Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Ivan Olbracht - Anna (1928)
http://nemesis.marxists.org

Das Haus in der Jesseniusgasse

Anna blieb noch vier Wochen in ihrer Stellung, denn die gnädige Frau suchte eine Provinzlerin. Die Einrichtung einer Wohnung kostet unerhörtes Geld, selbst wenn man die Möbel beim Trödler kauft und die Kommis Annas schönem Haar zuliebe bereitwilligst in den Ecken der Lagerräume nachsehen, ob dort nicht im Stroh irgendwelches angeschlagenes Geschirr herumliegt. Der Lohn, den Anna noch zu bekommen hat, wird ihnen sehr willkommen sein. Toni wohnt schon in der Jesseniusgasse.
„Na, Herr Krousky, wir sind miteinander noch nicht am Ende", sagte der Hauswirt eisig, als er die Miete entgegennahm. Aber es war zu merken, dass er dies nur deshalb sagte, um sich nicht vollkommen geschlagen zu geben. Auch er wusste, dass der Amtsweg bei der Kündigung genau so unendlich und lang ist wie bei der Wohnungssuche.
Die Nächte vom Sonnabend zum Sonntag verbrachte Anna mit Toni im neuen Heim. Sie kehrte erst Sonntag Vormittag in das Haus am Wenzelsplatz zurück. Das hatte sie mit Frau Rubesch vereinbart. Diese Nächte waren wunderschön, um so schöner, als sie sich nicht in ununterbrochener Reihenfolge aneinander schlossen, sondern wie eine goldene Kugel in die Stahlkette der Wochentage eingeflochten waren. Jede siebente Kugel von Gold.
Es gibt auf der Welt nichts Süßeres, als beim Erwachen ein Gesicht neben sich zu sehen, das einem teuer ist. „Liebst du mich, Toni?"
Sie weckte ihn mit einem hauchleisen Flüstern und einem Kuss auf das Ohrläppchen. Aber erst, wenn sie sich an ihm sattgesehen hatte. Er antwortete im Halbschlaf, die Augen noch geschlossen: „Du weißt doch."
Solch ein überspanntes Wort wie „Ich Hebe dich" hätte Toni nicht über die Lippen gebracht. Aber in seinen Augen, die sich eben öffneten, erglomm ein stählernes Feuer und sein Gesicht, vom Schlaf ausgeglichen, entzündete sich am Glück dieses Morgens. Seine eisernen Finger fassten Anna an der nackten Schulter, er drückte sie an sich, bis sie leise aufstöhnte und im Trieb zukünftiger Mutterschaft ihren Leib mit den Fäusten schützte. „Es ist wunderschön, es ist wunderschön", flüsterte sie, „ist es nicht herrlich, Toni?"
Aber Toni kannte nur das Wörterbuch des Arbeitstages und des Revolutionskampfes. Für seine Sehnsucht zeugte seine Umarmung, für seine Liebe die Arbeit. Es gab keinen Sonnabend, an dem Anna in der Wohnung nicht etwas Neues gefunden hätte, das ihr Freude bereitete. Der Ofen war umgestellt, beide Räume waren ausgemalt, ein Loch im Fußboden mit Kistenbrettern ausgebessert, ein Küchenschemel eigenhändig angefertigt und weiß lackiert. Das war mehr als Liebesworte.
An diesen vier Wochenabenden sagte er ihr dreimal: „Schlaf nicht ein, ich habe eine Versammlung, ich komme um zehn zurück."
Seine Augen sprachen zum Abschied sehr viel, aber er fügte niemals hinzu: „Schade." Niemand hätte ihm dieses Wort entrissen. Er war ein Soldat, und in den Kasernen bliesen die Trompeten.
Anna war glücklich. Auch wenn sie allein war. Wenn sie sich in ihrem neuen Heim umsah, dachte sie sich: nur noch ein Sofa und einen Schrank. Wir werden sehr sparen. Wenn wir Sofa und Schrank haben, dann wird es vollkommen schön sein. Und Blumen ins Fenster, wie sie zu Hause in der Hütte waren.
Ach, wenn nur Toni bald von der Versammlung zurückkommen wollte.
An einem dieser Sonnabende kam Marie, und als sie das Papierpaket geöffnet hatte, erschien eine wunderschöne Bronzelampe mit einem neuen Docht und einem Zylinder, der noch vom Ladenstaub umdunkelt war.
„Du lieber Gott, Marie."
„Ach, bei uns hat dies auf der Bodenkammer herumgelegen, das braucht doch kein Mensch."
Dieser Docht und der Zylinder haben bestimmt nicht auf dem Boden herumgelegen.
Der Weg am Sonntagvormittag von der Jesseniusgasse zum Wenzelsplatz war für Anna sehr schwer. Sie ging stets allein; denn auch Sonntag Vormittag hatte Toni Versammlungen. Der Abschied war leidenschaftlich. Sie standen beide bereits angezogen in der Stube, in inniger Umarmung. Sie sehnte sich danach, ihm viele schöne Worte zu sagen. Sie zitterte vor Liebe, aber sie wusste nichts anderes, als ihm Wange, Augen und Hals zu küssen und zu seufzen: „Toni, Toni!" Und dann noch ein langer Kuss auf den
Mund:
„Liebster Toni."
Er drückte sie noch wortlos an sich, und seine Stahlfäuste waren ihr Glück und Schmerz.
Wenn sie die Tür hinter sich schlossen, standen Frau Endler und die Frau des Mahlmeisters Klaban in einem gestreiften Schlafrock auf dem Flur. Fräulein Kutscherer hielt ihr Brüderchen im Arm, und alle drei beguckten sich die neuen Mieter neugierig.
Vor dem Haus sahen sich Anna und Toni zum letzten Mal in die Augen. „Auf Wiedersehen, Toni."
„Der Arbeit alle Ehre, Anna", sagte er, seine Hand drückte die ihre, bis die Gelenke knackten. Jeder ging nach einer anderen Richtung. An solchen Vormittagen, wenn eine Frau durch die Vorstadtstraßen geht, den Kopf voller Erinnerungen und die Seele voll heißer Liebe, und den Schoß voll Süße der vergangenen Nacht, wenn ihre Schritte auf dem Sonntagspflaster klappern, und das Heim bleibt mit jedem Schritt weiter hinter ihr, und das Haus am Wenzelsplatz 33, die Küche bei Rubesch und das unaufgeräumte Schlafzimmer kommen mit jedem Schritt näher, — an solchen Sonntagvormittagen lernt der Mensch hassen.
Und wenn man sich nach Tonis Gesellschaft 24 Stunden mit der gnädigen Frau, Fräulein Dadla und mit dem Herrn Architekten Rubesch befassen muss, lernt man verachten.
Dadla wandert wieder von einem Spiegel zum anderen, dreht das Köpfchen und zupft die Haare an den Schläfen. Sie liegt wieder auf dem Sofa, zieht die Beine hoch und betrachtet mit Bewunderung ihre schönen Knie. Wieder kommt der Herr zu ihr, setzt sich neben sie und streichelt ihr die Haare:
„Na, Füllen, was machst du?" Und sie schaut ihn kokett an:
„Papa, lässt du mich in diesem Jahr ins Eden gehen?"
„Nein, mein Kind, um keinen Preis, dort ist viel schlechte Gesellschaft. Aber du kannst mit der Mama in den Baumgarten gehen."
„Und Bälle darf ich in diesem Jahr auch nicht besuchen?"
„Im nächsten, mein Pusselchen. Die Mädchen, die zu früh anfangen, werden bald schäbig."
„Aber du kaufst mir neue Kleider?"
„Die kauf ich dir, du kannst sie dir morgen mit Mama aussuchen."
Dadla erhebt sich ein wenig von der Chaiselongue, blickt den Vater verliebt an und küsst ihn. Aber dann lässt sie sich wieder auf das Sofa fallen, wirft sich wie ein Fisch auf die Seite, mit dem Kopf zur Wand.
„Hm", brummt sie, „was habe ich von den Seidenkleidern, wenn du mich nirgendwo hingehen lässt?"
„Pst", der Architekt droht mit dem Finger, „sei nicht undankbar, das verstehst du noch alles nicht. Spiel lieber ein bisschen Klavier."
Dadla nimmt den Vater um den Hals, wetzt ihr Kinn an seiner rasierten Wange, fährt ihm missmutig durchs Haar und rümpft die Nase. „Hm, ja, wenn du mich nirgendwo hingehen lässt!"
Montag Vormittag, als Anna das Speisezimmer aufräumte, lag das Fräulein auf dem Sofa. Anna wischte
Staub.
Als sie auf den Stuhl stieg und die Hände über den Kopf erhob, um eine Vase auf das Büfett zu stellen, spannte sich ihr Leib. Da fühlt sie, dass das Fräulein sie gespannt beobachtete. Plötzlich sprang Dadla vom Sofa auf. Sie stellte sich vor Anna auf und durchbohrte sie mit den Blicken.
„Anna", rief sie, — sie schrie wie ein Polizeikommissar, der eben einen Einbrecher ertappt hatte, „Anna, Sie sind in anderen Umständen."
Anna stellte die Vase schnell hin, ließ die Hände hinabgleiten und stieg den Stuhl hinunter. Sie errötete bis in die Haarwurzeln. Dieses Erröten war ein zu deutliches Geständnis.
Dadla brach in ein tolles Gelächter aus, in ein wütendes Gelächter, in dem nichts von Heiterkeit war. Ihre Augen funkelten, und sie bleckte die Zähne wie eine gereizte Katze. Dann lief sie aus dem Zimmer hinaus. Anna, rot wie die Klavierdecke, fuhr fort aufzuräumen. Sie war überrascht, aber trotzdem ärgerte sie diese Entdeckung, vor der sie vier Monate gezittert hatte, nicht mehr. Was geht sie die Familie Rubesch an, was geht sie Fräulein Dadla an?"
Das Fräulein kehrte nach kurzer Zeit zurück, stellte sich vor den Spiegel und richtete ihr Haar und den Kragen an ihrer Bluse. Dann drehte sie sich schnell um und trat zu Anna. Rote Flecken traten ihr in die Wangen, und ihre Augen blitzten:
„Glauben Sie, dass ich hier bleibe?" schrie sie, „ich laufe mit dem ersten Kerl davon, dem ich auf der Straße begegne!"
Anna erschrak über solche Leidenschaft. Sie erschrak auch vor diesem Unmaß von Wut, aber sie zuckte nur kaum merklich mit den Schultern. Was kümmerte sie das Fräulein? In der Jesseniusgasse wartet das Heim und Toni. Die Tage, die sie noch bleiben muss, sind bald vorbei. Das Fräulein stürzte wieder aus dem Speisezimmer. Durch die Sieben-Zimmer-Wohnung schleppte die Frau Baumeister ihren blassen Kummer, befahl und kontrollierte, weinte heimlich über den Brief aus Davos, stahl im Morgendämmer zehn Mark und seufzte in der Küche beim Kochen:
„Ach, Anna, ja, wie habt ihr's doch viel besser auf der Welt!"
Es war der Neid der Kranken auf die Gesunden, es war der Neid des Alters auf die Jugend.
Die vier Wochen, die Anna noch bleiben musste, vergingen. Frau Rubesch fand endlich ein Mädchen, das ihr geeignet schien. Vorher waren schon zwei dagewesen und hatten mit Anna einen Tag lang gearbeitet. Aber die eine von ihnen war ein so verschreckter Niemand, und die andere eine Sozialistin. Die gnädige Frau hörte des Abends hinter der Tür, wie sie und Anna sich von reichen und armen Leuten unterhielten, und so wurde nichts daraus. Die dritte hieß Mathilde, war irgendwo vom Lande, ging in die Kirche, stand um 4.30 Uhr morgens auf und küsste der gnädigen Frau und Fräulein Dadla zum Guten-Morgen-Gruß die Hand.
„Lassen Sie doch", sagte die Frau Rubesch, aber sie ließ es sich ruhig gefallen. Und Fräulein Dadla wehrte sich: „Was machen Sie da, Sie Narr, wer will sich denn von Ihnen ablecken lassen?"
Aber Mathilde kämpfte um des Fräuleins Hand, und das Fräulein lachte:
„Gott, ist die blöd. Hat Ihnen Mama schon von Kis und Landru erzählt?"
Anna schied im guten. Die gnädige Frau reichte ihr zum Abschied zwei dicke Finger, und das Fräulein wühlte aus ihren alten Sachen ein Paar abgetragene Schuhe, drei Paar Strümpfe mit heruntergelaufenen Maschen, ein rosa Seidentüchlein mit einem Monogramm „D" und drei Stück parfümierte Seife. Anna dachte: Diese Sachen werde ich verstecken. Toni würde sie sicher zum Fenster hinauswerfen und es wäre schade darum.
Auf Wiedersehen, Familie Rubesch!
Heim. — Das war ein neues, ein feierliches Gefühl. Es wurde auch nicht zuletzt hervorgerufen durch das herrliche Geschirr, das sie sich von ihrem letzten Lohn gekauft hatte.
Dieses herrliche Gefühl wuchs beim ersten gemeinsamen Mittagessen, das sie unter Ängsten zubereitet hatte, weil sie die Zuverlässigkeit des neuen Herdes bezweifelte. Das Mittagessen bestand aus Hackbraten, der feierlich auf dem Teller des Mannes zurechtgemacht war, aus Klößen und Kohl, mit dessen Duft sich oben an der Wand Marx und Engels, die Väter aller Sozialisten, zufrieden geben mussten.
Das zweite Stockwerk des alten Miethauses in der Jesseniusgasse und der Flur mit den fünf Wohnungen wurde zum neuen Heim Annas. Alle fünf Wohnungen sind gleich.
Sie haben ein Zimmerchen mit zwei Fenstern, die auf den Hof hinausgehen, und in die manchmal nachmittags die Sonne scheint. Sie haben ein Loch von Küche mit einem vergitterten Fenster, das auf den Flur führt. Der Flur ist dunkel. Das Licht, zweimal gebrochen, dringt hier durch zwei Milchglasfenster auf die Podeste. Das eine Fenster ist ein Stockwerk tiefer, und man teilt sein Licht mit den Bewohnern des ersten Stockes. Das andere ist ein Stockwerk höher, und auch die Bewohner des dritten Stocks leben von seinem Licht. Der Flur atmet einen fauligen Geruch, einen süßlichen gemischten Geruch nach gerösteten Zwiebeln, Kartoffelbrei, Seife und Petroleumlampen, mit denen man am Nachmittag die Küchen erleuchten muss. In den Wohnungen dieser Vorstadthäuser wohnen bei Tage nur Frauen. Die Männer sind zur Arbeit, die Kinder in der Schule oder auf der Straße beim Ball- oder Murmelspiel, und wenn irgendein Mannsbild zu Hause ist, das nachts arbeiten muss, dann schaut aus den gestreiften Bettbezügen nur sein Haarschopf hervor, und alles andere ist in Betten eingehüllt.
Die Frauen kennen sich bis auf den Boden der Kochtöpfe, bis in alle Abteilungen der Brieftaschen, und bis zum letzten Flicken Wäsche. Hier gibt's nicht, wie in bürgerlichen Wohnungen, Patentschlösser, die ebenso wenig zu öffnen sind wie feuersichere Geldschränke. Hier sind die Wohnungstüren geöffnet, damit der Dampf von Waschtrögen und Töpfen herauszieht, und wenn sie mal geschlossen sind, kann man jederzeit durch das Fenster sehen, ob die Nachbarin zu Hause ist, kann jederzeit die Tür öffnen, guten Morgen wünschen, ein Reibeisen, ein bisschen Kümmel ausleihen, oder vielleicht bis zum nächsten Tage auch eine Mark. Alle haben sie eine gemeinsame Wasserleitung auf dem Flur, und je zwei haben den Abort gemeinsam, was zu vielen Verdrießlichkeiten Anlass gibt. Die Frauen des Hauses sind in ständigem Kontakt. Sie sprechen hauptsächlich von Geld und vom Frauengeschlecht. Das sind zwei Begriffe, von denen die Welt lebt. Begegnet man ihnen anderswo, in Formeln volkswirtschaftlicher Systeme gegossen, zu Programmen politischer Parteien geformt, zu Richtungen von Künstlerschulen emporgestiegen, zu gesellschaftlichen Prinzipien und Institutionen zusammengefasst, so zeigen sich die Begriffe hier in ihrer nacktesten Tatsächlichkeit. Geld ist Geld und Geschlecht ist Geschlecht. Es gibt keine wichtigere Sache, als am Sonnabend eine Mark mehr oder weniger in der Hand zu haben. Es ist nichts interessanter, als ob der Kaufmann für ein Kilo Fett 10 Pfennige mehr oder weniger nimmt. Es gibt kein schicksalhafteres Ereignis als die Schwangerschaft einer Frau. Beim Geld geht es darum, wie man sich dazu verhilft, beim Geschlecht, wie man den Folgen abhilft. Die übrigen Gespräche beschäftigen sich mit Männern und mit Rindern, mit den Nachbarn. Die Tage sind ausgefüllt von kleinen Diensten, die man sich leistet, von dem Interesse, das man an Unglücksfällen und an der Polizeichronik hat, von kleinen Eifersüchteleien, von Streitigkeiten um die Reihenfolge des Flur- und Abortwaschens. So ist es wochentags. Sonntags ist alles anders. Da sind die Väter daheim, und vom Sonnabend an, wo sie sich bis zum Gürtel in einer Schüssel mit warmem Wasser gewaschen und ein frisches Hemd angezogen haben, gewinnt das Haus ein neues, ein beinahe festliches Aussehen. Die Gardinen am Küchenfenster sind zugezogen, und jede Wohnung wird zu einer Festung. Die Nachbarinnen gehen schnell und fremd aneinander vorüber, jede hat jetzt den ihren, den besten. Trotz aller seiner Fehler. Und sie ist auf jeden eifersüchtig, auf sein Hemd eifersüchtig, das am weißesten von allen sein muss, auf seinen Kragen, auf jeden Knopf, auf jeden Topf Kaffee, den sie ihm zum Abendbrot gibt. Und wehe der, die ihn herausfordernd ansehen würde.
Anna lernte neue Menschen kennen. Nebenan wohnte die Frau Wachtmeister Klabau. Sie hatte Zwillinge, lange Beine und eine spitze Nase. Die trug sie ein wenig nach oben. Sicherlich deshalb, weil ihr Mann kein Lohn-, sondern Gehaltsempfänger war, weil sie eine Wohnung für sich hatten und wohl auch deshalb, weil sie den ganzen Tag in roten Pantoffeln und in einem Schlafrock aus gestreiftem Cloth herumlief.
Eine Tür weiter wohnte die Familie des Hilfsarbeiters und Genossen Kutscherer mit sieben Kindern. Er suchte seine Arbeit bei Bauten und Kanalisationen. Sie war in einer Wäscherei beschäftigt. Wenn sie beide verdienten, ging es irgendwie. War die Wirtschaft nur auf den Lohn der Mutter angewiesen, herrschte Verzweiflung. Sie hatten zwei, manchmal auch drei Untermieter. Aber im Winter des vorvorigen Jahres, als Kutscherer fünf Monate arbeitslos gewesen war, hatten sie die Strohsäcke und Deckbetten verkauft, und jetzt fehlten sie ihnen. Wenn die Mutter auch keine Arbeit hatte, gingen die drei Jüngsten von Wohnung zu Wohnung betteln. Sie kamen in die Küche, standen an der Tür, hielten sich an den Händen, sprachen kein Wort und beantworteten keine Fragen und kein Lachen. Sie blickten die Menschen mit vertrauenden Augen an, bis sie etwas zu essen bekamen. In der Straße kannte man sie schon, und nur selten sagte ihnen irgendeine Hausfrau, die selbst nicht besser dran war: „Geht heute anderswo hin, Rotzlöffel, ich habe nichts."
Die Hauswirtschaft bei Kutscherers führte die 17jährige Dora, ein mageres, sommersprossiges Mädchen, das in einem rotgestreiften Unterrock und einem Hemd mit kurzen Ärmeln herumlief, unter dem sich kleine, spitze Brüste zeichneten.
Nebenan wohnte die Witwe Endler, Garderobiere im Staatstheater, die mit einem Mann zweifelhaften Alters und Berufs lebte. Im Vorjahre hatte er mit parfümierten Seifen zugunsten der Kriegsblinden hausiert, in diesem Jahr mit Losen des Mütter- und Säuglingsvereins. Er bekam vom Unternehmer 20 Prozent Provision. Aber weil diese Betrügereien nicht lange vorhielten, warf er sich auf den Verkauf garantiert handgemalter Bilder. Frau Endler hatte jedes Jahr ein Kind von ihm, dem immer nach einigen Wochen die Fersen abfaulten, und das dann starb. Sie hatte einen Chauffeur, einen Kerl mit Ledermantel und ein Straßenmädchen als Untermieter. Die beiden schliefen in einem Bett. Der Chauffeur nachts, wenn sie auf Arbeit war, die Hure bei Tag, wenn er beschäftigt war.
Die Bezeichnung Hure ist hier keine Beleidigung. Und wenn man beispielsweise die Frau des Zuschneiders im dritten Stockwerk, Frau Kratochvil, fragte: „Was machen Ihre Töchter?"
So antwortete sie:
„Marie arbeitet in der Schokoladenfabrik, die Kleine lernt Nähen, und die Emilie hurt."
Das ist eine Beschäftigung wie jede andere. Nachts, wenn der Vater oder die Mutter, Marie oder die Kleine austreten müssen, gehen sie seelenruhig durch die Küche, wo eben Emilie verdient.
Rechts von Anna wohnten Tinschmanns.
Genossen!
Genossen?
Toni zweifelte an ihrer Parteizugehörigkeit. Sie arbeiteten und sparten. Die Nachbarinnen erzählten sich vielerlei von den Sparkassenbüchern der Tinschmanns, und auch in Annas Herz schlich ein wenig Neid. Das Dorf sprach aus ihr und die künftige Mutterschaft. Toni merkte dies. „Sparen ist eine große Dummheit. Mit Sparpfennigen kann der Kampf gegen die Bourgeoisie nicht gewonnen werden."
Anna sah Tinschmanns bei einigen Versammlungen. Sie fielen ihr wegen ihres sonderbaren Namens und auch, weil sie anders waren als die übrigen Genossen, auf. Sie ließen nie Zustimmung oder Ablehnung merken, und der alte Tinschmann meldete sich nie zum Wort. Sie tranken Bier, aber immer nur eins zusammen. Er rauchte Pfeife, aber nur eine und dann steckte er sie ein. Bei den Sammlungen, die auf Versammlungen gemacht werden, gibt der Arbeiter, was er kann. Hat er nichts, so gibt er nichts, und kein Mensch spricht davon. Der alte Tinschmann gab stets. Er gab nie sehr viel und nie sehr wenig. Er war anders. Er war Ofensetzer und arbeitete in einer Fabrik. Aber wenn er abends nach Hause kam, zog er sich nicht um, nahm einen Rückenkorb voll Lehm und ging in den Häusern herum, um Öfen zu setzen und zu reparieren. Auch des Sonntags. Anna sah die alte Tinschmann nie anders als mit hochgeschürzten Ärmeln und nasser Schürze, immer am Herd oder am Waschtrog. Sie arbeitete für sich und auch für andere. An schönen Sonntagnachmittagen, wenn auch die ärmste Frau mit ihrem Mann spazierenging, stand sie in der Küche beim Plättbrett, und der Mann wühlte irgendwo im Lehm. Sie hatten vier Kinder, zwei Jungen und zwei Mädchen. Der älteste, Josef, war Jurist, der zweite ging in die dritte Realschulklasse, Else lernte bei einer Putzmacherin, und Fanny ging noch zur Schule. Bei Tinschmanns aß man nur Pferdefleisch, und alle schliefen aneinandergezwängt in der Küche. Denn das Zimmer war an drei Ladenmädchen vermietet. Jeden Abend wurden drei Strohsäcke in die Küche geschleift, die dann am nächsten Morgen den Mieterinnen mit ins Bett hineingebettet wurden. Sie schliefen zu zwei und zwei. Zwei Jungen, zwei Mädchen und die alten Tinschmanns. In Tinschmanns Küche brannte das Licht noch lange, wenn schon das ganze Haus schlief. Die Mädchen und der Alte lagen bereits. Frau Tinschmann plättete oder wusch, und am Küchentisch lernten die Jungen bei der Petroleumlampe. Wenn der Sextaner über dem Buch einduselte, klebte ihm die Tinschmann eine und machte Krach. Sie war groß, breitschultrig und ein bisschen dick. Sie war Herr im Hause, und der bärtige kleine Ofensetzer erschien gegen sie wie ein Zwerg.
Geld, Geld!
Die Tinschmanns kannten seinen Wert. Sie kannten ihn um so eher, als man bei Tinschmanns immer satt zu essen bekam. Ihnen stand das Beispiel des Nachbarhauses vor Augen, wo man nur Kaffee kannte, und beide Jungen, als sie das Studium beinahe beendet hatten, an Lungenschwindsucht starben.
Geld, Geld!
Als Frau Tinschmann von den Nachbarn erfuhr, dass die Tischler im Hofe die sechzehnjährige rotblonde Else in die Werkstätte eingeladen und sie gefragt hätten, ob sie am ganzen Körper so rot sei, und ihr jeder 10 Pfennige versprachen, wenn sie sich ihnen nackt zeige, beschränkte sie sich nur darauf, die Tochter zu fragen: „Was hast du mit dem Geld getan?"
Frau Tinschmann hatte kalte und strenge Augen, vor denen sich Anna fürchtete.
„Wir kennen das", sagte sie zu Anna, als sie einander zum ersten Male auf der Treppe begegneten. Aber sie sagte es streng und ohne freundliches Lächeln. Sie reichte ihr die Hand, deren Fläche vom Waschen weiß wie Papier war. Aber ihre Hand drückte Annas Hand kein bisschen.
Frau Tinschmann hasste die ganze Umwelt, weil sie, um ihre Kinder erziehen zu können, sich wie ein Zugtier schinden musste, während alle anderen angenehm und bequem durchs Leben tanzten.
Im dritten Stockwerk lebte eine geschiedene Frau. Sie hatte falbes Haar und malte sich die Lippen. Irgendein Kaufmann hielt sie aus, der sie stets montags und donnerstags zwischen 10 und 12 Uhr besuchte. Sie aß im Restaurant und hatte eine Bedienerin.
Dieser geschiedenen Frau wartete die Tinschmann eines Nachmittags auf. Als sie die Blondine die Treppe herunterkommen sah, trat sie aus der Küche:
„Auf ein Wörtchen, gnädige Frau!"
„Bitte, Frau Tinschmann", erwiderte diese.
„Josef", schrie die Tinschmann. An der Küchenschwelle erschien der 20jährige Jurist. Er war feuerrot, und seine Augen waren ängstlich auf die Mutter gerichtet.
„Komm nur näher", schrie die Tinschmann, und der Rechtshörer trat gehorsam näher. Frau Tinschmann stemmte die Fäuste in die Hüften:
„Was denken Sie sich eigentlich, gnädige Frau? Dass ich diesen Jungen für Sie großgezogen habe?"
„Aber Frau Tinschmann!"
„Wollen Sie noch leugnen? Dieser dumme Junge war bei Ihnen, er war dreimal bei Ihnen. Er hat es mir gestanden, den werden Sie mir nicht entführen, Sie gnädige Frau, Sie angestrichene Ziege Sie."
„Mutter, um Gottes willen, ich bitte dich... "
„Schweig", schrie die Tinschmann und hob die Hand gegen den Sohn:
„Das ist mein Junge, gnädige Frau. Mit diesen Händen habe ich ihn großgezogen. Sehen Sie, mit diesen Händen, schauen Sie nur, wie sie nach zwanzig Jahren Schinderei aussehen. Glauben Sie, dass ich alles getan habe, damit Sie ihn kriegen. Den würden Sie nehmen, das glaube ich, aber es ist mein Kind, und wenn Sie ihn nicht zufrieden lassen, gnädige Frau, wenn Sie ihm keine Ruhe geben, so zeige ich Ihnen, dass diese Hände... " — und die Hände näherten sich ihren Haaren — „auch noch was anderes zuwege bringen als sich schinden. Merken Sie sich das. Marsch, ins Zimmer, dummer Junge. Ich werde dir den Kopf schon zurechtsetzen."
Der Jurist verschwand.
Die geschiedene Frau ging die Treppe hinunter und zuckte verächtlich mit Lippen und Schultern. Frau Tinschmann drohte ihr noch mit der Faust nach: „Alte Nutte."
Die Bezeichnung Hure ist keine Beleidigung, aber das Wort Nutte ist eine tödliche Beleidigung, die sich keine ehrbare Frau der Vorstadt gefallen lassen würde. Das hieß soviel wie: Du Abart, du elendige, bist ja kein Straßenmädchen. Ein Straßenmädchen muss sich sein Geld schwer verdienen, friert und regnet auf der Straße ein. Der Polizeiarzt saugt sie aus, der Lude und die Hauswirtin. An jedem Nachmittag, wenn so ein Straßenmädchen aufsteht, stellt sie den Fuß auf das Fensterbrett und untersucht mit dem Spiegel in der Hand, ob das Unglück schon da ist, das kommen muss. Und du, du wälzt dich ohne polizeiliche Genehmigung, ohne Risiko im Bett, bist eine unlautere Konkurrenz für die armen Mädchen, und du willst dich größer machen als wir, und die Fürstin spielen? Als die Tinschmann ihre Angelegenheit mit der Blonden erledigte, stand die Frau Wachtmeister Klabau in der einen Tür und die Tochter Kutscherers in der anderen. Sie trug den jüngsten Bruder im Arm. Ihr fünfjähriges Schwesterchen hielt sich am roten Unterrock fest.
Anna hörte alles in ihrer Küche. Abends erzählte sie es Toni. Toni lachte:
„Das versteht sich bei der Tinschmann von selbst. Nein, nein, nein. Aber", — und das bezog sich schon auf die Blondine, „der ist ganz recht geschehen."
In der Jesseniusgasse lernte Anna auch Kerekes Sandor kennen, den Märtyrer der ungarischen Revolution. Sie begegneten ihm, als sie und Toni spazierengingen. Der Tod blickte aus den Augen des Genossen Kerekes, sein Händedruck war heiß.
„Was treibst du, Genosse Kerekes?"
„Ich sterbe." Er sagte dies ganz einfach.
„Du hast schon Schlimmeres ertragen."
„Jetzt ertrag' ich nichts mehr."
Kerekes Sandor hatte von einem Genossen Ausweispapiere erhalten und blieb in der Hauptstadt. Er war unter fremdem Namen als Eisendreher beschäftigt. Aber er war der schweren Arbeit nicht mehr gewachsen, und der Kassenarzt hatte ihm auf einen Zettel geschrieben »I. P. T.". Diese drei Buchstaben bedeuten „infiltratio pectoris tuberculosa".
Die Ärzte irren selten. Jetzt lebte Kerekes als Zeitungsverkäufer. Kerekes Sandor begleitete Anna und Toni bis zu ihrer Haustür. Er erzählte von der Partei, von der ungarischen Revolution, von der weißen Schreckensherrschaft in Ungarn. Und Kerekes sagte mit der trockenen Stimme des Lungenkranken:
„Ich komme nicht mehr nach Hause zurück, ich erlebe das nicht mehr. Ihr seid hier erst in den Anfängen. Ich würde viel dafür geben, wenn ich für die Bewegung, für die Revolution noch etwas tun könnte."
Sie standen vor dem Hause, in dem Anna und Toni wohnten. Kerekes Sandor starrte in die Luft, sichtlich deswegen, damit man ihm nicht in die Augen sehen konnte. Er fragte:
„Wohnst du jetzt hier?"
Aber als Anna nickte, sah er es nicht, Toni unterbrach das Schweigen:
„Hast du Nachrichten aus der Heimat?" Kerekes schüttelte den Kopf:
„Meinen Bruder haben sie erhängt. Von der Frau und den Kindern habe ich nichts mehr gehört."
Er reichte den beiden schnell die heiße Hand. Sie blickten ihm nach. Er ging durch die Straße, ohne sich umzusehen. Sie fühlten seinen bangen Blick noch, als er längst verschwunden war. Es war ihnen traurig zumute. Nicht wegen eines sterbenden Menschen. Zu viele starben rings herum. Aber wegen eines fehlenden Kämpfers.

Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur