Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Walter Müller – Wenn wir 1918 … (1930)
http://nemesis.marxists.org

Zweiter Teil
Der Wiederaufbau

Vorwärts - 2. Januar 1919

Produzieren!
Die Arbeit für den Sozialismus beginnt

Der Sozialismus tritt seine Herrschaft an. Er wird die Menschheit aus dem Elend herausführen. Aber er übernimmt eine böse Erbschaft: Große Gebiete Europas sind zerstört, es fehlt an Lebensmitteln und Rohstoffen, alle Industrien sind auf Kriegsbedarf eingestellt. Wir müssen unverzüglich mit der Arbeit am friedlichen Aufbau beginnen. Wir müssen produzieren, produzieren und nochmals produzieren. Wir müssen produzieren, auch wenn wir hungern. Es darf nicht gewartet werden, bis genügend Lebensmittel herankommen. Jeder muss ab heute seine Pflicht an dem Platz tun, auf den er gestellt wird. Es muss sofort mit der Arbeit angefangen werden, auch wenn der Magen knurrt. Wenn jeder seine Pflicht tut, an der Drehbank, am Hochofen, in der Grube, in der Eisenbahnwerkstatt, hinter dem Pflug, beim Landstraßenball, beim Waggonbau, in der Schiffswerft, am Schreibtisch und an der Nähmaschine, dann, aber nur dann, werden wir bald wieder alle satt zu essen haben.
Jede produktive Arbeit ist gleich wichtig. Alle unproduktiven Arbeiten müssen wir ausschalten. Millionen von Menschen waren im Kapitalismus mit Arbeiten beschäftigt, die gesellschaftlich nicht notwendig waren. Alle diese Arbeiten müssen eingestellt werden. Alle Menschen müssen einer produktiven Beschäftigung zugeführt werden. Wir müssen rücksichtslos rationalisieren, müssen den schärfsten Kampf gegen den Bürokratismus sofort und auf der ganzen Linie aufnehmen.
Jeder, der eine Arbeit verrichtet, die durch Umstellung oder Rationalisierung überflüssig gemacht werden kann, und der nicht selbst dafür sorgt, dass dies geschieht, ist ein Feind der werktätigen Klasse und muss als solcher behandelt werden, genau so wie der frühere Kapitalist oder der Akademiker, der nicht seine ganze Kraft für den sozialistischen Aufbau einsetzt.
Wer Sabotage übt oder sich am Eigentum des Volkes vergreift, wird erschossen. Wir machen keinen Unterschied mehr zwischen dem Verbrecher, der sich mit Stemmeisen und Schweißapparat die Mittel zu einem arbeitslosen Leben besorgt, und dem Verbrecher, der dasselbe mit der Kuponschere tun will und sich weigert, produktive Arbeit zu verrichten.
Wir brauchen alle Kopfarbeiter, brauchen sie dringend. Wir müssen nicht nur Europas Wirtschaft auf ganz neuer Basis wieder aufbauen, wir müssen auch Sibirien, den Balkan, China, Indien, Mesopotamien und Afrika erschließen. Millionen russischer Bauern kennen noch keinen Pflug, keine Egge. Wir werden sie mit den modernsten landwirtschaftlichen Maschinen ausrüsten, dem persischen Weber, dem indischen Bauer, dem chinesischen Kuli und Handwerker die besten, modernsten Maschinen liefern. Wir sind aufs stärkste daran interessiert, dass die Arbeitsproduktivität überall auf ein Höchstmaß gehoben wird. Die Lebenshaltung der ganzen Bevölkerung des B.d.S.R.S. wird herabgedrückt, wenn irgendwo ein Bauer mit unvollkommenen Mitteln arbeitet, wenn irgendwo drei Arbeiter eine Arbeit verrichten, die auch von zwei Arbeitern geleistet werden könnte, wenn irgendwo ein Waggon mit Waren rollt, deren Transport bei besserer Organisation nicht notwendig gewesen wäre, wenn irgendwo ein Mensch Formulare ausfüllt, die abgeschafft werden können, wenn irgendwo eine Fabrik errichtet wird, während Fabriken der gleichen Art nur in ein oder zwei Schichten ausgenützt werden. Wir haben die politische Macht erobert und beginnen jetzt mit der wirtschaftlichen Revolution. Wir werden einen Faulenzer „Faulenzer" nennen, auch wenn er sich bisher Regierungsrat nannte, und einen Dummkopf „Dummkopf", auch wenn er Justizrat war. Einen Menschen, der von der Arbeit anderer Menschen lebt, nennen wir einen Verbrecher, auch wenn er sich Kaufmann nennt. Wir müssen versuchen, die asozialen Elemente zu nützlichen Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft zu erziehen. Auch in unseren Kreisen gibt es Elemente, die bekämpft werden müssen. Im Kapitalismus konnte man es keinem Arbeiter übel nehmen, wenn er sich so gut wie möglich vor der Arbeit drückte und sich gegen jede Mehrbelastung wehrte. Er traf damit ja nur die Profitrate des jeweiligen Unternehmers, der ein Heer von Aufpassern und Antreibern unterhielt, um aus jedem Arbeiter das herauszuholen, was nur irgend möglich war. Jetzt aber ist es anders. Jetzt muss jeder geistige und körperliche Arbeiter auch ohne Aufsicht alles hergeben, was in seinen Kräften steht. Nur wenn die Arbeitsproduktivität steigt, sinkt die notwendige Arbeitszeit, steigen Lohn und Lebenshaltung des einzelnen und der Wohlstand der Allgemeinheit.
Wir sind um so reicher, je mehr und je billiger wir produzieren können. Und wir können viel, viel mehr produzieren als vor dem Kriege. Alle roten Fabrikleitungen werden aufgefordert, umgehend anzugeben, für welche Fabrikationszweige sich ihr Werk eignet, wie viel bisher produziert worden ist, um wie viel Prozent die Vorkriegsproduktion voraussichtlich gesteigert werden kann, wenn
a) die Produktion auf wenige Artikel beschränkt wird,
b) wenn nur solche Artikel hergestellt werden, in welchen das Werk besonders leistungsfähig ist,
c) wenn jahraus, jahrein immer dasselbe produziert wird,
d) wenn der ganze Betrieb gründlich rationalisiert wird,
e) wenn in zwei Achtstundenschichten oder in drei Achtstundenschichten oder in vier Sechsstundenschichten gearbeitet wird,
f) wenn auch Sonntags gearbeitet wird.
Alle Fabrikleitungen haben ferner anzugeben, wie viel gelernte oder ungelernte Arbeiter in jedem Falle notwendig sind, und ob der Mehrbedarf im Betriebe angelernt werden kann.
Fast das gesamte europäische Eisenbahnennetz ist in den letzten 5o Jahren entstanden. Ebenso alle modernen Werkseinrichtungen, Riesenstädte und Riesenflotten, gewaltige Industrie- und Hafenanlagen sind gebaut worden. Und in derselben Zeit hat der europäische Kapitalismus für weit über hundert Milliarden Mark Kapital exportiert, für die er im Inlande keine Verwendung mehr hatte. Wir werden in den nächsten zehn Jahren über einen riesenhaft gesteigerten Verbrauch hinaus für weit über hundert Milliarden Mark neue Werte schaffen: Hunderttausende von Kilometern neue Eisenbahnlinien und Straßen bauen, die Wasserkräfte in der ganzen Welt nutzbar machen und die ganze sozialistische Welt elektrifizieren und systematisch nach neuen und günstigen Rohstoffquellen absuchen. Alle unrentablen und rückständigen Betriebe legen wir still, soweit sie nicht zu verbessern sind. Es ist keine kleine, aber auch keine unmögliche Aufgabe, die wir uns da stellen. Wenn wir die Arbeit einiger Millionen aus einer unproduktiven zu einer produktiven machen, so werden dadurch jährlich Milliarden von neuen Werten erzeugt, mit denen man in den folgenden Jahren immer neue Milliarden von neuen Werten herstellen kann. Dasselbe gilt von den Summen, die bisher für Luxusartikel ausgegeben wurden. Die meisten Fabriken, die Kriegsmaterial herstellten, müssen sofort auf den Bau von landwirtschaftlichen Maschinen, von Straßenbaumaschinen, von Automobilen und Traktoren umgestellt werden. Wir müssen in zwei Jahren soweit sein, dass wir jährlich mindestens eine halbe Million Lastautos und Traktoren bauen können. Allein in Russland warten auf uns 15o Millionen Bauern, die wir in unserem eigenen Interesse so bald wie möglich mit den modernsten Maschinen beliefern müssen. Zunächst einmal ist im ganzen Bereich des B. d. S. R. S. alles erreichbare Land unter den Pflug zu nehmen, damit der dringendste Bedarf an Nahrungsmitteln und landwirtschaftlichen Rohstoffen in den nächsten Jahren gedeckt wird. Dann aber wollen wir alle minderwertigen Böden aus der Bewirtschaftung herausziehen und in Wald oder Wiese verwandeln, soweit nicht besondere Anbauarten ihr Bearbeitung lohnend machen. In derselben Zeit ist eine rationelle Saatgutwirtschaft allgemein durchzuführen. Die Produktion von künstlichen Düngemitteln wird gesteigert. Eine ganz gewaltige Aufgabe ist ferner der Austausch des Viehbestandes. In Russland geben z. B. die meisten Kühe kaum ein Drittel soviel Milch wie eine gute deutsche Zuchtkuh. Der Exekutivrat hat deshalb schon jetzt ein Schlachtverbot für alle hochwertigen weiblichen Jungtiere und Kälber in Westeuropa erlassen. Der westeuropäische Fleischbedarf soll, soweit er nicht durch Schlachtung älterer Kühe oder Ochsen befriedigt wird, aus Russland und vom Balkan gedeckt werden, wo der gesamte minderwertige Viehbestand in den nächsten Jahren geschlachtet und durch gute westeuropäische Rassetiere ersetzt werden soll. Aus diesem einen Beispiel allein ist ersichtlich, weshalb der deutsche Arbeiter in der Waggonfabrik jetzt sofort und mit aller Intensität an die Arbeit gehen muss; auch wenn er hungert, schlechtes Brot ohne Butter isst und seine Kinder keine Milch haben. Je eher er an die Arbeit geht, je mehr er leistet, um so früher wird er genügend billiges Brot, billige Butter und billige Milch für sich und seine Kinder haben. Das gilt für alle Arbeiter, besonders aber für die Arbeiter der Gruben und der Schwerindustrie und für alle, die Rohstoffe fördern oder herstellen. Rohstoffe und schwerindustrielle Erzeugnisse brauchen wir in unbegrenzten Mengen. Wir können in den nächsten Jahren nie genug davon produzieren. Deshalb sind alle diese Werke der Gruppe I zugeteilt. Sie werden mit allen nötigen Waren bevorzugt beliefert; sie erhalten das notwendige Kapital zur Erneuerung, zum Ausbau und zur Rationalisierung. Es wird dort sofort die vierfache Sechsstundenschicht und die ununterbrochene Produktion eingeführt, da von diesen Betrieben die Versorgung aller weiteren Industrien abhängt. Hunderttausende von Arbeitern werden umlernen müssen, um in diesen lebenswichtigsten Teil der Wirtschaft arbeiten zu können. In den nächsten Jahren ist jedermann verpflichtet, jede Arbeit, die er verrichten kann, anzunehmen. Ist das nicht eine Einschränkung der persönlichen Freiheit, die sich mit dem System des Sozialismus nicht verträgt? Wer so etwas behauptet, der hat keine Ahnung vom Sozialismus. Sollen wir etwa den arbeitslosen Schuhmacher jahrelang unbeschäftigt lassen, weil wir noch nicht genug Leder in Deutschland haben? In derselben Zeit liegt vielleicht das Leder in Sibirien und kann nicht transportiert werden, weil es an Straßen oder an Automobilen oder an Eisenbahnen oder an Lokomotiven oder an Eisen oder an Kohlen fehlt.
Wäre es nicht ein Wahnsinn, wenn wir unseren Genossen Schuhmacher jahrelang ohne Gegenleistung mit ernährten, anstatt ihn dahin zu schicken, wo die Kohle, das Eisen, die Straßen, die Lokomobilen und die Traktoren produziert werden und wo wir durch den Übergang von der Achtstunden- zur Sechsstundenschicht die Produktion ungeahnt steigern können?
Und wenn unser Genosse Schuhmacher uns nun entgegnet, dass er lieber bei halbem Lohn arbeitslos bleiben wolle, als bei ganzem Lohn Straßen bauen, und dass er nur Interesse für Leder, aber nicht für Straßenbau habe, so werden wir ihm entgegnen: „Lieber Genosse! dein eigenes kleines persönliches Privatinteresse ist im Augenblick gar nicht maßgebend. In den nächsten Jahren haben alle Privatinteressen zu verschwinden und zurückzutreten hinter dem großen Allgemeininteresse. Denn das liegt auch im Interesse jedes einzelnen, der etwas weiter sehen kann als bis an die nächste Straßenecke. Es liegt weder im Interesse der Allgemeinheit noch in dem des einzelnen Arbeiters, wenn Millionen von arbeitsfähigen Menschen von ihren Kollegen mit ernährt werden, ohne zu arbeiten. Arbeitslosenunterstützung ist eine schöne Sache. Im Kapitalismus haben wir sie immer verlangt, und im Sozialismus werden wir sie beibehalten. Aber jeder Fall, in dem sie sich als notwendig erweist, ist ein Armutszeugnis für uns, ist ein Zeichen, dass die Organisation irgendwo nicht klappt. Nur wenn alle Menschen produzieren, und zwar so viel und so rationell wie möglich, kommen wir vorwärts. Dabei ist es in den nächsten Monaten ganz gleichgültig, womit man die freigewordenen Hände beschäftigt, wenn die Tätigkeit, die man ihnen zuweist, nur produktiv ist. Wenn wir zum Beispiel infolge der jetzt noch herrschenden Rohstoffknappheit nicht alle Weber beschäftigen können, ist es da nicht besser, die Weber als Transportarbeiter dahin zu stellen, wo Straßenbaumaschinen geschaffen werden? Diese Maschinen werden in Turkestan Straßen herstellen. Und auf diesen Straßen werden Traktoren anrollen, an deren Herstellung deutsche arbeitslose Spinner mitgewirkt haben. Diese Traktoren aber werden die Felder in Turkestan bearbeiten, auf denen vor allem Baumwolle gedeiht. Und im nächsten Jahre werden Autos angerollt kommen, bei deren Bau gleichfalls arbeitslose deutsche Garnmacher und Strickwarenarbeiter geholfen haben. Endlich wird die Baumwolle nach Deutschland kommen und es uns ermöglichen, die Genossen Weber und Strickwarenarbeiter und Garnmacher und Spinner wieder mit der Arbeit zu beschäftigen, die sie gelernt haben. Und so ist es mit allem!
In Russland, China und Indien wachsen jährlich Millionen von Menschen heran, die auf dem Lande nicht mehr nötig sind und in der Industrie noch nicht unterkommen können. Die Genossen in Russland, China und Indien, die nur über eine sehr schwache Industrie verfügen, sind natürlich außerstande, diese Millionen gleich produktiv zu beschäftigen. Dazu fehlt es an Fabriken, Maschinen und Arbeitsausrüstung. Aber wir können das Fehlende liefern, denn wir haben Fabriken und Gruben und Werke, dank denen wir, wenn wir sie richtig ausnützen, in wenigen Jahren fast den ganzen Weltbedarf an modernster Arbeitsausrüstung decken können. Wenn das geschehen ist, werden wir die Löhne gewaltig erhöhen und die Arbeitszeit in einem kaum vorstellbaren Maße verkürzen können. Wenn es aber so weit kommen soll, dann dürfen wir jetzt in der Hungerzeit nicht den Kopf verlieren und müssen trotz unserer Not produzieren, produzieren, produzieren.
Einige Neunmalkluge meinen, dass es billiger sei, die zur Zeit Arbeitslosen mit halbem Lohn zu unterstützen, als sie zu vollem Lohn arbeiten zu lassen und obendrein die Kosten der Arbeitsausrüstung aufzubringen. Gewiss, wenn wir ebenso kurzsichtig wären wie diese Genossen und nur mit einem Jahre rechnen würden, dann allerdings könnten wir in diesem einen Jahre Geld sparen. Aber wir rechnen mit längeren Zeiträumen und sehen weiter als bis zu unserer eigenen Nasenspitze. Wir wissen, dass es auf die Dauer billiger ist, alle Menschen bei vollen Löhnen produktiv arbeiten zu lassen, auch wenn daraus dem einzelnen zunächst Unbequemlichkeiten erwachsen, auch wenn dadurch das allgemeine Lohnniveau in den ersten Jahren leidet. Um so schneller wird es später steigen, denn wir arbeiten nach sozialistischen und nicht nach kapitalistischen Prinzipien, und wir wissen, dass die Opfer, die wir zunächst bringen müssen, für uns selbst und für unsere Kinder gebracht werden. Deshalb ist es besser, alle Menschen produktiv zu beschäftigen, auch wenn die Resultate ihrer Arbeit vielleicht nicht sofort von Nutzen sind. Sofern sie nicht in anderen produktiven Erwerbszweigen unterkommen können, mögen sie Straßen bauen oder Flüsse regulieren oder Schachtarbeiten machen, auch wenn die dazugehörigen Häuser oder Staudämme oder Elektrizitätswerke oder Schleusen erst in späteren Jahren gebaut werden können. Lasst diese Genossen, wenn sie gesund sind, lieber bei vollem Lohn im Steinbruch arbeiten oder Holz fällen oder sonst wie produktiv arbeiten, als bei halbem Lohn untätig bleiben.
Wir müssen umlernen. Wir müssen lernen, mit ganz anderen Maßstäben zu rechnen als bisher. Und wenn wir auch zunächst alle noch darben und entbehren müssen, in wenigen Jahren werden wir die Erfolge unserer Arbeit sehen.
An die Arbeit!
Produzieren! Produzieren! Produzieren!


Vorwärts - 9. Januar 1919

Das Parlament der Arbeit tagt

Die Gesetze, nach denen die sozialistische Welt geleitet werden soll, werden in den nächsten Tagen beraten. Der Generalrat des B. d. S. R. S. ist noch nicht gewählt. Aber das ist auch nicht maßgebend: die Hauptentscheidungen fallen im Kongress der Internationale. Und was in der sozialistischen Internationale beschlossen wird, das wird durchgeführt. Die Narren und Utopisten, die immer noch glauben, dass wir nach der Machteroberung den Kapitalisten wieder die Freiheit einräumen würden, das Volk im Namen der Demokratie zu beschwindeln, sollten sich endlich eines besseren belehren lassen. Gewiss: wir können den Kapitalismus nicht sofort überall gänzlich ausrotten. Wir haben noch nicht die Kräfte, um alles restlos zu organisieren. So lange wir dies nicht können, müssen wir dem kleinen und mittleren Kapitalisten noch Spielraum lassen, damit er, durch seine Profitsucht angeregt, die Lücken in unserem Produktionsapparat erspäht, die noch durch kleinkapitalistische Produktion oder durch mittelständischen Handel ausgefüllt werden können. Aber diese Lücken werden im Laufe der Jahre immer kleiner werden, je stärker und je schneller wir produzieren. Jedenfalls sind alle entscheidenden Kommandohöhen in unserer Hand. Das Bank- und Versicherungswesen ist ebenso wie die Großindustrie restlos sozialisiert. Aber wir müssen wissen, wie weit wir gehen.
An alle Genossen, die fähig sind, eine leitende Stelle im Produktionsprozess einzunehmen, wird die nächste Zeit ungeheure Anforderungen stellen. Für diese Genossen, die keinen wesentlich höheren Lohn erhalten sollen als die übrigen Arbeiter, wird es in den nächsten Jahren keinen Sieben - oder Achtstundentag, sondern einen Vierzehn- oder gar Sechzehnstundentag geben. Wir werden in den nächsten Jahren beim Aufbau der sozialistischen Wirtschaft sicher viele Fehler machen. Aber wir würden noch mehr Fehler machen, wenn wir uns zuviel zumuteten. Deshalb ist es für uns besser, dem Kleinkapitalismus zunächst noch etwas Bewegungsfreiheit zu lassen, auch wenn er dabei einige Profite machen sollte. Viele Genossen sind anderer Ansicht und verlangen, dass wir gänzlich reinen Tisch machen. Diese Genossen berufen sich dabei auf das Vorgehen unserer Genossen in Russland. Sie übersehen aber, dass dort die Dinge anders lagen. Der Kriegskommunismus, der bisher in Russland herrschte, war notwendig, um den Kapitalisten den Boden unter den Füßen wegzuziehen, um ihnen die Machtmittel zu nehmen, mit deren Hilfe sie den Bürgerkrieg gegen das Proletariat weiterführen konnten. Aus diesem Grunde nahm man ihnen über Nacht alle Fabriken, alle Häuser, alle Geschäfte und allen Boden weg, auch wenn man damit zunächst noch nichts anfangen konnte. Die Produktion ist dabei fast ganz eingestellt worden. Das alles musste in der Zeit des Bürgerkrieges hingenommen werden. Der Kriegskommunismus war aber ebenso wenig Kommunismus, wie der Kriegssozialismus in Deutschland Sozialismus war. Wir müssen jedoch den Kriegskommunismus in den wirklichen Kommunismus, den Kriegssozialismus in den wirklichen Sozialismus verwandeln. Und wir müssen lernen, dass für die Übergangszeit zum Sozialismus andere Gesetze gelten als in der Zeit des Kriegskommunismus und des Bürgerkrieges. Das wissen die russischen Genossen ebenso gut wie wir westeuropäischen Sozialisten. Kriegskommunismus und Bürgerkrieg hätten in Russland vielleicht noch viele Jahre gedauert, wenn nicht durch unser Eingreifen die Revolution im Weltmaßstabe gesiegt hätte. Die Produktion wäre vielleicht ganz zum Erliegen gekommen. Weitere furchtbare Verwüstungen wären entstanden. Diese Gefahr ist nun behoben.
Und das Verschwinden dieser Gefahr ermöglicht es uns, liberaler zu sein. Aber nur in wirtschaftlicher, keinesfalls in politischer Hinsicht. Russland geht uns auch in dieser Hinsicht voran.
Noch in den letzten Tagen des alten Jahres hat Genosse Lenin in Moskau eine Sitzung des Parteiexekutivkomitees einberufen und dort gegen starken Widerstand durchgesetzt, dass mit Beginn dieses Jahres der Übergang zur Neuen Ökonomischen Politik (NEP) vollzogen wird. Im Zeichen des Kriegskommunismus musste man den Kapitalisten möglichst alle wirtschaftlichen Machtmittel wegnehmen. Im Zeitalter der NEP versucht man, alle versteckten Waren auf den Markt zu locken, indem man gestattet, einige Profite zu machen. Diese Waren und die Arbeitskraft der Kleinkapitalisten werden dadurch in den Kreislauf der Übergangswirtschaft einbezogen und gestatten es uns, unsere Kräfte auf die wichtigsten Punkte zu konzentrieren. Wir geben den kleinen und mittleren Kapitalisten also eine gewisse Schonzeit auf wirtschaftlichem Gebiete. Wir können ihnen aber niemals, solange sie sich als Kapitalisten fühlen oder kapitalistisch denken, die politische Gleichberechtigung geben. Deshalb ist die Forderung von Presse- und Koalitionsfreiheit für bürgerliche Parteien idealistisches Geschwätz, wenn sie aus unseren Reihen kommt. Die Bürgerlichen aber wissen sehr gut, was sie damit erreichen wollen. Wir haben in den nächsten Monaten große Widerstände zu überwinden. Vielleicht werden Jahre vergehen, bis wir wieder reichlich zu essen haben und uns gut bekleiden können. Das alles wäre auch nicht anders gewesen, wenn wir den Kapitalismus wieder hergestellt hätten. Wahrscheinlich wäre es aber viel schlimmer gewesen, denn wir hätten auch die Profite für die Kapitalisten aufbringen und an die kapitalistischen Siegerstaaten Kriegsentschädigungen zahlen müssen. Aber die bürgerlichen Parteien und Zeitungen würden alle Missstände als Folgen der Sozialisierung ausgeben. Sie würden sich sehr sozial gebärden und viele Arbeiter mit demokratischen Redensarten dumm machen. Und was würde geschehen, wenn wir so grenzenlos leichtsinnig wären, sie in irgendeinem Staat, in dem sie mit ihren Schwindelparolen Erfolg hatten, an der Macht zu beteiligen. Glaubt man. dass sie die Macht je wieder freiwillig aus der Hand gäben? Nein! Nur ein politischer Säugling kann so etwas glauben. Sie würden bald das wirtschaftliche Übergewicht politisch missbrauchen. Die demokratische Fassade würde nur eine neue Entrechtung des Proletariats verschleiern. Aber selbst wenn die Kapitalisten die ehrlichen Demokraten wären, die sie nicht sind und nie waren, welchen Sinn hätte es, ihnen die politische Freiheit zu geben? Kann man etwa vier Jahre lang kapitalistisch produzieren und dann, falls die nächste Wahl den Sozialisten die Mehrheit bringt, vier Jahre lang sozialistisch, und dann nach weiteren vier Jahren mal wieder kapitalistisch, und so weiter? Das wäre Wahnsinn. Jeder Versuch, den Kapitalismus als vorherrschende Wirtschaftsform in Asien, Europa oder Afrika wieder einzuführen, muss daher mit allen Mitteln unterdrückt werden. Demokratie für alle, die ehrlich am Aufbau des Sozialismus mitarbeiten! Aber keine Demokratie für Verbrecher, die ihre eigenen persönlichen Interessen im Gegensatz zum Allgemeinwohl durchsetzen wollen! Erst wenn der Sozialismus nicht nur die vorherrschende, sondern die allein herrschende Wirtschaftsform in der ganzen Welt geworden ist, gibt es überhaupt eine wirkliche Demokratie. Für die Übergangszeit, in der wir uns jetzt befinden, kann es nur eine Demokratie innerhalb der sozialistischen Partei geben. Aber auch die hat ihre Grenzen. Wir sind jetzt die alleinherrschende Partei. Jeder, der politisch etwas erreichen will, wird versuchen, sich ein sozialistisches Mäntelchen umzuhängen, um in unsere Partei aufgenommen zu werden. Das müssen wir verhindern. Jeden Kandidaten, der sich um die Aufnahme bemüht, muss man auf Herz und Nieren prüfen. Ebenso müssen die Mitglieder der Partei von Zeit zu Zeit geprüft werden. Es ist die höchste Ehre, Mitglied der sozialistischen Partei zu sein, aber diese Ehre verpflichtet. Wer nicht imstande ist, alle persönlichen Interessen hinter das Wohl der Partei und das Wohl des ganzen Proletariats zu stellen, gehört nicht zur Kerntruppe des Sozialismus, gehört nicht in die Partei. Erst wenn unsere Macht sich gefestigt hat, werden wir in der Lage sein, die Todesstrafe für Saboteure aufzuheben. Für korrupte Parteiangehörige aber muss die Todesstrafe noch lange aufrechterhalten bleiben, denn sie sind schlimmere Feinde als die Kapitalisten. Um die Korruption in den Reihen unserer Mitglieder auf ein Mindestmaß einzuschränken, wird ein Einkommensmaximum (etwa 500 Goldmark im Monat) festgelegt, das von keinem Parteigenossen überschritten werden darf, selbst wenn er die höchsten Posten bekleidet. Aber auch dieses Höchstgehalt erhalten nur ganz wenige Genossen, die infolge ihrer Stellung besonders hohe Aufwendungen haben. Im allgemeinen dürfen führende Funktionäre nicht mehr als das Anderthalbfache des Lohnes eines qualifizierten Arbeiters verdienen; nur so kann die Homogenität der Partei gewahrt bleiben.
Das sind ungefähr die Richtlinien, die in den Ausschüssen aufgestellt worden sind. Wir zweifeln nicht daran, dass sie im Plenum angenommen werden.


Vorwärts - 16. Januar 1919

Zehn Millionen Freiwillige vor!

Die Arbeit kommt in Gang. Stockend zwar, aber es geht. Überall fehlt es jedoch an Rohstoffen. In den Kohlengruben wird fieberhaft gearbeitet, aber es fehlt an Kräften. In allen Gruben ist jetzt die dreifache Achtstundenschicht eingeführt worden. Die Produktionsmöglichkeiten sind trotzdem noch längst nicht voll ausgenützt. Zehntausende von Arbeitern sind noch nötig, damit das dreifache Schichtwechselsystem sich voll auswirkt. Hunderttausende aber sind nötig, um zur Sechsstundenschicht übergehen zu können. Zehntausende von Freiwilligen werden gebraucht, um den Wiederaufbau der im Kriege zerstörten Gruben und Fabriken zu beschleunigen. Weitere Tausende für die Erzgruben in Longwy, Briey und in Lothringen, ebensoviel zur völligen Ausnutzung der Eisenerzgruben in Bilbao und in Norwegen.
Aber das alles ist noch gar nichts gegen die Aufgaben, die im Osten zu erfüllen sind. Einige Millionen Arbeiter, Angestellte, Techniker und Lehrer müssen sofort anfangen, östliche Sprachen zu erlernen. Die Gewerkschaften und Betriebsräte beginnen bereits mit der Organisation des Unterrichts. Besonderer Wert wird auf die Erlernung folgender Sprachen gelegt: Russisch, Polnisch, Chinesisch (wenigstens die Anfangsgründe), Türkisch, Hauptsprachen Indiens, Indonesiens und Afrikas. Der Unterricht im Englischen und Französischen ist nicht halb so wichtig, denn in Gegenden, wo diese Sprachen besonders viel gesprochen werden, wird man vorzugsweise englische und französische Genossen entsenden. Wir werden Zehntausende von Arbeitern nach England und Frankreich abgeben müssen, um die dortigen Produktionseinrichtungen voll ausnutzen zu können, dagegen Hunderttausende, wenn nicht Millionen, nach Russland, Asien und Afrika, um dort qualifizierter industrieller Produktion Eingang zu verschaffen. Umgekehrt werden, sobald sich bei uns Arbeitermangel bemerkbar macht, Hunderttausende von ungelernten russischen Arbeitern nach Deutschland kommen, die wir anlernen und in die Produktion einreihen müssen. Die Tankfabriken in Frankreich und England werden in vierfacher Tag- und Nachtschicht auf Traktorenbau umgestellt. In einem Monat sollen die ersten tausend Traktoren nach Russland abgehen, um große unbebaute Bodenflächen noch so rechtzeitig zu bearbeiten, dass sie mit Sommergetreide besät werden können. Für jeden Traktor brauchen wir drei Führer und drei Hilfsarbeiter, die einige landwirtschaftliche Kenntnisse besitzen müssen. Die Zahl der Traktoren aber wird sich in einem Jahre um hunderttausend, in wenigen Jahren um jährlich eine halbe Million vermehren, und im gleichen Maße wird die Zahl der zu entsendenden landwirtschaftlichen Fachleute steigen. Sie alle müssen inzwischen Russisch lernen und sich die Elementarkenntnisse des Marxismus so weit aneignen, dass sie für den Sozialismus werben können. Sie müssen überdies fähig sein, den russischen Bauern das Lesen und Schreiben beizubringen, damit so schnell wie möglich der Analphabetismus in Russland verschwindet.
Jeder Genosse muss versuchen, sich technisch soweit weiterzubilden, so dass er nachrückenden ungelernten Arbeitern Platz machen kann, indem er selbst eine qualifiziertere Arbeit verrichtet.
Für die Kalibergwerke brauchen wir sofort zehntausend neue Arbeiter, damit die landwirtschaftliche Produktion im nächsten Jahre gesteigert werden kann. Zehntausende von begabten jungen Arbeitern müssen sofort auf den Besuch der Baugewerks- und Maschinenbauschulen, der Universitäten und der technischen Hochschulen vorbereitet werden; Zehntausende von intelligenten Landarbeitern und von Söhnen mittlerer und kleinerer Bauern auf den Besuch landwirtschaftlicher Schulen und Hochschulen.
Das ist ein kleiner Teil unserer Aufgaben. Tausende andre stehen uns noch bevor. Wartet nicht, Genossen, bis sie euch gezeigt werden, seht sie selbst! Jetzt ist die Hauptaufgabe der Gewerkschaften die Organisierung dieser Arbeiten. Streiks gibt es nicht mehr. Die Gesamtheit der Arbeiter, Bauern und Angestellten erhält soviel Lohn, wie sie produziert, abgezogen die Summen, die zur Erweiterung der Produktion oder für allgemeine soziale Zwecke dienen. Steigerung der Produktion ist die Hauptaufgabe der Betriebsräte, der Parteizellen, der roten Direktoren. Der beste Revolutionär ist jetzt nicht mehr der, der am besten agitiert, sondern der, der am meisten zur Vermehrung der Produktion und zur Verminderung des Bureaukratismus beiträgt. Gewiss, wir müssen auch weiter agitieren; aber agitieren heißt jetzt vor allem: arbeiten und lernen, volkswirtschaftliche Kenntnisse erwerben und verbreiten. Die beste Agitation ist die Vorbereitung der ungeheuren Arbeiten, die wir zu leisten haben. Ein wirklicher Revolutionär darf in den nächsten Jahren keine Stunde seiner Freizeit verlieren. Er muss lernen und sich darauf einstellen, jede neue Aufgabe mit stärkster Intensität anzufassen und zu bewältigen.
Revolutionär sein heißt jetzt: Arbeiten! Arbeiten an sich selbst und an anderen. Arbeiten an der eigenen Fortbildung und an der Aufklärung der anderen. Vor allem aber: Arbeiten an der Steigerung der Produktion.


Vorwärts - 23. Januar 1919

Die Beschlüsse des Generalrats

Der General rat des Bundes der Sozialistischen Räte-Staaten, der nach Ankunft der chinesischen und koreanischen Vertreter jetzt vollzählig versammelt ist, hat folgende Beschlüsse der sozialistischen Internationale unverändert angenommen:
1. Beschluss über die Aufhebung des Privateigentums an Grund und Boden und an Bodenschätzen.
2. Beschluss über die Sozialisierung aller Bäder, Kurorte, Schlösser, Villen, Miethäuser, Finanzinstitute, Eisenbahnen und sonstigen Verkehrsmittel, Forschungsinstitute und aller anderen Betriebe mit mehr als hundert Beschäftigten.
3. Beschluss über die allgemeine Einführung des Achtstundentages und über die Einführung des Sieben- oder Sechsstundentages in besonders gesundheitsschädlichen Beschäfschäftigungszweigen und in Betrieben, deren Produktion zur Versorgung aller anderen Industrien besonders gesteigert werden muss.
4. Beschluss über den bezahlten Mindesturlaub von 14 Tagen für alle Arbeiter und Angestellten und den vierwöchigen Urlaub für alle Untertagearbeiter, für die Arbeiter in gesundheitsschädlichen Betrieben und für Jugendliche bis zur Vollendung des zwanzigsten Lebensjahrs.
5. Beschluss über die Errichtung von Arbeiterfakultäten an allen Hochschulen.
6. Beschluss über unentgeltliche Unterbringung aller beurlaubten Werktätigen in Kurorten und Erholungsheimen, soweit die vorhandenen Betten nicht durch Kranke belegt sind.
7. Beschluss über die Lehr- und Lernmittelfreiheit, die freie Beköstigung aller Kinder von werktätigen Eltern und über die Errichtung von Kinderheimen.
8. Beschluss über die Vorarbeiten zur Schaffung einer Einheitswährung.
9. Beschluss über die Richtlinien für die Friedensverhandlungen mit Amerika und Japan, die am 26.1.1919 in London beginnen.
10. Beschluss über die Fortführung der Verhandlungen mit Australien wegen Garantie einer ständigen Majorität der weißen Rasse und über das Zugeständnis einiger Reservatrechte für die weißen Arbeiter in Südafrika auf die Höchstdauer von 5 Jahren.
11. Beschluss über die Streichung aller früheren Schulden zwischen Gliedstaaten des B.d.S.R.S. und über die Aufhebung aller Zollgrenzen innerhalb des B.d.S.R.S.
12. Beschluss über die Aufrechterhaltung des Privateigentums an Vieh, Geräten und Maschinen in klein- und mittelbäuerlichen landwirtschaftlichen Betrieben.
13. Beschluss über die Einführung der Welthilfssprache Esperanto als Pflichtfach in allen Schulen und höheren Lehranstalten.


Vorwärts - 25. Januar 1919

Weitere Kürzung der Brotration

Es ist immer noch nicht gelungen, eine genaue Übersicht über die in diesem Erntejahre verfügbaren Getreidevorräte zu gewinnen. Die vorübergehende Besetzung Deutschlands durch die kapitalistischen Armeen hat eine Lockerung der Organisation hervorgerufen, die noch nicht gänzlich behoben ist. Die Umwandlung des Rohstoff- und Nahrungsmittelversorgungsapparates in einen gemischten staatssozialistischen und genossenschaftlichen Betrieb, die Verschmelzung aller genossenschaftlichen und mittelständlerischen Einkaufsgesellschaften ist noch nicht beendet. Die Eingliederung der „Edeka" in die G. E. G. ging zwar verhältnismäßig glatt vor sich; aber bei vielen landwirtschaftlichen Genossenschaften, die von reaktionären Landbündlern geleitet wurden, sind Schwierigkeiten entstanden, die jedoch bald behoben sein dürften. Ende Februar soll die Organisation der Zentraleinkaufsgesellschaft (Z.E.G.) durchgeführt sein. Die Z. E. G. wird nach und nach alle Aufgaben der früheren Kriegsgesellschaften übernehmen. Erst im März werden wir einen genauen Überblick über die vorhandenen Nahrungsmittel haben. Bis dahin tappen wir im Dunkeln und müssen uns auf alles gefasst machen. Die russischen Genossen, die selbst außerordentlich knapp sind, haben sich bereit erklärt, ein Zehntel alles requirierten Getreides nach Deutschland zu senden. Dies Angebot ist aber vom Rat der Volksbeauftragten abgelehnt worden, da es den russischen Arbeitern im Augenblick noch schlechter geht als uns. Sie sollen ihre Kraft auf zwei Punkte konzentrieren. Erstens: sofort die industrielle Produktion überall wieder aufzunehmen, wo es noch nicht geschehen ist. Zweitens: sofort umfangreiche Vorarbeiten zu treffen, dass die Bodenflächen, die infolge des Bürgerkrieges nicht mit Wintersaat bestellt wurden, in möglichst großem Umfange mit Sommersaat und Futtermitteln bestellt werden.
Aus Zentralrussland können wir also in diesem Erntejahr nichts erwarten. Dagegen ist mit Zuschüssen aus Polen, Rumänien, der Ukraine und dem Balkan zu rechnen, die freilich nicht hoch zu veranschlagen sind. England, Frankreich und Spanien können uns im Notfall mit geringen Mengen unterstützen. Die Zentralräte dieser Länder haben bereits eine Kürzung der dortigen Rationen vorbereitet. Diese Maßnahme soll aber nur in Kraft treten, falls der Krieg mit Amerika und Japan weiter geht. In diesem Fall müssen im B. d. S. R. S. die schärfsten Zwangsmaßnahmen durchgeführt werden. Wir sind in der Lage, Amerika und Japan zu besiegen. Aber es würde weitere gewaltige Opfer von uns verlangen. Die Opposition ist der Ansicht, dass wir diese Opfer auf jeden Fall auf uns nehmen müssen, um die ganze Erde sofort vom Kapitalismus zu befreien. Amerika ist aber schwer zu besiegen. Ja, wenn es die Offensive gegen die Revolution fortgesetzt und auf europäischem Boden weitergekämpft hätte, dann wäre es ein Leichtes gewesen. Jetzt aber müssten wir den Krieg auf den amerikanischen Kontinent hinübertragen und so lange offensiv führen, bis uns in den Vereinigten Staaten genügend revolutionäre Hilfstruppen erstünden. Wir müssten alle unsere Kräfte auf diesen Kampf, statt auf den wirtschaftlichen Aufbau, konzentrieren. Deshalb unterstützen wir die Ansicht des Genossen Lenin, der den Frieden mit Amerika unter gewissen Bedingungen annehmen will. ' Kommt der Friede zustande, so wird es schnell gelingen, unsere Nahrungssorgen zu beseiligen. Wir können dann unsere Kraft dem wirtschaftlichen Wiederaufbau widmen und gewinnen Zeit für die Industrialisierung. Warten wir ab, welche Vorschläge uns die Amerikaner morgen machen!


Vorwärts - 1. Februar 1919

Der Vertrag von London

Folgendes sind die wichtigsten Punkte der Friedensverträge mit den Vereinigten Staaten und Japan: Die Vertragschließenden verpflichten sich, jede revolutionäre oder gegenrevolutionäre Agitation in dem Gebiet des Vertragspartners zu unterlassen.
Der sozialistische Staatenbund anerkennt alle Vorkriegsinvestitionen der Regierung sowie von Körperschaften und Bürgern der Vereinigten Staaten von Amerika im Gebiet des jetzigen B.d.S.R.S.
Die Vereinigten Staaten anerkennen den Anspruch des B.d.S.R.S. auf das gesamte Eigentum europäischer Bürger, Körperschaften und Staaten in Nord-, Süd- und Mittelamerika.
Der sozialistische Staatenbund tritt in all diese Eigentumsrechte ein und setzt sich mit den früheren Eigentümern nach eigenen Gesetzen auseinander. Die Vereinigten Staaten von Nordamerika sind prinzipiell bereit, diese Eigentumsrechte des B. d. S. R. S. käuflich zu erwerben. Die U. S. A. werden dadurch nach und nach Eigentümer aller früheren europäischen Besitzungen in allen Staaten des amerikanischen Kontinents.
Der B. d. S. R. S. verpflichtet sich, ohne Erlaubnis der U. S. A. keine neuen Investitionen in Süd- und Mittelamerika vorzunehmen.
Die eingangs anerkannten amerikanischen Investitionen im Gebiet des B. d. S. R. S. werden gegen die europäischen Guthaben aufgerechnet. Die Mehrbeträge zugunsten des B.d.S.R.S. werden von Amerika an den B. d. S. R. S. zurückgezahlt.
Die Kriegsschulden werden nicht anerkannt.
Die Vereinigten Staaten von Nordamerika verzichten offiziell auf die Philippinen und auf die Erwerbung irgendwelcher Territorien außerhalb Amerikas.
Der Sozialistische Staatenbund unterlässt jede Einmischung in die inneramerikanischen Verhältnisse, Amerika unterlässt jede Einmischung in die inneren Verhältnisse des B.d.S.R.S.
Der Sozialistische Staatenbund verzichtet offiziell auf Kanada, die Bermudas und die früheren englischen, französischen und holländischen Kolonien in Cayenne, die sämtlich von den U.S.A. annektiert werden. Japan verzichtet offiziell auf Korea.
Das in China, Korea und Sibirien angelegte japanische Kapital wird gegen die europäischen Investitionen in Japan aufgerechnet.


Vorwärts - 6. Februar 1919

Sollen wir ratifizieren?

Wir haben uns in den Meinungskampf über Ratifizierung oder Ablehnung der Friedensverträge nicht eingemischt. Da aber die Befürworter der Ablehnung in den letzten Tagen ausführlich zu Worte gekommen sind, werden wir jetzt doch einmal die Gründe erwähnen, die für eine Ratifizierung der Friedensverträge und gegen die Wiederaufnahme des Krieges sprechen. Mit Japan wäre leicht fertig zu werden. Aber Amerika erklärt sich mit dem früher so verhassten Japan solidarisch. Ein Krieg mit Amerika würde aber ganz gewaltige Opfer von uns verlangen und vielleicht Jahre dauern. Die Vereinigten Staaten können sich zunächst auf die reichen Hilfsquellen des ganzen Kontinents stützen, der vom Weltkrieg überhaupt nicht betroffen wurde. Wenn wir auch schließlich Süd- und Mittelamerika für den Sozialismus erobern und beim Endkampf, sofern wir ihn mit äußerster Schärfe führten, auf Bundesgenossen in der farbigen und proletarischen Bevölkerung der Union rechnen könnten; der Kampf würde auf jeden Fall schwer sein und sehr lange dauern. Die Jahre, die wir dazu brauchten, wären für den sozialistischen Aufbau verloren. Wir würden vielleicht Millionen unserer besten und tapfersten Genossen opfern und dabei vor Rückschlägen in unserem eigenen Bundesgebiet nicht sicher sein. Ist es nicht besser,
all diese Kräfte für den sozialistischen Aufbau einzusetzen und uns dabei die kapitalistischen Hilfsquellen Amerikas nutzbar zu machen, selbst wenn wir den amerikanischen Kapitalisten dabei große Profite zugestehen müssen? Es ist doch bezeichnend, dass gerade die russischen Genossen, die schon mehr Erfahrungen gesammelt haben als wir, für den Friedensschluss eintreten.
Man wirft uns vor, dass wir dasselbe beabsichtigen, was die deutschen Reformisten nach Abschluss des Waffenstillstandes machen wollten. Das stimmt aber nicht. Die Ebert, Scheidemann, Noske wollten sich mit dem deutschen und dem Ententekapital verbinden. Sie wollten nicht nur Deutschland auf scheindemokratisch-kapitalistischer Basis „wiederherstellen", soweit es die Ententekapitalisten zuließen, nein: Deutschland sollte zerstückelt werden und außerdem ungeheure Reparationszahlungen an die kapitalistischen Machthaber der Entente leisten. Dieselben „Genossen" waren sogar bereit, dem schändlichen Verlangen der Ententekapitalisten nachzukommen und die Revolution in Russland und in den Randstaaten zu bekämpfen. Sie waren ausnahmslos bereit, die Revolution, den Sozialismus zu verraten! Vergleichen wir einmal, wie es gekommen wäre, wenn sie ihre schändlichen Pläne durchgeführt hätten, und wie es voraussichtlich kommt, wenn wir jetzt mit Amerika Frieden schließen.
Im erstgenannten Fall wäre der Kapitalismus in ganz West - und Mitteleuropa wieder hergestellt worden. Die proletarische Revolution wäre nur in Russland siegreich geblieben, das sich, wenn überhaupt, nur unter ungeheuren Opfern seiner Gegner erwehrt hätte. Russland wäre durch den Bürgerkrieg fast vollständig zerstört worden. Es hätte mit dem sozialistischen Aufbau erst nach vielen, vielen Jahren beginnen und nur sehr langsame Fortschritte machen können. Russland ist ein Land mit einer sehr schwachen Industrie und einer mittelalterlichen Landwirtschaft. Die Bevölkerung ist arm und besteht größtenteils aus Analphabeten. Um auf diesem denkbar ungeeigneten Gebiet gegen eine Welt von Feinden siegen zu können, müsste der Sozialismus wirklich noch größere Wunderkräfte entwickeln, als wir es erwarten.
Die proletarische Revolution ist indessen nicht mehr auf ein unentwickeltes, zurückgebliebenes Land beschränkt, sondern sie hat den größten Teil der Erde erfasst. Wir haben die Fabriken, Gruben und Bergwerke. Wir brauchen die Produktion nur zu steigern und neu zu organisieren, um sozialistisch wirtschaften zu können. Russland allein aber müsste, auf sich allein gestellt, alle Grundlagen und Voraussetzungen erst mit unvollkommenen Mitteln schaffen. Russland müsste zunächst alles nachholen, was der Kapitalismus in Westeuropa in den letzten hundert Jahren auf Kosten der arbeitenden Klasse geleistet hat. Das wäre eine unausdenkbar schwere Aufgabe, deren Lösung wir uns kaum vorstellen können.
Wie aber ist die Lage in Wirklichkeit? Eine kapitalistische Welt steht einer sozialistischen Welt im Konkurrenzkampf gegenüber. Wir anerkennen zwar die Ansprüche der Amerikaner an ihrem europäischen, asiatischen, afrikanischen und australischen Eigentum, aber wir leisten keine Reparationszahlungen. Und gleichzeitig treten wir die Erbschaft unserer früheren kapitalistischen Herren an. Die Differenz zwischen den europäischen Investitionen in Amerika und den amerikanischen in Europa ist erheblich größer als die Summe von 10 Milliarden Dollars, die Amerika uns als Pauschalentschädigung anbietet. Diese Regelung wäre also für Amerika ein glänzendes Geschäft, denn es erhielte an Stelle sehr zweifelhafter Kriegsforderungen reelle und gut fundierte Besitztitel. Der ganze amerikanische Kontinent käme finanziell restlos in die Hand des nordamerikanischen Kapitals. Die amerikanische Wirtschaft, die während des Krieges in das imperialistische Stadium eingetreten ist, wäre auf Jahre hinaus aller Sorgen enthoben. Alle Produktionsüberschüsse könnten mühelos abgesetzt werden, die Industrie könnte weiter gewaltig ausgebaut werden. Amerika kann sich zum idealen kapitalistischen Staat entwickeln. Es verfügt über die allerbesten Bedingungen, die jemals für den Kapitalismus vorhanden waren oder vorhanden sein werden. Drüben „fair play" für den Kapitalismus, bei uns „fair play" für den Sozialismus. Ein gigantischer Wettstreit wird entbrennen. Wer wird siegen auf der Wirtschaftsfront? Wir sind nicht so optimistisch, um dem Kapitalismus in Amerika den baldigen Zusammenbruch zu prophezeien. Wir geben dem Kapitalismus eine unerhört gute Chance. Wir geben sie ihm aber nur, weil die Bedingungen, unter denen es geschieht, auch für uns günstig sind. Tausendmal günstiger als die Fortsetzung des Krieges mit militärischen Mitteln. Wir sind zu stark, um von Amerika besiegt werden zu können. Wir sind zu schwach, um Amerika leicht besiegen zu können. Deshalb empfehlen wir die Annahme des Friedensvertrages mit Japan und Amerika.


Vorwärts - 15. Februar 1919

Der wirtschaftliche Wettkampf beginnt
Die Friedensverträge sind ratifiziert

Nach Ratifizierung der Friedensverträge sind sofort für fünf Milliarden Goldmark Bestellungen in Amerika aufgegeben worden. Das ist eine große Summe, aber doch nur ein Tropfen auf einen heißen Stein; denn diese fünf Milliarden Waren, die wir zunächst erhalten werden, verteilen sich auf fast die ganze Welt. So wie wir nach Brotgetreide schreien, so schreien die russischen und chinesischen Genossen nach Maschinen und Eisenbahnen. Die 10 Milliarden, die wir in den nächsten zehn Jahren erhalten, entheben uns nicht der Notwendigkeit, ganz gewaltige Summen zu akkumulieren. Nach den vorläufigen Plänen des Obersten Wirtschaftsrates sollen in den nächsten zehn Jahren mindestens fünfhundert Milliarden Goldmark in den unentwickelten Bezirken des Bundesgebietes investiert werden. Das ist die Mindestsumme, die aufgebracht werden muss, bevor ein Vergleich der sozialistischen mit der kapitalistischen Welt möglich ist. So lange müssen wir mit äußerster Kraft arbeiten und keine Opfer und Entbehrungen scheuen. Wir werden auf lange Zeit hinaus niedrigere Löhne zahlen als die amerikanischen Kapitalisten, wir werden noch eine gewisse Zeit darben müssen und trotzdem von jedem Genossen äußerste Anstrengung verlangen. Wir werden jeden Tag in die Gehirne hämmern: mehr arbeiten, mehr produzieren, mehr rationalisieren! Millionen von Menschen müssen sich völlig umstellen. Wir verlangen von jedem, dass er seine Bequemlichkeit und seine vermeintlichen Sonderinteressen zugunsten des Allgemeinwohls zurückstellt. Der Sozialismus wird die Menschheit nicht nur von der Ausbeutung durch andere Menschen befreien, sondern auch von der Last einer langen Arbeitszeit. Aber erst müssen überall die wirtschaftlichen Voraussetzungen geschaffen werden. Der Sozialismus wird die Produktivität der menschlichen Arbeit ganz gewaltig erhöhen, aber vorerst müssen alle Naturkräfte in unseren Dienst gestellt, muss das ganze Bundesgebiet mit den besten Maschinen und einem Höchstmaß von motorischen Kräften ausgestattet werden. Soll der Sozialismus die jetzige Arbeitszeit um die Hälfte verkürzen, so müssen alle Hand- und geistigen Arbeiter, die durch Rationalisierung freigesetzt werden können, an ihrer eigenen Freisetzung mitarbeiten und sich mit Aufbietung aller Energie auf neue Arbeiten und Aufgaben vorbereiten. Jeder muss sich täglich und stündlich sagen: Alles was geschieht, geschieht in meinem Interesse. Alle Opfer, die gebracht werden, werden für mich und meine Kinder und nicht für eine Herrenklasse gebracht.
Genossen, erkennt diese Aufgabe! Rüttelt alle Lauen und Gleichgültigen auf! Spornt sie an, damit sie alle bewusst teilnehmen an der großen Arbeit, an der Industrialisierung und Elektrifizierung der Welt, am Aufbau der sozialistischen Gesellschaft!


Vorwärts - 15. März 1919

Aufklären! Arbeiten! Rationalisieren!
Die neuen Wirtschaftsbezirke

Zwei wichtige Beschlüsse sind in den letzten Tagen gefasst worden. Das Prinzip der freiwilligen Zugehörigkeit der bisherigen Bundesstaaten zum B.d.S.R.S. wurde durch einstimmigen Beschluss aufgehoben. Unser Bund trägt von heute ab den Namen: Sozialistische Union.
Die S. U. ist ein unteilbares Ganzes. Mit Ausnahme von geographisch scharf abgegrenzten Gebieten wird die Unterteilung nach rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten vorgenommen. Die völlige kulturelle und nationale Freiheit, die wir allen Menschen geben, gestattet es uns, die zufälligen Sprachgrenzen, die oft durch zusammengehörende Wirtschaftsgebiete laufen, zu ignorieren. Das lothringische Erz und die Ruhrkohle gehören zusammen. Die wirtschaftliche Vereinigung des ganzen Rheingebietes wird uns Rationalisierung und Erhöhung unserer Produktion bringen. Indem wir die Souveränität der deutschen, französischen, luxemburgischen, belgischen und holländischen Gebiete aufheben, machen wir die bisherigen unsinnigen Produktionsumwege überflüssig. Die Bedenken der Hamburger Genossen sind nicht stichhaltig. Es ist richtig: Millionen von Zentnern, die bisher über Hamburg gegangen sind, werden in Zukunft ihren Weg über die früheren belgischen und holländischen Häfen nehmen. Aber unser Überseeverkehr wird in den nächsten Jahren so gewaltig steigen, dass die Hamburger Anlagen, wie sie heute sind, nicht einmal genügen werden. Spanien, Südostfrankreich, Italien, Albanien und Nordafrika werden für besondere wirtschaftliche Aufgaben in einer Mittelmeerföderation mit lockerer Gliederung vereinigt. Südbayern und Südböhmen gehören zur Donauföderation. Norwegen bleibt wegen der gleichstarken Beziehungen zu verschiedenen Wirtschaftsgebieten selbständig. Schweden übernimmt die Industrialisierung von Finnland und Karelien und wird mit diesen Gebieten zu einem einheitlichen Wirtschaftsgebiet vereinigt. Ein selbständiges Wirtschaftsgebiet wird gebildet aus Schlesien, Teilen von Mähren, Galizien, den Westkarpaten und dem südpolnischen Industrierevier. Dieses Wirtschaftsgebiet mit seinen großen Reichtümern erhält in nächster Zeit erhebliche Zuschüsse. Der schnelle Ausbau dieses Gebietes ist gleich wichtig für Russland wie für das Oder-, Weichsel- und Donaugebiet. Die Vorarbeiten für eine Verbindung der Weichsel, Oder und Donau sollen sofort aufgenommen werden.

Der kulturelle Aufbau
In allen Föderationen ist die sozialistische Erziehung obligatorisch, über die Unterrichtssprache entscheiden bis zum zwölften Lebensjahre die Eltern, von da ab das Kind selbst. Wo versprengte nationale Minderheiten in so geringer Zahl leben, dass sich die Errichtung einer eigensprachlichen Schule nicht lohnt, werden die Kinder oder Studierenden auf Allgememkosten in Kinderheimen untergebracht, in denen genügend Kinder derselben Sprachzugehörigkeit zusammenkommen. Alle Nationen wählen sich ein kulturelles Zentrum, das auch für alle Angehörigen derselben Sprachgemeinschaft zuständig ist, die Tausende von Kilometern entfernt, in Gebieten mit anderssprachiger Bevölkerung leben. Auf Wunsch von zehntausend werktätigen Angehörigen einer nationalen Minderheit ist eine eigensprachliche Universität zu errichten. Die Kosten müssen von dem Wirtschaftsgebiet getragen werden, in dem die Hochschule liegt.

Die Finanzhoheit
für das gesamte Gebiet der S. U. steht ausschließlich dem Zentralrat zu. Das gesamte sozialisierte Eigentum im ganzen Bundesgebiete gehört ausschließlich der S.U., nicht dem einzelnen Wirtschaftsgebiete. Für die Dauer von zehn Jahren erhalten alle selbständigen Wirtschaftsgebiete volle Selbstverwaltung unter strenger Beobachtung folgender Gesetze :
Alle hoch entwickelten Industriegebiete haben bestimmte Akkumulalionsraten an die S. U. zu zahlen. Zur Festsetzung der Quote ist festzustellen, wie viel Produktionskapital und wie viel Pferdekräfte auf den Kopf der Bevölkerung entfallen. Diese Pflichtabgaben und ihre unentgeltliche Verteilung an die unerschlossenen Bezirke sollen dazu beitragen, allen Gebieten der S.U. eine gleichmäßige Entwicklungsmöglichkeit zu sichern. Andrerseits sollen die einzelnen Gebiete durch gewisse Freiheiten angespornt werden, die Produktion so weitgehend wie möglich zu steigern. Sobald jedoch in einem Bezirk das durchschnittliche Lebenshaltungsniveau um mehr als 30 % überschritten wird, ist die Hälfte der Mehrproduktion dem Zentralrat der S. U. zur Verfügung zu stellen, der diese Mittel insbesondere den unentwickelten Gebieten der Union zufließen lässt.

Die Mieten für Altwohnungen
sind im ganzen Bereich der S.U. bis spätestens 31.XII. 1920 auf Friedenshöhe zu bringen. Soweit der Mietertrag 10 Mark pro Kopf der Bevölkerung übersteigt, ist er an den Ausgleichsfonds der S.U. abzuführen. Die im Krieg zerstörten Gebietsteile sind von dieser Abgabe befreit und erhalten Zuschüsse aus dem Ausgleichsfonds.


Vorwärts - 31. März 1919

Einheitswährung und Stabilisierung

Der Zentralexekutivrat der Sozialistischen Union ist in den letzten Tagen heftig angegriffen worden, weil die Frage einer stabilen Einheitswährung noch nicht rascher gelöst worden ist. Nun: von morgen ab haben wir — zunächst nur für den Verkehr mit dem kapitalistischen Ausland — als stabile Einheitswährung die neue Mark. Ihr Wert entspricht genau dem eines Vierteldollars. Das ist keine Verbeugung vor dem Kapitalismus, sondern eine Rationalisierungsmaßnahme auch für unseren inneren Geldverkehr und für unsere Statistiken, die in Zukunft von außerordentlichem Werte sein werden. Auch musste eine jedermann leicht verständliche Grundlage geschaffen werden. All diese Gründe sprachen dafür, von den gebräuchlichsten Vorkriegswährungen nicht allzu sehr abzuweichen.
Nach der neuen Regelung wird der Goldwert der neuen Mark, die die Einheit der neuen Währung bilden soll, gleich einem Vierteldollar sein. Schilling und Mark werden gleichgesetzt. Zwanzig Mark sind also gleich einem Pfund oder gleich fünf Dollars. Trotz diesen Abweichungen vom Vorkriegskurswert wird hierdurch ein ziemlich genauer Vergleichsmaßstab mit der Produktion, den Löhnen und dem Geldumlauf der Vorkriegszeit gewonnen. Für die Staaten, die bisher romanische Währung hatten, ist dieser Vergleich etwas schwerer. Er wird aber durch folgende Maßnahme erleichtert: Nach Einführung der neuen Währung auch im Inlande sollen außer Ein-, Zwei-, Drei- und Fünfmarkstücken auch Viermarkstücke für Frankreich, Italien und die Donauländer herausgegeben werden. Diese Viermarkstücke entsprechen einerseits dem Dollar, andererseits hundert französischen Sous.
Unsere ungeduldigen Genossen werden nun sagen: das wäre ja alles ganz schön, wenn wir die feste Währung nur erst im Inlandsverkehr hätten, damit wir erst einmal richtig rechnen und wirtschaften könnten. Aber darin liegt gerade der große Fehlschluss. Erst müssen wir rechnen lernen, und dann können wir die neue Inlandswährung einführen. Wir haben den größten Wert darauf gelegt, dass überhaupt produziert wird, ohne die Kosten zu berücksichtigen. Das war richtig, denn wir haben damit die Produktion erst mal wieder in Gang gebracht. Jetzt aber müssen wir rechnen lernen. Wir dürfen nur soviel ausgeben, wie produziert wird. Ja, sogar noch weniger, denn wir sollen ja auch ungeheure Summen in Erzeugnissen unserer Arbeit an die unentwickelten Gebiete abgeben, von denen wir nur einen kleinen Teil in Form von Nahrungsmitteln und Rohstoffen zurückerhalten. Wir müssen uns neue Einnahmequellen schaffen, denn alle Zölle an den früheren nationalen Landesgrenzen sind fortgefallen. Wir sparen zwar jährlich viele Milliarden dadurch, dass wir nicht mehr stehende Heere und Kriegsflotten halten. Aber wir übernehmen auch große soziale Lasten. Allein um die Millionen dringend benötigter Wohnhäuser zu bauen, müssen wir jährlich viele Milliarden Mark akkumulieren.
Unsere Einnahmequellen sind vor allem:
1. Überschuss aus Mieteinnahmen.
Dieser Überschuss dürfte nach Erreichung der Friedensmiete in Westeuropa ungefähr zehn Milliarden Mark betragen.
2. Die zehnprozentige Produktionsabgabe, die an Stelle aller früheren Steuern von allen sozialisierten und privaten Unternehmungen erhoben wird. Dies ist unsere Haupteinnahmequelle. Der Ertrag ist vorläufig noch nicht abzuschätzen.
3. Die zehnprozentige Besteuerung des privaten Kleinhandels.
4. Die Überschüsse der sozialisierten Handelsunternehmungen, die dadurch entstehen, dass der Durchschnittspreis zunächst nach den höchsten Gestehungskosten festgesetzt wird.
5. Die Zinsen und Amortisierungsquoten von denjenigen landwirtschaftlichen, gewerblichen und Handeisbetrieben, die noch nicht sozialisiert oder kollektiviert sind. Wir treten in die Rechte aller früheren Gläubiger dieser Betriebe oder Privatpersonen ein. Die sehr erheblichen Summen sind mit 5% zu verzinsen und mit 5% zu amortisieren.
6. Die Grundrentenabgabe aller sozialisierten oder kollektivisierten Betriebe, die nach der Bodenklasse und den Transportverhältnissen bemessen wird.
7. Die zwanzigprozentige Steuer auf Wein und Inlandstabak sowie auf diejenigen Luxusartikel, die auch in den arbeitenden Klassen in größerem Maße Eingang gefunden haben und deren Konsum nicht schädlich ist. 8. Die fünfzigprozentige Steuer vom Verkaufspreis auf alle anderen Luxusartikel, sowie auf Bier, Zigarettentabak, Zigaretten und Kaffee.
9. Die achtzigprozentige Steuer vom Verkaufspreis auf Branntwein und andere Spirituosen.
Die Zahlungen aus Amerika kommen als Einnahmequelle für Westeuropa nicht in Betracht. Alle Nahrungsmittel, Rohstoffe und Maschinen, die wir nach Ablauf dieses Jahres erhalten, müssen wir innerhalb von drei Jahren an die Zentralbank der S. U. bezahlen. Diese Summen werden ebenso wie die Akkumulationsbeträge, die wir aufbringen, in den unentwickelten Gebieten der S. U. investiert.

Die Verteilung des neuen Geldes
auf die einzelnen Wirtschaftsgebiete soll erst im Laufe des nächsten Jahres erfolgen. Kein Wirtschaftsgebiet erhält neues Geld, ehe es seinen Etat in Ordnung gebracht hat. Bis Ende dieses Jahres muss der ganze Verwaltungs - und Wirtschaftsapparat der früheren Staaten abgebaut und der neue Apparat der Wirtschaftsgebiete aufgebaut werden. Die Übernahme von geschlossenen Teilen des alten Apparates in den neuen Apparat ist nicht zulässig. Die Rationalisierung würde dadurch gefährdet, da viele Beamte, Angestellte und sonstige Bureaukräfte noch zu kapitalistisch denken, um von sich aus ihre Arbeit für überflüssig zu erklären und sich freiwillig auf neue Aufgaben umzustellen. Deshalb ist der ganze Apparat völlig neu nach rationellen Gesichtspunkten aufzubauen. Diese Arbeit muss sofort in Angriff genommen werden, damit nichts im letzten Augenblick überhastet wird. Die Erfahrung in Russland hat gezeigt, dass man in dieser Hinsicht besonders überlegt vorgehen muss. Bürokräfte, die erst einmal ihren Einzug in die Amtsstube gehalten haben, sind nicht so leicht wieder daraus zu entfernen. In Russland wirkt sich das besonders schädlich aus, da dort außer einer Anzahl sehr intelligenter Köpfe Millionen von Menschen die Büros bevölkern, die kaum den Analphabetismus überwunden und nun eine kostspielige Überbureaukratisierung erzeugt haben, die nur unter sehr großem Kraftaufwand zu beseitigen sein wird. Um diesen Abbauprozess zu beschleunigen, sollen hunderttausend gewandte, umstellungsfähige und zuverlässige Genossen aus Westeuropa, die den Anforderungen eines modernen Bureaus gewachsen sind, in Russland eingesetzt werden, sobald sie die russische Sprache erlernt haben. Wir müssen den Prozess der Auslese und Ausbildung dieser Genossen mit allen Mitteln beschleunigen. Der Apparat der neuen Wirtschaftsgebiete darf nicht ersticken unter dem Bureauapparat, der die Nahrungsmittel- und Rohstoffverteilung durchführt. Seine Aufgaben sollen sobald wie möglich von den Genossenschaften und sozialisierten Gesellschaften übernommen werden. Die Zwangsbewirtschaftung soll mit Ablauf des Jahres überall auf das im normalen Sozialismus notwendige Maß eingeschränkt werden. Damit im nächsten Jahr etwas mehr Spielraum vorhanden ist, wird die Brotration vorläufig nur um 25% erhöht, obwohl nach den bisherigen Bestandsaufnahmen und Versandankündigungen eine größere Erhöhung möglich wäre. Wenn wir bis Ende dieses Jahres noch sparen, werden wir im nächsten Jahr die Rationierung teils gänzlich aufheben, teils soweit mildern, dass der Schleichhandel überflüssig wird. Wir haben im nächsten Jahr bedeutende Nahrungsmittelzuschüsse aus Dänemark, Schweden-Finnland, Polen, der Ukraine, Rumänien und Holland zu erwarten. Außerdem werden alle verfügbaren Nahrungsmittelmengen in Nord- und Südamerika, die aufgekauft oder auf Grund des Zahlungsplans an uns geliefert werden, im nächsten Jahre noch nach Westeuropa geleitet, damit hier zunächst einmal
normale Produktionsverhältnisse eintreten. Wir können aber
auch unter Berücksichtigung dieser Zuschüsse das gesteckte
Ziel im nächsten Jahre nur dann erreichen, wenn wir mit
einigen Reserven hinübergehen. In diesem Jahre müssen wir
also noch etwas darben und zugleich mehr produzieren.
Vorwärts:
Mehr produzieren!! Schärfer rationalisieren!!


Vorwärts - 15. April 1919

Die Stabilisierung in Gefahr!
Schärfere Durchführung des Außenhandelsmonopols notwendig.

Wir haben eine Schlappe erlitten. Die Währung gleitet von neuem ab. Untersuchen wir die Ursachen: Die Lockerung des Außenhandelsmonopols hat infolge der zu geringen Selbstkontrolle zu schweren Schäden geführt. Eine Anzahl von sozialisierten deutschen Unternehmungen und Trusts hat auf eigene Faust in Amerika gekauft und Anleihepolitik getrieben. Dabei ist auch altes deutsches Geld in Zahlung gegeben worden, das an der Börse in Wall Street den Kurs gedrückt hat. Die Mark war nach dem New Yorker Börsenstand bis vor einer Woche noch ungefähr vier Pfennige wert, während sie bei uns immerhin eine Kaufkraft von fünf bis sechs Pfennigen hatte. Dieser Stand kann nicht mehr zurückgewonnen werden. Wir müssten, um den alten Kursstand zurückzugewinnen, große Goldmengen an der New Yorker Börse opfern, und das wollen wir nicht. Das können wir auch nicht, denn alle Edelmetalle sind durch das Dekret vom 2. April Eigentum der S. U. geworden und gehören nicht mehr den in Liquidation befindlichen alten Einzelstaaten und auch nicht den neuen Wirtschaftsbezirken. Außerdem ist die Kursherabsetzung aus inneren Gründen nötig. Wir haben zuviel Geld in Umlauf gesetzt. Wir haben zu hohe Löhne gezahlt und immer noch zu wenig produziert. Das ist eine bittere Wahrheit, Genossen, die ausgesprochen werden muss. Die Aufklärung über die notwendige Erhöhung der Produktion muss von allen Funktionären energisch fortgesetzt werden. Wir müssen sonst unweigerlich zu einer Senkung der Löhne schreiten oder die Inflation fortsetzen, die dasselbe indirekt bewirkt. Wir befinden uns tatsächlich noch in dem Stadium, das wir eigentlich in Deutschland ganz vermeiden wollten, im Kriegskommunismus. Wir treiben Raubbau, solange wir mehr konsumieren als produzieren.
Am 1. Mai beginnt die Periode der sozialistischen Wettbewerbe !
Von diesem Tage an wetteifern alle Betriebe in der Steigerung der Produktion. Sobald ein Betrieb die Arbeitsproduktivität unter dem Achtstundentag pro Kopf des beschäftigten Arbeiters soweit gesteigert hat, dass die Vorkriegsziffer, die mit längerer Arbeitszeit in demselben Werke erreicht wurde, überschritten wird, kann er den Siebenstundentag einführen (Achtstundentag mit drei Arbeitspausen). Abgesehen von dem Anreiz, der in der Verkürzung des Arbeitstages liegt, sollen sich die einzelnen Werkbelegschaften aus rein ideellen Gründen an dorn sozialistischen Wettbewerb beteiligen. Trotzdem werden für die ersten Betriebe, die bei siebenstündiger Arbeitszeit die Vorkriegsproduktion pro Kopf und Schicht um mehr als 10% überschreiten, Preise im Werte von hundert Millionen festgesetzt. Diese Preise bestehen in Rittergütern, Schlössern, Villen, Erholungsheimen usw., die den Arbeiterklubs der betreffenden Werke zur Verfügung gestellt werden. Außerdem werden Klubeinrichtungen, Musikinstrumente, Bibliotheken usw. als Preise ausgesetzt. Der deutsche Volkswirtschaftsrat hofft, dass bereits im Laufe der nächsten Monate die Produktion soweit gesteigert werden kann, dass das Missverhältnis zwischen Produktion und Konsum verschwindet und keine neue Währungsverschlechterung eintritt.
Von morgen ab soll die Währung auf der Basis „eine Papiermark = zwei Goldpfennige" stabilisiert werden. Von der sozialistischen Aufklärung und von der Steigerung der Produktion wird es abhängen, ob dieser Stand auf die Dauer gehalten werden kann.
Mehr produzieren!!! Schärfer rationalisieren!!!

Vorwärts - 22. April 1919

Die Nordeuropäische Föderation

Der nordeuropäische Sozialistenkongress hat beschlossen: Folgende Gebiete werden als Nordeuropäische Föderation" zusammengefasst und stellen gemeinsame Wirtschaftspläne auf:
Nord- und Ostfrankreich, Rheingebiet, ganz Deutschland mit Ausnahme von Südbayern, Dänemark, Schweden-Finnland-Karelien. Südbaltikum, Polen, böhmisches Elbegebiet, Übergangsgebiet der Weichsel, Oder und March (Donau). Auf den ersten Blick erscheint es befremdlich, dass auch Finnland-Karelien und Polen in die N.E. F. einbezogen werden. Damit werden jedoch alle nordeuropäischen industriellen Überschussgebiete zusammengefasst, die für industrielle Kapitalabgabe an Russland in Frage kommen. Dieser Umstand und einige weitere Vorteile rechtfertigen die Angliederung derjenigen Bezirke, die früher mit Russland verbunden waren.
Die Nordeuropäische Föderation kann sich später mit den wichtigsten Nahrungsmitteln selbst versorgen, die östlichen Gebiete mit eigener Kraft industrialisieren und aus eigener Kraft das gewaltige Werk der Verbindung des Elb-, Weichsel- und Donausystems durchführen. Von diesem Zentralpunkt aus soll der Ausbau des ganzen mitteleuropäischen Wasserwirtschaftssystems in Angriff genommen werden. Nach zehn Jahren soll kein Tropfen Wasser mehr ungenützt ins Meer laufen. Planmäßige Wasservorratswirtschaft soll dafür sorgen, dass das ganze bis dahin vollständig auszubauende Fluss und Kanalsystem ständig benutzbar ist. Die gestauten Wassermassen werden auf ihrem Wege vom Berg zum Meer Millionen und Abermillionen von Kilowatt liefern. Das Kanalsystem soll bis tief nach Russland hinein erweitert werden. Auch der Wolga-Donkanal, mit dessen Bau schon im nächsten Jahre begonnen werden soll, wird in die Pläne der Nordeuropäischen Föderation einbezogen, da sie alle technischen Arbeiten daran zu leisten hat.
Die Nordeuropäische Föderation bildet zunächst das stärkste industrielle Kraftzentrum der Sozialistischen Union. Mit Ausnahme von England, der Donau-Balkanföderation und der Mittelmeerföderation, mit denen wir nur Austauschverkehr haben, werden wir an alle anderen Wirtschaftsbezirke große Zuschüsse abgeben. Wir müssen also in den nächsten zehn Jahren ständig bedeutend mehr produzieren als wir selbst verbrauchen. Das ist aber für uns nichts Neues. Schon vor dem Kriege wurden alljährlich Milliarden europäischen Kapitals im Auslande angelegt. Auch damals mussten wir europäischen Proletarier diese gewaltigen Summen über den Verbrauch der Arbeiter und Kapitalisten hinaus aufbringen. Aber sie wurden im Interesse der Kapitalisten erzeugt und angelegt. Jetzt aber wollen wir diese enormen Produktionsmengen erzeugen und freiwillig ohne Gegenleistung abgeben, da erst bei vollkommener Industrialisierung der Welt von einer völligen Durchführung des Sozialismus die Rede sein kann. Erst dann können wir anfangen zu ernten. Jetzt aber müssen wir das Feld bearbeiten, müssen pflügen und säen, und das heißt: mehr produzieren!
Mit Ablauf dieses Jahres verschwinden die alten europäischen Staaten. Wir gehen dann in der großen Nordeuropäischen Föderation auf. Unser Eintritt in diesen großen Verband soll mit einer trotz Acht- oder Siebenstundentag um mindestens 10% über das Vorkriegsniveau gesteigerten Produktion verbunden sein. Von der Steigerung der Produktion hängt alles für uns ab. Die Hebung des kulturellen Niveaus, die Verlängerung der Schulzeit, die Verkürzung der Arbeitszeit, die Erhöhung der Löhne, der Neubau von Wohnungen, der Wiederaufbau der zerstörten Gebiete, das proletarische Hochschulstudium, die Festigung der alten deutschen Währung, die Einführung der neuen Einheitswährung, die bessere Versorgung mit Lebensmitteln und Bekleidung, die Anlage neuer Kinderheime und Arbeitererholungsheime, die völlige Arbeitsbefreiung und ausreichende Versorgung der schwangeren Frau und stillenden Mutter. Alles ist abhängig von der Produktionssteigerung.

Der Wiederaufbau der zerstörten Gebiete
in Frankreich und Belgien soll auf kollektivistischer Grundlage erfolgen. Dieser Beschluss ist sehr begrüßenswert. Gerade Frankreich hat ein starkes Mittelbauerntum, das in kritischen Zeiten den sozialistischen Aufbau gefährden könnte. Durch den kollektiven Aufbau großer Landstriche wird ein gesundes Gegengewicht geschaffen, das wir in Ostdeutschland durch den sozialisierten Großgrundbesitz bereits haben.


Vorwärts - 30. April 1919

Der Weltfeiertag der Arbeit

Am ersten Maifeiertage nach dem Siege der Revolution, werden die Arbeiter in der ganzen Welt für den Gedanken des Sozialismus demonstrieren. Es lag nahe, unseren Sieg an der militärischen Front zu feiern. Wir haben aber keine Zeit, uns bei Siegesfeiern aufzuhalten. Wir stehen mitten in einem neuen, ungleich schwereren Kampf, im Kampf auf der Wirtschaftsfront. Auch an dieser Front haben wir beachtliche Erfolge errungen. Aber wir sind noch weit, sehr weit vom Siege entfernt.
Der Charakter des Maifeiertages hat sich grundlegend gewandelt. Früher stellten wir Forderungen an andere. Jetzt aber müssen wir Forderungen an uns selbst stellen. Früher waren unsere Kampfmittel negativ: Streik, Obstruktion, Arbeitsruhe. Jetzt müssen wir lernen, unsere positiven Kampfmittel stärker anzuwenden. Unser stärkstes Kampfmittel aber ist die Arbeit und die richtige Organisierung der Arbeit. Der erste Mai soll ein Tag schonungsloser Selbstkritik sein. Die Diktatur der Aufbauperiode verlangt ständige Kritik aus den eigenen Reihen. In der Demokratie versuchte jede Partei, ihre eigenen Fehler möglichst zu verdecken, um Schädigungen des Ansehens nach außen zu vermeiden. Das ist anders jetzt. Wir müssen unsere Fehler erkennen und sie ausmerzen. Wir müssen Führer hervorbringen, die denen der Feudalaristokratie und des Bürgertums nicht nur gleichwertig, sondern überlegen sind. Gestehen wir offen ein, dass wir noch nicht so weit sind. Nichts liegt uns ferner, als die alte Führergarnitur immer noch durch die Brille unserer Witzblätter zu sehen und sie lächerlich zu finden. Die Anforderungen, die an unsere Führer gestellt werden, sind ganz, ganz andere, als die, welche Adel und
Bürgertum an ihre Führer stellten. Wir wollen keinen Führertyp schaffen, der sich künstlich von der Gesamtheit absondert, sondern einen verantwortungsbewussten Menschentyp, der allen anderen als Vorbild dienen kann und soll. Niemand darf in die Partei, der unseren Mindestforderungen nicht entspricht. Niemand kann in der Partei geduldet werden, der eine ihm übertragene Funktion dazu benutzt, um sich selbst Vorteile oder Bequemlichkeiten zu verschaffen. Jeder, der sich der hohen Ehre, Mitglied der sozialistischen Partei zu sein, nicht würdig erweist, wird ausgeschlossen. Wir dürfen keine Parasiten in unseren Reihen dulden und auch keine verkalkten Mummelgreise, die sich nicht auf die neuen gewaltigen Aufgaben umstellen können.
Der Sozialismus ist kein Automat, in den man einen Parteibeitrag hineinsteckt, um recht viel herauszubekommen. Der Sozialismus ist das große Wecken aller schöpferischen Kräfte, die in der Welt und in den Menschen schlummern. Die Bahn für die neue Entwicklung ist frei. Jetzt gilt es alle Kräfte anzuspannen, um unser ungeheures Werk zu organisieren und zu vollenden. Kein Rückschlag darf uns entmutigen, keine Niederlage in Verwirrung bringen. Wir dürfen uns nicht scheuen, die Fehler, die wir gemacht haben, einzugestehen und den zeitweiligen Rückzug anzutreten, wenn wir zu weit vorgegangen sind. Wir haben aber schwere Fehler gemacht, haben eine Niederlage erlitten und müssen jetzt einen Rückzug antreten. Es ist ein Zeichen unserer Stärke, wenn wir das heute sagen können und wenn wir morgen, am Weltfeiertage, die harten Maßnahmen, zu denen wir gezwungen sind, in Kraft treten lassen.
Es sind schwere Fehler gemacht worden. Zu viele Parteigenossen auf verantwortungsvollen Posten haben versagt. Sie waren ihrer Aufgabe nicht gewachsen. Sie haben versucht, sich populär zu machen und aus Schwäche oder Unverstand dem Drängen unaufgeklärter Elemente nachgegeben, die in der Revolution weiter nichts als eine Lohnbewegung gesehen haben und die glaubten, ihre Aufgabe sei es vor allem, möglichst hohe Löhne und möglichst gute Arbeitsbedingungen herauszuholen. Es ist Aufgabe jedes Parteimitgliedes und vor allem jedes Funktionärs, solchen schädlichen Auffassungen aufs schärfste entgegenzutreten und den unaufgeklärten Elementen in unsern eigenen Reihen die Grundbegriffe sozialistischer Produktions-, Lohn- und Preispolitik beizubringen. Das ist bisher nur ungefähr zur Hälfte gelungen. Leider müssen jetzt aber die verständigen Genossen mit unter den Maßnahmen leiden, die im Gesamtinteresse unvermeidlich sind. Diese Maßnahmen sind sehr scharfer und einschneidender Natur. Wir haben im Durchschnitt zu hohe Löhne gezahlt. Höhere Löhne jedenfalls, als wir sie zahlen dürfen, wenn wir alle Arbeiter produktiv beschäftigen wollen, ohne von der Substanz zu zehren. Ein Teil der roten Direktoren muss durch verantwortungsbewusste Genossen ersetzt werden. Auch eine Anzahl Betriebsräte, die ihrer neuen Aufgabe nicht gewachsen waren, sind abzusetzen.
Der entstandene Schaden ist dadurch allerdings nicht mehr gutzumachen. Die Währung lässt sich nicht mehr auf dem Stande von zwei Goldpfennigen halten. Von morgen ab wird der Zwangskurs für eine Papiermark auf einen Pfennig festgesetzt. Das muss der letzte Rückzug gewesen sein! Wir brauchen für unsere zukünftige Planwirtschaft zuverlässige Ziffern und einen genauen Vergleichsmaßstab. Die Inflation muss aufhören. Wir werden deshalb auch vor drakonischen Maßnahmen nicht zurückschrecken. Es ist uns gelungen, fast alle Demobilisierten wieder in die Produktion einzureihen und auch den größten Teil der im Kriege zu Männerarbeiten herangezogenen Frauen in den Betrieben zu halten. Einige unaufgeklärte Betriebsräte, die wahrscheinlich keine Ahnung von unseren ungeheuren Aufgaben haben, waren so töricht, Frauen zu entlassen, um für Männer Platz zu machen. Das ist grundfalsch. Erstens widerspricht es unseren sozialistischen Prinzipien von der Gleichstellung der Geschlechter auch in der Produktion, ohne die eine Verwirklichung unserer Ideale überhaupt nicht möglich ist. Zweitens aber brauchen wir jeden arbeitsfähigen Mann und jede arbeitsfähige Frau, wenn wir die ungeheuren Aufgaben, die uns gestellt sind, bewältigen wollen. In dem Augenblick, in dem Millionen von Männern aus dem Kriege, aus der Gefangenschaft und aus dem Bürgerkriege zurückkamen, waren vorübergehend mehr Arbeitskräfte vorhanden, als beschäftigt werden konnten. Dieser Zustand ist heute jedoch überwunden. Jetzt handelt es sich nicht mehr darum, möglichst viel Leute unterzubringen. Es handelt sich darum, möglichst viel zu produzieren und in jedem Industriezweig möglichst scharf zu rationalisieren, um Arbeitskräfte freizusetzen. Freizusetzen, nicht damit sie arbeitslos zu Hause hocken, sondern damit wir den Riesenbedarf an Arbeitskräften in anderen wichtigen Industriezweigen decken können. Alle arbeitsfähigen Menschen müssen produktiv beschäftigt werden. Kein Arbeitsplatz, der besser von einer Frau ausgefüllt werden kann, darf von einem Manne besetzt werden. Je mehr Menschen in die Produktion eingereiht werden, je schneller die Produktenmasse anwächst, um so eher können die Löhne erhöht, um so eher kann die Arbeitszeit gekürzt werden. Wir müssen das immer und immer wieder sagen. Wir müssen das mit äußerster Schärfe gerade in den nächsten Monaten sagen, in denen wir von allen neue Opfer verlangen. Die Löhne müssen vorläufig gesenkt werden. Was bisher von der Inflation besorgt wurde, muss jetzt mit klarem Bewusstsein von uns selbst gemacht werden. Die Mark ist von morgen ab nur noch einen Goldpfennig wert. Alle Löhne werden nach dem Goldwert berechnet. Als Lohn pro Arbeitstag wird gezahlt (in Prozenten des
Vorkriegslohns pro Arbeitstag in demselben Gewerbezweig) :

Ab 1. Mai...... 50%
Ab 1. Juni..... 60%
Ab 1. Juli..... 70%
Ab 1. August.... 80 %
Ab 1. September... 90%

Ab 15. Dezember soll allgemein der Vorkriegslohn pro Arbeitstag trotz der verkürzten Arbeitszeit gezahlt werden. In allen Werken, in denen die Arbeitsleistung pro Kopf und Schicht über Vorkriegshöhe gestiegen ist, kann schon nach dem 1. September der volle Vorkriegslohn gezahlt werden. Die Verordnung des Volkswirtschaftsrats über den sozialistischen Wettbewerb bleibt in Kraft. Der Siebenstundentag kann auch weiterhin überall da eingeführt werden, wo die Produktion in der vorgeschriebenen Weise gesteigert worden ist. In der Lohnfrage werden aber keine Ausnahmen gemacht, da anders die Stabilisierung gefährdet würde. Die Vorschriften über die Miethöhe sind strikt durchzuführen, damit wir unser Bauprogramm und den Ausbau der Baurohstoffabrikation durchführen können. An Mieten sind immer genau soviel Prozent der Friedensmiete zu zahlen, wie Löhne gezahlt werden. Die Mieterräte haften persönlich für die pünktliche Ablieferung der Mieten. Die örtlichen Arbeiterräte setzen neben den Kommunalabgaben auch die Höhe der Verwaltungskosten und die Höchstsumme der Reparaturrücklagen fest. Mindestens 60% des Gesamtmietbetrages ist an die Zentralbaubank abzuführen. Alle Rücklagen für Reparaturen sind in dieser Bank anzulegen.
Die Zentralbaubank übernimmt die Finanzierung des gesamten Wohnungsbaus und aller Baurohstoffbetriebe. Die Verwendung der Mieteinnahmen für andere Zwecke ist verboten.
Die kürzlich angekündigten Steuern und Abgaben treten sofort in Kraft.

Die Aufgaben der nächsten zwei Jahre
Am 31. Dezember hören die alten Staaten auf zu existieren. Bis dahin müssen die neuen Wirtschaftsapparate und die Föderationen auf rationellster Basis organisiert sein. Bis dahin ist aber auch der alte Wirtschaftsapparat soweit wieder herzustellen, dass überall die Vorkriegsproduktivität erreicht wird. Alle Kriegsschäden sind möglichst schon in diesem Jahre auszubessern. Der Zustand der Eisenbahn und der sonstigen Verkehrszweige muss noch in diesem Jahre wieder auf Vorkriegshöhe gebracht werden. Über hunderttausend Mann sind von der Eisenbahnverwaltung neu eingestellt worden, um die notwendigsten Reparaturen an dem Wagen- und Lokomotivpark mit äußerster Beschleunigung durchzuführen und um den Unterbau gründlich zu überholen. Weitere Zehntausende werden in den nächsten Wochen eingestellt, damit die Arbeiten noch in diesem Jahre zum Abschluss kommen.
1920 sollen alle Wirtschaftsgebiete und Föderationen ihren Wirtschaftsapparat und Verkehr auf die neuen Aufgaben umstellen. Die empfindlichsten Lücken im Verkehrsnetz der Föderationen sollen ausgefüllt werden. Die großen Wirtschaftspläne für den inneren Ausbau der einzelnen Föderationen und über die gegenseitigen Wirtschaftsbeziehungen werden zur Zeit ausgearbeitet. Im 1. Januar 1921 sollen sie bereits in Kraft treten.
Das Ziel dieser großen Wirtschaftspläne ist die vollständige Industrialisierung der sozialistischen Welt. Nach den bisherigen Vorarbeiten werden diese Pläne von zwei leitenden Grundgedanken beseelt:

I. Stadium
Ausbau des Verkehrsnetzes, Ausbau der Wasserwirtschaft, Dienstbarmachung aller Wasserkräfte, Elektrifizierung, völlige Ausnutzung aller vorhandenen Produktionsanlagen ohne Rücksicht auf den Standort, keine neuen Produktionsanlagen in solchen Industriezweigen, in denen der Bedarf durch Einführung des Zwei- Drei- oder Vierschichtenwechsels gedeckt werden kann. Investitionen vor allem in den Wirtschaftszweigen und in den Gebieten, in denen die menschliche Arbeit jetzt am wenigsten produktiv ist, wo mit den rückständigsten und veraltetesten Methoden gearbeitet wird und deshalb durch Einführung neuer Arbeitsmethoden und Maschinen die höchste Produktivitätssteigerung zu erreichen ist.

II. Stadium
Standortbestimmung nach sozialistischen Prinzipien. Weiterer Ausbau der einzelnen Wirtschaftsgebiete mit dem Ziel möglichster Annäherung an den Zustand der Autarkie, soweit dies nicht den Grundsätzen der Rationalität widerspricht.
Wir wollen die europäische Industrie bis zur Höchstgrenze ihrer Leistungsfähigkeit ausnutzen. Der Mehrbedarf an Arbeitern soll aus den unindustrialisierten Gebieten herangezogen werden. Auch die Million qualifizierter Arbeitskräfte, die bereits an den Westen, Süden und Osten abgegeben wurden, müssen wir ersetzen, ebenso die Millionen von Freiwilligen, die in alle Weltteile gehen, um am Aufbau der neuen Wirtschaft mitzuhelfen.
Einige Millionen Europäer werden nach Australien auswandern. Die Australier haben ihren Anschluss an die Sozialistische Union nur unter der Bedingung vollzogen, dass die numerische Überlegenheit der weißen Rasse gewahrt bleibt. Der Rassenhochmut, der aus dieser Bedingung spricht, verdient im Zeitalter des Sozialismus eigentlich keine Berücksichtigung. Wir haben aber nachgegeben, weil wir Australien nicht dem amerikanischen Kapitalismus ausliefern wollten. Wir werden die ungeheuren Reichtümer Australiens erschließen, große Bewässerungsanlagen durchführen und einige Millionen Menschen aus den überbevölkerten Gebieten Indiens und Chinas ansiedeln. Dieses Zugeständnis haben wir nach langen Verhandlungen den australischen Genossen abgerungen. Wir müssen aber, wenn wir die eingegangenen Bedingungen erfüllen wollen, einige Millionen Freiwillige aus Europa ansiedeln. Diese Ansiedlung wird größtenteils auf dem flachen Lande erfolgen. Die Genossen, die sich zur Ansiedlung in Australien melden, brauchen nicht zu fürchten, dort das Leben von Einsiedlern führen zu müssen. Die australische Landwirtschaft wird die modernsten Großbetriebsformen aufweisen, Kultureinrichtungen aller Art sind vorgesehen.
Auch in Südafrika ist noch nicht alles so, wie es sein sollte. Der übergroße Teil der südafrikanischen Proletarier, die der weißen Rasse angehören, ist noch nicht aufgeklärt genug, um die alten Rassenvorurteile abzulegen. Wir haben ihnen deshalb das Zugeständnis machen müssen, dass in den nächsten fünf Jahren kein weißer Arbeiter gezwungen werden darf, unter dem Kommando eines schwarzen Kollegen zu arbeiten. Hoffentlich gelingt es uns, durch Erziehungsmaßnahmen die weißrassigen Kollegen dazu zu bringen, dass sie freiwillig schon vor Ablauf dieser fünf Jahre auf ihre Vorrechte verzichten. Eine Verlängerung dieser Frist darf auf keinen Fall erfolgen. Der weiße Arbeiter, der die Ansicht vertritt, dass seine Rasse geistig regsamer und leistungsfähiger sei als die schwarze, kann ja durch persönliche Tüchtigkeit den Beweis erbringen, dass dies für seine Person gilt. Dann wird ihm niemand eine Führerstellung strittig machen. Dem intelligenten und strebsamen schwarzen Genossen, der mit Aufbietung all seiner Kraft sein Wissen und Können entwickelt, kann aber nicht zugemutet werden, sich einem weniger strebsamen und gebildeten weißen Genossen unterzuordnen. „Fair play" für Angehörige aller Rassen, ist unser Losungswort. Die Industrialisierung Süd - und Zentralafrikas wird allen intelligenten Arbeitern, schwarzen wie weißen, genügend Gelegenheit geben, sich ihren Fähigkeiten entsprechend zu betätigen. Sie soll vorläufig in der Hauptsache der südafrikanischen Industrie überlassen bleiben, da wir im ersten Stadium des sozialistischen Aufbaus unsere Kräfte vor allem auf die Industrialisierung der dichtbevölkerten Gegenden konzentrieren müssen. Die Wiederherstellung und der Ausbau der europäischen Wirtschaft soll fast vollständig aus eigener Kraft erfolgen. Von den Summen, die Amerika an uns zahlen muss, geht nur ein sehr geringer Teil nach Europa. Wir bekommen nur einige Milliarden in Form von Lebensmitteln und dringend benötigten Rohstoffen und Maschinen. Der größte Teil der amerikanischen Lieferungen geht jedoch nach China, dessen Industrialisierung nach den Plänen Sun Yat-sens beschleunigt durchgeführt werden soll. Wir sind also im wesentlichen auf uns selbst angewiesen. Der erste Mai muss benutzt werden, um diese Erkenntnis wieder einmal in die Köpfe hineinzuhämmern. Unsere Losungsworte am Weltfeiertag lauten in diesem Jahr:
Aufbau, Produktionssteigerung, Rationalisierung!


Vorwärts - 2. Mai 1919

Der Verlauf des 1. Mai

Berlin hat seit dem 9. November viel imposante Aufmärsche gesehen. Aber was war das alles gegen das Ungeheure, das wir gestern erleben durften? Berlin ist zur Welthauptstadt geworden. Gestern konnten wir beobachten, dass dies nicht etwa eine Redensart, sondern Wirklichkeit ist. Wir stehen noch mitten in unserem eigenen Wiederaufbau, wir mussten in diesen Tagen sogar einen Rückzug auf der Wirtschaftsfront antreten. Und dennoch, der Pulsschlag der ganzen Welt war gestern in Berlin fühlbar. Was bedeutet dieser strategische Rückzug, wenn jedem Menschen so sinnfällig gezeigt wird, dass es im ganzen vorwärts geht, unaufhaltsam vorwärts!
Ungefähr zwei Millionen Menschen sind gestern durch die Linden und den Tiergarten gezogen. Aber das waren nicht mehr undisziplinierte Individuen wie in den Tagen nach der Revolution, als wir das alte Joch abgeworfen hatten und nach den Formen der neuen Organisation suchten. Die Hunderttausende, die gestern aufmarschierten, gruppierten sich in festen Verbänden, und jeder Verband hatte seine besonderen, fest umrissenen Aufgaben. Schon früh um 7 Uhr begann der Aufmarsch der Arbeitersportler und der proletarischen Kulturvereine. Von 9 Uhr an nahmen zu beiden Seiten der „Linden" „Rote Falken'' und „Jungpioniere" Aufstellung. Später traten sie an die Häuserfront zurück, damit Kinder und Frauen den weiteren Aufmarsch mit ansehen konnten. Von 11 Uhr ab dröhnten beide Fahrdämme der Linden unter dem Tritt der bewaffneten Arbeiterbataillone, die, nach Betrieben und Industrieverbänden gegliedert, in Reihen zu 16 Mann vorbeimarschierten.
Darauf formierten sich die Marschkolonnen der roten Frauen- und Mädchenbünde, und schließlich zogen bis spät in die Nacht hinein die Hunderttausende auf, welche in diesen Tagen an neue Arbeitsfronten gehen. Vom Westen her rückten 1000 Lastautos und 1000 Traktoren an, die nach Russland, Sibirien und Kaukasien geschickt werden. Von Osten her rückten in langen Reihen Lastautos mit Lebensmitteln an: auf ihnen Finnen, Polen, Russen, Ukrainer, Rumänen, Bulgaren und Serben. Dann kamen von Westen her die ersten Straßenbau- und Eisenbahnbaukolonnen, die zunächst in Westrussland und Polen eingesetzt werden. Ihren ganzen Tross führten sie mit sich, Lastautos mit Werkzeugen und Maschinen, Straßenrammen, Traktoren, Feldküchen, Zelte, Baracken, Sanitäts- und Büchereiautomobile.
Auf der anderen Fahrbahn marschierten hunderttausend Russen auf, die im Westen, in den zerstörten Gebieten, in den englischen und französischen Kohlengruben eingesetzt werden. Mitten unter ihnen französische Soldaten, die sich nun, gemeinsam mit jenen, deren „Gefangene" sie gestern noch waren, an den sozialistischen Aufbau ihrer Heimat machen.
Während vom Westen her zehntausend deutsche, englische und französische Lehrer, Ingenieure, Ärzte und geschulte Bureaukräfte anmarschierten, die nach dem Osten gehen, zogen von der Gegenseite zehntausend deutsche Freiwillige heran, die sich noch am selben Abend nach überseeischen Wirtschaftsfronten in Fahrt setzten.
Aber so gewaltig auch dieser Aufmarsch war, viel erfreulicher war für uns doch noch die Feststellung, dass unsere intensive Aufklärungsarbeit über die Notwendigkeiten sozialistischer Lohn- und Wirtschaftspolitik Erfolg hatte. Die übergroße Masse der werktätigen Bevölkerung erkennt die großen Zusammenhänge und sieht ein, dass wir uns nicht gestatten können, Raubbau zu treiben, und dass die Elektrifizierung und Industrialisierung Osteuropas und Asiens für uns ebenso wichtig ist wie der Ausbau und die Umstellung der eigenen Wirtschaft. Einige besonders begeisterte Volkswirtschaftler bemühten sich auszurechnen, wie viel wir in den ersten Monaten bei niedrigen Löhnen akkumulieren können. Sie waren dabei allerdings durchweg etwas zu optimistisch. Sie übersehen bei ihren Berechnungen, dass ein großer Teil der Arbeiten, die wir jetzt verrichten, überhaupt nicht produktiv, und ein anderer Teil rein wiederherstellender Natur, also nur sehr bedingt produktiv ist. Der Anteil dieser Arbeiten an der Gesamtproduktion sinkt aber ständig, so dass wir die Löhne tatsächlich bald auf Vorkriegshöhe bringen können, wenn die Produktionssteigerung planmäßig durchgeführt wird. Schon in einem Monat werden die Traktoren, die gestern durch die Linden" rollten, beginnen, jungfräulichen Boden für die neue Aussaat vorzubereiten, und im Herbst des nächsten Jahres werden wir das erste Getreide von den Kollektivwirtschaften erhalten. Das wird aber erst der Anfang der Agrarrevolution sein. Von uns, von unserer Produktion, hängt es ab, wann der letzte Bauer den Holzpflug hinlegt und seine kümmerliche Einzelwirtschaft verlässt, um den Traktor der Kollektivwirtschaft zu besteigen.

Der 1. Mai in Hamburg
Im ganzen Hamburger Städtegebiet wurde die Arbeit schon am 30. April mittags um 12 Uhr niedergelegt. Zehntausende waren am Nachmittag des 3o. April nach Brunsbüttelkoog geeilt, um die Einfahrt der ersten Schiffe in den wiederhergestellten Nordostseekanal anzusehen. Zehn deutsche Schiffe mit Werkzeugen und Maschinen wurden als Geschenk der deutschen an die russischen revolutionären Arbeiter nach Petrograd abgesandt.
Am 1.Mai bildeten die 50000 Spitzbergen-Freiwilligen den Mittelpunkt des Festprogramms. Sie sollen den Sommer über mit äußerster Anstrengung in den Kohlenbergen Spitzbergens arbeiten, um so zur Behebung des Brennstoffmangels beizutragen. Es werden zunächst nur Baracken für den Sommeraufenthalt in Spitzbergen gebaut. Im Winter soll der größte Teil dieser Freiwilligen in denjenigen englischen Kohlenbergwerke eingesetzt werden, die man zur Zeit auf moderne und rationelle Arbeitsmethoden umstellt.
Der amerikanische Regierungsdampfer, der alle Wochen die auswanderungslustigen früheren Kapitalisten auf Kosten der amerikanischen Regierung abholt, musste zum ersten Mal halb leer abfahren. Eine Anzahl junger Ingenieure ging eine Stunde vor der Abfahrt von Bord und meldete sich geschlossen freiwillig nach Spitzbergen. Vor Cuxhaven begegnete das Schiff einem Transport deutscher Rückwanderer aus Amerika, der ihnen signalisierte: „Lieber in Deutschland hungern als in Amerika für den Kapitalismus schuften! Macht's uns nach, hier seid ihr Gleiche unter Gleichen, drüben seid ihr Handlanger." Die Stimmung an Bord war schon vorher sehr bedrückt gewesen. Jetzt entschieden sich die meisten Passagiere, vor allem die jüngeren, dafür, in Europa zu bleiben. Wenn dieses Beispiel Schule macht, dann dürfte endlich das Gleichgewicht im gegenseitigen Auswanderungsverkehr hergestellt sein. Bis Ende Februar entfielen auf jeden Einwanderer aus Amerika zwei kapitalistisch Gesinnte, die Europa verließen. Im März war das Verhältnis schon 2:3, im April 4:5.
Bezeichnend für den Stimmungsumschwung in den Reihen der jüngeren Angehörigen des früheren Bürgertums ist der Ausspruch eines zurückgekehrten Technikers: „Was sollen wir in Amerika? Wir werden drüben auch zu Proletariern. Aber drüben sind die Proletarier die Parias der Gesellschaft, hier sind sie die Herren. Wenn ihr drei Jahre mit demselben Fanatismus weiter arbeitet, dann wird es dem europäischen Proletarier besser gehen als dem kleinen Kapitalisten in Amerika."

Bericht aus Kiel
Der unermüdlichen Arbeit von Zehntausenden ist es gelungen, den Kanal in wenigen Monaten wieder zu säubern und stellenweise zu verbreitern. Die ersten zehn Schiffe, die den Kanal heute am Weltfeiertag der Arbeit passierten, gehen nach Petrograd. Tausend gelernte Arbeiter, Techniker, Ingenieure und Werkmeister fahren heute nach Russland ab, um dort, wo ihre Kräfte am dringendsten gebraucht werden, für den Aufbau des Sozialismus zu arbeiten. Zweitausend junge Russen im Alter von 17—20 Jahren sind heute hier angekommen und auf einem als Wohnschiff hergerichteten früheren Kriegsschiff untergebracht worden. Sie sollen auf den Werften ausgebildet werden. Alle Kriegsschiffe, die älter als zehn Jahre sind, wurden bereits in Wohnschiffe verwandelt, und immer noch ist zu wenig Platz. Alle Helligen der Lenin-, Liebknecht- und Luxemburgwerft (früher Kaiserliche, Germania- und Howaldtswerft) sind voll belegt. Überall wird in drei Schichten gearbeitet. Nach Einreihung des letzten Russentransports sowie der Arbeiter, die ihre Arbeit am Kanal beendigt haben, sind weitere Einstellungen nicht mehr möglich. Da wir aber Ende Mai, Anfang Juni weitere 8000—10000 Genossen aus Russland erwarten, soll am 1. Juni auf allen Werften der Sechsstunden tag eingeführt werden. Das bedeutet rationellste, volle Ausnutzung der Werksanlagen bei ununterbrochener Arbeit in vier Schichten.

Bericht aus Breslau
Am 1. Mai wurden die neuen Anlagen der Lenin-Luxemburg-Werke (früher Linke-Hofmann-Werke) eingeweiht. Obwohl in Breslau größte Wohnungsnot herrscht, mussten alle verfügbaren Bauhandwerker zum Erweiterungsbau der L. L. W. herangezogen werden. Die L. L. W. sollen in den nächsten Jahren Zehntausende von Lokomotiven und Hunderttausende von Waggons für Russland, Polen, den Balkan und die Türkei liefern. Es herrscht, obwohl bereits zweitausend polnische und tausend russische Hilfsarbeiter eingestellt wurden, immer noch ein fühlbarer Arbeitermangel. Nicht einmal die alten Werksanlagen können im Dreischichtenwechsel voll ausgenutzt werden. Eine Anzahl von hochqualifizierten Spezialarbeitern arbeitet freiwillig in zwei Elfstundenschichten. Alle Säle und die Hälfte aller Schulen werden als Quartier für weitere zehntausend russische und pohlische Hilfsarbeiter eingerichtet. In einer Versammlung in der Jahrhunderthalle wurde darauf hingewiesen, dass es im Augenblick das Wichtigste sei, Lokomotiven und Waggons zu bauen, dass aber doch alles mögliche getan werden müsse, um die katastrophale Wohnungsnot in Breslau zu beheben.
In Oberschlesien standen alle Maifeierveranstaltungen noch stärker als in Breslau im Zeichen der Wohnungsfrage. Über 50000 polnische Arbeiter sind ohne große Schwierigkeiten in die Produktion eingereiht worden. Der Sechsstundentag bei gleichzeitiger Verschärfung des Arbeitstempos wurde in allen Gruben und wichtigen Betrieben eingeführt, so dass die Produktion bei Vierschichtenwechsel bereits wesentlich stieg.

Unruhen in Amerika
Nach den letzten Telegrammen ist es in einigen Städten Amerikas infolge Verbots der Maifeiern zu Unruhen gekommen. Über zehntausend Arbeiter sind gefangen genommen worden und sollen zwangsweise nach Europa abgeschoben werden. Nach einem anderen Telegramm sollen sich weitere Zehntausende, darunter viele Deutsche, zur Auswanderung nach Europa entschlossen haben. Der Oberste Volkswirtschaftsrat der S. U. hat beschlossen, all diese Einwanderer, soweit sie damit einverstanden sind, nach dem Osten zu leiten, der immer noch an einem empfindlichen Mangel an gelernten Arbeitern leidet.


Vorwärts - 14. Juli 1919

1789-1919

Einhundertdreißig Jahre sind seit dem Sturm auf die Bastille vergangen. Einhundertdreißig Jahre seit der Erklärung der Menschenrechte. Und jetzt erst können wir langsam daran denken, diese Erklärung in die Tat umzusetzen. Hundertdreißig Jahre lang hat das Bürgertum, teils offen, teils indirekt geherrscht. Und in dem Lande, in dem es schon früher zur Macht kam und sich am folgerichtigsten entwickeln konnte, in Amerika, herrscht es heute noch. Wir wollen nicht blind sein gegenüber dem, was in diesen 130 Jahren geschaffen wurde. Westeuropa, Nordamerika und ein Teil der übrigen Welt ist in dieser Zeit industrialisiert worden. Aus mittelalterlichen Wirtschaften sind gewaltige moderne Industriestaaten entstanden, die nicht nur Hunderte von Milliarden Mark im eigenen Lande angelegt, sondern auch Riesensummen im Auslande investiert haben. Schon in den ersten Jahrzehnten entstanden gewaltige Werte dank der kläglich bezahlten zwölf- und vierzehnstündigen Arbeit von hundert Millionen Proletariern, die unter den allererbärmlichsten Verhältnissen lebten. Nach dieser schrecklichen Zeit des kapitalistischen Aufbaus, gegen Ende des vorigen Jahrhunderts, wurde es allmählich etwas besser. Der Kapitalismus, der sich im imperialistischen Stadium, im Zeitalter der kolonialen Überprofite, ungeheuer rasch entwickelte, gab dem Druck des Proletariats, das inzwischen gelernt hatte, sich in Gewerkschaften und Parteien zu organisieren, etwas nach, so dass seine Lebenshaltung sich ein wenig verbesserte.
Aber auf jeden europäischen Proletarier, der dem Bereiche des Hungers entfliehen konnte, entfielen zehn Inder, Chinesen oder Russen, die durch den eindringenden Kapitalismus aus ihrem altgewöhnten bescheidenen Leben herausgerissen und den Kapitalisten dienstbar gemacht wurden. Nach den Gesetzen des kapitalistischen Wachstums hätten diese tausend Millionen Menschen jetzt denselben Leidensweg antreten müssen, den das europäische Proletariat in der Frühzeit des europäischen Kapitalismus gegangen war. Und in stetig steigendem Maße hätten diese neuen exotischen Proletariermassen zu Konkurrenten, zu Totengräbern des Standards der europäischen und amerikanischen Proletarier werden müssen. Mit fast naturgesetzlicher Notwendigkeit wäre in Europa und Amerika eine Millionenarbeitslosigkeit eingetreten, die auf die Dauer bestimmt eine Verschlechterung des Lebenshaltungsniveaus hervorgerufen hätte. Der Weltkrieg hat diesen Entwicklungsgang unterbrochen. Aber er hätte ihn nicht aufgehalten, wenn nicht die proletarische Revolution dazwischengekommen wäre. Vielleicht hätten einige Siegerstaaten auf Kosten der Besiegten diese Folgen der imperialistischen Entwicklung einige Jahre, vielleicht auch Jahrzehnte lang weniger verspürt. Einmal aber würde auch diese Staaten die Krise wieder erfasst haben, wenn nicht vorher ein neuer Weltkrieg ausgebrochen wäre, der wiederum nur für die Siegerstaaten auf kurze Zeit einen Ausweg geschaffen hätte.
Dieser Zyklus ist indessen durch die sozialistische Revolution unterbrochen worden.
Der Proletarier hat sein Machtwort gesprochen. Die Weltgeschichte nimmt einen anderen Lauf. Der Bastillesturm war die Verheißung eines neuen Menschheitsmorgens. Trotz seiner unbestreitbaren technischen Erfolge ist der Kapitalismus die Erfüllung uralter Menschheitsforderungen schuldig geblieben. Er versprach die Freiheit. Er brachte die Freiheit, den Schwächeren auszubeuten. Er schuf den Liberalismus: „Jeder mag nach seiner Fasson selig werden!" In welche Fasson jeder hineingeboren und durch das wirtschaftliche Übergewicht hineingepresst wurde, das kümmerte ihn nicht. Und als die Gesetze der kapitalistischen Wirtschaft, die Marx uns erkennen gelehrt hat, sich immer mehr auswirkten und Krisen und Kriege hervorriefen, da gingen die Freiheiten des Ausbeutens und des Liberalismus wieder über Bord: Trusts und Kartelle bändigten den „freien" Unternehmer, der Koalitionsfreiheit begegnete man mit Maschinengewehren, die Pressefreiheit liquidierten Inserate, Subventionen und Verbote, und der Liberalismus verendete in den Uniformen der kapitalistischen Millionenarmeen.
Heute hat das revolutionäre Proletariat den Kampf um die Freiheit angetreten. Es „meint" aber eine andere Freiheit. Nicht „Einer gegen Alle" und „Alle gegen einen" ist unsere Losung, sondern: „Einer für Alle" und „Alle für jeden". Noch sind wir nicht so weit. Solange die wirtschaftlichen Verhältnisse schlecht sind, kann der Mensch nicht gut sein. Der Aufbau einer sozialistischen Weltwirtschaft muss aber mit den Menschen, wie sie heute sind — wir haben alle noch das Erbe der kapitalistischen Vergangenheit im Blut — vollzogen werden. Ohne Zwang, ohne Diktatur ist das unmöglich. Aber „es wächst der Mensch mit seinen höhern Zwecken". Er wird, die sozialistische Wirtschaft aufbauend, die Fesseln individualistisch beschränkter Denkungsart Schritt für Schritt abstreifen, und im gleichen Tempo werden Zwang und Diktatur sich als entbehrlich erweisen. Erst wenn der Mensch die Bastille seiner engherzigen Eigeninteressen gestürmt hat, ist der Tag der Freiheit angebrochen.

In West- und Mitteleuropa ist die Vorkriegsproduktion erreicht
Nach den vorliegenden Berichten kann es als sicher angenommen werden, dass die Gesamtmasse der im Monat Juli hergestellten Waren nicht hinter der Gesamtwarenmasse des Monats Juli 1913 zurücksteht. Damit ist aber die Durchschnittsproduktivität der Vorkriegszeit noch lange nicht erreicht. Die Zahl der Beschäftigten ist gegenüber der Vorkriegszeit bedeutend gestiegen. Der einzelne Werktätige erzeugt also immer noch eine geringere Produktenmenge als 1913. Der erste Schritt aber ist getan. Eine ungleich größere Bedeutung erhält die oben festgestellte Tatsache, wenn wir uns die Art der Produktion ansehen. Die Herstellung einer Anzahl von Luxusgegenständen ist ganz eingestellt worden. Der Wohnungsbau hat noch nicht einmal 5o% der Vorkriegsziffern erreicht. In Anbetracht der Minderproduktion in den Vormonaten können wir damit rechnen, dass wir im Laufe dieses Wirtschaftsjahres noch nicht einmal 40% der Wohnraumproduktion von 1913 erreichen. Im Bergbau ist es trotz aller Anstrengungen noch nicht gelungen, die Arbeitsleistung pro Kopf und Schicht auf mehr als 70% der Vorkriegsleistung zu bringen. Infolge der verkürzten Schichten und der großen Belegschaftsvermehrung ist jedoch die absolute Vorkriegsförderung bereits überschritten. Ganz gewaltige Fortschritte sind indessen durch rücksichtslose Umstellung in folgenden Industrien gemacht worden: Lokomotiv-, Waggon-, Automobil-, Traktoren-, Schiffs- und Maschinenbau. Auch auf diesen Gebieten ist die Vorkriegsproduktivität pro Kopf und Schicht noch lange nicht erreicht. Durch allgemeine Einführung des Drei- und Vierschichtensystems, durch Neueinstellung von Hunderttausenden sind aber die absoluten Produktionsziffern der Vorkriegszeit weit überholt. Die Produktivität in diesen Industriezweigen wird von Monat zu Monat stark anwachsen. Das ist von ganz besonderer Bedeutung für Russland und den gesamten Osten. In Russland ist es trotz allgemeiner Einführung des Mehrschichtensystems, trotz Einreihung Hundertausender in die Produktion, trotz zahlreicher Subbotniks (freiwillige, unbezahlte Sonntagsarbeit) noch nicht gelungen, mehr als 60% der gesamten industriellen Vorkriegsproduktion zu erreichen. Die meisten Fabriken sind zwar mit unserer Hilfe wieder instand gesetzt worden. Es fehlt aber an allen Ecken und Enden. Unsere Pflicht ist es, mit Aufbietung unserer ganzen Kraft dieses Manko rasch auszugleichen. Die Rolle Russlands in der proletarischen Weltrevolution ähnelt sehr stark der Rolle, die Frankreich in der bürgerlichen Weltrevolution gespielt hat. Wie damals Frankreich, so hat diesmal Russland die meisten Opfer bringen und die Hauptlast des sozialen und politischen Kampfes tragen müssen. Wie damals Frankreich, so hat Russland den schwersten Teil des Kampfes ertragen und die größten Verwüstungen und Zerstörungen erlitten. Mitteleuropa, das in einer früheren Revolution, im Zeitalter der Bauernkriege und der Reformation, einmal eine ähnliche Rolle spielte, ist heute Nutznießer der harten Kämpfe in Russland, wie es nach 1789 Nutznießer der französischen Revolution war, deren bleibende Erfolge auch dem mitteleuropäischen Bürgertum zugute kamen. Wir leben aber heute im Zeitalter der Solidarität und erkennen daher die besondere Pflicht, die uns daraus erwächst: Zurückstellung aller Sonderinteressen! Alle Kraft für die Wiederherstellung und die Industrialisierung Russlands!
Unser Kampfruf lautet immer wieder: Rationalisierung und Steigerung der Produktion.
Dadurch helfen wir uns. Damit helfen wir Russland und damit wieder uns. In dieser Erkenntnis und in unsrer gesteigerten Arbeit manifestiert sich am deutlichsten der ungeheure Unterschied zwischen den Jahren 1789 und 1919.


Vorwärts - 11. August 1919

Mehr produzieren! Schärfer rationalisieren!
Erste Wirtschaftssiege!
Stabilisierungsanleihe
Der Brennstoffmangel beseitigt!

Es geht vorwärts auf allen Fronten. In Mitteleuropa haben wir dank unserer rücksichtslos scharfen Maßnahmen und der unermüdlichen Aufklärungsarbeit unserer Funktionäre die Vorkriegsproduktivität auch pro Kopf und Schicht erreicht. Eine neue Million von zugewanderten Russen ist in Deutschland, Frankreich, Belgien, England und Skandinavien in die Produktion eingereiht worden. Mit unserer Hilfe wurden die wichtigsten Betriebe Russlands so weit wieder hergestellt, dass man noch in diesem Jahre die Gesamtproduktion der Vorkriegszeit für das letzte Vierteljahr zu erreichen hofft. Die rumänischen und kaukasischen Erdölgebiete werden noch in diesem Jahr (allerdings mit einer stark vermehrten Belegschaft) die Vorkriegsproduktion erreichen. Die ersten größeren Kohlentransporte aus Spitzbergen sind in Archangelsk und Murmansk und in den Ostseehäfen eingetroffen. Den Kohlenbedarf Süd- und Mittelitaliens sowie den vorübergehenden Zuschussbedarf der Schwarzmeergebiete deckt England. Den Zuschussbedarf Frankreichs und Norditaliens liefert das Ruhrgebiet. In Oberschlesien wird mit Hochdruck an der Erweiterung der Produktionsanlagen gearbeitet. Zur Zeit werden Notbaracken für hunderttausend neue polnische Arbeiter errichtet. Im mesopotamischen Erdölgebiet sind umfangreiche Arbeiten neu in Angriff genommen worden. Die Baumwollanbaufläche in Indien soll im nächsten Jahre um 30%, in Turkestan sogar um über 100% gesteigert werden. Die Vergrößerung der Kaffeeanbaufläche auf den Südseeinseln soll vorläufig zurückgestellt werden, da das amerikanisch-brasilianische Kaffeekomitee uns gegen Abschluss eines langjährigen Abnahmevertrages ganz bedeutende Preisermäßigungen und langfristige Kredite zugestanden hat. Die hierdurch freiwerdenden Summen sollen für die Forcierung des Eisenbahnbaus in Indien verwandt werden, der vom englischen Eisentrust durchgeführt wird. Deutschland soll noch in diesem Jahre die größten Lücken in der Bagdadbahn ausfüllen, die Vorarbeiten für den persischen Bahnbau in Angriff nehmen und mit dem Bau einer Teilstrecke der sibirisch-turkestanischen Eisenbahn beginnen. In Osteuropa wurden bereits 3oo km neuer Eisenbahnen gebaut. 800 km sind in Angriff genommen, 2000 km sind das Ziel für dieses Jahr.
Der Bau von über hundert Elektrizitätswerken ist im Gange. Einige tausend Kilometer von Landstraßen sind bereits wiederhergestellt worden. Über 1000 km neuer Landstraßen nach dem Osten sind bereits fertig, zehntausende sollen in den nächsten Monaten fertig werden. Das ist nur ein ganz kleiner Teil unseres Arbeitsprogramms.

Die Finanzierung dieser Arbeiten
ist nur möglich, wenn wir trotz Steigerung der Produktion an dem Lohnschema vom ersten Mai festhalten. Eine Anzahl von Gewerkschaften fordert die sofortige Einführung des Friedenslohns und die Senkung der Mieten. Das ist eine unsinnige und schädliche Forderung, der wir aufs schärfste entgegentreten. Wenn wir noch in diesem Jahre trotz unzähliger sozialer Verbesserungen, trotz verkürzter Arbeitszeit, trotz Kriegs- und Revolutionsfolgen, den Vorkriegslohn erreichen, so ist dies eine ganz gewaltige Errungenschaft. Aber das wird nur dann der Fall sein, wenn wir weiterhin die Produktion von Monat zu Monat steigern und ohne Rücksicht auf Traditionen und veraltete Vorrechte die schärfsten Rationalisierungsmaßnahmen durchführen. Die bisher nur oberflächlich durchgeführte Reorganisation des Behördenapparats hat 200000 neue Arbeitskräfte freigemacht. Durch die Rationalisierung des Bank- und Versicherungsapparates haben wir 5o 000 neue Arbeitskräfte teils gewonnen, teils durch Frauen ersetzt. Die Zusammenlegung und Vereinfachung der Sozialversicherung brachte uns weitere 20000 neue Arbeitskräfte. Das ist aber erst der Anfang. Wir müssen noch viel mehr rationalisieren, noch viel mehr Arbeitskräfte freisetzen. Für den nächsten Monat werden wieder über 100000 Arbeitskräfte angefordert. Wir können nicht dauernd neue Menschen aus Russland importieren und in Notbaracken unterbringen, wir müssen uns daran gewöhnen, unsern Menschenbedarf selbst zu decken. Unser Verteilungsapparat ist zu teuer und viel zu schwerfällig. Er muss vereinfacht werden. Sehr viel Arbeit, die von Angestellten verrichtet wird, könnte nach gründlicher Rationalisierung ehrenamtlich geleistet werden. Wenn wir auf diesem Gebiete hunderttausend Menschen einsparen, so ist das für uns zehnmal mehr wert, als wenn wir die Löhne vorzeitig um 10% erhöhen würden. Das wird und muss jeder vernünftige Mensch einsehen. Der erste Schritt auf diesem Wege wird bereits am 1. September getan. Die Wochenlöhne werden von diesem Tage ab in allen größeren Betrieben nicht mehr an einem bestimmten Wochentag, sondern für je ein Sechstel der Belegschaft getrennt an allen Werktagen gezahlt. Dann hört die Überfüllung der Läden und Verteilungsstellen in den letzten Wochentagen auf. Die Arbeit verteilt sich gleichmäßig auf alle Tage. Je nach Lage der Dinge können in den einzelnen Orten die Verteilungsstellen oder die Belegschaften verringert werden. Voraussetzung für die Fortsetzung der Rationalisierungsmaßnahmen und für die Erweiterung der Produktion ist aber, dass genügend Spielraum in finanzieller Hinsicht vorhanden ist.

Eine Stabilisierungsanleihe
soll ab 1. September zur Zeichnung aufliegen. Ab 1. September werden 90% der Vorkriegslöhne gezahlt. Damit ist die größte Not im Arbeiterhaushalt behoben. Ein Teil der Arbeiterschaft wird auch dann noch Mühe haben auszukommen. Jeder Proletarier aber, der es irgend kann, ist moralisch verpflichtet, Stabilisierungsanleihe zu zeichnen und sich die Teilbeträge bis Ende Dezember vom Lohn abziehen zu lassen. Ganz besonders aber gilt dies für die Familien, in denen auch die Frau und die älteren Kinder mitarbeiten. Wir bauen unser eigenes Unternehmen auf, das größte Unternehmen, das es jemals in der Weltgeschichte gegeben hat. Dieses Unternehmen soll uns später einmal ungeheuren Nutzen bringen. Es ist also nur natürlich, dass wir alle zunächst einmal Opfer bringen. Die Kapitalisten haben ihre Unternehmen aufgebaut durch die Mehrarbeit der Proletarier. Eine andere Quelle haben wir zunächst auch nicht. Aber wir wollen diese Mehrarbeit über den eigentlichen Konsum hinaus freiwillig leisten, denn wir wissen ja, dass wir später selbst die Nutznießer dieser Mehrarbeit sein werden. Unterstützt deshalb alle die Kampagne für die Stabilisierungsanleihe! Diese Kampagne muss mit unerhörter Wucht geführt werden, in den Belegschaften, in den Gewerkschaften, in den Arbeiterklubs und in allen sonstigen Arbeitervereinen. In den Konsumvereinen ist allerstärkste Propaganda dafür zu machen, dass jedes Mitglied bis zum Ende des Jahres seinen vollen Anteil von 50 Mark einzahlt. Auch damit dient er der Allgemeinheit.
Das Gebot der Stunde ist:
Rationalisieren! Mehr produzieren! Sparen!


Vorwärts - 15. September 1919

Rationalisieren! Sparen!
Getreidemangel in Russland
Schränkt den Verbrauch ein! Propagiert die Warenkampagne!

Mit dem Ende des Kriegskommunismus in Russland hat auch die zwangsweise Aufbringung von Getreide aufgehört. Der russische Bauer bekommt seine Erzeugnisse jetzt bezahlt. Er weigert sich aber in vielen Fällen, seine Waren gegen Geld herzugeben, da er sich oft nichts dafür kaufen kann. In Russland besteht furchtbarer Mangel an Waren aller Art. Diesen Mangel hat zwar die Zufuhr aus Westeuropa etwas gemildert, aber noch lange nicht behoben. Die aufgeklärten russischen Proletarier besitzen genug Selbstzucht, um auf alles Entbehrliche vorläufig zu verzichten; die russischen Bauern dagegen bleiben lieber auf ihren Vorräten sitzen oder bauen nur so viel an, wie sie selbst brauchen, solange sie im Austausch gegen ihre Erzeugnisse nicht andere Waren erhalten. Unsere Aufgabe ist es, diese Waren aufzubringen. Wir setzen das feste Vertrauen in die westeuropäischen Proletarier, dass sie die neue Aufgabe lösen, damit wir im nächsten Jahre genügend Brotgetreide haben und den kostspieligen Apparat der Zwangswirtschaft abbauen können. Wir müssen den russischen Bauern erst einmal für viele Milliarden Mark Waren liefern, damit sie so viel Getreide wie möglich abliefern und die Anbaufläche für die nächste Ernte so weit wie möglich vergrößern. Wenn sie erst einmal sehen, dass sie für das neue Geld auch wirklich die Waren bekommen, die sie brauchen, so werden sie bald auch gegen Geld verkaufen. Wie können wir unsere neue Aufgabe lösen?
1. Durch massenhafte Aufbringung von Waren in natura.
2. Indem wir unseren Konsum einschränken und dafür Stabilisierungsanleihe zeichnen.
Zu 1. In Russland herrscht zur Zeit ein fast primitiver Tauschverkehr. Es fehlt an allem, aber auch an allem. Deshalb werden wir in Westeuropa alle Waren sammeln, die irgendwie entbehrlich sind. Die Mitglieder der Partei und der Arbeiterjugend werden von Haus zu Haus gehen und sammeln. Alles, aber auch alles soll dabei angenommen werden. Haushalts- und Wirtschaftsgegenstände ebenso wiegebrauchte Werkzeuge und Bekleidungsgegenstände und vor allem Schuhwerk, auch gebrauchtes. Ein Volk von 150 Millionen muss mit allem versehen werden, was es überhaupt gibt. Dazu kann und soll jeder sein Scherflein beitragen.
Zu 2. Wir werden dem russischen Bauern vor allem Düngemittel, Maschinen, Bekleidung und Werkzeuge liefern. Er soll sehen, dass er seine Erzeugnisse für Geld verkaufen kann und dass er für dieses Geld alle Waren kaufen kann, die er haben will. Das ist zunächst der einzige Weg, um ihn zur Mehrproduktion zu veranlassen. Viele Jahre wird es dauern, ehe der russische Bauer so weit aufgeklärt ist, dass er sozialistisch denken kann. So lange müssen wir ihn bei seinem Egoismus packen. Wir brauchen über diese altmodische Denkweise nicht einmal zu lächeln. Sehen wir uns doch einmal bei unseren eigenen Bauern um. Aber wir brauchen nicht einmal so weit zu gehen: Auch in unseren eigenen Reihen gibt es noch genug asoziale Elemente, wie uns die Augustbewegung für sofortige Lohnerhöhung bewiesen hat, an der sich sogar prominente Gewerkschaftler und Parteigenossen beteiligten (die inzwischen allerdings wegen Disziplinbruchs bestraft und aus der Partei ausgeschlossen wurden).
Das bisherige Ergebnis der Stabilisierungsanleihe beweist uns, dass die Mehrzahl der europäischen Proletarier bereits sozialistisch denkt. In Deutschland allein sind schon über drei Milliarden gezeichnet worden. Dieser Betrag muss aber angesichts der neuen Aufgabe verdoppelt werden. Also Genossen, noch einmal ans Werk! Jedes Haus, jede Wohnung, jede Werkstatt muss noch einmal abgeklappert werden. Auch dem Einfältigsten muss es einleuchten, dass es sich lohnt, eine kleine Verbrauchseinschränkung bis Ende dieses Jahres zu ertragen, damit baldmöglichst genügend Lebensmittel vorhanden sind.
Lohnerhöhungen über 100% des Vorkriegslohns hinaus sowie Arbeitszeitverkürzungen dürfen in diesem Jahre auf keinen Fall mehr erfolgen. Andrerseits darf ab 1. Dezember in keinem öffentlichen oder privaten Betriebe weniger als 3,5o Mark für den vollen Arbeitstag gezahlt werden. Zuwiderhandlungen von privatkapitalistischer Seite werden außer mit Gefängnis mit Einziehung des Vermögens bestraft.
Von morgen ab erhält die Belegschaft verschiedener gutgeleiteter Werke trotz Siebenstundentag den Vorkriegslohn. Alle Parteigenossen, die in solchen Betrieben arbeiten, müssen laut Parteibeschluss, ebenso wie alle anderen Parteigenossen, die mehr als 150 Mark verdienen, mindestens 20% ihres Lohnes bis Ende des Jahres in Stabilisierungsanleihe anlegen. Wer damit nicht einverstanden ist, mag aus der Partei austreten. Auf die Arbeiter, die nicht Parteimitglied sind, wollen wir keinen unmittelbaren Druck ausüben. Wir erklären jedoch heute schon, dass wir künftig niemand in die Partei aufnehmen werden, der in schweren Tagen nicht seine Pflicht getan hat. Wir verlangen viel, gewiss, die Partei wird sich nicht beliebt machen mit solchen Beschlüssen. Aber darauf kommt es auch nicht an. Es kommt einzig und allein darauf an, dass die Stabilisierung nicht gefährdet wird und die ungeheuren Arbeiten, die wir begonnen haben, ungestört ihren Fortgang nehmen können.


Vorwärts - 9. November 1919

Rationalisieren! Mehr produzieren! Sparen!
Ein Jahr Deutsche Revolution

Heute vor einem Jahr flatterten zum ersten Mal die roten Fahnen über dem befreiten Berlin. Heute vor einem Jahr reichten wir zum ersten Male den russischen Revolutionären die Bruderhand und gaben damit das Signal zur Weltrevolution. Voll Stolz können wir heute sagen, dass der Sieg der Weltrevolution vom deutschen Proletariat entschieden wurde. Wie traurig würde wohl heute die Welt aussehen, wenn wir damals den Reformisten und Opportunisten das Heft in der Hand gelassen und vor der Entente kapituliert hätten. Vielleicht könnten wir in diesem Jahre etwas leichter leben. Viele Kämpfe und Entbehrungen wären uns vielleicht erspart geblieben. Aber was wäre aus der Revolution, was wäre aus Russland geworden? Russland ist heute immer noch unser wirtschaftlich schwächster Punkt. Wir freuen uns, dass wir Russland heute nicht mehr wie vor einem Jahre mit Soldaten und Maschinengewehren, sondern mit Maschinen, Lokomotiven, Waggons, Automobilen und Traktoren sowie mit sonstigen Waren aller Art helfen können. Der Erfolg wird derselbe sein wie damals. Unsere erste revolutionäre Tat vor einem Jahre war die Sprengung des eisernen Ringes, den der auch im Kriege internationale Kapitalismus um das rote Russland gelegt hatte. Eineinhalb Monate später brachten die Helden der russischen roten Armee an der Oder die Entscheidung im militärischen Endkampf mit dem Kapitalismus. Zehntausend deutsche, englische, französische, belgische und italienische Traktoren defilierten vorgestern am zweiten Jahrestage der Oktoberrevolution in den Straßen Moskaus und Petrograds und wurden von den revolutionären russischen Arbeitern mit endlosem Beifall empfangen. Von Breslau aus gehen heute wieder 100 neue Lokomotiven und 2000 neue vollbeladene Waggons nach Russland ab. Morgen werden wieder 10000 neue Traktoren auf ihrem Wege nach Russland durch die Linden" ziehen. Und am 27. Dezember, am Tage der Weltrevolution, werden auch in Paris, London und Mailand je 10000 Traktoren aufmarschieren, die für Russland bestimmt sind. Im Nordkaukasus und in Sibirien sind bereits die ersten großen Getreidefabriken entstanden. Die Getreidefabrik „Gigant" z.B. arbeitet mit 600 Traktoren und 1500 Traktorenführern. (Zehntausend solcher Getreidefabriken, — und unsere Nahrungsmittelsorgen sind für immer behoben.) Solche Erfolge beweisen, dass die großen Opfer des ersten Revolutionsjahres nicht umsonst gebracht wurden. In diesem Jahre war die Arbeit in ganz Europa auf die Hilfsmaßnahmen für Russland konzentriert. Alles wetteiferte, um dem Mutterland der Revolution, das die schwersten Opfer gebracht hat und wirtschaftlich am rückständigsten ist, seinen Dank abzustatten. Im nächsten Jahre aber beginnt die Arbeitsteilung. England, Südfrankreich und Italien scheiden ab 1.Januar aus dieser Front aus. Die Wirtschaftshilfe für Russland wird im nächsten Jahre fast gänzlich der Nordeuropäischen Föderation überlassen bleiben. Wir sollen im nächsten Jahre für 6 Milliarden Mark Waren mehr nach Russland liefern, als wir von Russland erhalten. Das ist aber nur ein geringer Bruchteil der Summe, welche wir über die Konsumtion hinaus aufbringen müssen. Allein für Reparationsarbeiten sind über 3 Milliarden Mark im Etat der Nordeuropäischen Föderation eingesetzt. Ungefähr 5 Milliarden Mark sind für Neuanlagen vorgesehen, für 6 Milliarden Waren sollen wir über die Einfuhr hinaus an die Mittelmeerföderation, an die Donauföderation sowie nach Kleinasien, Mesopotamien, Indien und China abgeben. Von den amerikanischen Lieferungen erhalten wir dagegen nur geringe Bruchteile. Der Hauptteil soll nach Sibirien, China. Indien und Australien gehen. Wir sind also fast ganz auf unsere eigene Kraft angewiesen, und dennoch werden wir beweisen, dass wir das gesteckte Ziel nicht nur erreichen, sondern sogar überholen können. Ohne Opfer wird es auch im nächsten Jahre nicht gehen. Aber wir haben im ersten Revolutionsjahre gezeigt, dass die sozialistische Idee uns Opfer wert ist. Anders hätten wir den Stand von heute in Jahren noch nicht erreicht.
Heute am Jahrestage der Revolution wird in vielen Betrieben der Siebenstundentag (Achtstundentag mit einstündiger Unterbrechung) eingeführt. Eine Anzahl von lebenswichtigen Betrieben geht ab morgen zur vierfachen ununterbrochenen Sechsstundenschicht über. Der Kampf für schärfste Anspannung aller Kräfte, für rücksichtslosen Abbau aller entbehrlichen Stellen, für Steigerung der Arbeitsleistung und der Produktion, für Senkung der Gestehungskosten wird fortgesetzt, auch wenn vorläufig keine sichtbaren Erfolge für den einzelnen Arbeiter mehr eintreten. Der Vorkriegstageslohn darf bis zum Ende dieses Jahres nur von den Arbeiterkategorien überschritten werden, die früher weniger als 4 Mark im Tag bekamen. Die Einführung des Sechsstundentages darf nur in solchen Betrieben erfolgen, in denen alle Arbeitsmöglichkeiten im Dreischichtensystem restlos erschöpft sind und in denen bei Einführung des Vierschichtensystems eine wesentliche Steigerung der Produktion eintritt. Die Stabilisierungsanleihe hat in Deutschland allein fast fünf Milliarden Mark aufgebracht. Die Propaganda der Sozialisierungsanleihe für das Jahr 1920 muss sofort beginnen.
So feiern wir den ersten Jahrestag der deutschen Revolution !


Vorwärts - 15. Dezember 1919

Alle Kräfte angespannt:
Die Produktion des Jahres 1918 muss erreicht werden!

Als Erfolg unserer unermüdlichen Anstrengungen können wir feststellen, dass die durchschnittliche Tagesproduktion pro Kopf des beschäftigten Arbeiters trotz verkürzter Arbeitszeit auf über 120% der Vorkriegsproduktion gestiegen ist. Wir können annehmen, dass infolge der Umstellung der Produktion, des rücksichtslosen Abbaus überflüssiger Kräfte, der Rationalisierung und weitgehender Arbeitsteilung sowie infolge der Einreihung von Millionen Arbeitskräften in den Arbeitsprozess der Tageswert unserer Produktion jetzt schon das anderthalbfache der Vorkriegsproduktion übertrifft. Die Gesamtproduktion des Jahres 13 ist jedoch noch nicht erreicht, da wir im ersten Halbjahr viel weniger produziert haben als vor dem Kriege. Das ist in Anbetracht der damals herrschenden Zustände zu entschuldigen. Alle alten Staaten haben aber vom Zentralwirtschaftsrat der S. U. die Anweisung erhalten, dass sie bis zum 31.Dezember unter allen Umständen die industrielle Vorkriegsjahresproduktion erreichen müssen, und dass die landwirtschaftliche Anbaufläche auf Vorkriegshöhe zu bringen ist. Wir sind in Deutschland nicht mehr sehr weit von diesem Ziel entfernt. Jeder Funktionär muss noch einmal in seinem Betriebe nachprüfen, ob nicht noch eine Arbeitsstelle eingespart werden kann, ob nicht noch eine Rationalisierungsmöglichkeit vorhanden ist, ob nicht durch arbeits- und kräftesparende Methoden noch eine Leistungssteigerung oder eine weitere Senkung der Gestehungskosten erreicht werden kann. Eine Anzahl größerer Betriebe leistet am nächsten Sonntag und am zweiten Weihnachtstag unbezahlte Überstunden. In den Lenin-Luxemburg-Werken in Breslau, deren Belegschaft schon seit langem in vier Sechsstundenschichten arbeitet, wird schon seit September von jeder Schicht an einem Sonntag im Monat eine unbezahlte Achtstundenschicht geleistet. Das Werk hat den ersten Preis im sozialistischen Wettbewerb gewonnen. Der Volkswirtschaftsrat hat dem L.L.W.-Club gestern das Schloss Fürstenstein (ehemaliger Besitz des Fürsten Pleß) mit sämtlichem Land- und Forstbesitz und dem erstklassigen Marstall übereignet. Das Schloss wird als Wochenendheim für die L.L.W.-Arbeiter eingerichtet und soll in den Wochentagen je einer Abteilung von Frauen und Kindern der L. L.W.-Arbeiter als Erholungsaufenthalt dienen. Der L. L. W.Klub, der bereits 2 Schlösser (Krieblowitz und Pilsnitz) sowie 5 Landheime im Riesen-, Iser- und Glatzer Gebirge besitzt, übernimmt die Rennbahn Hartlieb in eigene Verwaltung und plant größere Neubauten. Auch im nächsten
Jahr soll allmonatlich eine unbezahlte Sonntagsschicht geleistet werden. Ein Drittel des Ertrages soll dem sozialistischen Akkumulationsfonds zugeführt, ein Drittel in Sozialisierungsanleihe angelegt und das letzte Drittel zur Finanzierung der elektrischen Schnellbahn Breslau—Zobten verwandt werden, wo an den waldigen Hängen des Zobtenberges eine vorbildliche Arbeitersiedlung entsteht. Die Belegschaft der L. L. W. soll in den nächsten Jahren auf über 100000 Mann vermehrt werden. Der L..L.W.-Klub, der bereits die Patenschaft und Industrialisierung einer Anzahl von Dörfern übernommen hat, soll außerdem ab 1. Januar die Selbstverwaltung von 10 großen Gütern in der Umgebung von Breslau übernehmen. Wir gratulieren den Breslauer Arbeitern zu ihrem Erfolg. Es ist ihnen gelungen, ihre Konkurrenten im sozialistischen Wettbewerb zu schlagen. Wir hoffen, dass sie nach diesem Erfolg nicht müde werden und ihre Anstrengungen im nächsten Jahre verdoppeln. Breslau, unser Ausfallstor nach Osten und Südosten, soll in den nächsten fünf Jahren eine Zweimillionenstadt werden. Eine gewaltige Arbeit ist also noch zu leisten, Breslauer Genossen. Euer Start war gut. Haltet aus! Nur in härtester Arbeit wird es euch gelingen, die Spitze im sozialistischen Wettbewerb zu halten. Alle Städte und alle Betriebe der Nordeuropäischen Föderation werden im nächsten Jahre wetteifern, euch zu übertreffen. Das nächste Ziel aber ist: Die Produktion des Jahres 13 muss erreicht werden!


Vorwärts - 31. Dezember 1919

Rationalisieren! Mehr produzieren! Sparen!
Das Ende der Nationalstaaten

Mit dem heutigen Tage hören die alten Nationalstaaten auf zu existieren. Der größte Teil Deutschlands gehört von morgen ab zur Nord-Europäischen Föderation. Damit wird eine neue, gewaltige Rationalisierung unserer gesamten Wirtschaft eintreten. Über 1000 veraltete Betriebe werden allein im ehemaligen Deutschland stillgelegt. Etwa die Hälfte davon soll umgestellt und gründlich rationalisiert werden. In vielen modernen Betrieben wird vom 2. Januar ab in vier Sechsstundenschichten gearbeitet. Man schätzt, dass mit der Auflösung der alten Staatsapparate im Bereiche unserer Föderation heute ungefähr 130000 Menschen für produktive Beschäftigung freigeworden sind. Ebensoviele werden noch nach Abschluss der Abwicklungsarbeiten zur Verfügung stehen. Die fast völlige Auflösung des Apparates der Sozialversicherungsträger wird uns ebenfalls wertvolle neue Arbeitskräfte bringen. Ebenso der Abbau in unserem Verteilungsapparat.
Sehr viel muss aber noch getan werden, um den Abbau der Beamteninflation in den Rathäusern der kleinen und mittleren Städte zu beschleunigen. Der Sechsstundentag gibt uns die Möglichkeit, eine ganze Anzahl von Selbstverwaltungsarbeiten ehrenamtlich erledigen zu lassen. Fast 75% der früher in den Gemeindebüros erledigten Arbeiten ist vollständig überflüssig geworden. Wohlfahrtsunterstützungen werden nur noch in wenigen, schlecht geleiteten deutschen Städten gezahlt. Überall sonst sind die arbeitsfähigen Unterstützungsempfänger wieder in die Produktion eingereiht worden. Nur die ständig Arbeitsunfähigen erhalten eine festgesetzte Dauerrente. Die Steuerreform setzt ebenfalls viele tausend Arbeitskräfte frei. Auch der Apparat zur Liquidierung des Krieges wird zum größten Teil aufgelöst. Alle Kriegsbeschädigten mit einer Erwerbsfähigkeitsminderung bis zu 50% sind im Verlauf der Rationalisierungsarbeiten an geeignete Arbeitsplätze gestellt worden, die sie voll ausfüllen können. Sie erhalten für die Dauer eines Jahres noch einen festen Umlernungszuschlag. Im allgemeinen kann gesagt werden, dass unsere Parole „Arbeit, nicht Unterstützung" in vollem Umfange befolgt worden ist. Zur Durchführung dieser großen Aufgabe haben wir zwar das Lohnniveau etwas niedriger gehalten, als sonst notwendig gewesen wäre. Wir waren hart, manchmal sogar grausam. Fast tausend Saboteure mussten im letzten Jahre erschossen werden. Aber wir haben auch Gewaltiges erreicht: fast alle arbeitsfähigen Menschen verrichten jetzt eine gesellschaftlich notwendige Arbeit. Die Jahresproduktion des Jahres 1913 wurde überschritten. Darauf können wir mit Recht stolz sein, wenn wir von morgen ab in dem neuen größeren Verband aufgehen. Aber auch im nächsten Jahre wird die Parole lauten: Rationalisieren! Mehr produzieren! Sparen!

Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur