnet. Aber am zweiten Tag nach jeder Geburt  habe ich immer schon am Herd oder am Waschtrog gestanden!" 
    Aber Annas Herz war wie ein Vogel vor dem Gewitter. 
    Die goldenen Zeiger rührten sich nicht. Der Fabrikhof hinter dem Gittertor war  leer. 
    Endlich sah sie ihn. Er kam als erster mit einem Trupp von Arbeitern  aus dem Tor der Gießerei und eilte zur Kontrolluhr an der Portierloge.  Da erblickte er sie, wie sie sich mit beiden Händen am Gitter des Tores  festhielt und ihn flehentlich ansah. Er grüßte sie mit einem Blick, und  sein Gesicht erhellte sich. Er trat ins Freie. Sie drückten sich fest  die Hand. Ihre großen blauen Augen sagten ihm: Ich habe Sehnsucht nach  dir, Toni, und ich hatte große Angst. 
    Und sein fester Blick antwortete: Auch ich ängstige mich um dich, Anna,  wir werden alles tun, was wir können, es wird gut ablaufen, fürchte  dich nicht. Ich bin froh, dass du gekommen bist, mein Lieb. 
    Sein letzter Blick setzte noch hinzu: Meine Liebe, Teure. 
    Der Mund sprach kein Wort. 
    Sie gingen, die Schultern leicht aneinandergelehnt, die Straßen hinab. 
    „Ich werde dich nach Hause begleiten, Anna", sagte er, „ich muss dann  noch in die Versammlung. Jandak spricht, und ich werde mich mit ihm  beraten. Ich werde nicht bis zu Ende bleiben, ich komme bald." 
    „Komm!" 
    Sie drängte sich näher an ihn. 
    An der nächsten Ecke stießen sie unerwartet auf den jungen Jandak. Er  blieb vor ihnen stehen, als ob er erschrocken wäre. Er war bleich, und  sein Anblick war mitleiderregend. Auch sie blieben stehen. „Was ist  denn geschehen?" dachte Anna. „Ich war bei euch", sagte er unsicher,  „die Tinschmann sagte mir, dass du Überstunden machst." 
    Sie blickten ihn fragend an. 
    „Ich bitte dich, Genossin, lasst mich ein paar Tage bei euch wohnen." 
    „Aber gern", antwortete Toni. „Kommen Sie nur!" sagte Anna. Doch das  war keine Erklärung. Sie warteten. „Ich gehe nicht mehr nach Hause. Ich  ziehe zum Onkel, es ist irgendein Bourgeois, aber ich habe keine andere  Möglichkeit. Er ist jetzt verreist und kommt erst in drei Tagen zurück." 
    Die Augen der beiden fragten ihn weiter. „Der Vater hat uns verraten",  stöhnte er. Es war wie eine Explosion. 
    Auch Toni erbleichte. Aus des Studenten Gesicht sprach unendliche  Verzweiflung. Er wollte weinen, nichts als weinen. Neben ihm stand  Anna, den Blick mitleidig auf ihn geheftet. „Komm und erzähl", sagt  Toni hart. 
    Sie gingen. Es war nicht viel zu erklären. Der Vater hatte über Nacht  die Überzeugung gewechselt, er war für die Einhaltung der bisherigen  politischen Linie und gegen die Gründung einer neuen Partei. Jede  Aktion sei von vornherein verloren. Etwas sei mit dem Vater heute  geschehen. 
    „Weiß schon jemand davon?" fragte Toni. 
    „Nein, du bist der erste." 
    Toni hielt nach einer Telefonzelle Ausschau. Als er sie fand, warf er  das Geldstück in den Automaten und suchte eine Verbindung mit den  Führern der Opposition. Endlich erreichte er sie. 
    „Der Abgeordnete Jandak, diese Bestie, hat uns verraten", schrie er in  den Apparat und erzählte den entsetzten Genossen, was er wusste. „Er  hat heute Versammlung und will wahrscheinlich dort mit seinen Versuchen  beginnen. Jemand muss schnell zur Versammlung hin und diesen Hund  erledigen." 
    „Wir fahren hin", antwortete eine Stimme, „wir haben zwar heute andere  Sitzungen, aber die Sache ist zu wichtig. Du musst auch hinkommen, du  bist der einzige Zeuge. Die revolutionäre Disziplin würde zwar  verlangen, dass der Sohn den Verräter enthüllt, aber das kann man von  ihm jetzt nicht fordern. Jandak muss vernichtet werden." 
    „Gut, ich komme, der Hund soll sich freuen." 
    Er hängte das Telefon an. Anna und der Student warteten vor dem  Telefonhäuschen. Er war noch bleicher als vorher. 
    „Ich muss zur Versammlung, Anna, ich komme wohl sehr spät. Leb wohl." 
    Sein Händedruck und der schnelle Blick, in dem für den Bruchteil einer Sekunde  Herzlichkeit aufleuchtete, fügte hinzu: 
    „Ich muss dir doch nicht erklären, wie gern ich bei dir bleiben würde." 
    „Geh mit Anna, sie wird dir das Bett richten. Es kann bei ihr jeden  Augenblick losgehen. Wenn's schlimm kommt, weck die Genossin Tinschmann  und hol die Hebamme... " 
    Und er lief schon die Schienen entlang, um die Haltestelle gleichzeitig  mit der Straßenbahn zu erreichen, die bereits neben ihm bullerte. 
    Er sprang auf. Anna! Kerekes Sandor! Die Gedanken eilten ihm durch den  Kopf. Jetzt ging's um die Sache! Er wird den Verräter vernichten. Sie  blickten ihm nach. Der Abend kam in die Jesseniusgasse. Die  Petroleumlampe stand auf dem Tisch mit der billigen Decke. Anna und der  Student saßen einander gegenüber. Die Lampe hatte einen Papierschirm.  Ihr gelbes Licht fiel auf den Tisch. 
    Die Gesichter blieben im Halbdunkel. Anna flickte Wäsche. Keiner sprach  ein Wort. Anna blickte ihn einige Male mitleidig an. Dann riss er seine  Augen von der Tischdecke los und dankte ihr für die Liebe, die er so  sehr brauchte. Annas Augen waren blau, und ihr Gesicht war von der  Erwartung der Mutterschaft verschönt. Als die Zwiesprache der Blicke  schon zu lange gedauert hatte und ohne Erröten nicht mehr fortgesetzt  werden konnte, sagte Anna weich: 
    „Wie ist das bloß geschehen?" „Eine furchtbare Sache, Genossin Anna."  Sonderbar, wie dieses Zimmer einer Luftpumpe glich. 
    Sie waren beide in ihr eingeschlossen. Das Haus war voll Bewegung. Hier  schien ein Mittelpunkt zu sein, und der war tot. Lärm durchtönte das  Haus. Über Treppen und Flur klangen ständig Schritte. Türen öffneten  sich, und am Ende des Flurs lief die Wasserleitung. Bei Kutscherers  bekam der vierjährige Franz Prügel und heulte. Nebenan sang die Frau  Wachtmeister den Zwillingen ein Couplet im Rhythmus eines Wiegenliedes  vor. Dieser ganze Lärm machte vor der Luftpumpe halt, brach an deren  Glasglocke entzwei, glitt an ihr ab und fiel zu Boden. 
    Anna hatte blaue Augen wie große Saphire. Ihre Hand bewegte sich weich,  und die Spitzen ihrer Finger liebkosten die Nadel. Irgendwo in der  Versammlung mordeten sie inzwischen seinen Vater. 
    „Was werden Sie jetzt tun?" 
    Sie konnte sich nicht daran gewöhnen, den Jüngling zu duzen. 
    „Ich weiß es nicht, Genossin Anna." Jemand ging langsam und schwer über den  Flur, als ob er eine Last trüge. 
    „Lern, und spiel nicht dauernd, Lausbub!" schrie die Tinschmann nebenan. 
    Toni ist ein guter Genosse. Er wird den Vater durch Kopfschüsse  erledigen. Er wird die Arbeit gut verrichten, da ist kein Zweifel. Toni  und Anna, das sind ganze Kerle. Alles in ihnen ist klar, sie wanken  nie. Sie wussten immer, was sie tun sollten. Sie sind nicht tragisch,  niemand von den Genossen ist tragisch, nur er, der junge Jandak, wankt,  nur er ist zerbrochen und traurig. Niemand wird ihn verstehen, und  niemand wird ihm helfen. Er ist ihnen fremd. Sie nehmen ihn auf,  beraten sich mit ihm und glauben ihm. Aber sie halten ihn nicht für  einen der ihren. Anna, die heilige Anna, die er heimlich liebt, wird  ihn bedauern, ihm den Kopf mit so weichen Blicken streicheln, wie keine  Geliebte es könnte. Aber sie hat noch nie freiwillig „du" zu ihm  gesagt, wie es sonst unter Genossen selbstverständlich ist. Das ist das  Furchtbarste von allem. Die, die er liebt, denen er das Leben weiht,  denen er heute den Vater ausgeliefert hat, nehmen ihn nicht als den  ihren auf. 
    Auf dem Flur tönen Schritte zur Wasserleitung hin. Das Wasser schlägt  gegen den Boden des Blechtopfes. Bei Klabans hat sich die Tür geöffnet.  „Komm her", ruft die Genossin Tinschmann mit hoher Stimme. Die  Geräusche brechen sich an der Glasglocke der Luftpumpe. 
    Der Student ist aufgestanden und geht an Tonis Bücherregal. Er zieht ein Buch  hervor, setzt sich und versucht zu lesen. 
    „Sie sagen mir, wenn Sie schlafen gehen wollen?" „Ich warte auf  Toni." 
    Der junge Jandak nickt. Er versucht zu lesen. Es ist unmöglich. Aber es  ist weniger quälend, ruhig zu sitzen und so zu tun, als ob man ins Buch  vertieft sei, als vor sich hinzustieren und Sätze auszudenken, die  unwahr sind. Von Zeit zu Zeit muss man allerdings umblättern, und das  macht die Komödie so erniedrigend. 
    Was will er eigentlich hier? Ist es ihm denn eine Erleichterung, dass  Anna in greifbarer Nähe sitzt, dass er seine Augen auf dem  Heiligenschein über ihrem Haupte ruhen lassen kann und ihre rosigen  Finger betrachten darf, die mit der Nadel spielen? Die Nadel entbrennt  von Zeit zu Zeit wie von einem Feuer, das aus Annas Herzblut in sie  gedrungen ist. 
    Ja, es ist ihm eine Erleichterung. 
    Toni kommt zurück. Viel früher, als sie ihn erwartet haben. 
    „Toni", ruft Anna, und ein Strahl der Freude dringt in ihre Wangen. Dem  Studenten schlägt das Herz, und er heftet einen angstvollen Blick auf  den Mund des Genossen. 
    „Er ist nicht gekommen", sagte Toni. 
    „Er ist nicht gekommen?" 
    Diese Worte erfüllten das Innere des Studenten. Das Herz schlägt ihm  heftig, aber anders als vor einer Sekunde. Es schlägt vor  Erleichterung, weil die Hinrichtung um einige Stunden verschoben wurde. 
    „Gibt's was zu essen, Anna?" fragte Toni. 
    „Dort ist Kaffee." 
    „Gibt's kein Brot?" 
    Anna schaut den Mann wehmütig an. Nein, es gibt kein Brot. In aller  Herrgottsfrühe, bevor Toni zur Arbeit ging, war ein arbeitsloser  Genosse hier, und Toni hatte ihm den letzten Viertel Laib Brot und den  letzten Speck gegeben. Geld gibt's auch keins. Toni hatte sich die  letzte Mark von Anna gestern ausgeliehen, weil für eine Zeitschrift  gesammelt wurde. Was er übrig behalten hat, das hat er vorhin in den  Telefonautomaten geworfen. Vorgestern hat man für das Begräbnis des  Genossen Kreihaus gesammelt, den eine Eisenplatte erschlagen hat und  morgen ist erst Lohntag. Es gibt auch nicht mehr viel Kaffee. Jandak  hat schon eine große Tasse bekommen. Er wäre froh gewesen, wenn er sie  hätte stehen lassen können. Ihm war nicht nach essen zumute. Der Kaffee  war schlecht. Aber er wollte Anna nicht beleidigen. 
    Toni trank Kaffee. 
    „Was war in der Versammlung", fragte der Student zaghaft. 
    „Man hat über die allgemeine Lage gesprochen, — nichts Besonderes." 
    Dann gingen sie schlafen. Toni und Anna ins Bett, der Student schlief auf einem  Strohsack auf der Erde. 
    In dieser Nacht wurde ein junger Proletarier geboren. 
    Der junge Jandak schlief erst im Morgengrauen ein. Ein Geräusch und das  Licht der Lampe weckten ihn aus dem ersten Schlaf. Toni zog eilig die  Hosen an. Anna lag auf dem Bett. Ihre blauen Augen waren zur Decke  gerichtet, die Zähne in die Lippen verbissen. Sie atmete schwer,  Speichel lief ihr zum Kinn herab. 
    „Bleib eine Weile bei ihr", sagte Toni und lief davon. Der Jüngling zog  sich schnell an. Er stahl sich bloß barfuss auf den Fußspitzen zu Annas  Bett, so still, ganz still, als ob jeder Lärm und jeder unehrerbietige  Schritt eine Entweihung wäre. Er blieb zu ihren Füßen stehen und  blickte sie mit andächtiger Angst an. Anna litt. Ihre Augen waren  geschlossen, und die Oberzähne gruben sich immer tiefer in die Lippen.  Die Hände krallten sich in das Bettzeug, und jeder Atemzug war ein  leiser Seufzer, der nicht gehört werden sollte. Ahnte Anna, dass er bei  ihr war? Es war gut, dass sie es nicht ahnte. Annas Leiden, die sich  mit den seinen vereinten, erfüllten ihn mit großem Schmerz. Er wollte  an ihrem Bett niederknien und seinen Kopf in die Kissen vergraben. Aber  Anna bat mit leiser Stimme und ohne die Augen zu öffnen: „Bitte, gehen  Sie hinaus, ich schäme mich vor Ihnen." 
    Scham erfüllte ihn, und er schlich in die Küche. Hier, im dunklen  Winkel beim Ofen, überkam ihn der Schmerz. Was will er denn hier, wozu  ist er gut, und wem ist er nützlich? Er sehnte sich wieder stark nach  jemand, dem er in die Arme sinken könnte, und nach einer Schulter, an  die er seinen Kopf lehnen könnte. Es gab keine solchen Hände auf der  Welt. Er bedeckte die Augen mit den Fäusten. 
    Aus dem Nebenzimmer drang das laute Stöhnen Annas. Toni kehrte zurück.  Die Hebamme kam. In der Wohnung entstand Bewegung. Toni zündete in der  Küche eine Kerze an, er machte Feuer an, trug aus dem Flur in großen  Töpfen Wasser, stellte kleine Töpfe auf den Ofen, wusch den Waschtrog  aus. Er tat alles mit einer fachmännischen Sicherheit und wortlos. Sein  großer Schatten ging über die Wände und kroch bis zur Decke. Die  Hebamme tat irgend etwas sehr Wichtiges im Zimmer. Die Genossin  Tinschmann eilte, vom Lärm geweckt, herbei. Sie war im Unterrock und  hatte die nackten Schultern mit einem blumigen Tuch bedeckt. 
    „Das ist nichts", schrie sie an Annas Bett, „das muss sein, das haben  wir alle durchgemacht, nur nicht jammern. Das Oberbett weg, und wenn  Sie es nicht aushalten können, dann brüllen Sie, das ist gesund.  Gestatten Sie, Sie erlauben doch, Frau Hebamme. Das ist aber nobel,  Wachstuch, ich habe nur Säcke gehabt." 
    Annas Stöhnen steigerte sich, es ging in Schreien über. 
    „So ist's richtig", versicherte die Genossin Tinschmann, „das ist  goldrichtig." 
    Toni verrichtete seine Arbeit gewissenhaft und stahl sich nur für  Sekunden in das Zimmer, um gleich wieder zur Arbeit zurückzukehren. Er  wusste, wie immer, was zu tun war. Seine Liebe äußerte sich nicht in  Worten und nicht in Hingabe an Gefühle. 
    „Toni!", ein Aufschrei kam aus dem Zimmer, ein verzweifelter und hoher  Aufschrei. 
    Toni lief. Der Student stand im Winkel der Küche, barfuss, halb  angekleidet, für niemand notwendig, fremd, überflüssig, niemand. 
    Die Genossin Tinschmann lief in ihre Wohnung, um etwas zu holen. Sie sah ihn in  der Küche. 
    „Was wollen Sie hier, junger Herr? Gehen Sie, das ist nichts für Sie, gehen Sie  ins Kaffeehaus." 
    Der Jüngling schlich in das Zimmer, wo er seine Sachen hatte. Hier sah  er mit einem Blick Anna, nackt, blutig, mit hervorstehenden Augen und  goldenem Haar, die geliebte Anna, von schrecklichem Schmerz gequält.  Toni stand an ihrem Bett, und sie presste ihm die Hände. Den Jüngling  packte die Verzweiflung, Anna sah ihn diesmal nicht. Er nahm die  Kleider unter den Arm und stahl sich hinaus. Niemand bemerkte ihn. Er  kleidete sich im Dunkel des Flurs an. Er lehnte in seinem Schmerz die  Stirn an die kalte Mauer und verharrte lange so. 
    Als ihm die Portiersfrau aufschloss, erhellte sich die Straße im ersten  Morgenstrahl. Er war entschlossen, hier zu warten, gleichgültig, wie  lange. Er wollte warten, bis jemand von Tmschmanns herauskäme, er  wollte etwas von der armen Anna hören.  | 
  
    
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