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Alfred Kurella - Mussolini ohne Maske (1931)
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VERRATEN UND VERKAUFT

Im gegenwärtigen Augenblick, war die allgemeine Agrarkrise trotz der hohen Schutzzölle auch die italienische Landwirtschaft in eine schier aussichtslose Lage gebracht hat, wird die Stellung der kleinen Pächter ebenso hoffnungslos wie die der Tagelöhner. Einen Einblick in ihre Lage gab mir der Besuch der kleinen Landstädte, die um das sogenannte Fucinobecken liegen. Man muss die Geschichte dieser Gegend etwas ausführlicher erzählen.
Ungefähr hundert Kilometer östlich von Rom lag in den Abruzzen inmitten eines Kranzes von Hügeln und Bergen ein Binnensee, der Fucino, mit einem Durchmesser von zwanzig bis fünfundzwanzig Kilometern. Der See wurde gespeist von den Wassern, die aus den zum Teil bis tief in den Sommer hinein mit Schnee bedeckten Bergen der Abruzzen herunterkommen. Aber der See hatte keinen sichtbaren Abfluss. Die Wasser verzogen sich durch unbekannte Risse im felsigen Gestein. Infolgedessen hatten die umliegenden Orte, die von den Nachkommen des alten kriegerischen Stammes der Marser bewohnt waren, ständig unter Überschwemmungen zu leiden, die ihre an den hügeligen Seerändern liegenden Kulturen zerstörten. Bereits im Altertum tauchte die Idee auf, diese Katastrophen durch einen künstlichen Abzugskanal zu verhindern. Der Kaiser Claudius legte dann um das Jahr 50 nach der Zeitrechnung einen solchen Kanal an, dessen Eingang in der Höhe des damaligen Seespiegels lag. Dieser Kanal, der noch heute vorhanden ist, sollte verhindern, dass die Wasser sich über den normalen Seespiegel erhoben. Es bestand schon damals auch der Plan, den See ganz trockenzulegen; aber die technischen Mittel, über die man zu jener Zeit verfügte, waren offenbar nicht ausreichend, um dies große Projekt durchzuführen. Unter den politischen Wirren der folgenden
Jahrhunderte geriet der Kanal in Verfall. Verschiedene der späteren Herrscher Italiens bemühten sich, allerdings mit geringem Erfolg, um die Wiederherstellung des Werkes. Immer wieder tauchte der Plan der Trockenlegung auf. Jede der Regierungen, die über Italien herrschten, unternahm entsprechende Versuche. Aber erst im neunzehnten Jahrhundert wurde das Werk unter den Bourbonen in Angriff genommen. Eine Aktiengesellschaft wurde gegründet und hervorragende ausländische Ingenieure zur Mitarbeit herangezogen. Die Hälfte der Aktien befand sich in der Hand eines durch Heereslieferungen für die bourbonische Armee sehr reich gewordenen Franzosen, eines Herrn Torlogne. Wiederum störten politische Unruhen die Arbeit. Die Aktiengesellschaft stand vor dem Bankrott. Da erwarb Herr Torlogne, der sich inzwischen in einen Italiener mit Namen Torlonia verwandelt hatte, für billiges Geld den Rest der Aktien. „Entweder lege ich den Fucino trocken oder er mich", mit dieser Parole machte sich Herr Torlonia an die Arbeit, nachdem er sich vorher von der Regierung ausbedungen hatte, dass, im Falle der erfolgreichen Durchführung, das durch die Trockenlegung gewonnene Land - es handelt sich um die Kleinigkeit von 16500 Hektar - ihm als Eigentum zufallen solle. Im Jahre 1870 wurde der Tunnel zur Ableitung des Wassers fertiggestellt. Es bedurfte weiterer acht Jahre, bis das große System der Abzugskanäle fertiggestellt werden konnte, durch die der Seeboden endgültig in fruchtbares Ackerland verwandelt wurde. Zum Lohn für die Wohltaten, die er dem Lande und den Bewohnern des alten Marserlandes hatte angedeihen lassen, wurde Herr Torlonia im Jahre 1875 in den Fürstenstand erhoben. Heute gehören die Fürsten Torlonia zu den mächtigsten Leuten von Italien und zu den treuesten Stützen des faschistischen Regimes. In einer der Villen, die der jetzige Fürst in der Umgebung von Rom besitzt, wohnt Mussolini.
Aber mit den „Wohltaten" hatte es eine eigenartige Bewandtnis. Der Plan des Fürsten bestand darin, auf dem neugewonnenen Land eine größere Anzahl von Kolonisten aus anderen Teilen Italiens anzusiedeln. Dieser Plan stieß auf den heftigsten Widerstand der ehemaligen Anwohner des Sees. Sie hatten früher ihren Lebensunterhalt durch Fischfang und durch Oliven- und Obstzucht an den fruchtbaren alten Abhängen des Seegeländes bestritten. Gregorius schreibt in seinen „Wanderjahren in Italien": „Lachende Uferhöhen, jetzt weit zurückgetreten, mit üppiger Garten- und Weinkultur, stiegen über der trefflichen Fahrstraße auf." Das war im Jahre 1871, als der See erst halb trockengelegt war! Nun stellte sich plötzlich heraus, dass die alten freien Marser Bauern durch die Großtat des Fürsten - in Bettler verwandelt worden waren! Nicht nur waren mit dem Wasser die Fische verschwunden, sondern durch die Entziehung des Grundwassers und durch das Sinken der Temperatur (infolge des Verschwindens des regulierend wirkenden Sees) um zwei bis drei Grad verloren die ehemaligen Seeufer ihre einstige Fruchtbarkeit: die Oliven- und Obstkulturen gingen ein. Für Getreideanbau ungeeignet, gab der entwertete Boden nur eine magere Gemüseernte. Unter dem Druck der empörten Bevölkerung verzichtete der Fürst auf den Plan der Ansiedlung fremder Bauern und erlaubte den Einwohnern der elf um den See herum liegenden Städtchen großmütig, als Pächter und Landarbeiter auf „seinem" Land, dem ehemaligen Seeboden, zu arbeiten. Die Wohltat des Fürsten stellte sich auf diese Weise als ein beispielloser Raubzug dar. Den großen „Seccatore", den Trockenleger, nannte man Torlonia vor sechzig Jahren Aber „Seccatore" hat auch noch einen anderen Sinn, es bedeutet „Quälgeist"! Und so nennen ihn auch die Bauern des Fucino!
Ich habe bei meinem Besuch der verschiedenen Städte noch alte Leute getroffen, die als Knaben die Fische des Sees in der Umgebung verkauft und in den Oliven- und Obstgärten ihrer Väter die damals freie Bauern waren, gearbeitet haben. Heute sind sie zum größten Teil nicht einmal mehr Pächter, sondern einfache Tagelöhner.
Bei der Anlage der Entwässerungskanäle wurde der Seeboden mit einem Netz von Straßen überzogen, die das ganze Gelände in mathematisch abgezirkelte Feldstücke von je hundert Morgen einteilen. Hundert Morgen war die Einheit, die in der ersten Zeil gegen eine damals nicht sehr hohe Pacht an die einzelnen Bauern zur Bewirtschaftung abgetreten wurde. Aber diese Feldeinteilung stellte sich auf die Dauer als unmöglich heraus. Die
Felder waren zu groß, als dass eine Familie sie hätte mit eigenen Kräften bearbeiten können. Die nötige Zahl von Knechten einzustellen, ging wiederum über die Kraft der kleinen Bauern; nur die größeren konnten sich das leisten. Es fing ein zäher Kampf zwischen den Bauern und der Verwaltung des Hauses Torlonia um eine andere Feldeinteilung an. Gleichzeitig mit der Herabsetzung des Pachtzinses strebten die Bauern eine Verkleinerung der verpachteten Landeinheiten an. Sie hatten Erfolg, und es kam zu einer gewissen Anpassung der Wirtschaftsformen an die Bedürfnisse der Bauern. In den Jahren unmittelbar nach dem Kriege gelang es den Bauern, weitere Konzessionen zu erkämpfen. Damals ging es auch im Fucinobecken wie in anderen Teilen Italiens den Pächtern gut. Die stolzen Marser, die einen vom Italienischen ziemlich stark abweichenden Dialekt sprechen und sich nie eigentlich zu „Italien" gehörig gefühlt hatten, gewannen an Selbstbewusstsein. Während die Administration Torlonias bestrebt war, das Städtchen Avezzano, wo die Verwaltungsgebäude liegen, zum Hauptort des Gebietes zu machen, hielten die Marser an ihrer Hauptstadt, dem alten Celano fest, das, von einem mächtigen, mittelalterlichen Kastell überragt, auf der Spitze eines Hügels am Nordrande des Sees liegt. Im Jahre 1915 wurde das ganze Seebecken von einem furchtbaren Erdbeben heimgesucht, welches das Städtchen Avezzano vollständig und die übrigen Städte zum größten Teil in Trümmer legte. Allein in Avezzano fielen 30000 Personen der Katastrophe zum Opfer. Heute noch wohnt ein großer Teil der Einwohner von Celano und anderen Orten in den damals eilig errichteten Notbaracken. Das Erdbeben brachte, so traurig es war, eine gewisse Entspannung des Arbeitsmarktes; zahlreiche Familien aus dem Fucinobecken kehrten nach dem Kriege aus allen Teilen der Welt, wohin sie ausgewandert waren, in ihre Heimat zurück und traten, mit ihren Ersparnissen größere Stücke Lands in Pacht erwerbend, an die Stelle der von dem Erdbeben Getöteten. Ich habe in allen Orten im Fucinobecken eine besonders große Zahl von Leuten getroffen, die ausgezeichnet deutsch und englisch sprachen. Aber die Lage änderte sich mit dem Einzug der Faschisten. Der Fürst bekam freie Hand, die Konzessionen, die er in den vorhergehenden Jahren an die Bauern hatte machen müssen, zurückzunehmen. Einer nach dem anderen wurden die Verträge mit den Kleinpächtern gelöst. Ein ganzer Schwarm von Neureichen zog im Seebecken ein. Es waren Spekulanten, treue Anhänger des Faschismus, die, in kurzer Zeit zu Bürgermeistern usw. ernannt, dem Fürsten große Landstücke auf einmal abpachteten und die ehemaligen Pachtbauern nun als Unterpächter, Landarbeiter und Tagelöhner einstellten. Der Pachtzins für die Kleinpächter und Unterpächter wurde von Jahr zu Jahr erhöht. Er blieb auf der gleichen Höhe, als durch die Stabilisierung der Lira die innere Kaufkraft des Geldes wuchs und gleichzeitg durch die Agrarkrise die Landwirtschaft immer unrentabler wurde. Immer mehr kleine Pächter mussten die für sie unerträglich werdende Pacht aufgeben und sich mit der Rolle von Landarbeitern und Tagelöhnern abfinden. Die Lage wurde vollends unerträglich dadurch, dass nach der Errichtung einiger großer Zuckerfabriken die Administration Torlonia eine ständig wachsende Ausdehnung der Zuckerrübenkulturen auf dem hierfür besonders geeigneten Seeboden anstrebte. Der Zuckerrübenbau schließt die Gewinnung von Nebenprodukten aus. Wovon aber sollten die Bauern leben? Der Erlös der Ernte, die sie, um ihre Schulden zu zahlen, immer schnell verkaufen mussten, wobei sie ihre Produkte den Aufkäufern, die zum Teil mit der Administration Torlonia unter einer Decke steckten, zu niedrigsten Preisen abgeben mussten, reichte meistens gerade aus, um den Pachtzins zu zahlen. In den Zeiten, als die Empörung über die „Wohltaten" des Herrn Torlonia die Bauern des Fucino bis zu Aufständen gebracht hatte, hatte der Fürst 2500 Hektar zur freien Benutzung an die Bewohner der kleinen Städte abgetreten. Es handelte sich dabei aber um das ehemalige Uferland, das infolge des von dem alten See abgeladenen Kieses so gut wie unfruchtbar ist. Auf diesem Land und auf den Abhängen, die früher die Olivenkulturen getragen hatten, kann die Bevölkerung kaum das Nötigste für sich gewinnen. Aber das faschistische Regime sorgte dafür, dass die Bauern nichts gegen diese ständige Verschlechterung ihrer Lage unternehmen konnten. Mit Hilfe von Provokateuren wurden Aufstände angezettelt und dann blutig niedergeschlagen. Besonders das Städtchen Pescina spielte hierbei eine Rolle. Als ich zur Osterzeit die Städtchen des Fucinobeckens besuchte, war ich erstaunt, auch in dieser Gegend Verhältnisse zu finden, die sich äußerlich in nichts von denen in Sizilien und dem eigentlichen Süden unterschieden. Die Marktplätze von Cerchio, Ajelli und Celano boten in den frühen Morgenstunden genau dasselbe Bild wie die Plätze der süditalienischen Bergstädte. Wieder sah ich zu Dutzenden die abgerissenen, fröstelnden Gestalten der Landleute die Plätze füllen, wieder sah ich die Anwerber mit ihnen verhandeln und die Gestalten der Berufsfaschisten lauernd um die Gruppen herumstreichen. Als ich mit den Arbeitsuchenden ins Gespräch kam, stellte es sich heraus, dass ein großer Teil von ihnen - Pächter waren. Aber sie alle waren gezwungen, neben ihrer Tätigkeit auf dem gepachteten Stückchen Land bei den Großpächtern Arbeit als Tagelöhner zu suchen. „Arbeit, Arbeit", das war die Forderung, die in allen Gesprächen mit den dortigen Bauern immer wieder aufgestellt wurde. „Hat denn das neue Regime an eurer Lage nichts gebessert?" Der junge Bauer, den ich das fragte, verstand nicht. Von was für einem Regime sprach ich? Ich musste ihm umständlich erklären, was ich meinte.
„Ach so, die Faschisten meinen Sie! Nein, von denen merken wir nicht viel. Das heißt, seit sie da sind, geht es uns noch schlechter. Die sind mit einem ganzen Schwarm von fremden Leuten gekommen. Unsern alten Bürgermeister haben sie abgesetzt. Sie haben einen Fremden zum Podestà ernannt. Und alles, was der tut, tut er für sich und seinen Anhang. Die reden immer von ,Interessen der Nation', im Interesse der Nation haben sie unsre Bäche umgeleitet und haben altes Gemeindeland, die ,Tratturi', in Felder verwandelt. Das Wasser haben sie ihren eigenen Feldern zugeleitet, und die ,Tratturi' haben sie sich selber genommen. Ich war verwundert. Ich wusste: „Tratturi" heißen die alten, grasbewachsenen Straßen, auf denen die Herden, sich langsam durchfressend, aus der Ebene in die Berge und wieder zurück steigen.
„Geht denn das so einfach? Ist denn das Gemeindeland nicht durch Gesetze geschützt?"
„Ja, die Gesetze! Sie wissen doch, was das bedeutet, ein Podestà? Früher haben wir die Bürgermeister selber gewählt, und sie standen unter unserer Kontrolle. Die Faschisten haben das abgeschafft. Der Podestà wird vom Präfekten ernannt und kann dann machen, was er will. Da haben wir nichts mehr zu sagen. Er und der Sekretär der Faschistischen Partei machen alles. Sie allein könnten schon über das Gemeindeland bestimmen. Aber Sie haben ja keine Ahnung, wie die Faschisten mit uns Schindluder treiben! Es ist ja wahr, unsere Bauern hier sind dumm und ungebildet. Nur wir, die ein bisschen in der Welt herumgekommen sind, verstehen, was gespielt wird. Aber wir sind auch verdächtig und immer unter Beobachtung. Schon viele von unseren Leuten sitzen auf den Inseln. Besonders nach den letzten Unruhen. Denn wenn unsere Bauern auch dumm sind, so sind sie auch dickköpfig, und schon ein paarmal haben wir hier allerhand Aufstände gehabt. Aber das muss ich Ihnen erzählen, wie es die Faschisten mit den ,Tratturi' gemacht haben." Die Geschichte, die mir dieser Bauer von Celano, unterstützt und ergänzt von ein paar anderen, die wie er an diesem Tage keine Arbeit gefunden hatten, oben in den Ruinen des Kastells erzählte, wäre der Feder eines großen Satirikers würdig - wenn sie nicht so grausam wäre.
Die Umwandlung der „Tratturi" in Privatland ist nämlich auf „einstimmigen, begeisterten Antrag der gesamten Bauernschaft des Fucinobeckens selbst" durchgeführt worden! Ich will das kurz so wiedergeben, wie es mir die Leute vom Fucino erzählt haben:
Eines Tages erschienen in den Dörfern zurzeit, als die meisten Männer auf dem Feld waren, junge Leute in faschistischer Uniform. Sie ließen ein paar alte Männer und Frauen in der Gastwirtschaft zusammenrufen und erklärten ihnen, dass die Regierung etwas für die notleidenden Bauern des Fucino unternehmen wolle. Sie seien gekommen, die Klagen entgegenzunehmen und gleichzeitig die Unterschriften der Einwohner für eine entsprechende Eingabe zu sammeln. Um die Sache abzukürzen, sollten die Bauern gleich unterschreiben. Den genauen Text der Eingabe würde man dann schon zusammenstellen. Die Bauern waren zuerst recht misstrauisch. Sie dachten, dass es sich wieder um neue Steuern handle, von denen es schon übergenug gab. Als dann aber doch einige von den Anwesenden mit krakliger Schrift ihre Namen auf den weißen Bogen Papier setzten, machten auch die anderen mit. Da die Mehrzahl der Männer bei der Feldarbeit war, wurden ihre Namen nach dem Diktat der anwesenden Bauern gleich mit draufgesetzt. So kamen in all den Bergstädtchen Blätter mit den Unterschriften der Gesamtbevölkerung zusammen. Längere Zeit hörten die Bauern nichts mehr von ihrer Eingabe. Dann wurden sie eines Tages auf Lastautos und Wagen in die Hauptstadt Avezzano abgeholt. Es sollte ein großes Fest stattfinden. Ein Vertreter der Regierung, der Präfekt und der Bischof würden da sein. Die Bauern machten gern diese kleine Reise in die Stadt, in die sie sonst nicht oft kommen. In Avezzano wurden sie auf Straßen und Plätzen aufgestellt. Sie wurden instruiert, wie sie den Minister, den Präfekten und den Bischof mit „Hurra" begrüßen sollten. Alles klappte vorzüglich. „Unter allgemeiner Begeisterung" fuhren die Würdenträger in die Administration Torlonia, wo ein Festessen stattfand. Die Bauern warteten auf das große Ereignis. Aber nach ein paar Stunden Wartens erfuhren sie, dass schon alles beendet sei und dass sie nach Hause gehen könnten. Aber sie erfuhren noch mehr. Die Zeitungen feilten in großen Lettern mit, dass anlässlich seines Besuches in Avezzano der Minister auf den einstimmigen und begeisterten Antrag der gesamten Bevölkerung des Fucinobeckens die Umwandlung der „Tratturi" in Ackerland wohlwollend genehmigt habe! Die Bevölkerung habe bewiesen, dass sie imstande sei, „die Interessen der Nation", die eine Vergrößerung der Anbauflächen erforderten, über ihre Privatinteressen zu stellen!
So wurde den Marsern das Fell über die Ohren gezogen! Aber schauen wir uns an, wie es ihnen jetzt geht. Die Berechnung des Zinses für die Felder im Fucino geschieht nach der Einheit der „Coppa". Ein Morgen hat fünf Coppe. Vor dem Krieg betrug der Pachtpreis für die Coppa sieben Lire. Heute muss der kleine Pächter sechsunddreißig Lire bezahlen oder siebenhundert Lire für den Hektar. Die Städtchen lagen früher einmal am Seeufer und inmitten der Oliven- und Obstbaumhaine an den Bergabhängen. Heute sind die Felder, auf denen die Pächter und Tagelöhner arbeiten, sechs bis zehn Kilometer von den Städten abgerückt. Um rechtzeitig aufs Feld zu kommen, müssen auch hier die Bauern beim ersten Morgen-
grauen losziehen. Glücklich, wer ein Maultier und einen kleinen, zweirädrigen Karren hat. Wenn die Sonne noch hinter den Bergen ist, sieht man in den Gassen der Städtchen überall die Bauern die Wagen anschirren. Wer keinen Wagen hat, geht, das kleine Feldgerät auf der Schulter, zu Fuß. Wenn er einmal größere Ackergeräte, den Pflug oder die Egge mitnehmen muss, so muss er sie von einem Kollegen, der einen Wagen hat, mitnehmen lassen und dafür bezahlen. Auch die Ernte muss auf eigene Kosten zu den Lagern der Verwaltung oder der Aufkäufer gebracht werden. Wer keinen eigenen Wagen hat, muss auch dafür wieder bezahlen. Die Fruchtfolge wird mehr und mehr von der Administration bestimmt. Sie verlangt zum Beispiel von den Pächtern, dass sie jedes zweite Jahr Klee oder andere Leguminosen anbauen. Dass der Ertrag dieser Kulturen den Bauern kaum so viel einbringt, dass sie die Pacht bezahlen können, interessiert die Administration Torlonia nicht. Ein bestimmter Teil des gepachteten Landes muss immer mit Zuckerrüben bestellt werden. In diesen Fällen kann der Zins in natura - fünf Doppelzentner Rüben pro Coppa - bezahlt werden. Bleibt die Ernte hinter dieser Norm zurück, so muss der Pächter die Differenz in Geld bezahlen.
Der Tagelohn schwankt auch hier zwischen acht und zehn Lire. Mit Ausnahme der Herbstmonate, wo ein paar tausend junge Männer für einige Wochen in den Zuckerfabriken Arbeit finden, in denen auch durchschnittlich zehn Lire pro Tag gezahlt werden ist immer ein starkes Überangebot an Arbeitskräften vorhanden. Deswegen zeigen die Löhne auch hier eine sinkende Tendenz. Arbeitsvermittlungsstellen gibt es wohl, aber nicht für die Arbeit im Fucino. Wer sich anwerben lässt, muss das Dorf verlassen und weit fort auf die Meliorationsgebiete oder zum Straßenbau ziehen. Die Familie muss dabei zu Hause bleiben. Die zehn Lire Tagelohn, die es auch für diese Arbeiten gibt, werden in der Fremde restlos verbraucht. Wovon soll dann die Familie leben?
Das ist das Schicksal der Kleinpächter auf den Ländereien des mächtigen Fürsten Torlonia, der mit Hilfe seines Freundes Mussolini immer neue Millionen aus den mageren Körpern der 50000 Nachkommen der alten Marser presst.
Die Marser aber stellen ständig einen guten Nachwuchs für die revolutionäre Bewegung Italiens. Erst in den Tagen, wo ich diese Zeilen schreibe, hat das Ausnahmegericht in Rom einen jungen Marser, den Drucker Romolo Tranquilli, der sich vor Gericht freimütig als Kommunist bekannte, zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt!

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