Die „Schwarze Hand"
  Anna war schon Tonis Weib geworden. Es geschah nicht im Boudoir beim  Duft der Tuberosen, auch nicht im Palmenhain am Meeresufer, aber es war  auch nicht unter dem stillen Himmel des schwindenden Sommers. Es war in  einem heißen Augenblick auf den nächtlichen Stiegen des Hauses Nr. 33,  Wenzelsplatz, als er sie in den Hausflur begleitete, um auf dem Weg zum  ersten Stock noch ein paar Küsse zu tauschen. So eine glühende Minute  am Treppengeländer, als sie sich nicht voneinander losreißen und sich  nicht einmal trennen konnten, als sie schon eine ganze Zeitlang auf der  letzten Stiege gesessen hatten. Warum schrieb man von den Wundern  dieser Umarmung so viel Bücher, ein Kuss war schöner, sagte sich Anna,  und wenn es an dieser Minute etwas Schönes gab, war es das Bewusstsein,  dass Toni es gewollt, und dass sie sich ihm gegeben hatte. Dieses  Bewusstsein bewegte Anna, als sie sich in dieser Nacht nicht  entschließen konnte, das Licht auszumachen, und als sie ihre  glücklichen Augen auf die weiße Decke ihres Kämmerchens richtete. 
    Trotzdem war es die Grenze des Lebens. „Teufel, Teufel!" Marie kratzte  sich am Kopf, als ihr Anna ihre Beschwerden anvertraute. Nach einigen  Tagen, als sich Marie auf dem Wege zum Morgeneinkauf von neuem  erkundigte, zog sie die Nase hoch: „Na also, das ist richtig. Willst du  dir ,helfen'?" Anna verstand nicht und Marie erklärte es ihr. Nein,  Anna wollte sich nicht „helfen". — Aber was tun? Toni stand Schlange  vor den Wohnungsämtern. 
    Kaum hatte er das Eisentor der Fabrik verlassen, war er hinter den  Abgeordneten und Sekretären her, und wo er einen Bekannten hatte,  wandte er sich an ihn. Er, der vom letzten Tage seiner Kindheit an das  Wort „Bitte!" nicht mehr gebraucht hatte, erzählte und erklärte. Es war  ihm zumute, als ob er Ohrfeigen bekäme. Die Fragen, die man ihm  stellte, waren alle gleich und alle überflüssig. Und die Schultern der  Beamten und ihre Finger, die auf den Schreibtisch trommelten, sagten  ihm: „Ja, lieber Freund, das ist eine schwere Sache." 
    Die Abgeordneten gaben ihm Empfehlungen, die Bekannten schickten ihn zu  anderen Bekannten, und er saß wieder in den Büros der Wohnungsämter.  Dies alles trieb ihn beinahe zur Raserei. Es kostete ihm auch viel  entgangenen Lohn. 
    Aber alles vergeblich! In der Stadt gab's keine Wohnungen. Die  Hauptstadt der neuen Republik war vom Zustrom der Menschen überfüllt.  Die reichen Leute hatten freilich alle Wohnungen. Und es gab auch  keinen Abgeordneten, keinen Sekretär oder Redakteur der Partei, der  nicht irgendwo seine Wohnung hatte. Aber für den 
    Arbeiter der Kolbenschen Fabrik, für seine Geliebte und ihrer beiden Kinder gab  es in der Stadt kein Dach. 
    Was wird bloß sein, dachte Anna, und das Herz zog sich ihr zusammen. Es  wird sich nicht mehr lange verbergen lassen, die Entdeckung kann jeden  Augenblick kommen. Sie war bereits im vierten Monat, und die  Schwangerschaft war ihr anzumerken. Des Morgens, wenn sie mit der Hand  über den Bauch strich und den Schirting des Hemdes spannte und glatt  legte, und wenn sie dann, bereits angezogen, den Spiegel von der Wand  nahm und au das Kissen angelehnt ins Bett stellte, um ihren Leib besser  betrachten zu können, wunderte sie sich, dass weder die gnädige Frau  noch Fräulein Dadla, die doch für solche Sachen ein besonders scharfes  Auge hatte, ihr Unglück bemerkt hatten. 
    Ja, was nun, sie wird in die überfüllte Wohnung irgendeiner  Arbeiterfamilie ziehen, es ist doch möglich, dass sie die Schwangere  irgendwo aufnehmen, wird das bisschen Geld, das sie sich für die  Ausstattung gespart hat, verbrauchen, wird Toni in Schulden stürzen.  Und wenn sie sie nirgendwo aufnehmen? 
    Anna erwachte in der Nacht plötzlich von diesem Gedanken in Schweiß gebadet, der  ihr in Tropfen über die 
    Stirn lief. 
    In die Hütte zum Vater? Nie! Damals erschien ihr irgendein  Brückengeländer, der Fluss mit dem Lichterschein, ein Rad im Wasser und  darin ein Frauenrock. „Toni, Toni, hilf!" 
    Frau Baumeister und Fräulein Dadla hatten andere Sorgen, als Anna zu  beobachten. Das Fräulein war krank. 
    Eines Nachmittags, als der Herr nicht zu Hause war, brachte sie die  gnädige Frau im Auto heim. Sie half ihr mit einem fremden Herrn die  Treppe hinauf und brachte sie zu Bett. Die gnädige Frau war dabei  schrecklich aufgeregt und sehr bleich. Als der fremde Herr gegangen  war, pflanzte sich Frau Rubesch vor Anna auf. Ihr Kinn zitterte, und  ihre Augen brannten in einem Feuer. 
    „Anna," schrie sie sie an. „Fräulein Dadla hat sich den Fuß verrenkt  und muss ein paar Tage liegen, sie braucht sorgsamste Pflege, wehe  Ihnen, Anna, wehe Ihnen." 
    Die gnädige Frau hielt Anna die geballte Faust unter die Nase. Anna  verstand diesen Tobsuchtsanfall einer Mutter nicht, die um ihr letztes  Kind kämpfte. 
    Was will denn die gnädige Frau von mir, dachte sie, tu ich denn dem Fräulein  etwas? 
    Des Abends kam der Architekt. Er war schlechter Laune, das sah man ihm  von weitem an. Aber als er sich an des Fräuleins Bett setzte,  erheiterte sich sein Gesicht. 
    „Was ist dir, mein Vögelchen? Was hast du denn da angestellt? Diese  verfluchten hohe Absätze. Na, schweig. Die Ärzte werden das wieder in  Ordnung bringen und dann lassen wir dich massieren. Ich habe das auch  einmal gehabt. Tut verteufelt weh, ich weiß," er klopfte ihr auf die  Schulter, „bleib nur schön liegen, ich bring dir etwas sehr Hübsches  mit." 
    Das Fräulein ließ sich den Toilettentisch zum Bett rücken, kämmte und  puderte sich und zog sich ein rotes Bändchen durch das Häubchen. Sie  betrachtete im dreiteiligen Spiegel, wie ihr das Spitzenhemd stand. Es  konnte nicht so schlimm sein. Sie, die bei ein bisschen Schmerzen das  ganze Haus quälte, scherzte mit Anna: 
    „Das ist ein Hundeleben, Anna," lachte sie und streckte sich, als ihr  Anna auf einem Tablett das Frühstück brachte, „es ist zum  Junge-kriegen", und als sie sich bewusst wurde, was sie da eben gesagt  hatte, lachte sie noch mehr, ein volles Lachen, in dem viel Heiterkeit  und nur ein kleines bisschen Zorn war. Dann erinnerte sie sich: 
    „Hören Sie, Annchen, der Vater sagt, dass Ihr Geliebter ein Bolschewik  ist." Anna schwieg. 
    „Leugnen Sie es nicht, wir wissen es. Sie sollen ihm etwas bestellen.  Sagen Sie ihm," — das Fräulein lachte wieder los — aber jetzt war in  ihrem Lachen nur wenig Heiterkeit und viel Wut — „sagen Sie ihm, er  soll doch alles zerschlagen, alles, bis zum Letzten. Er soll bloß  dieses verfluchte Haus nicht vergessen." Das Fräulein sah in den  Spiegel. 
    „Sie haben ein wunderschönes Leben, Anna." Anna erbleichte. 
    Ja, Anna hatte ein schönes Leben. Dass sich das Fräulein bei diesem Wort nicht  verschluckt. 
    „Was schauen Sie denn so entsetzt. Ich brauche Sie nicht mehr, Sie können  gehen, Anna. Wollen Sie ein Stückchen Schokolade?" 
    „Nein, danke, Fräulein", sagte sie bockig. 
    „Na, dann lassen Sie es bleiben." 
    Die Krankheit des Fräuleins war nicht das Ärgste, was den Rubeschs  passierte. Mit dem Herrn war es viel schlimmer. Ein Krach nach dem  anderen. Die Wohnung war immer von Explosionen erfüllt, von denen  niemand wusste, wann sie losgehen würden. Es ging um einige Tausend. 
    Die Brüder der gnädigen Frau waren in die Sache verwickelt. Dann ging  es noch um irgendwelches Geld, das sich die gnädige Frau von der  Schwester ausgeliehen hatte. Die Schwester hat es den Brüdern berechnet  und die wieder dem Baumeister. Es war eine verwickelte Geschichte. 
    Die Herrschaften sprechen vor fremden Menschen nicht von diesen Dingen,  Wenn das Mädchen das Essen bringt oder den Tisch abräumt, bleiben ihnen  nach den letzten Sätzen, die sie halb verschluckt haben, nur  zornfunkelnde Augen. Aber wenn das so eine Woche dauert und in der  ganzen Zeit von nichts anderem gesprochen wird, kann man aus  abgerissenen Sätzen viel erfahren. Und wenn die Herrschaft manchmal  brüllt, dass das Haus zittert, hört das Mädchen alles. 
    „Glaubt ihr denn, dass ich stehle?" brüllte der Herr beim Mittagessen.  Er sprang auf, und lief im Speisezimmer mit der zerdrückten Serviette  in der Hand herum: 
    „Das sind ja Gauner, deine Brüder, Lumpen, die ins Zuchthaus gehören. Ins  Zuchthaus, verstehst du?" 
    Er warf die Serviette auf den Teppich: 
    „Fünfzehntausend, ja, glaubt ihr denn, dass ich mich mein ganzes Leben  wie ein Tier geschunden habe, damit ich alles in euch hineinstopfe? Das  sind ja ganz hundsgemeine Diebe, sie glauben, ich muss schweigen und  zahlen. Da irren sie sich aber schwer. Das Geschäft war meinerseits  vollkommen korrekt, meinerseits völlig korrekt und gesetzmäßig,  verstehst du, ich werde deine Brüder ins Zuchthaus bringen." 
    Eines Tages kam er nachmittags zu ungewohnter Stunde und ging in sein  Arbeitszimmer. Er klingelte Anna und befahl ihr, die gnädige Frau zu  rufen. Als Anna das bestellt hatte, erbleichte die gnädige Frau, aber  sie kam. Die Herrschaft sprach im Arbeitszimmer irgend etwas. Der Herr  versuchte einige Male zu schreien, aber kaum hatte er ein paar Worte  herausgebrüllt, senkte er die Stimme wieder sichtlich, weil er sich  erinnert hatte, dass in der Küche alles zu hören war. Vielleicht auch  auf die Bitte der gnädigen Frau hin. Aber plötzlich brüllte er los:  „Ich frage dich zum letzten Male, wo hast du die tausend Mark  hingegeben? Erzähle mir keine Märchen. Ich bin hinter dieses Wunder  gekommen. Du hast dir's von deiner Schwester geben lassen, und sie  hat's auf Rechnung deiner Brüder geschrieben. Wohin hast du das Geld  getan?" 
    Die gnädige Frau weinte und begann verzweifelt etwas zu erklären. 
    „Halt's Maul. Ich bitte dich, schweig," schrie der Herr. „Ich werde dir  sagen, wo du's hingegeben hast. Du hast es der Kanaille nach Davos und  ihrem Nichtstuer geschickt." 
    Da begann auch die gnädige Frau mit einer hohen hysterischen Stimme zu  schreien: 
    „Ich schwöre dir, dass ich nichts nach Davos geschickt habe, ich  schwöre es dir beim Leben meiner beiden Kinder, die du mir noch  gelassen hast. Verstehst du, meine Tochter ist keine Kanaille, du  Mörder du." 
    Dann hörte man lange verzweifeltes Weinen. Nach einiger Zeit waren die  Schritte des gnädigen Herrn hörbar. Dann wieder irgendein gedämpftes  Gespräch. „Anna!" 
    Es war wieder ein wütender Aufschrei, diesmal aus dem Zimmer von  Fräulein Dadla. Anna öffnete die Tür: „Was wünschen Sie, Fräulein?" 
    Aus der Flut der Kissen und Spitzen leuchteten die Augen des Fräuleins.  Sie hielt ein Buch in der Hand: „Die streiten schon wieder unten,  nicht?" 
    Anna nickte schweigend mit dem Kopf. „Herrgott," knirschte das Fräulein  mit den Zähnen, „ein verfluchtes Leben." 
    Sie warf das Buch in die Ecke des Zimmers, drehte sich im Bett um und begann  wütend in die Kissen zu weinen. 
    So sah es bei Rubeschs aus. Streit und Lärm, Geld, Geld und Geld. 
    Sie stritten noch des Abends im Bett. Die gnädige Frau schlief wieder  beim Baumeister. Ihr Vorsatz, den sie nach dem Tode des jungen Herrn  gefasst hatte, nie mehr in das gemeinsame Schlafzimmer zurückzukehren,  und ihre Einsamkeit im Fremdenzimmer hatten nur einen Monat gedauert.  Eines Nachmittags, nachdem sie einen Brief mit einer Schweizer Marke  gelesen hatte, kam sie bleich in die Küche. „Kommen Sie, Anna, helfen  Sie mir", und sie trugen das Bettzeug der gnädigen Frau und den  Toilettentisch in das Schlafzimmer. Die Tochter in Davos wollte leben,  und sie konnte dies nicht ohne die Fünf- und Zehn-Mark-Stücke, welche  die gnädige Frau täglich beim ersten Morgendämmer aus ihres Mannes  Brieftasche stahl. Sie hatte ihren Kindern schon viele vergebliche  Opfer gebracht. Dies war das schwerste. Frau Baumeister weinte, wo sie  stand und ging. 
    „Fräulein Anna, auf ein Wort", rief des Morgens die Portiersfrau  halblaut und stellte sich zum Haustor, dass sie von der  Baumeisterwohnung aus nicht zu sehen war. 
    „Wie geht es Fräulein Dadla? Ist der Fuß schon in Ordnung?" Ein Lächeln  spielte um die Mundwinkel der Portiersfrau. 
    „Hören Sie, Fräulein Anna, dieser Herr im lichten Anzug, der da  unlängst abends drei Stunden auf- und abgegangen ist, ist der nicht bei  euch oben gewesen?" Marie aus dem dritten Stock wartete jeden Morgen. 
    „Na ja, sie hat sich den Knöchel ausgerenkt", sagte sie, als sie mit den  Einkaufstaschen am Arm über den Wenzelsplatz gingen. 
    „Wen wollen die dumm machen? Die Portiersfrau und ich, wir wissen's  genau. Dadla war in der Tinte. So ist es mein Lieb, Dadla war in der  Tinte. Am Ende musste die Mutter helfen. Rudi fand irgendeinen Arzt und  für fünfhundert Mark war alles gemacht. Aber das sind bloß fünfhundert  Mark und euer Alter, der brüllt doch nach tausend. Das ist nämlich so.  Der Rudi ist ein alter Gauner, der will sich jetzt eine  Lebensversicherung schaffen. Hast du nicht gesehen? Ich traf ihn  gestern abend. Er hat einen neuen Anzug und einen Stock mit goldenem  Griff. Der saugt eurer Alten das Geld heraus. Der erzählt ihr wohl,  dass der Assistent des Arztes ihm mit Skandal und Gericht droht. So  eine Blödheit. Ein Assistent und anzeigen. Eure Alte ist ganz  verängstigt, zahlt und macht bei der Schwester Schulden. So ist es,  mein Kind. Habe ich dir nicht gleich damals gesagt, dass das noch eine  schöne Sache geben wird. Sie hüten das Fräulein wie einen Edelstein.  Auf die Straße darf sie nicht allein gehen, ins Theater darf sie nicht  allein gehen, einmal reißt sie sich fünf Minuten von der Kette los,  schon ist's passiert." 
    Marie besann sich, blieb vor einem Laden stehen und fragte: 
    „Hör mal, Anna, hat sie einen Verband um den Fuß?" 
    „Ja, sie hat einen Verband!" 
    „So einen Gipsverband oder einen gewöhnlichen?" 
    „Nein, einen gewöhnlichen." 
    „Hat ihr den der Arzt gemacht?" 
    „Die gnädige Frau verbindet sie selbst." 
    „Das sind Luder, das sind ausgewichste Luder, nur um den Baumeister dumm zu  machen." 
    Anna antwortete nur zerstreut. Ihre Gedanken waren ganz wo anders. Das  Fräulein hatte sich geholfen. Annas große Augen irrten auf dem  Wenzelsplatz umher. Die Bewegung auf dem Platz schien ihr fremd und  sonderbar. Das Fräulein hatte sich geholfen. Das war der einzige  Gedanke, der ihr Hirn erfüllte, und für alles andere gab es keinen  Platz. 
    Marie, mit der Einkaufstasche auf dem Arm, erzählte irgend etwas von  den Brüdern der gnädigen Frau. Der eine war Beamter im  Arbeitsministerium, der zweite Magistratsrat. Sie machten mit dem  Baumeister irgendwelche Geschäfte. Sie besorgten ihm Aufträge, er  teilte mit ihnen den Gewinn. Rubesch hatte in einem Bezirk die  Kanalisation gebaut und den Magistrat dabei um eine halbe Million  betrogen. 
    Anna hörte mit halbem Ohr zu. Am Wenzelsplatz schien ihr alles drunter  und drüber zu gehen. Die Menschen waren bleich wie die Leinwand im  Kino. Ja, das Fräulein hatte sich geholfen, es war nichts passiert. Man  bleibt ein paar Tage liegen, dann ist alles wie vorher. Wie einfach ist  es doch. Anna wandte ihre Blicke vom Wenzelsplatz, richtete sie vor  sich auf den Damm und sagte zu sich selbst: „Nein, dazu braucht man  Geld. Viel Geld. Nein, ich kann mir nicht so helfen." 
    Marie sprach von den Betrügereien bei der Vergabe öffentlicher Bauten.  Von 25 000 Mark, über die sich der Architekt mit seinen Schwägern nicht  einigen konnte. Von 10 000, auf die sie sich geeinigt hatten, von 25  000, derentwegen sie noch stritten. 
    Aber Anna dachte bloß, was wird sein, keine Wohnung, Toni läuft  vergeblich auf den Ämtern herum, und gestern hatte Fräulein Dadla Annas  Bauch viel länger angesehen als sonst. Ich gehe zur „Schwarzen Hand",  hatte ihr Toni in der vergangenen Woche düster gesagt, und Anna fühlte  einen ähnlichen Schauer wie beim Lesen der Sherlock-Holmes-Bücher. Die  „Schwarze Hand" war ein geheimer Verein, der Schrecken der Hauswirte.  Näheres wusste Toni nicht. Nein, nein, nichts davon. Anna hatte ein  unangenehmes Gefühl. Marie sprach von 10000 und 50000 Mark, rollte die  Augen und ihre Stimme war geheimnisvoll überzeugend. Über den Platz  zogen die roten Wagen der Straßenbahn, und hupten die Automobile. Anna  nahm sie gar nicht wahr. Was konnte die „Schwarze Hand" helfen? 
    Frau Rubesch sah nicht mehr nach der Küchenuhr, wie lange Anna bei dem  Einkauf wegblieb. Sie bemerkte die Verspätung gar nicht. Als Anna mit  der Einkaufstasche zurückkam, stand die gnädige Frau am Küchentisch und  machte für das Fräulein zum zweiten Frühstück ein Beefsteak zurecht.  Mit der rechten Hand hielt sie den Fleischklopfer, mit der linken nahm  sie Salz und Pfeffer. Tränen fielen auf das Fleisch: 
    „Ach, Anna", Frau Rubesch bemühte sich gar nicht mehr, vor Anna ihr  Unglück zu verbergen. Ihre geschwollenen Augen weinten, die Rechte  klopfte, und die Linke nahm gedankenlos Salz und Pfeffer aus den  Porzellantiegeln. Das Beefsteak war schon schwarz und weiß. 
    „Ach, Anna", die gnädige Frau klopfte und würzte, „ach mein Gott,  Anna", die gnädige Frau seufzte, „was haben die unteren Klassen für ein  schönes Leben, wie gern würde ich mit ihnen tauschen." 
    Anna hörte diese Worte nicht zum ersten Mal. Das Fräulein sagte ihr  täglich das gleiche. Merkwürdig, das Fräulein und die gnädige Frau  beneideten sie. Die Tochter und die Frau eines Millionärs beneideten  sie, ein Dienstmädchen, das nicht einmal wusste, wo es mit einem Kinde  unterschlüpfen würde. Würden sie auch mit ihr tauschen wollen, wenn sie  alles wüssten? Anna dachte darüber nach, aber sie wusste vorerst keine  Antwort auf diese Frage. 
    Es kam der Tag, an dem sie sich sagte, sie würden sie auch beneiden,  wenn sie alles wüssten, denn sie waren allein und verlassen. Anna war  nicht verlassen und einsam. Sie gehörte einer großen Familie an, sie  hatte Genossen und Genossinnen. Als es Anna am schlimmsten ging, waren  sie zur Stelle. 
    Eines Nachmittags, als sie allein zu Hause war und in der Küche das  Geschirr abwusch, klingelte es draußen. Sie ging öffnen. Franz Sauer  lachte sie, die gelben Zähne weit entblößend, an. Der Heizer Franz  Sauer, ein bisschen Arbeiter, ein klein wenig Agent, ein bisschen  Genosse, ein wenig Bummelant, im ganzen ein vierzigjähriges Kind mit  einer kindlichen Stimme und unendlich guten Augen. Neben ihm stand ein  jüngerer Arbeiter, den Anna schon auf Versammlungen gesehen hatte,  dessen Namen sie aber nicht kannte. 
    „Hören Sie mal, wir sind die ,Schwarze Hand', und wir kommen Sie holen",  sagte Franz Sauer. 
    Anna erstarrte. Sie erschrak ein wenig. „Schwarze Hand." Das war doch  nicht die „Schwarze Hand", welche die Reichen aus den Wohnungen  vertrieb und die Arbeiter drin festsetzte. Das war doch Franz Sauer!  Oder war das ein Witz? 
    „Na, wollen Sie uns denn gar nicht hereinlassen, Anna? Das ist Alois Kotrba.  Kennen Sie ihn nicht?" 
    Anna trat in die Stube zurück, und beide folgten ihr. 
    „Wir haben eine Wohnung für dich, Genossin", sagte Kotrba. „Pack schnell  deine Sachen und komm." 
    Sie führte sie in die Küche. Es war also wahr. Sie erschrak noch mehr.  Sie stand da und wusste nichts Besonderes zu sagen. Sie war allein zu  Hause, hatte nicht gekündigt und der Frau nicht einen Ton gesagt. Sie  schwankte. 
    „Ich bin... " 
    „Keine langen Erklärungen", sagte Kotrba. „Soviel Zeit haben wir gar  nicht. Um dreiviertel Vier müssen wir da sein, und es ist sehr weit. Wo  hast du deinen Koffer?" 
    Anna sah, dass es ernst war. 
    „Ich soll also gehen, ja?" 
    Sie führte sie in ihre Kammer, zeigte ihnen ihren Koffer. Sie warfen  schleunigst Annas Sachen hinein, wie sie ihnen in die Hände kamen,  verdrückt und unordentlich, wie Männer eben packen. Es dauerte kaum  eine Minute. 
    „Haben Sie noch etwas?" 
    „Nein, nein, aber ich möchte noch... " 
    Ehe sie noch sagen konnte, dass sie sich umziehen wollte, hoben die  beiden Genossen den Koffer an den Henkeln hoch und schoben zur Tür  hinaus. Schon klapperten ihre Absätze die Stiege hinunter. Anna folgte  ihnen. Sie begriff noch immer nichts, war vor Erwartung erregt und in  einiger Besorgnis wegen der Wohnung, die sie verließ. Aber dann besann  sie sich eines Besseren. Sie schloss die Tür hinter sich und ging. Sie  holte die Genossen beim Haustor ein, als sie auf die Straße traten. Sie  gingen über den Wenzelsplatz zum Graben. Anna immer hinter ihnen her.  Sie sprachen kein Wort. Franz Sauer blickte sich vielleicht zweimal  nach ihr um und lachte ausgelassen. Sie hätte gern gefragt. Das ging  für ihr armes Gehirn so unglaublich schnell. Aber erst beim Pulverturm  fasste sie den Mut dazu. Sie machte noch einige schnelle Schritte, wich  der Straßenbahn aus und gelangte an die Seite des alten Genossen. 
    „Wohin gehen wir denn?" sagte sie schüchtern. „Und wie wird es sein?" 
    „In die Jesseniusgasse, Anna. Es wird einen großen Krach mit dem  Hauswirt geben. Da werden wir was erleben. Aber die Wohnung ist sehr  nett, für ein Kanarienvogelpaar wie geschaffen. Der Abgeordnete Jandak  hat uns gesagt, wir sollen euch was besorgen, und wir halten etwas auf  den Mann. Das wissen Sie doch." 
    Anna blickte erschrocken nach dem jüngeren Genossen, bei ihm Erklärung  suchend. Der war ernst und schweigsam, aber als er Annas Augen sah, die  auf ihn gerichtet waren, entschloss er sich doch, ein Wort zu sagen.  „Sei ohne Sorge, es wird schon irgendwie gehen." Anna wartete, dass er  ihr sagen würde, wie es gehen sollte. Aber sie erfuhr nichts. Sie  stapfte eine Zeitlang neben ihnen her, immer erwartend, dass sie ihr  etwas sagen würden. Als Kotrba sein ernstes Aussehen beibehielt,  verlangsamte sie ihre Schritte. So gingen sie durch die Straßen. Zwei  Arbeiter, die den schweren Koffer an den eisernen Henkeln trugen und  zwei Schritte hinter ihnen eine Frau in einem blaubedruckten Kleid mit  niedrigen Schuhen, so wie sie vom Abwaschtrog weggegangen war. Sie  wichen der Straßenbahn, den Automobilen, den schweren Fuhrwerken, den  Handwagen aus und standen um 3/4 4 Uhr in der Jesseniusgasse vor einem  Zinshaus. Ein Schutzmann stand vor dem Tor. Anna stockte der Atem, und  das Herz schlug ihr schnell. Sie waren an Ort und Stelle. Sie erkannte  dies an einem zweirädrigen Wagen, der an den Bürgersteig angelehnt  stand. Auf dem Wagen war Tonis ganzes Vermögen verstaut. Das  zusammenlegbare Eisenbett, Strohmatratze, das Bettzeug mit  rotgestreiftem Überzug, ein Tisch, zwei Stühle, alles mit einem festen  Strick zusammengebunden. Ganz zu oberst, unter den Strick gesteckt,  lagen zwei gerahmte Buntdruckbilder von Marx und Engels. Dies alles  bewies Anna, dass der Umzug mit Tonis Wissen vor sich ging, und dass er  in der Nähe sein musste. Das beruhigte sie ein wenig. Auf dem  Bürgersteig stand ein etwa zwölfjähriger Junge. Der Genosse stellte den  Koffer auf den Wagen, und Sauer fragte den Knaben: 
    „Na, Joseph, was ist?" 
    „Sie streiten drin mit dem Hauswirt wegen des Schlüssels. Sie waren  beim Polizeikommissariat, der Kommissar kam mit ihnen, da der Grüne  auch, und einer ist noch 
    drin." 
    „Es ist noch zehn Minuten Zeit", sagte Franz Sauer zu dem ernsten  Genossen. „Wart hier, ich will mir die Sache mal bekieken." 
    Er ging ins Haus, an dem Schutzmann vorbei, der amtlich und unzugänglich vor  sich hinstarrte. 
    „Ich hole mir nur Zigaretten", sagte Kotrba und verschwand gleichfalls.  Anna stand mit dem zwölfjährigen Jungen allein auf der Straße. So war  das also. Sie hatten noch keine Wohnung. Es wird deswegen erst  verhandelt. Sie haben nichts. Das blieb also übrig von 'der ganzen  Hoffnung mit der „Schwarzen Hand" und von der Überraschung des heutigen  Nachmittags. Und Polizei ist auch dabei. Anna schaute durch den Nebel  ihrer getrübten Augen auf Tonis Vermögen. Wo kamen denn bloß der Tisch  und die zwei Stühle, diese funkelnagelneuen Stühle her? Glaubte er denn  wirklich, dass sie da einziehen würden? Anna sah die Bilder von Marx  und Engels an und musste alle Kräfte zusammennehmen, um nicht laut zu  weinen. Marx und Engels, zwei bekannte Alte, zwei Genossen, die Väter  aller Arbeiter, blickten in die Höhe, ganz hoch nach oben in den  schmutzigweißen Himmel. Anna schienen ihre Gesichter in diesem  Augenblick besonders klug zu sein. Aber konnten sie ihr denn helfen?  Vom Turm schlug es 5 Uhr. Kotrba kehrte aus dem Zigarettenladen zurück  und blieb ungerührt neben dem Wagen stehen. Anna standen die Tränen in  den Augen. 
    Im Hause, im ersten Stock, in der Wohnung des Hauswirts, verhandelten  sie unterdessen. Diese Unterhandlung dauerte jetzt beinahe schon  zweieinhalb Stunden. Vor 3 Uhr waren sie hergekommen: Franz Sauer,  Czermak, der Zinkograph Wick, der Hilfsarbeiter Kotrba und der Tischler  Hans Kolar. Toni war bei ihnen. „Was wollt ihr denn?" brummte sie der  Hauswirt, der ihnen den Weg verstellte, gleich an der Tür an. Es war  ein rundlicher Vierziger, ein rotwangiger blonder Mann, ein  reichgewordener Agent, der den Landesämtern Nahrungsmittel lieferte. 
    „Eine sehr wichtige Sache", antwortete Sauer. Sie drängten den Hauswirt in  das Vorzimmer und dann direkt in die Stube. 
    „Na also, was ist los?" fuhr sie der Hauswirt an. „Euer Wohlgeboren",  sagte Sauer, „Sie haben da im zweiten Stock eine leere Wohnung, Küche  und Zimmer, und wir ersuchen Sie höflichst, sie dem Genossen Krousky zu  vermieten. Aber gestatten Sie, dass ich vorstelle. Das ist der Genosse  Anton Krousky, Gießer in den Kolbenschen Fabriken. Ein sehr anständiger  Mensch. Dieser Herr ist der Hausbesitzer Koslieb. Ich bin Franz Sauer."  „Ich habe keine Wohnung zu vermieten", knurrte der Hauswirt. 
    „Aber ja, na, was denn", sagte Franz Sauer. 
    „Nein", sagte der Hauswirt energisch. „Die Wohnung ist schon  vermietet." 
    „Wissen wir ja,'— als Lager. Aber das ist sehr unschön, irgendwelchen  Schiebern Wohnungen als Lagerräume zu vermieten, wo in der Stadt so  viele Leute keine Wohnung haben. Und außerdem ist es gegen das  Wohnungsgesetz", fügte der alte Czermak verdrossen hinzu. 
    „Ja, ja, es ist gegen das Wohnungsgesetz", wiederholte Franz Sauer.  „Aber der Hauswirt hier ist ein netter Herr. Seht mal an, er hat doch  ein so gutes Gesicht, der wird uns auch ohne Gesetz helfen, nicht?" Der  Hauswirt wurde feuerrot. 
    „Ich will mich nicht mit Ihnen unterhalten. Ich habe schon gesagt, dass ich  keine Wohnung zu vermieten habe und damit basta." 
    „So, ,basta'? Wer hätte das gedacht", sagte Franz Sauer. 
    „Ich bitte Sie, die Wohnung augenblicklich zu verlassen und mich nicht zu  belästigen." 
    „Aber woher, wir sind doch die ,Schwarze Hand', und wir rühren uns  nicht früher von hier, als bis der Genosse Krousky mit seiner Frau in  der netten Wohnung im zweiten Stock ist." 
    „Wie stellen Sie sich denn das vor?" erregte sich der Hauswirt. Da trat  Toni vor, dessen Augen brannten. 
    „Wissen Sie, wie die Leute in der Stadt hier wohnen?" schrie er und  seine Fäuste schlossen sich. „Und Sie verschieben die Wohnung hier als  Lagerraum." 
    „Wart mal, Toni, wart mal", und die ungeheure rechte Hand Sauers legte  sich auf Tonis Schulter. „Warum denn so hitzig, das muss alles  fachmännisch geregelt werden. Du wirst doch auch den Hauswirt nicht  aufregen wollen. Sieh mal, es könnte ihm doch dabei etwas passieren.  Das kannst du nicht verantworten. Wart mal, Toni, wart nur." 
    „Wie wir uns das vorstellen?" wandte er sich an den Hausherrn. „Sehr  einfach, wir sind doch keine Anfänger. Das haben wir schon dreißigmal  gemacht. Der Genosse Krousky zieht hier mit seiner Frau in die Wohnung  im zweiten Stock, und wir empfehlen uns. Das ist doch eine einfache  Sache." 
    „Wollen wir ernstlich miteinander reden oder nicht", donnerte der  Hauswirt. 
    „Ach, du lieber Gott, warum denn nicht." Sie begannen zu verhandeln.  Der Hauswirt sprach von der Anzahlung, der Rechtsverbindlichkeit, von  den Steuern, von den Gesetzen, von der Ordnung. Die Arbeiter von der  Wohnungsnot und von der demokratischen Republik. Der Hauswirt war  aufgeregt und rot wie ein Krebs und lief zwischen Blumentisch, Fenster  und Chaiselongue hin und her. Die Arbeiter waren ruhig, weil sie  wussten, wie es ausgehen würde. Nur Toni war empört. Es kostete ihn  Überwindung, nicht nach diesem rosigen Bürger hinzuspringen. Aber er  hatte geschworen, dass er sich in die Verhandlung nicht einmischen  würde. Die Verhandlung führte zu keinem Resultat. 
    „Gut", sagte der Hauswirt und hielt in seinem Marsch drohend inne. „Mit  euch lässt sich nicht reden." Er sah sie mit einem Blick an, der sie  erschrecken sollte und brüllte einen Satz, der sie klein machen sollte: 
    „Ich werde die Polizei rufen, die wird die Sache schon regeln." 
    „Du mein Gott", Sauer klatschte in die Hände, „das ist eine Idee. Dass  das noch keinem von uns eingefallen ist. Wir wollen mal zum Revier  gehen. Ich war noch nie da." Der Hauswirt sprang zum Telefon. Bei  solchen erregten Szenen geschieht es sehr oft, dass man keine  telephonische Verbindung bekommt, und wenn sie endlich kommt, ist sie  falsch. Herr Koslieb hatte eine zu energische Maske aufgesetzt, als  dass er sie die ganze Zeit hätte beibehalten können. Das wirkte  komisch. Der Hauswirt zitterte vor Wut. Endlich bekam er die  Verbindung. Aber er hatte nicht mehr die natürliche Kraft. 
    „Es sind sechs Menschen hier, die einen gesetzlich unerlaubten Zwang  auf mich ausüben, damit ich ihnen eine Wohnung vermiete. Ich brauche  den Schutz der Polizei." Irgend jemand antwortete ihm. 
    „Ja", sagte der Hauswirt drohend ins Telefon und legte den Hörer ab. 
    „Mein letztes Wort, wollen Sie meine Wohnung verlassen und mich nicht  belästigen?" 
    „Nein", schrie Toni und ging einen Schritt vor. 
    „Wart mal, Toni." Franz Sauer hielt ihn zurück. „Immer fachmännisch, du  weißt, was du mir versprochen hast." 
    „Nein", knurrte der alte Czermak ruhig. „Wir würden ja gerne gehen,  aber es lässt sich nicht machen. Die Ehre der ,Schwarzen Hand' steht  auf dem Spiel." 
    „Na, gehen wir zur Polizei", donnerte der Hauswirt. 
    „Gehen wir, Freunde", lächelte Franz Sauer. „Wir werden uns noch ganz gut  einigen. Bis fünf Uhrist Zeit genug." 
    Sie gingen. Der Hauswirt mit ihnen. „Entschuldigen Sie", sagte Franz  Sauer zum Hauswirt auf der Straße. „Ich habe etwas vergessen. Ich kann  nicht mitkommen. Ich muss Fräulein Anna, die Braut des Genossen  Krousky, abholen und ihre Sachen tragen helfen, damit sie umziehen  kann." 
    „Komm, Alois", wandte er sich an Kotrba. „Wir wollen ihr den Koffer tragen  helfen." 
    In diesem Augenblick erschien auf der Straße ein Handwagen, auf dem  Tonis Möbel aufgeladen waren. Ein jüngerer Arbeiter zog ihn. Neben dem  Wagen ging ein zwölfjähriger Junge. 
    „Aha", warf Franz Sauer ein, „da besorgen sie auch schon den Umzug von dem  Genossen Krousky." 
    Es schien, als ob den Hauswirt der Schlag treffen würde. Franz Sauer  und Kotrba gingen zur Haltestelle der Straßenbahn, um Anna abzuholen.  Der Hauswirt, Toni und Czermak, Wick und Kolar zum Polizeirevier. Der  Polizeikommissar betrachtete sie durchdringend. Er erkannte die  Arbeiter gleich. Es war schon der zehnte Fall in seinem Revier, wo die  „Schwarze Hand" eingegriffen hatte, und er wusste, dass alles, was nun  folgen würde, zwecklos war und wie es ausgehen würde. 
    „Schwarze Hand", wandte er sich an sie. 
    „Ja", sagte der alte Czermak verdrossen. 
    Der Kommissar legte sein Gesicht in amtliche Falten. 
    „Hört mal, Kinder, das wird aber nun ein bisschen wild", und er  verstärkte den Ausdruck seines Gesichts. „Spaßt nicht zu sehr, das kann  mal schlecht ausgehen und ihr könnt euch mächtig verbrennen." - „Was  ist, Herr Koslieb", wandte er sich an den Hauswirt. 
    Im Büro, das nach Kleidern und Papier roch, wiederholte sich die alte  Geschichte. Der Hauswirt erklärte alles. Er gestikulierte mit den  Händen und bewies, dass er durch einen Vertrag und eine Anzahlung  bereits gebunden sei. Er habe Toni nie gesehen, er ginge ihn auch  nichts an, und wenn er mit seiner Familie keine Wohnung habe, dann  müsste er sich eben an ein Wohnungsamt wenden. Das sei Tonis Sache und  nicht die des Hauswirts. Das war auch der amtliche Standpunkt des  Kommissars, der, nachdem er ihnen das auseinandergesetzt hatte, und als  sein strenger Blick vollkommen wirkungslos verpufft war, den Ausbrüchen  des Hauseigentümers und Ordnungsfanatikers schlechtgelaunt folgte. Er  wusste, wie ohnmächtig alle Instanzen der Wohnungsämter waren. Er  kannte in seinem Revier Wäschereien, Keller, Scheunen und sogar Aborte,  wo man wohnte, und konnte von vornherein die Argumente erraten, welche  die Arbeiter vorbringen würden, wenn er sich mit ihnen in eine Debatte  einließ. Jedes Wort war umsonst. Da gab es nur ein Mittel, um die  Ordnung aufrechtzuerhalten: Polizeirevolver — wie in der Monarchie. Das  war eine unfehlbare Arznei. Aber der Herr Kommissar wagte nicht, von  sich aus dazu zu greifen, und er wusste, dass ihm das Polizeipräsidium  die Erlaubnis nicht erteilen würde. Ja, die Entwicklung zur alten  Ordnung schritt Woche um Woche hübsch und langsam vorwärts, und es war  leicht möglich, dass dies der Beginn seiner Karriere sein konnte, wenn  er sich auf eigene Faust zu einem Vorgehen entschließen würde. Aber es  war auch nicht ausgeschlossen, dass ihm das die Stellung kosten konnte.  Das war das Ungemach der Zeit. Ein anständiger Mensch wusste nicht, wem  er eigentlich diente. Und so entschloss sich der Herr Kommissar,  nachdem er die ganze Geschichte angehört hatte, bloß zu dem Ausruf: 
    „Ich will mir die Sache ansehen." Er setzte die Dienstmütze auf, nahm  zwei Schutzleute mit und ging. In der Jesseniusgasse ließ der Kommissar  einen Schutzmann vor dem Hause, und mit dem zweiten, den vier Arbeitern  und mit dem Hausherrn ging er hinauf. Sie sahen sich die Wohnung im  zweiten Stock an, das Zimmerchen, in dem zwei Kisten voll alter Wein-,  Kognak- und Mineralwasserflaschen standen, und die lange Küche mit dem  vergitterten Fenster, das auf den halbdunklen Flur hinausblickte. Der  Hausherr wurde immer aufgeregter, die Arbeiter immer ruhiger. Sie  sagten immer wieder nur boshaft den Satz, dass sie den Schlüssel haben  wollten. 
    Jetzt also, um 5 Uhr nachmittags, stand Anna mit dem zwölfjährigen  Jungen und dem unfreundlichen Kotrba in der öden Jesseniusgasse. Und im  Mietshaus unterhielten sich die Genossen, zu denen noch Franz Sauer  gestoßen war, mit dem Hausherrn und dem Polizeikommissar. Auch sie  hörten die Turmuhr schlagen und der alte Czermak und Wick zogen die  Uhren heraus, um die Zeit zu vergleichen. Zwei Arbeiter standen an der  Tür, drei am Ofen, mit dem Rücken darangelehnt. Sie sagten ihren Spruch  mit der Konsequenz einer Grammophonplatte. Dass es ungesetzlich sei,  eine Wohnung als Lagerraum zu vermieten und außerdem gemein, wo so  viele Leute kein Dach über dem Kopf hätten, dass dies der Kommissar  einsehen müsste, und dass alles vergeblich sei, dass sie nicht von hier  weggehen würden, bevor sie nicht den Schlüssel erhielten. Toni machte  ein finsteres Gesicht und schwieg. Aber Franz Sauer brachte mit seinen  gutmütigen Augen den Hausherrn zur Raserei. Sauer zündete sich eine  Zigarette an und klopfte die Asche auf dem Ofen ab. 
    „Rauchen Sie hier nicht", brüllte ihn der Hausherr an. „Glauben Sie, dass  Sie in einem Stall sind?" 
    Sauer zeigte bloß die Zähne, tat noch einen tiefen Zug und blies den Rauch aus. 
    „Na, es muss ja nicht sein", sagte er freundlich und drückte den  glühenden Tabak ab. Er barg den Rest der Zigarette in der Westentasche.  Der Hauswirt lief auf dem Teppich zwischen der Anrichte und dem  Plüschsofa auf und ab. Sein breites Gesicht, sein starker Hals waren  rot. Es bestand Gefahr, dass ihn der Schlag treffen würde. Das  Bewusstsein, dass er, der reiche Vermittler, Hauswirt und Mann mit  einflussreichen Bekanntschaften, diesen drei schmutzigen und stinkenden  Kerlen gegenüber ohnmächtig war, dass er ihnen gegenüber machtlos war,  trotz seines unzweifelhaften Eigentümerrechts, trotz Vertrags,  Rechtsverbindlichkeit und trotz dreier Polizisten, deren amtliche  Verpflichtung es war, ihn zu schützen, dieses Bewusstsein brachte ihn  zur Raserei. Er werde den Schlüssel nicht hergeben. Und wenn er auf der  Stelle krepieren sollte, den Schlüssel gebe er nicht her. 
    „Ja, bin ich denn kein Steuerzahler?" schrie er. „Herr Kommissar, schützen  Sie mich, gilt denn das Gesetz nicht mehr?" 
    Der Kommissar saß ungerührt auf dem roten Plüschsofa. 
    „Vielleicht könnten Sie sich, meine Herren, doch in Güte einigen",  sagte er zeitweise; aber es klang ganz hoffnungslos. Auf der Straße  wartete Anna. Welchen Sinn hat das, dachte sie. Wir haben keine Wohnung  und wir werden keine haben. Warum haben sie ihr Hoffnungen gemacht, wo  doch alles vergeblich ist. Tränen traten ihr in die Augen, und sie  drückte das Taschentuch ans Gesicht. 
    „Wein' nicht, Genossin, in zehn Minuten bist du in der Wohnung", sagte  der unhöfliche Kotrba, und Anna fühlte zum ersten Mal Weichheit und  Teilnahme. Es klang überzeugend. Es war ein Fünkchen Hoffnung, das in  Anna aufstieg. Als sie mit tränenden Augen die Bilder ansah, schien es  ihr, dass Marx das linke Auge schloss. Vielleicht das Auge, in dem er  das seltsame Glas trug, das ihm zur Weste herunterhing. Es schien, als  ob er klug lächelte und sagen wollte: „Weine nicht, Genossin, in zehn  Minuten bist du in der Wohnung." 
    Es war 5 Uhr und 5 Minuten. Das war der kritische Zeitpunkt, auf  welchen die „Schwarze Hand" gewartet hatte. Sowohl die Genossen, die  draußen mit Anna warteten, als auch die anderen, die oben mit dem  Hauswirt verhandelten, wussten dies. Fünfhundert Schritte von hier, in  der Richtung zur Peripherie der Stadt, füllte sich die Straße, bislang  halb leer, immer mehr mit Menschen. Es waren Arbeiter und  Arbeiterinnen, die nach beendigter Arbeit herbeizogen. Sie liefen  durcheinander, verstreuten sich über die ganze Straßenbreite und  rückten in der Richtung auf Anna vor. Gleich darauf spie die Fabrik  neue Massen aus. Sie vereinigten sich mit den vorhergehenden, und der  Vortrupp der Arbeiter schritt schnell die Jesseniusgasse herauf. In der  Straße wurde das Gewühl immer dichter. Dieser Menschenstrom, der  vorwärts rollte, trieb schwer dem zweirädrigen Wagen mit den Möbeln  entgegen. Die Spitze erreichte Anna. Es waren drei Burschen, die ihren  Rock über ein blaues Hemd gezogen hatten. Sie hatten schmutzige  Gesichter, waren aber trotzdem hübsch und lachten. 
    „Was ist los? Umzug? Will er euch nicht hereinlassen?" fragten sie beinahe  gleichzeitig. 
    „Der Hauswirt, der Lump, hat die Wohnung als Lagerraum verschoben, will  den Schlüssel nicht herausgeben, und nun muss die Arme hier auf der  Straße stehen, seht sie euch mal an", erklärte der Genosse Kotrba, in  den plötzlich Leben gefahren zu sein schien. Die Burschen lachten halb  verständnisvoll, halb lustig. Der mittlere, ein Blondkopf, wandte sich  an die marschierende Vorhut, steckte Zeige- und Mittelfinger in den  Mund und stieß einen Räuberpfiff aus, so stark, dass die Ohren dröhnten. 
    Der Kleinste und Schmutzigste von ihnen legte die Hände an den Mund und schrie  in die Straßen hinein: 
    „Hier gibt's einen Umzug, kommt mal ran." 
    Der Schutzmann, der das Tor bewachte, verschwand im Innern des Hauses und  schloss die Tür hinter sich zu. 
    Es bedurfte nur einiger schnellerer Schritte, damit die ersten Häufchen  Anna erreichten und sie umringten. Aus der schwarzen Arbeitermasse im  Hintergrund lösten sich kleine Trupps, liefen vor und aus ihrer Mitte  ertönte ein hoher Pfiff, ein Kampfsignal, das durch die Straße gellte.  Anna und der Wagen befanden sich im Nu inmitten einer lebendigen und  treibenden Masse. 
    „Was ist?" 
    „Was ist?" 
    „Umzug?" 
    „Schwarze Hand?" 
    Der Genosse Kotrba erklärte, als ob er eine Agitationsrede auf einer  Versammlung hielte: 
    „Das Pack hat die Wohnung als Lagerraum verschoben. Der Kerl hat selbst  fünf Zimmer und ist fett wie ein Schwein. Diese armen Leute will er  nicht hineinlassen. Sie warten schon zwei Stunden darauf, und dieser  Schieber hat einen Kommissar und zwei Grüne bei sich." 
    Es ertönte wieder ein Pfiff, ein, zwei, fünf und zehn. Die Straße pfiff und  schrie. 
    „Wir wollen's dem Schieber besorgen", rief jemand. „Dort, hoppla." 
    Die Masse rollte dem Haustor entgegen. An die Türklinke hängte sich  eine Traube von Leibern. Das Tor war von innen verschlossen. Ein  Aufschrei ertönte, kurz und drohend. Die Klinke dröhnte, weil zwei  Fäuste auf sie losschlugen. Das Holz erdröhnte, weil sechs Paar Stiefel  darauf losschlugen. Aber die Tür war massiv und fest. 
    In diesem Augenblick verwandelten sich 150 Arbeiter der Vorstadtfabrik  in eine Kampfschar. Dieses dröhnende und tönende Hindernis von einer  Eschenholztür, die sich ihrem Willen entgegenstellte, vertrieb das  Wesen des einzelnen Individuums aus ihnen, erweckte in ihnen allen die  ererbte Kraft des menschlichen Geschlechts und schmiedete sie zu einer  Masse zusammen. Es war eine wutentbrannte Schar prähistorischer Männer,  Frauen und Kinder. In Bärenhäute gekleidet standen sie am Rande einer  großen Grube, in der sich der Riesenleib eines Mammuts gefangen hatte,  eine Schar, die über die Nähe des Sieges jubelte und vom letzten  Hindernis wildgemacht wurde, sich vor Glück und Hunger schüttelte,  Steinblöcke auf das lebendige Tier warf und ihm den Bauch mit gefällten  Birken durchbohrte. Es war die leidenschaftlich gerechte Schar von  Gotteskämpfern und Gotteskämpferinnen, die aus den gotischen Fenstern  des Prager Rathauses die verräterischen Schöffen auf die Spieße des  Hussitenvolkes warf, die tapfere Schar von Bürgern und Bürgerinnen, die  unter dem Losungswort der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit  geeint jeden zerrissen hätten, der gewagt hätte, ihnen einzureden, dass  die Granitmauern und Türme der Bastille ein unüberwindliches Hindernis  wären. Es war die zum Tode begeisterte Schar von Genossen und  Genossinnen, die an jenem Oktobertag aus Windbüchsen auf die roten  Mauern des Moskauer Kremls schossen, hinter denen die Junker standen. 
    Jetzt wurde sie vor dem Hause der Vorstadtstraße von neuem geboren, und  es war eine tausendjährige Erbschaft in dieser Schar, die Leidenschaft,  der Wille, die Wildheit und der Hunger, der Opfermut und das schönste  Gut, welches das Menschengeschlecht besitzt, die Sehnsucht nach  Gerechtigkeit, nach ihrer Gerechtigkeit, denn über diese geht keine. 
    Die Klinke dröhnte und das Eschenholz brummte. Der ganze Fabrikstrom  war nunmehr bis hierher gelangt. Der freie Raum war ausgefüllt, und in  den Fenstern der Nachbarhäuser, hinter Blumentöpfen, auf Kissen zeigten  sich Menschen. Einige lachten, andere waren ernst und streng. „Reicht  uns diesen Kerl mal her, damit wir ihn besehen!" „Pfui, pfui", brüllte  die Straße. 
    Eine alte Arbeiterfrau in dem Knäuel, in dessen Mitte der Wagen mit den  Möbeln stand, erkannte Annas Zustand. Sie sprang auf ein Rad des  Wagens, hielt sich an den Schultern der Nächststehenden und schrie über  den Kopf der Menge hinweg, und rote Flecken traten in die eingefallenen  Wangen: 
    „Die Ärmste ist ja schwanger. Sie ist im neunten Monat, und der Hund  hat sie auf die Straße gejagt." „Pfui, pfui", brüllte die Straße. 
    „Wir wollen es ihm besorgen", klang es in den Sturm, und das war die  Parole. Die Schar verlangte danach, geführt zu werden. Der Ruf wurde  mit Geschrei und Pfeifen aufgenommen: 
    „Besorgen — besorgen — besorgen", kreischte und rief es mit drohendem  Signal. Die Nachbarfenster wurden geschlossen. 
    Plötzlich öffnete sich das Tor der feindlichen Festung. Drei Genossen  erschienen, und einer von ihnen hielt der Masse die erhobene Hand  entgegen. Die Schar verstummte auf einen Schlag. So war es schon immer,  seit Tausenden von Jahren, wenn auf den Zinnen der feindlichen Festung  die weiße Fahne aufgezogen wurde. Diesmal wurde die rechte Hand des  Genossen zur Fahne. 
    „Wählt eine Delegation, Genossen, die mit dem Hauswirt verhandeln  soll", rief der alte Czermak mit lauter Stimme. Hinter den Genossen im  Tor erschien der Polizeikommissar und trat vor sie: 
    „Meine Herren, es ist eine rein privatrechtliche Angelegenheit. Die  Polizei hat kein Interesse daran und hat sich bemüht, die Sache  auszugleichen. Die Angelegenheit wird erledigt. Sie wird in Ruhe  erledigt." Irgendwer lachte: 
    „Selbstverständlich wird sie erledigt, das hatten wir und auch der Herr  Kommissar von allem Anfang an gewusst." Der Kommissar fuhr fort: 
    „Aber die Ruhe muss auf jeden Fall gewahrt werden, Zusammenrottungen  kann ich keinesfalls dulden, und es hat wohl niemand Interesse daran,  dass ich zu schärfsten Maßnahmen genötigt werde." 
    Falls es wirklich die Absicht des Kommissars war, die Angelegenheit in  Ruhe zu ordnen, beging er einen schweren taktischen Fehler; — er rührte  an die Souveränität der Masse. 
    „Mach dich man nicht so wichtig", rief ihm jemand zu. Die Schar lachte  halb fröhlich, halb wütend. 
    „Ist bei uns nicht zu machen." 
    „Pusten Sie sich man nicht auf." 
    Ein Häufchen angeschmuddelter Arbeiterlehrlinge und einige Mädchen aus  der Packerei, die auf dem gegenüberliegenden Gehsteig standen, lachten.  Der Kommissar war bleich, und sein Kinn erzitterte leicht. 
    „Eine Deputation", donnerte aufs neue die mächtige Stimme vom Tor, so  befehlend, dass neben ihr kein Platz zu etwas anderem war. Durch die  Gasse bahnte sich bereits eine sechsköpfige Deputation ernster Arbeiter  den Weg. 
    „Wozu denn eine Deputation?" schrie ein junger Blondkopf mit  leidenschaftlichen Augen, „schmeißt den Kerl auf die Straße." 
    „Gebt uns den Erpresser her", schrie ein Nachbar. Aber es waren nur  vereinzelte Stimmen, die durch irgendeine Unordnung die allgemeine  Disziplin durchbrachen, und sie wurden deshalb mit Lachen empfangen.  Die Deputation verschwand in der Haustür. Alle Augen waren auf sie  gerichtet. Es trat Ruhe ein, die Wellen glätteten sich. 
    Die Masse stand wie aus Erz gegossen. Alles war in Erwartung. Doch eine  leere Stille in der Brust lässt sich nicht lange ertragen, und sie  dauerte auch nur einige Minuten. Plötzlich brüllte die Straße los. In  der Haustür standen Toni, Czermak und Wick und hinter ihnen die  Arbeiterdeputation. Alle lachten, und der strahlende Czermak hielt den  Schlüssel in der erhobenen Hand. Kein Schauspieler auf der Bühne, kein  Führer auf der Tribüne wurden je mit diesem Beifallssturm, diesem Jubel  und Gelächter begrüßt. Dieser Siegesschrei und dieses Gelächter  schallte durch alle Tore und Fenster der Jesseniusgasse, erfüllte die  Wohnungen und stieg in großen Wellen über die Dächer zum trüben Himmel.  Die Bastille war gefallen. Jetzt flogen fünf, zehn und fünfzehn Mützen  in die Luft. Gelächter über Gelächter. Es galt dem Sieg, und es galt  dem besiegten Bourgeois und der besiegten Polizei. 
    Anna war weiß wie das Leinentuch auf dem zweirädrigen Wagen. Beim Wagen  und um Anna herum entstand eine Jagd. Zwanzig, dreißig und vierzig  Hände griffen nach den Möbeln. Der Strick war im Nu gelöst. Vierzig  Hände fassten nach den Sachen, vierzig Schultern bahnten sich einen Weg  durch das Gedränge auf dem Gehsteig, vierzig Beine fielen in das Haus  ein und liefen über die Stiegen hinauf ins erste, zweite Stockwerk. Sie  trampelten schwer und nahmen immer zwei Stufen auf einmal. In zwei  Minuten war die Wohnung im zweiten Stock als Heim für Toni und Anna  eingerichtet. Alle jagten wieder herunter, und vierzig Absätze stürmten  über das Treppenhaus. Ihre hastenden Schritte dröhnten dem Hauswirt in  seinem Zimmer ins Ohr. 
    Es gab nicht viel zu danken. Ein paar Händedrücke und ein Lächeln, bei  dem Tränen in den Augen glänzten. Und während Anna und Toni die Treppen  zu ihrer neuen Zuflucht hinaufstiegen, gingen auf der Straße  zweitausend Arbeiter auseinander. Eine lebende Masse, die in den  nächsten Minuten in den Seitengassen, in den Zinshäusern, in den  Stockwerken, in den Arbeiterwohnungen verstreut und verschwunden sein  wird. Aber auch dann, wenn es nur mehr zweitausend einzelne Männer sein  werden, die bis zu den Hüften nackt vor dem Waschgeschirr mit warmem  Wasser stehen, einzelne Weiber, die Feuer machen, um den Kaffee und die  Kartoffeln vom Mittagessen zu wärmen, Arbeiter, Burschen und Mädchen,  die sich vor dem Spiegel saubere Kragen und Kleider anziehen, um den  kurzen Frühlingsabend zu genießen, auch dann wird noch jedem einzelnen  ein Lächeln auf den Lippen stehen, und im Herzen wird er ein angenehmes  Gefühl haben. Und wenn sie heute abend schlafen gehen werden, dann  werden sie vielleicht noch im Bett plötzlich laut auflachen und werden  sich sagen, dass das heute ein Riesenspaß war in der Jesseniusgasse. 
    Anna stand in der Mitte der neuen Wohnung und weinte an Tonis Brust. Es  war ein Spätnachmittag im Vorfrühling, und die untergehende Sonne warf  eine Handvoll goldenen Staubes in das Zimmer, der sich im Winkel  festsetzte. Die Möbel und der Koffer mit Annas Kleidern standen  unordentlich durcheinander. Auf dem Tisch lagen Marx und Engels, mit  dem Gesicht zur Decke, zwei bärtige Alte, die Väter aller Sozialisten  und Genossen. Sie schauten wieder ernst, gelehrt und unnahbar drein.  Anna weinte, und auch Tonis stählernes Herz schlug. 
    „Wie ist es nun, Toni, dürfen wir wahrhaftig hier bleiben?" 
    „Ach, es war ganz einfach", antwortete Toni, „wir sagten ihm: Die  Schlüssel, oder wir öffnen uns allein, und er überlegte keine Minute.  Selbstverständlich bleiben wir hier." 
    Wie spät war es denn eigentlich? Anna überfiel plötzlich ein  unangenehmes Gefühl. Der Kopf drehte sich ihr. Sollte sie, sollte sie  nicht? 
    „Toni, soll ich nochmal zurückgehen?" Tonis Gesicht verfinsterte sich. 
    „Ach wo." 
    Aber dann erinnerte er sich: 
    „Hast du das Dienstbuch? Hast du es nicht? Sie würden dich auf der Polizei  melden. Fahr hin." 
    „Ja?" 
    „Ja, ja, fahr hin." 
    Sie richtete mit zitternden Händen Frisur und Kleidung. Toni begleitete  sie und schloss hinter sich die Türe. Das Schloss schnappte mit einem  neuen Ton, den Anna weder vorher gehört hatte noch nachher jemals  hörte. Toni brachte sie zur Straßenbahn, und sie fuhr in ihr früheres  Heim. 
    Die gnädige Frau öffnete ihr und durchbohrte sie mit den Blicken. In  der Küche pflanzte sie sich vor ihr auf, maß sie mit eiskalten Augen  und sagte mit trockenem, scharfem Ton, der ein Gewitter ankündigte: 
    „Wo waren Sie?" 
    „Wir haben eine Wohnung gefunden. Ich werde heiraten." Das Herz schlug  ihr bis zum Halse, aber sie sagte es ruhig und selbstbewusst und weinte  nicht. Die Farbe und das Gewicht der Worte schlugen der Frau Baumeister  die Waffen aus der Hand. Nur ihre Augen funkelten zornig. Sie drehte  sich um und sagte nichts. Sie ging aus der Küche und schlug die Türe  hinter sich zu. 
    Anna beendigte in der Küche schleunigst die vernachlässigte Arbeit,  trug das Essen auf, machte im Schlafzimmer die Betten, und in dieser  ganzen Zeit sprach niemand ein Wort mit ihr, als ob sie nicht vorhanden  wäre. Aber die Verachtung der Herrschaft machte heute keinen Eindruck  auf sie. Wie hätte sie auch! An einem solchen Tag, wo Toni und sie Mann  und Frau wurden. Der Tag ihrer Trauung war nicht der, an dem sie sich  erkannten; es wird auch nicht jener sein, an dem sie auf dem Amt  irgendein Stückchen Papier unterschreiben werden. Der heutige Tag war  es, wo sie sich eine Zuflucht erkämpft hatten. Konnten denn die gnädige  Frau und das Fräulein nicht alles verstehen? Der Architekt hat acht  Häuser. Sie werden das Fräulein am Hochzeitstage in weiße Seide  kleiden, ihr einen Myrtenkranz geben und sie, deren Leib von Ärzten  zerkratzt ist, wird mit dem Prinzen Bräutigam in einem Auto sitzen, und  vor ihnen und hinter ihnen werden Autos fahren, und in der Mitte der  Kirche wird ein roter Teppich liegen. Wie viel Gäste werden Sie,  Fräulein, auf der Hochzeit haben? Dreißig, vierzig — bestimmt nicht  mehr als fünfzig. Wissen Sie, Fräulein, wie viel ich gehabt habe?  Zweitausend, die Straße war knüppeldicke voll von Genossen aus den  umliegenden Fabriken, und glauben Sie, Fräulein, dass auf Ihrer  Hochzeit solcher Jubel und solche Freude sein wird wie auf der meinen?  Anna erzitterte vom Gefühle des Stolzes und Entzückens. Anna räumte das  rosa Zimmerchen von Fräulein Dadla auf. Sie rückte die Batistpolster  und Spitzen zurecht und dachte, ach, wie stinkt doch ihr Bett,  Fräulein, nach Parfüm, Puder und Toilettenwassern. Mein Bett wird  duften. Es wird nach Toni duften, Fräulein. Es wird nach dem Stahl der  Kolbenschen Fabriken duften. 
    Abends, bevor die Herrschaft zur Ruhe ging, kam Fräulein Dadla in die  Küche, um zu verhandeln. Sie tat, als ob sie sich ein Glas Wasser  holte. Sie trank, und dann zupfte sie vor dem Küchenspiegel die Haare  zurecht: „Sie werden heiraten, Anna?" 
    Anna wusch das Geschirr und stand mit dem Rücken Dadla zugekehrt. 
    „Ja, Fräulein, wir haben schon eine Wohnung." 
    „Wo denn?" 
    „In der Jesseniusgasse." Hinter Annas Rücken war es eine Zeitlang still. 
    „Anna, wissen Sie, das ist nicht sehr dankbar von Ihnen. Wir waren doch  immer sehr nett zu Ihnen. Sie hätten auch ein Wort sagen können. Wollen  Sie denn die Mama jetzt so aufsitzen lassen?" 
    Anna antwortete nicht. Das Schweigen dauerte quälend lange. Aber sie nahm sich  vor, überhaupt nicht zu antworten. 
    Hinter ihrem Rücken schrie das Fräulein wütend: 
    „Na, in den Hintern werde ich Ihnen nicht hineinreden." Anna richtete  sich auf, wandte sich um, und trocknete die Hände an der Schürze. 
    „Ich konnte nicht, es war niemand daheim, und die Wohnung wäre uns  durch die Lappen gegangen. Und wenn die gnädige Frau glaubt, dass ich  noch bleiben soll, bis sie ein neues Mädchen gefunden hat, bleibe ich  noch. Jetzt, wo wir die Wohnung haben, kommt es auf ein paar Tage nicht  an." 
    „Machen Sie keine Dummheiten, Anna, und einigen Sie sich mit Mama. Aber  das eine muss ich Ihnen noch sagen, es zeugt von großer Undankbarkeit,  was Sie heute getan haben." 
    An diese Undankbarkeit dachte Anna noch, als sie schon in ihrem  Kämmerchen im Bett lag und wartete, bis die Herrschaft im Schlafzimmer  das Licht ausmachen würde. Diese Worte bereiteten ihr einige Unruhe,  und es lag darin ein wenig von diesem entfernten, weit entfernten und  unerklärbaren Duft des Schulzimmers und der Hand des Herrn Pfarrers,  die sie immer geküsst hatte, und die nach Zigarren und Männerschweiß  roch. Aber das dauerte nur einen Augenblick, und dann kamen der Stolz  und die Ruhe des heutigen Tages wieder. Nein, sagte sie sich, ich war  nicht undankbar. Warum, wusste sie nicht. Ihr Hirn verstand noch nicht  klar zu denken. Aber auch wenn sie es verstanden hätte, würde sie sich  gesagt haben, ja, es war nicht so schlimm bei euch, meine Herrschaften,  es war viel besser bei euch als "zu Hause in der Hütte, und vielleicht  hatte ich es auch ein wenig besser als die anderen Mädchen im Hause.  Die gnädige Frau hat mir zwei Hemden geschenkt, die nur ein ganz klein  wenig zerrissen waren, und die man leicht flicken konnte, und das  Fräulein schenkte mir einen Schlüpfer, den jede Gräfin tragen konnte.  Zu Weihnachten bekam ich Stoff für ein Kleid. Ja, aber habt ihr mich  denn aus meiner Hütte nur meinetwegen herausgeholt? Und habt ihr mir  die Geschenke nur aus christlicher Nächstenliebe gemacht? Ach, geht zum  Teufel mit eurer Dankbarkeit, Herr und Frau Rubesch. Ihr habt heute  nicht die Menge in der Jesseniusgasse gesehen, und ihr wisst nicht, was  sie mir dort gegeben haben. Ihr werdet das nie begreifen, dass die  Masse mir Toni geschenkt hat, dass sie es war, die mir die Wohnung gab,  dass alles von ihr kommt, was ich besitze. Ich habe nicht einmal euer  widerwärtiges „Danke schön" dafür gesagt, das ihr von mir für jeden  Topf Kaffee verlangt. Wisst ihr, dass ich in diesem Augenblick vor  Liebe und Dankbarkeit am ganzen Körper zittere, dass mir zum Weinen und  zum Lachen ist? Wenn ich jemandem „Danke schön" sagen wollte, nicht  euer höfliches „Danke schön", nein, das meine, ich würde keinen finden,  der das von mir annähme. Das waren nicht Genossen, Männer und Frauen,  Mädchen und Knaben, Genossen mit Namen und Gesichtern, das war das  Proletariat. Das war ich, ich, das dumme Dienstmädchen aus dem ersten  Stock mit roten Haaren und blauen Augen, die noch ein bisschen  erschreckt sind. Ich mit meinem blauen Kattunkleid und meinen  Pantoffeln. Ich wuchs millionenfach über die Fabrikschlote, über die  Antennen der Radiotelegraphen, über die Mastbäume der Dampfer und die  Wolkenkratzer der ganzen Welt. Was geht ihr mich an, ihr, die  Architekten Rubesch, ich gehe zu den Meinen. Was kümmern mich eure  Sorgen, eure Schmerzen, euer Zorn, eure Kinder. Ich gehöre nicht  hierher. 
    Als Anna sah, dass die Herrschaften im Schlafzimmer das Licht  ausmachten, schlich sie über den Flur zum dritten Stock hinauf. Sie  musste Marie von ihrem Glück erzählen. Sie klopfte an das vergitterte  Fensterchen. Marie führte sie in ihre Kammer. Als sie ihr vom heutigen  Tage erzählte, küsste sie Marie ab, war beglückt vor Freude und weinte  auch ein paar Tränen. Marie musste alles wissen von A bis Z, und weil  ihre Herrschaft im Theater war und die Kinder schliefen, zog sie  schnell irgend etwas an, machte in der Küche Licht und nahm Anna mit.  Dort an der Ofenbank musste Anna von Anfang an und mit allen  Einzelheiten alles erzählen, und als es nichts mehr, aber auch rein  nichts mehr zu erzählen gab, bat Anna ihre Kameradin um eine Postkarte.  Sie hatte das Bedürfnis, noch jemandem von ihrem Glück zu erzählen. Sie  erhielt eine herrliche Ansichtskarte und schrieb mit ihrer großen  Kinderhandschrift: 
    „Liebe Eltern! Ich grüße Euch herzlich. Ich teile Euch mit, dass ich  heiraten werde, denn ich habe eine Wohnung. Mein Liebster heißt Toni,  und wir haben uns sehr lieb. Er ist Gießer bei Kolben, das ist eine  gute Stellung. Ich werde Krousky heißen. Schreibt mir an die Adresse:  Anna Krousky, Jesseniusgasse Nr.... 
    Die Nummer wusste Anna nicht und sie musste auf der Karte einen  Zwischenraum lassen. Weil sie mit zu großer Schrift begonnen hatte,  blieb ihr jetzt kein Raum mehr, und sie drückte kleine Buchstaben in  einige enge Zeilen: 
    „Ich grüße alle Schwestern herzlich. Sie sollen mich doch in Prag  besuchen. Wenn es Toni und mir gut geht, schicke ich ihnen Geld für die  Rei..." 
    Die Worte „für die Reise" fanden keinen Platz mehr, das „Rei... " lag  wie ein zerdrückter Floh in der Ecke der Karte.  | 
  
    
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