1918... 1930...
  Zwölf Jahre. Jahre der Hoffnung, der Geduld, des Erschlaffens; Jahre  immer neuer Hoffnung und Enttäuschung, der Verbitterung, der Müdigkeit,  der Gleichgültigkeit und der Verzweiflung. Hunderttausend Jimmie  Higgins blicken zurück auf zwölf verlorene Jahre. Treppauf, treppab  sind sie gelaufen, sie haben geschwitzt, geschuftet, geredet und  geschrieben, sie haben unzählige Versammlungen, Zahlabende, Kurse,  Funktionär-, Kommissions- und Ausschusssitzungen besucht, haben  Tausende von Mitgliedern und Abonnenten geworben, haben die Kleinarbeit  bei Kommunal-, Landtags- und Reichstagswahlen getan. Zwölf Jahre lang  sind sie jeden Sonntag kassieren gegangen. In rauchigen Lokalen haben  sie sich bis spät nachts mit Gegnern auseinandergesetzt und gingen dann  noch Plakate kleben. Und früh um fünf sind sie hundsmüde, die  Margarinestulle in der Tasche, durch den grauen Morgen an ihr Tagewerk  gegangen. Die Stunden, die diese Proletarier von ihrer Freizeit  hingaben, — wer zählt sie zusammen? Viele hunderttausend Lebensjahre  sind geopfert worden! Wofür das alles? 
    Wofür? Für die „Bewegung"! Für „die größte Arbeiterpartei der Welt",  für die SPD.! 
    Ihre Opfer an Zeit, Geld, Kraft und Gesundheit waren das Kapital, das einzige  Kapital dieser Proletarier. Sie opferten 
    es ihrer Klasse, der schaffenden Menschheit, als Saatkorn für eine spätere gute  Ernte. 
    Umsonst! Geerntet haben ein paar tausend „Genossen", die es sich in  Amtsstuben, in Landrats-, Reichstags-, Aufsichtsrats- und  Ministersesseln bequem machten. Die Massen gingen leer aus. 
    Nein! Sie sind noch ärmer geworden und noch entrechteter! Wie war das  möglich? Wer ist schuld daran? Gleich Hunderttausenden habe ich oft  über diese Frage nachgedacht... Die Flugblätter vom 9. November 1918,  die ich diesem Buch voranstelle, gaben mir die Antwort: Wir waren blind  vor zwölf Jahren. Hätten wir schärfer gesehen, hätten wir unsere Führer  und den Sinn, den Wert ihrer Parolen und Taten durchschaut und als  Sozialisten die Konsequenzen daraus gezogen, — die Weltgeschichte hätte  einen anderen Lauf genommen. Welchen Lauf sie genommen hätte, das zu  schildern versuche ich in vorliegendem Buch, das den Untertitel trägt: 
    „Eine realpolitische Utopie."' Ist das nicht ein Widerspruch? Utopien  nehmen Kommendes vorweg. Sie erzeugen ein zweifaches Lachen. 
    Zuerst lachen die Neunmalklugen — die „Realpolitiker" — über die Phantasie  des Verfassers. 
    Später — nach der Verwirklichung — spottet alle Welt derjenigen, die  damals lachten, als die „Utopie" noch „Utopie" war. Möge mein Buch dies  Schicksal teilen. 
    Lasst die Anderen lachen. Uns ist es bitter ernst, denn es geht um die  Sache der ganzen arbeitenden Menschheit: um den Endkampf. Es genügt  nicht, den Zustand zu zeigen, der heute sein könnte und morgen sein  wird. Das wäre leicht und billig, wenn ich nicht gleichzeitig zeigte,  wie das Ziel erreicht werden kann, wenn ich nicht sofort hinzufügte,  dass der Sozialismus nicht von selbst kommt, sondern mit ungeheuren  Anstrengungen und unter Opfern und Entbehrungen erkämpft werden muss. 
    Ist der ein Utopist, der die Anstrengungen zeigt, die notwendig gewesen  wären, um das zu erreichen, was heute schon Wirklichkeit sein könnte? 
    Nein! Utopisten sind die anderen, die immer noch vom Hineinwachsen in  den Sozialismus träumen, die „Marxismus" mit „Fatalismus" verwechseln,  die immer ängstlich davor warnen, den Entwicklungsprozess zu stören  oder gar zu beschleunigen. 
    Nichts kommt von selbst! 
    Oder ist etwa die bürgerliche Revolution von selbst gekommen? Haben  Danton und Robespierre nicht gekämpft, nicht ihr Leben geopfert? Wurde  die Bastille nicht erstürmt? Ist nicht Dutzend Mal Blut geflossen in  den Straßen der Faubourg St. Antoine? 
    Die Pseudomarxisten aber träumen davon, dass die Geburt des Sozialismus  sich ohne Wehen vollziehen könne. Der Marxismus ist eine Waffe! 
    Eine scharfe Waffe! Wenn man sie — wie Lenin — anwendet und nicht — wie Kautsky  — im entscheidenden Moment 
    ins Museum stellt. Der Marxismus lehrt uns, den Sinn alles Geschehens  zu begreifen, lässt uns verborgene Zusammenhänge erkennen und zeigt  uns, wann die gegnerische Stellung reif ist zum Sturm. Aber stürmen  müssen wir selbst! 
    Dreierlei ist notwendig für die Person und für die Klasse, die einen  Sieg erringen will: Erkennen, Wollen und Handeln. Bloße Erkenntnis  nützt nichts, wenn sie nicht durch einen festen, unbeugsamen Willen und  zielbewusstes Handeln ergänzt wird. Aber auch kräftiges Wollen und  tollkühnes Handeln bleiben unwirksam, wenn sie nicht mit Erkenntnis  gepaart werden, wenn nicht die objektiven Voraussetzungen für die  Erreichung des umkämpften Ziels vorhanden sind. 
    Das ist der wahre Sinn des Marxismus! Darum nieder mit den falschen  Marxisten, die uns immer noch einreden wollen, dass es auch ohne Kämpfe  und Opfer gehe! 
    Die objektiven Voraussetzungen für den Sieg des Proletariats waren 1918  ebenso gut vorhanden wie heute. Utopisch an dem Buch ist nur die  Annahme, dass auch die Köpfe reif waren. Tausendmal haben die  reformistischen Führer versucht, die Schuld an der Niederlage der  Revolution auf die Unreife der Massen abzuwälzen. Sie haben recht. Aber  unsere ganze „Unreife" bestand darin, dass wir uns der Führung von  Leuten anvertrauten, die „überreif" waren für das Revolutionstribunal. 
    Der Inhalt dieses Buches wäre keine Utopie, wenn wir 1918...  | 
  
    
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