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Alfred Kurella - Mussolini ohne Maske (1931)
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WIE ES KAM

Welche Entwicklung hat das italienische Volk vor dem Faschismus genommen?
Wie lächerlich unrichtig die Vorstellungen waren, die sich in der öffentlichen Meinung Deutschlands über das italienische Volk gebildet hatten, wurde mir sofort klar, als ich unmittelbar nach dem Krieg in engere Berührung mit den italienischen Bauern und Arbeitern trat.
Ich ging im Jahre 1919 zum zweiten Mal nach Italien, jetzt nicht als Wanderer, sondern als Mitglied der internationalen proletarischen Jugendbewegung, als Genosse.
Und statt der „Katzeimacher", „Lazzaroni", „Gipsfiguri" und „Drehorgelspieler", unter deren Gestalt man sich in Deutschland „den Italiener" vorstellte, fand ich ein modernes, in aktiven und von hohem Klassenbewusstsein getragenen Verbänden organisiertes Proletariat. Die Organisation beschränkte sich nicht auf die Städte, sondern hatte auch in großem Umfang das Land erfasst. Ja, die italienische proletarische Massenbewegung zeigte Züge, die neu waren sogar für jemanden, der aus dem Land der „größten, bestorganisierten Arbeiterpartei" kam. Neben der Sozialistischen Partei, die damals die stärkste Partei im Lande war und außer Arbeitern und Bauern zahlreiche Intellektuelle in ihren Reihen zählte, standen starke Gewerkschaften unter sozialistischer Führung. Sie konnten auf eine ruhmreiche Vergangenheit zurückblicken. Sie hatten schon in der Vorkriegszeit riesige Kämpfe hinter sich. Die Arbeiter hatten in diesen Kämpfen, wie im Hafenarbeiterstreik von Genua, dem Generalstreik von Mailand und dem Eisenbahnerstreik von 1905 eine Disziplin, eine Ausdauer und einen Opfermut an den Tag gelegt, wie er selten in anderen Ländern zu finden war. Das ganze Land war mit einem dichten Netz von Arbeiterorganisationen überzogen. In den „Camere del Lavoro", den Arbeitskammern, besaß die Bewegung in allen Städten ihre Hochburgen. In diesen „Volkshäusern" waren die Leitungen der Verbände konzentriert, hatten die Kulturorganisationen ihren Platz, gab es Bibliotheken, Vortragssäle, Spiel-, Musikzimmer usw. In den großen Industriestädten waren sie umgeben von einer großen Anzahl von „Circoli", Arbeiterheimen, in denen sich das gleiche Kulturleben der Bezirke abspielte. Scharen von Arbeitern gingen ständig in diesen Häusern ein und aus. Hier schulten sich die Baumeister des neuen Italiens.
Die Massen der Landarbeiter und sogar der Kleinbauern und Kleinpächter waren in einem Maße organisatorisch erfasst, wie wohl in keinem anderen Lande. Und sehr früh waren diese Organisationen dazu übergegangen, sich neben der Verteidigung der wirtschaftlichen, kulturellen Interessen ihrer Mitglieder auch produktive Aufgaben zu stellen.
In einzelnen Provinzen, vor allem im Norden, bestand eine mächtige Genossenschaftsbewegung. Ihr Kapital zählte nach Millionen von Lire. Die riesigen Verbände schienen drauf und dran zu sein, das kapitalistische System von innen her auszuhöhlen.
Auf Schrift und Tritt traf man Gemeinden, die vollkommen in der Hand der sozialistischen Arbeiterschaft waren und die ganze Produktionszweige bewirtschafteten.
Seit 1900 hatte sich die Arbeiterschaft eine ständig breiter werdende soziale Gesetzgebung erkämpft. In wenigen Jahren mussten eine Sozialversicherung, Alters- und Invaliditätsversicherung eingeführt werden, wurden entscheidende Siege auf dem Gebiet der Volkshygiene errungen.
Im Umgang mit diesen aufgeweckten, lebendigen, kämpferischen und immer freundlichen Arbeitern und Bauern entstand meine große Liebe zu Italien, dem Italien der werktätigen Massen; die große Liebe, die mich immer wieder nach Italien trieb, die mich am weiteren Ausbau der Bewegung und an ihren Kämpfen hat teilnehmen lassen und die auch jetzt bei meiner letzten Reise meine Schritte und meinen Blick gelenkt hat. Die Entwicklung Italiens legt auch hier die Parallele zu Russland nahe. Auch dieses Land, das man als „ewiges Agrarland" betrachtet hatte, war im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts von einem schnell fortschreitenden Prozess der Industrialisierung erfasst worden. Wie in Russland, so spielte auch in Italien bei dieser Entwicklung ausländisches Kapital eine hervorragende Rolle. Mit seiner Hilfe wurde in kurzer Zeit eine moderne Industrie aufgebaut. Und auch in Italien kam es dabei zu merkwürdigen Erscheinungen. Im alten Russland konnte man inmitten weiter Steppen plötzlich riesige Fabrikanlagen finden, die aufgebaut worden waren, ohne dass an Ort und Stelle irgendwelche besonderen Vorbedingungen in bezug auf Rohstoffe, Energiequellen und dergleichen vorhanden waren. Der niedrige Preis der Arbeitskraft, die die halbleibeigenen Bauern den Grundherren und Fabrikbesitzern liefern mussten, bestimmte die Wahl des Standortes. Auch in Italien mochte es die billige Arbeitskraft der in halber Sklaverei lebenden ländlichen Massen gewesen sein, die zur Ansiedlung ganzer Industriezweige an beinah willkürlichen Stellen führte, ohne dass es Kohle, Petroleum, Eisen und sonstige Rohstoffe gab.
Die schnelle industrielle Entwicklung wurde zu einer gewaltigen Schule für die werktätigen Massen des Landes. In wenigen Jahrzehnten entstand ein nach vielen Hunderttausenden zählendes Proletariat. Durch die vielen Kanäle, die die junge städtische Arbeiterschaft mit dem Lande verband, pflanzten sich Organisations- und Kampfmethoden der Arbeiter schnell auf das flache Land fort.
Wie im alten Russland spielte der marxistische Sozialismus in Italien eine hervorragende Rolle bei der Entwicklung des modernen Denkens. Die entscheidenden Teile der jungen Intelligenz gingen durch die sozialistische Schule. Diese starke Anteilnahme der bürgerlichen Intelligenz an der sozialistischen Bewegung blieb allerdings auch nicht ohne Rückwirkung auf die Bewegung selber. Durch ihren kleinbürgerlich-intellektuellen Flügel war die Sozialistische Partei stark verbunden mit dem bürgerlichen Liberalismus, mit dem Freimaurertum und den antiklerikalen Demokraten. In dem Maße, wie das Bürgertum selbst erstarkte, wurde diese Verbindung zum Kanal für das Eindringen bürgerlicher Einflüsse in die Arbeiterbewegung. Das kam vor allem zum Ausdruck in einer sträflichen Vernachlässigung der
Agrar- und Bauernprobleme, in einem schwachen Widerstand gegen nationalistische Ideen und in dem Vordringen reformistischer Auffassungen, die vor allem in der scheinbar so erfolgreichen Genossenschaftsbewegung einen Nährboden fanden. Der Krieg wirkte beschleunigend sowohl auf die Entfaltung der Arbeiterbewegung im Ganzen und als Massenbewegung als auch auf den bürgerlichen Entartungsprozess. Er schlug die ersten tiefen Breschen in die sozialistische Einheitsfront. Feindliche Ideologien krochen durch die schwachen Stellen in die Arbeiterbewegung hinein.
Die Massen in Stadt und Land waren ausgesprochen antikriegerisch gestimmt. Aber die Bewegung war nicht stark genug organisiert, um den Eintritt Italiens in den Krieg verhindern zu können. Während die pazifistische Stellungnahme der Sozialistischen Partei einerseits den Einfluss des Sozialismus auf die breiten Massen außerordentlich verstärkte, führte sie andrerseits zum Abschwenken der bürgerlich-nationalistischen Elemente und legte damit den Keim für die Entstehung der faschistischen Organisation. Die Regierung hatte vor allem die Bauernmassen nur dadurch für den Krieg gewinnen können, dass sie ihnen nach dem Siege die Aufteilung des Landes versprach. Als der „Sieg" errungen war, meldeten die Massen ihre Forderung an. Den offiziellen Siegesfeiern stellten sie starke Antisiegesdemonstrationen entgegen. „Wir haben den Krieg gemacht, wir wollen jetzt den versprochenen Lohn." Das Selbstbewusstsein der Arbeiter und Bauern war während des Krieges mächtig gewachsen. Die herrschende Klasse hatte ihnen eine Konzession nach der anderen machen müssen. Arbeiter und Bauern waren verhältnismäßig gut bezahlt worden. Sie fühlten sich als Herren des Landes. Das kam auch in Äußerlichkeiten zutage: Ich war äußerst erstaunt, als ich im Jahr 1919/20 das Niveau der Kleidung, Ernährung und Lebenshaltung der italienischen Arbeiter und Bauern kennenlernte. Besonders an Sonn- und Feiertagen war diesen Männern im schwarzen Anzug mit weißem Hemd, Kragen und Schlips, die bei Wein und Kartenspiel in den Kneipen saßen oder sich in den Volkshäusern drängten, nicht anzusehen, dass sie in der Woche an der Werkbank standen oder den Pflug führten. Auf dem Lande war die Absage an die alte Arbeitsbluse und
das Cape und das Tragen von Schlips, Kragen und Paletot geradezu zu einem Symbol des klassenbewussten Fortschritts geworden.
Aber die Revolution erschien diesen selbstbewussten Menschen als eine gar zu leichte Aufgabe. Die Schwäche der politischen Bildungsarbeit und Kampfschulung machte sich bemerkbar. Bei näherem Hinsehen stellte sich die Sozialistische Partei als ein sehr loses Gebilde dar. Die einzelnen Bezirksorganisationen hatten größte Selbständigkeit und handelten auf eigene Faust. Das eigentlich feste Gerippe der Partei beschränkte sich auf die Presse. Aber auch sie tat wenig zu einer wirklichen, ernsten revolutionären Schulung der Massen.
In den Köpfen der Mitglieder, ganz zu schweigen von den Nichtorganisierten, war ein idyllischer Reformismus und primitiver Syndikalismus lebendig. Man glaubte ernsthaft an eine spielend leichte Übernahme der kapitalistischen Produktion durch die organisierten Arbeiter und Bauern. Man wollte Land und Fabriken einfach in Besitz nehmen, war sogar bereit, die Eigentümer, wenn auch in bescheidenen Grenzen, zu entschädigen und machte sich wenig Kopfzerbrechen über die Probleme der Staatsmacht. Unter der Hand aber wurden die Produktivgenossenschaften in Stadt und Land zu Instrumenten kapitalistischer Spekulation. Unter den ländlichen Massen, besonders bei den Kleinbauern und Kleinpächtern, setzte sich die neugegründete katholische Volkspartei (Popolari) fest. Da die Sozialisten aus doktrinärer Starrheit heraus sich wenig um diese Schichten der Bevölkerung kümmerten, ja sie sogar von sich stießen, hatte die katholische Organisation leichtes Spiel. Ihr linker Flügel kam dem primitiven, revolutionären Drang der Massen weit entgegen, wobei er es gleichzeitig verstand, ihren Wünschen die revolutionäre Spitze abzubrechen. Charakteristisch für diese Bewegung ist ein Lied, das die katholischen Führer nach der Melodie des revolutionären, sozialistischen Volkslieds „Bandiera rossa" singen ließen:
„Avanti o popolo! Con fede franca,
Bandiera bianca, bandiera bianca."
„Vorwärts o Volk! Mit frischem Glauben,
Die weiße Fahne, die weiße Fahne."
Eine andere Strophe desselben Liedes lautete:
„Vogliamo le fabricche, vogliamo la terra,
Ma senza guerra, ma senza guerra."
„Wir wollen die Fabriken, wir wollen das Land,
Aber ohne Krieg, aber ohne Krieg."
In dieser Strophe tritt der Klassenwiderspruch innerhalb dieser Bewegung deutlich zutage: Die erste Zeile enthält die revolutionären Wünsche der Massen, in der zweiten Zeile aber, die den Bürgerkrieg verwirft, heben die katholischen Priester und Advokaten, die an der Spitze der Bewegung standen, warnend den Finger. Unter dem Gesang dieses Liedes, weiße und rote Fahnen mit dem Kreuz mit sich tragend, zogen in der Nachkriegszeit gewaltige Demonstrationen von Bauern und Arbeitern durch die Städte und Dörfer Italiens. Und es blieb nicht bei Demonstrationen.
Das Beispiel der russischen Revolution schwebte über dieser ganzen Bewegung. Die Kenntnisse von den Vorgängen in Russland waren selbst in führenden Kreisen der Sozialistischen Partei und ihres linken Flügels mehr als mangelhaft. Die Massen verstanden sie auf ihre einfache Weise, und der „Bolschewismus" war ihr Ideal. Lenin war in jener Zeit geradezu italienischer Nationalheiliger. Man konnte sein Bild noch in den entferntesten Dörfern finden. Überall sah man an den Mauern in Städten und Dörfern, mit kindlichen Schriftzügen das „W. Lenin" - „Es lebe Lenin". Es gab zahllose Volkslieder über ihn. ich besinne mich auf ein solches Lied, dessen Melodie eher an einen Kirchengesang als an ein Kampflied erinnerte und dessen Refrain mit den Worten endete: „Lenin wird kommen."
Die Idee der „Sowjets" wurde instinktiv aufgenommen, aber niemand hatte sie richtig verstanden. An allen Ecken und Enden Schossen Sowjets mit den merkwürdigsten Funktionen aus der Erde. Auch die „Sowjets", die die Turiner Gruppe des linken Flügels der Sozialistischen Partei propagierte und organisierte, jenes Flügels, der später den Kern der jungen Kommunistischen Partei bildete, hatten wenig mit den Sowjets der russischen Revolution, mit diesen politischen Grundeinheiten des neuen proletarischen Staatsapparates zu tun. Die dort geschaffenen Fabriksowjets waren, ebenso wie die in der Po-Ebene von den revolutionären Kleinbauern unter Führung der linken Popolari geschaffenen Gutsräte, vielmehr Organe einer wirtschaftlichen Kontrolle und Übernahme der Produktion durch die Werktätigen als Organe der politischen Macht. Die Staatsfrage wurde nicht gestellt!
So sah es aus, als im Jahre 1920 der Drang der Massen sich nicht mehr halten ließ. Es kam die große Periode der direkten Besetzung und Bewirtschaftung der Fabriken und Landgüter durch die Arbeiter, Kleinpächter und Landarbeiter. Diese Ereignisse sind seinerzeit viel zu wenig bekanntgeworden. Und doch stellen sie vielleicht die dramatischste Stunde der europäischen Arbeiterbewegung nach dem Kriege außerhalb Russlands dar.
Eine kleine Einzelheit ist charakteristisch für die Fabrikbesetzung: Die erste Besetzung eines Großbetriebes fand bereits im Herbst 1919 statt. Die einige Tausende Arbeiter zählende Belegschaft der Fabrik des Industriellen Mazzonis in Pinerolo bei Turin nahm, als eine Lohnforderung von der Werkleitung abgelehnt wurde, von dem Betriebe Besitz. Dieser Mazzonis ist derselbe Mann, der heute mit Hilfe der faschistischen Organisation, deren Funktionäre er gegen den Willen der Mitgliedschaft in seinem Interesse eingesetzt hat, ganz Turin beherrscht.
Als Massenbewegung begann die Fabrikbesetzung im August 1920. Der Metallarbeiterverband Norditaliens hatte neue Lohnforderungen gestellt. Die Unternehmer antworteten mit Aussperrung. Daraufhin beschlossen die Gewerkschaften, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, nicht den Generalstreik zu verkünden, sondern die Fabriken zu besetzen. Das war am 27. August 1920.
In wenigen Tagen wurde der Beschluss in ganz Norditalien und in Teilen Mittelitaliens durchgeführt. Am 31. August waren in Mailand zweihundertachtzig Betriebe besetzt. An den Stichtagen blieben die Arbeiter, anstatt nach Hause zu gehen, in den Fabriken und übernachteten auch dort. Ein Teil der Belegschaft wurde zu Wachen eingeteilt und besetzte, mit Maschinengewehren und Flinten bewaffnet, die Tore. Strengste Disziplin wurde eingeführt. Als nach den ersten Tagen der Besetzung ein gewaltsames Ein-
I greifen der Behörden ausblieb, wurde die ständige Anwesenheit bei Tag und Nacht in den Fabriken aufgehoben, dafür aber besondere Wachmannschaften, die „Roten Garden", gebildet. In den Fabriken, über denen rote Fahnen wehten und zu deren Toren niemand hinein- oder herauskommen konnte, ohne von den Posten kontrolliert zu werden, wurde inzwischen mit Hochdruck weitergearbeitet. Ein großer Teil der Ingenieure machte nicht mit. Ihre Stelle nahmen hochqualifizierte Arbeiter ein. Die Bewegung griff bald auf andere Produktionszweige über. Um den Betrieb aufrechtzuerhalten, brauchten die neuen, improvisierten Fabrikleitungen Rohstoffe und Kohlen. Die fertigen Fabrikate und Halbfabrikate mussten weggeschafft werden. Andre Betriebe, die mit den Metallwerken in Produktionsbeziehungen standen, wurden besetzt. Die Eisenbahner machten mit und führten den Werken Kohlen und Rohstoffe zu, die gerade unterwegs waren.
Von den Fabriken dehnte sich die Aktion auf andere Zweige des Lebens aus. Die früheren Besitzer und höheren Angestellten, die im Bereich der Betriebe wohnten, wurden ausquartiert und in ihren Räumen Versammlungslokale, Speisesäle, Kinderkrippen und dergleichen eingerichtet. Auch die Frauen wurden mobilisiert, teils um die Belegschaften, teils um die Wachmannschaften zu ergänzen. In den größeren Orten wurden Zentralstellen geschaffen und mit dem sozialistischen Postarbeiterverband wurde die Zustellung der Betriebskorrespondenz an die Zentralstellen vereinbart.
Kurz, es entwickelte sich um die sechshundert Metallbetriebe herum, in denen etwa eine halbe Million Arbeiter beschäftigt waren, ein ganzes kleines Sowjetleben, das die Tendenz hatte, immer weitere Kreise zu ziehen.
Aber auch jetzt wurde die Frage des Staates nicht gestellt! Man stellte mit Erstaunen fest, dass die Regierung nichts unternahm, um der Bewegung mit Gewalt ein Ende zu machen, und man wurde dadurch in der Illusion bestärkt, dass die Inbesitznahme der Produktion vor sich gehen könnte, indem die in den Fabriken konzentrierten Arbeiter der bestehenden Regierung ihren Willen aufzwangen.
Inzwischen ließen sich die Arbeiter auf Verhandlungen mit den Industriellen ein. Die Regierung übernahm das Protektorat dieser Verhandlungen und gab sich den Anschein, als stünde sie dem Konflikt neutral gegenüber. In den Verhandlungen beschränkten sich die Vertreter der Arbeiter im wesentlichen auf die Forderung der Anerkennung eigener Arbeiterorgane in den Betrieben, die neben den Unternehmern die Kontrolle der Produktion übernehmen und in Zukunft alle scharfen Konflikte zwischen Unternehmern und Arbeitern verhindern sollten. Als die Unternehmer, angeregt durch entsprechende Winke der Regierung, formell auf diese Vorschläge eingingen, wurde die Besetzung aufgegeben. Am 27. September erfolgte unter riesiger Beteiligung der gesamten arbeitenden Bevölkerung unter roten Fahnen und mit revolutionären Liedern der feierliche Auszug aus den Betrieben. Etwa zur gleichen Zeit überflutete eine Welle von revolutionären Aktionen die Landbezirke.
Die Landarbeiter, Kleinbauern und Kleinpächter wollten sich nicht mehr mit Versprechungen abspeisen lassen. Sie wollten das Land haben. Und als man es ihnen nicht gab, nahmen sie es sich.
Diese Bewegung trug mehr spontanen Charakter als die der Fabrikbesetzungen. Während sie im Süden und auf den Inseln vorwiegend demonstrativen Charakter hatte, nahm sie im Norden Formen an, die denen der Fabrikbesetzung durchaus entsprachen.
Das hervorragendste Beispiel für diese Aktion gaben die Landarbeiter und Tagelöhner der Provinz Cremona. In den Jahren 1918 und 1919 hatten sie in zähen Kämpfen eine ständige Verbesserung der Löhne und der Arbeitszeit durchgesetzt. Aber alle diese Erfolge in Teilfragen führten, besonders angesichts der wachsenden Inflation, zu ungenügenden Resultaten. Die Bauern begriffen, dass sie nur durch einen Angriff aufs Ganze, durch eine Änderung der Besitzverhältnisse, ihre Lage wirklich verbessern konnten. Aber auch sie blieben hierbei stehen.
Auch sie stellten nicht die Frage der Staatsmacht! Und wie die Arbeiter wurden auch sie in dieser Auffassung, dass man die Besitzverhältnisse ändern könnte, ohne die Staatsmacht anzugreifen, bestärkt durch die Haltung der damaligen Regierung. An ihrer Spitze stand der kleinbürgerliche Liberale Giolitti. Die Art und Weise, wie er zu der Bewegung der Besetzung der Fabriken und Landgüter Stellung nahm, trug ebenso sehr dazu bei, dass diese Bewegungen sich überhaupt entfalten konnten, als auch dazu, dass sie an ihrer eigenen Unreife zugrunde gingen. Hinsichtlich der Bewegung von Cremona ging er so weit, dass er den Bauern, die die Leitung der Güter übernommen hatten, gegenüber den beschwerdeführenden Grundbesitzern von einer Gerichtsinstanz nach der anderen recht geben ließ.
Die Streikbewegung, die der Güterbesetzung in Cremona vorausging, hatte ihren Höhepunkt in dem sogenannten Streik der Kühe. Dieser Streik spielte sich in einer Zeit ab, in der ich mich in Italien befand. Die Kunde von dem Streik lief bei den Bauern von Mund zu Munde. Um bestimmte Forderungen durchzudrücken, hatten die Landarbeiter beschlossen, die Besitzer an ihrer empfindlichen Stelle, an der Viehwirtschaft, zu treffen. Eines Tages verweigerten die Schweizer einheitlich, die Kühe zu melken. Die wenigen Streikbrecher wurden mit Gewalt gehindert, die Arbeit aufzunehmen. Der Erfolg war unheimlich. Die Kühe hatten unter dem Druck ihrer bis zum Platzen gefüllten Euter furchtbare Schmerzen auszustehen. Die Gutshöfe und Viehweiden hallten wider von dem Gebrüll der Tiere. Die Gutsherren gaben nicht nach. Sie waren zum Äußersten entschlossen. Das Gebrüll ging über in wildes Schreien und Todesröcheln. Die Städte blieben ohne Milch. Aber niemand gab nach. Zu Tausenden und Zehntausenden krepierten die Milchkühe. Ein zehnjähriger Viehbestand ging damals zugrunde.
Nach dieser Erfahrung gingen die Arbeiter zur entscheidenden Aktion über. Sie besetzten die Güter und erklärten die Besitzer für enteignet. Sie schlossen sich zu Assoziationen zusammen, die kollektiv die Wirtschaft übernahmen. Den ehemaligen Besitzern wurde höflich freigestellt, mit gleichen Rechten und Pflichten in die Kollektivwirtschaften einzutreten. Solange die Bewirtschaftung der Güter durch die Assoziationen nicht vom Staate anerkannt wurde, auf dessen Hilfe die Arbeiter vertrauten, sollte sie im Namen der Besitzer betrieben werden.
Zehn Monate hatte dieser Kampf gedauert. Zehn Monate waren
Landarbeiter, Tagelöhner und Kleinpächter Herren der Güter. Um sich Betriebskapital und Geld für die Lohnzahlungen zu schaffen, mussten sie an den Verkauf der Produkte herangehen. Die Unternehmer ließen die Getreidemärkte sperren. Die Arbeiter versuchten die Holzvorräte der Güter loszuschlagen. Die Unternehmer verabredeten mit den Holzgroßhändlern den Boykott dieser Verkäufe. Dasselbe geschah mit dem Fleisch. Während dieses zähen, stillen Kampfes wurden vor den Gerichten die Klagen der Großgrundbesitzer und die Ansprüche der Arbeiterassoziationen verhandelt. Überall wurde den Arbeitern recht gegeben! Der Konflikt kam schließlich vor eine eigens eingesetzte Regierungskommission, an deren Spitze ein gewisser Bianchi stand. Auch diese Kommission nahm in dem berühmt gewordenen „Bianchi-Spruch" die Formel der Bauern an: „Keine Besitzer und keine Lohnarbeiter mehr; kollektive Bewirtschaftung durch die Assoziationen."
Das brachte das Fass zum Überlaufen. Giolitti wurde gestürzt und damit der Damm gebrochen, der bis dahin die Entfaltung der faschistischen Bewegung gehemmt hatte.
Die große spontane, revolutionäre Massenbewegung brach zusammen. In den Städten waren es die Sozialisten, die, der politischen Frage der Staatsmacht ängstlich aus dem Wege gehend, die Bewegung nicht nur ohne revolutionäre Führung, sondern im entscheidenden Augenblick überhaupt im Stich gelassen hatten. Als sich aus der Praxis der Fabrikbesetzung heraus politische Forderungen ergaben, die vom linken Flügel der Partei, den späteren Kommunisten, unterstützt wurden, erklärten die Gewerkschaften, dass sie das nicht mitmachen könnten und unter diesen Umständen jede Verantwortung für die Aktion ablehnten. Nachdem die Gewerkschaften die große Sache so im Stich gelassen hatten, kam die sozialistische Parteileitung und erklärte, dass, wenn die Gewerkschaften nicht mehr mitmachten, sie allein die Verantwortung auch nicht tragen könne. So fanden sich die revolutionären Arbeiter plötzlich verraten und verkauft. Noch nicht fähig, aus ihren Reihen eine neue Kampfleitung zu schaffen, verloren sie den Mut, beschränkten sich auf Verhandlungen mit den Unternehmern und verließen schließlich, in der Hoffnung, dass die Regierung ihnen helfen würde, die Fabriken.
Auf dem Lande hatten die Führer der Popolari das Ihrige getan, um die Massen vom Weitertreiben des Kampfes abzuhalten. Sie stellten die Urteilssprüche der Gerichte zugunsten der Bauern als entscheidende Siege hin, stärkten bei den Massen die Illusion der friedlichen Erreichung ihrer Ziele und lieferten sie so den Faschisten ans Messer, als ihre große Hoffnung, das Ministerium Giolitti, unter dem Druck der Großgrundbesitzer, Fabrikanten und Bankiers stürzte. Denn inzwischen hatten sich im Lager der herrschenden Klasse entscheidende Dinge abgespielt. Über die Probleme des Krieges und des Friedens und die Fragen der Liquidierung der Kriegswirtschaft hatten sich Junker, Großindustrielle und Bankiers in verschiedene Lager gespalten. Diese Zersplitterung ihrer Kräfte hatte das kleinbürgerliche Ministerium Giolitti ans Ruder gebracht. Jetzt, wo in den revolutionären Aktionen die Gefahr der proletarischen Revolution, verbunden mit einer Bauernrevolte, riesengroß aufgestanden war, traten die Meinungsverschiedenheiten zurück hinter dem einen Ziel, die rote Gefahr abzuwehren.
Es ist bemerkenswert und wichtig für die ganze weitere Geschichte des Faschismus, dass den eigentlichen Anstoß zur Bildung der reaktionären Einheitsfront der Besitzenden, in deren Dienst sich der Faschismus stellte, nicht so sehr die Besetzung der Fabriken als die der Landgüter gab. Nach seiner Gründung im Jahre 1919 hatte sich der Kampfbund Mussolinis noch wohlwollend gegenüber den ersten Fällen der Fabrikbesetzung durch die Arbeiter ausgesprochen. Erst auf die Besetzung der Landgüter hin begann die gegen die Arbeiter gerichtete terroristische Tätigkeit der „Fasci". Das war die eigentliche Geburtsstunde des Faschismus. Hätten die Großgrundbesitzer nicht im Jahre 1920 die Organisation Mussolinis, deren Mitglieder vielfach mit den besitzenden Kreisen auf dem Lande verbunden waren, zu Hilfe gerufen, sie mit großen Geldmitteln versorgt und ihren Stoßtruppen Lastautos und Waffen zur Verfügung gestellt, so wäre die Gruppe Mussolinis vielleicht ein kleiner, unbedeutender Verein geblieben. In den Strafexpeditionen, die von den großen Gütern aus gegen die Siedlungen der Landarbeiter und kleinen Bauern unternommen wurden, wurde der Faschismus zur Massenbewegung, deren Einfluss zunächst noch auf die Landbezirke beschränkt war.
Aber die Großgrundbesitzer blieben nicht allein. Zu ihnen gesellten sich die Industriellen, die sich nun auch in größerer Zahl für Mussolinis Organisation zu interessieren begannen und sie unterstützten.
Und zu diesem Block stieß noch eine dritte Kraft: die wohlhabenderen Mittelschichten in Stadt und Land. Diese Schichten hatten unmittelbar nach dem Krieg offene Sympathien für den Sozialismus gezeigt. Auch sie waren mit dem Ausgang des Krieges unzufrieden. Sie suchten nach der „starken Hand", die Ordnung schaffen könnte. Von den großen parlamentarischen und organisatorischen Erfolgen der Sozialisten bestochen, glaubten sie in ihnen diese starke Hand zu sehen. Als aber in der Aktion von 1920 unter dem pazifistisch und reformistisch verbrämten Mantel der Sozialistischen Partei der proletarische Pferdefuß hervorkam und mancher kleinbürgerlichen Existenz einen empfindlichen Tritt versetzte, besonders aber als diese Leute, die die Macht schon so gut wie in Händen gehalten hatten, sie hilflos und feige entgleiten ließen, da wandten sich die Mittelschichten verbittert und enttäuscht von den Sozialisten ab. Damals gingen sie in hellen Scharen zu den Faschisten über, die, unterstützt von der herrschenden Klasse, sichtbare Beispiele einer Politik „der starken Hand" gaben.
Der Faschismus breitete sich in den Landbezirken aus wie die Pest. Mit Feuer und Schwert vernichtete er die Organisationen der Bauern und Landarbeiter. Die Organisatoren der Bauernverbände wurden ermordet, zur Niederlegung ihrer Posten mit Gewalt gezwungen und in der Öffentlichkeit diskreditiert. Es wurden neue faschistische Verbände gegründet, die die Unternehmer dadurch unterstützten, dass sie nur Mitglieder dieser Organisationen in Arbeit nahmen.
Von der schnell ausgebauten Basis auf dem Lande aus begannen die Faschisten mit ihrer Strafexpedition mit Lastautos, Maschinengewehren, Handgranaten gegen die Städte vorzustoßen. Die ersten Volkshäuser gingen in Flammen auf. Gleichzeitig beschritten sie den „legalen Weg". Als Partei konstituiert, nahmen sie an den Wahlen teil und sammelten so auf dem Boden der Demokratie die ihnen zuströmenden Sympathien der Mittelschichten.
Und wieder traten die Sozialisten den Rückzug an. Statt die Kräfte des Proletariats zum bewaffneten Widerstand zu sammeln, schloss die sozialistische Parlamentsfraktion mit den faschistischen Parlamentariern einen „Friedensvertrag", der die beiderseitige Entwaffnung zur Folge haben sollte. Es war klar, dass die Faschisten auch im Traume nicht an eine solche Entwaffnung dachten. Der „Pazifismus" der Sozialisten ging so weit, dass sie, als ihnen von Gesinnungsgenossen, die sie damals noch in der Regierung hatten, Waffen gegen die Faschisten angeboten wurden, dieses Angebot ausschlugen, indem sie sagten, es sei Aufgabe des Staates, die einen Bürger gegen bewaffnete Überfälle der anderen zu schützen!
Dieser ununterbrochene Verrat der sozialistischen Führer führte zur Spaltung der Sozialistischen und zur Gründung der Kommunistischen Partei. An der Spitze dieser jungen Partei standen aber zunächst Elemente mit starkem anarchistischem Einschlag, die statt auf die Schaffung einer Massenpartei hinzuarbeiten, den Weg der Sektenbildung einschlugen.
Unter dem Druck der immer frecher werdenden faschistischen Überfälle auf die Städte entstand in einer Reihe von Industriezentren eine spontane Abwehrbewegung, eine Art „Kampfbund gegen den Faschismus", mit dem Namen „Arditi del Popolo". Diese Organisation war sehr bunt zusammengewürfelt. An ihrer Spitze standen unklare und unzuverlässige Elemente: Demokraten, ehemalige Offiziere, einzelne Linkssozialisten usw. Aber die städtischen Massen sympathisierten mit ihr. Unter geeigneter Führung hätte diese Organisation zum Sammelpunkt aller proletarischen Kräfte werden können, die bereit waren, den Faschisten bewaffneten Widerstand zu leisten. Trotz all ihrer Mängel waren es die „Arditi", die damals den gegen die Städte vorgehenden Faschisten erfolgreichen Widerstand leisteten. In den Schlachten von Bologna und San Lorenzo (einem Arbeitervorort von Rom) wurden den Faschisten blutige Niederlagen beigebracht.
Allein die Kommunistische Partei wäre imstande gewesen, die Führung der Bewegung zu übernehmen. Statt alle verfügbaren Mitglieder in diese Organisation hineinzuschicken und sie die leitenden Stellungen besetzen zu lassen, gab die Parteileitung unter dem Einfluss der damals in ihr vorherrschenden sektenhaften Einstellung - allen Kommunisten den Befehl, diese „zweifelhafte und nicht klassenbewusste" Organisation zu verlassen.
So brach auch diese letzte Barriere zusammen, die den faschistischen Vormarsch zum mindesten hätte aufhalten können. Kleine kommunistische Kampfgruppen leisteten den faschistischen Sturmtruppen erbitterten Widerstand. Aber trotz der heroischen Anstrengungen, trotz des größten Opfermutes waren sie nicht imstande, die faschistischen Banden, zu deren Hilfe jetzt schon überall der Staatsapparat eingriff, zurückzuschlagen. Der Faschismus hatte gesiegt. Unterstützt von der ganzen herrschenden Klasse und mit Hilfe der Polizei, der Gendarmerie und der Truppen, überfluteten die faschistischen Banden jetzt auch die Städte und räumten in ihnen mit den Volkshäusern, Zirkeln und Arbeiterorganisationen ebenso auf wie früher auf dem Lande.
Der Faschismus hatte schon gewonnenes Spiel, als er am 31. Oktober 1922 durch den berühmt gewordenen „Marsch auf Rom" sich in den Besitz der politischen Macht setzte. Die damals an der Spitze des Staates stehende Regierung Facta erwies sich als unfähig, mit den politischen Problemen fertig zu werden. Ihre ganze Tätigkeit bestand darin, den faschistischen Banden bei der Eroberung des Landes freie Hand zu lassen. Am 24. Oktober fand, von den Konservativen und Liberalen begrüßt, in Neapel der faschistische Parteitag statt. Er war begleitet von einem großen Aufmarsch der Kampfverbände, die auf Lastwagen und mit der Eisenbahn aus allen Teilen des Landes zusammengeströmt waren. Offiziell widerriefen die Faschisten jedes Gerücht, dass sie mit ihren Kampfverbänden Rom besetzen und so die Macht erobern wollten. Die Regierung Facta wurde von einem faschistischen Abgeordneten im Parlament zum Rücktritt aufgefordert. Facta versuchte noch, den Belagerungszustand zu verhängen, aber der König lehnte die Unterschrift dieses Dekrets ab. Das war das Signal zum Vorgehen der Faschisten. Während es Mussolini vorzog, nach Mailand abzureisen, wo er der Grenze näher war, setzten sich die faschistischen Banden am 28. Oktober in Eisenbahnzügen und auf ihren Lastwagen gegen Rom in Bewegung und zogen am 30. und 31. Oktober in die Stadt ein. Dieser Marsch auf Rom erfolgte erst, als das Nachgeben der Regierung Facta sicher war. Der König hatte ihren Rücktritt angenommen, weil er seine Absetzung durch den Herzog von Aosta fürchtete. Als die faschistischen Banden, an deren Spitze Mussolini nicht marschierte, in Rom eintrafen, berief der König Mussolini an die Spitze des Staates. Damit begann die faschistische Diktatur.

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