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Takidji Kobajaschi - Krabbenfischer (1929)
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Leichter Nebel senkte sich wie ein Schleier auf das Meer. Weicher als sonst wirkten die Silhouetten der Deckaufbauten — der Schornsteine, der Lüfter, der Bootsdavits, der Fangboote, der Reling. Die Nacht nahm den Dingen aus Eisen ihr hartes und kantiges Aussehen und verwischte die Konturen. Ja, diese Dinge atmeten sogar etwas Wärme und Freundlichkeit. Kosend strich die laue Luft über die Gesichter der Menschen. Es war eine jener seltsamen Nächte, in denen die Männer eines Krabbenfangschiffes vergessen konnten, dass sie, weit draußen auf See, unter dem Kommando von Teufeln in Menschengestalt standen und einen erbitterten Kampf gegen die Naturgewalten führten. Am Heck des Schiffes, wo die Netze zu Bergen gestapelt lagen und wo es nach Fischabfällen roch, erklangen knirschende Schritte. Ein Mann wanderte ruhelos über das Deck, auf seinem Weg zertrat er die überall herumliegenden Krabbenschalen. Er hatte, überanstrengt von der harten Arbeit, in seiner Koje keinen Schlaf gefunden und dem Pochen seines Herzens gelauscht. Es schlug unregelmäßig, mal klopfte es heftig, stoßweise und rasch hintereinander, mal setzte es ganz aus, als wollte es den Dienst verweigern. Da war er aufgestanden und durch die Luke an Deck geklettert. Jetzt beugte er sich über die Reling, sah auf die See, die unbeweglich dalag wie ein zäher Teig, und dachte an die Heimat, aus der die weiche, warme Luft zu ihm herauf wehte. Würde er sie jemals wiedersehen? Würde er dieses harte Leben an Bord des Krabbenfangschiffes unter der Knute des Inspektors und seiner Antreiber aushalten? Oder würden sie ihn zu Tode schinden, würde er hinuntermüssen zu den wimmelnden Krabbenhaufen in der eisigen Tiefe des Meeres? Der Bordfunker fing Sprüche von anderen Schiffen auf und berichtete darüber dem Inspektor. Aus den Meldungen ging hervor, dass die „Hakkomaru" mit ihren Fangergebnissen weit hinter den anderen Schiffen zurücklag. Asagawa knirschte vor Wut mit den Zähnen. Sein Grimm entlud sich wie immer über die Krabbenfischer und Saisonarbeiter. Mit dem Leiter der Konservenabteilung dachte er sich einen neuen Trick aus. Sie organisierten einen Konkurrenzkampf zwischen den Matrosen und den Krabbenfischern. Die Krabbenfischer und Saisonarbeiter wollten sich von den Matrosen im Krabbenentschalen nicht überbieten lassen und arbeiteten daher einige Tage lang eifriger als sonst. Asagawa triumphierte. Tatsächlich wurde um die Hälfte mehr geleistet als vorher. Er glaubte, die Krabbenfischer endlich dahin gebracht zu haben, in der Arbeit ihr Letztes herzugeben. Als die Männer aber erkannten, dass sie keine Vorteile davon hatten, sondern abends infolge der Mehrarbeit noch müder waren, ließen sie wieder nach. Nicht lange, und die Leistung war auf den früheren Stand gesunken. Asagawas Wut kannte keine Grenzen. Er schlug beim geringfügigsten Anlass auf die Arbeiter ein, so dass häufig aus ihrer Mitte laute Schmerzensschreie zu hören waren. Sie schauten dann einander an und arbeiteten stumm und verbissen weiter. Der Inspektor ging jetzt dazu über, Belohnungen auszusetzen, um den Arbeitseifer von neuem anzustacheln. „Wir müssen die Kerle behandeln, wie sie es verdienen", sagte er zu dem Kapitän, in dessen Kajüte sie beim Bier zusammensaßen. Der Kapitän klopfte die Asche seiner Zigarette ab, deren Goldmundstück zwischen seinen feisten Fingern glänzte. Sein Körper zeigte Fettansatz. Wie eine Matrone saß er da und lächelte hilflos. Ihm war unbehaglich zumute, wenn er daran dachte, wie der Inspektor mit den Leuten umging. Konnten sie nicht vor Wut einmal auf den Gedanken kommen, Asagawa über Bord zu werfen? Asagawa versprach nicht nur Belohnungen, sondern verhängte auch Strafen. Er ließ den Arbeitern, die seiner Meinung nach zu langsam arbeiteten, mit einem runden, rotglühenden Eisenstempel ein Brandmal in die Haut drücken. Es gab kein Entrinnen, ständig schwebte diese Drohung über den Arbeitern und verfolgte sie wie ihr eigener Schatten. Zu welchen Anstrengungen der menschliche Körper gerade noch fähig ist, wusste Asagawa besser als die Arbeiter selbst. Sie schufteten und fielen abends völlig erschöpft in ihre Kojen. Sie stöhnten im Schlaf und phantasierten wie im Fieber. Der Student erinnerte sich an ein längst vergessenes Kindheitserlebnis. Er bildete sich ein, er wäre wieder in dem alten, düsteren Buddhatempel, den er einmal an der Hand seiner Mutter betreten hatte. Auf einem Bild an der Wand war die Hölle dargestellt. Über den Boden der Hölle kroch eine Riesenschlange und schickte sich an, ihr Opfer zu umschlingen. Das gleiche lähmende Entsetzen, das ihn damals beim Betrachten dieses Bildes gepackt hatte, schien jetzt die Krabbenfischer gepackt zu haben. Sie wälzten sich unruhig hin und her und fanden vor Erschöpfung keinen Schlaf. Einer klapperte mit den Zähnen, ein anderer schrie, von einem Alpdruck aufgeschreckt, und stammelte wirre Worte, ein dritter tastete im Halbschlaf an seinem Körper entlang und rief aufatmend: „Gott sei Dank, noch lebe ich."
„Ja, noch leben wir", sagte der Student, als sie am nächsten  Abend  beisammensaßen,   „aber  unser
Leben gleicht dem der Gefangenen in Dostojewskis ,Totenhaus'." Seit Tagen quälten ihn Kopfschmerzen, er war der Verzweiflung nahe. Für den Krabbenfischer, der Mijagutschi an den Inspektor verraten hatte, war Schnaps das Allheilmittel. Er griff nach der Flasche, die er von Hakodate mitgebracht hatte, und nahm einen Schluck. Dann sagte er in belehrendem Ton: „Die Firma ist ein Großunternehmen, eine Riesenorganisation. So schlecht wir es auch haben, das ist heute das reine Paradies im Vergleich zu der Zeit ihrer Gründung. Damals gab es noch keine Wetterbeobachtung und keine Sturmwarnung, man kannte auch die Tücken des Ochotsker Meeres noch nicht. Wie viele Schiffe sind damals hier untergegangen! Aber das Unternehmen hat sich durchgesetzt und ist groß und mächtig geworden, obwohl die russischen Kriegsschiffe unsere Fangschiffe zu Dutzenden versenkt haben. Jetzt gehören uns diese Fanggründe." Der Student schwieg. Er brauchte eine Weile, um eine Antwort zu finden. Er erinnerte sich an die Geschichtsbücher, in denen solche Dinge standen. Ein Gefühl der Beklemmung überkam ihn, er wusste nicht recht, warum. Mit der einen Hand knetete er seinen Leib, der so hart war wie ein Brett, dann massierte er die steife Hand. Es war nach dem Abendessen. Die Männer kauerten in der Mitte des Jauchefasses um den knisternden Ofen, dessen
Oberseite lauter feine Risse hatte und daher wie eine Landkarte aussah. Sie wärmten sich, bis ihre Körper dampften und der Fischgeruch, der in den Kleidern haftete, ihnen beißend in die Nasen stieg. Endlich fiel dem Studenten eine Antwort ein: „Das ist alles schön und gut", sagte er, „aber es ist nur ein schwacher Trost, wenn man weiß, wofür man umgebracht wird."
Der Brodem über ihren Köpfen war plötzlich wie eine Lawine, die drückend auf ihnen lastete. Sie hatten auf einmal das Gefühl, als erstickten sie langsam und müssten sich dagegen wehren. „Ver—flucht! W—wenn wir nicht b—bald etwas unter—nehmen, dann z—ziehen die uns das F—fell über die Ohren." Der „Stotterer" war krebsrot im Gesicht. Es kostete ihn große Anstrengung, einen so längen Satz herauszubringen. Alle schwiegen. Es war, als hätte ein Stein sie getroffen. Dann aber brach ein Sturm los. „Nein, wir wollen nicht elend krepieren hier in Kamtschatka!" — „Ein Frachter mit Nachschub ist von Hakodate unterwegs, hat der Funker gesagt." — „Nur weg von hier!" — „Und du meinst, das geht so einfach?" — „Das wäre nicht der erste, dem es glückte, auf einem Frachter zu entkommen." — „Manche haben sich zum Krabbenfangen gemeldet und sind dann in Kamtschatka an Land gegangen. Jetzt machen sie Propaganda für die Roten."
Wieder herrschte einen Augenblick Schweigen. „Für das Kaiserreich Japan! Wie schön sich das anhört", sagte der Student, knöpfte seine Jacke auf und begann den Schmutz abzukratzen, der wie Talg an seiner Haut klebte. Er gähnte laut und ungeniert.
„W—wir werden von den B—bossen ausgebeutet", brachte der Stotterer mühsam hervor. Der ältere Krabbenfischer mit den dicken Tränensäcken unter den Augen hatte während der ganzen Unterhaltung vor sich hin gedöst. Jetzt spuckte er auf die Ofenplatte, es zischte, Blasen bildeten sich, die Spucke wurde immer kleiner, bis sie verschwand. Alle verfolgten den Vorgang wie ein spannendes Schauspiel.
„Vielleicht hast du nicht ganz unrecht, Stotterer", sagte schließlich der ältere Krabbenfischer mit den Tränensäcken.
Da mischte sich ein Fangbootführer in das Gespräch. Er riss das Stück roten Unterfutters ab, das aus seinem Gummistiefel heraushing, steckte es in den Ofen und brummte: „Das hört sich ja an wie Meuterei."
„W—wenn wir meutern, d—dann ist das unsere Sache." Man musste unwillkürlich an das Maul eines Tintenfisches denken, wenn man den Stotterer reden sah.
Plötzlich roch es nach angebranntem Gummi.
„Fangbootführer, was machst du da?" „Ich habe den roten Lappen verbrannt." Leise plätscherten die Wellen gegen die Bordwand. Die See war nur wenig bewegt, das Schiff schaukelte sanft wie eine Wiege. Die Glühlampe an der Decke sah aus wie die trübrote Beere einer Judenkirsche. In ihrem dämmrigen Licht schwankten die Schatten der um den Ofen hockenden Männer hin und her. Roter Feuerschein fiel aus der Ofenluke auf die Stiefel der Männer. Ihr Leben schien ihnen in der stillen Abendstunde doppelt elend und armselig.
„Hat noch jemand Tabak?"
„Ich nicht." — „Ich auch nicht."
„Was sehe ich, dort ist ja noch eine Flasche. Gib
sie mal rüber!"
Der Angeredete reichte die Schnapsflasche herum und sagte, nachdem er tief Luft geholt hatte: „Mit euch bin ich ja ganz schön reingefallen." „Wieso?"
„Ich wollte eigentlich gar nicht hierherkommen, aber dann dachte ich: Warum denn nicht, wenn die anderen gehen?" Und er berichtete von den Fabriken in der Umgebung Tokios, in denen er gearbeitet hatte. Begierig lauschten die Arbeiter aus Hokkaido seinen Worten. Ja, das waren andere Fabriken als die, in denen sie geschuftet hatten.
„... Wenn man uns dort nur ein Hundertstel von dem zugemutet hätte, was wir hier schlucken müssen, dann hätten wir sofort gestreikt." Der Schnaps des Arbeiters aus Tokio löste allen die Zunge. Sie fingen an zu erzählen: vom Straßenbau, vom Eisenbahnbau, vom Hafenbau, von der Grubenarbeit, vom Entladen der Schiffe, von der Ödlanderschließung, vom Heringsfang. Jeder berichtete aus seinen Erfahrungen. Bilder des Grauens standen vor ihnen auf.
Als sich die Arbeiter im japanischen Mutterland bereits ihrer Kraft bewusst geworden waren und die schlimmsten Auswüchse der Ausbeutung nicht mehr duldeten, stürzte sich das Finanzkapital auf die Inseln Hokkaido und Sachalin. Dort war man weit entfernt vom Mutterland, dessen Bodenschätze schon erschlossen waren, und konnte die Menschen ungehindert schinden und ausbeuten. Über die schrecklichen Dinge, die sich dort zugetragen haben, ist bisher nur wenig an die Öffentlichkeit gedrungen.
Wer zählt allein die vielen Opfer, die beim Straßenbau und Eisenbahnbau verschüttet wurden? Ein Mensch galt weniger als eine Laus. Und wehe denen, die es nicht länger ertragen konnten, die zu fliehen versuchten und wieder eingefangen wurden! Sie wurden an einen Pfahl gebunden und von den Hufen eines Pferdes zu Tode getrampelt oder in einen Zwinger geworfen und von wilden Hunden zerrissen. Die „Kulis" hielten sich Augen und Ohren zu, wenn sie die Qualen der Opfer mit ansehen oder ihre Schreie mit anhören mussten. Wenn das Opfer ohnmächtig wurde, wurde es mit kaltem Wasser übergossen, bis es wieder zu sich kam. Mehrere Male und bei vollem Bewusstsein zu sterben, das war der Sinn der Strafe. Was übrigblieb von dem, was einmal ein Mensch war, wurde in einen Winkel geworfen, wo es sich noch eine Weile zuckend bewegte...
Spießen und Pfählen mit brennenden Essstäbchen war dort eine sehr verbreitete Art, Menschen umzubringen. Wenn die Männer beim Essen saßen und es bis zu ihnen in den Baracken nach verbranntem Fleisch roch, riefen sie: „Hört auf! Hört auf! Kann man denn nicht einmal in Ruhe essen!" legten ihre Messstäbe beiseite und sahen einander mit blassen Gesichtern an.
„Wer die Beriberi bekam, wurde erbarmungslos zur Arbeit getrieben, bis er tot umfiel..." Die Leichen blieben unbestattet liegen, keiner hatte Zeit, sich um sie zu kümmern. Es konnte geschehen, dass man an der Hinterseite einer Baracke unversehens an einen Fuß stieß, der, gelb, mit schwarzen Flecken und klein wie der Fuß eines Kindes, zu einem achtlos hingeworfenen, notdürftig mit Stroh bedeckten Körper gehörte.
„... das Gesicht war schwarz von Fliegen. Sie flogen auf, wenn man zu nahe kam, und stürzten sich mit wütendem Brummen auf den Störenfried..." Der Krabbenfischer, der das erzählte, schlug mit der Hand gegen seine Stirn, als wollte er eine Mücke verjagen.
Die Arbeit begann täglich in aller Frühe und dauerte bis in die tiefe Nacht. Mit Spaten und Picken zogen die Männer aus. Sie mussten unerhört schnell arbeiten, aber wohin Spaten und Pickel auch trafen, überall sprühten Funken. Sie durften erst aufhören zu arbeiten, wenn man die Hand nicht mehr vor Augen sah. Das Gefängnis in der Nähe schien den Arbeitern ein Paradies zu sein, gemessen an dem Leben, das sie führen mussten. Am schlimmsten von allen ging es den Koreanern, sie waren die Prügelknaben, an denen die Aufseher und auch die eigenen Kameraden ihre Launen ausließen.
„... manchmal kam der Ortspolizist aus dem nächsten Dorf mit seinem Meldebuch, um die ,Abgänge durch Tod' zu vermerken. Er blieb dann immer bis zum Abend oder die ganze Nacht hindurch, ließ sich aber bei den Arbeitern nicht blicken. Wenn er taumelnd und mit hochrotem Kopf in sein Dorf zurückkehrte, spritzte er alle hundert Meter wie ein Feuerwehrmann um sich. Vielleicht war er wirklich ein Trottel, wahrscheinlich aber machte er bewusst die Augen zu, um nicht zu sehen, wie die
Arbeiter behandelt wurden..."
„... beim Bahnbau in Hokkaido türmten sich die Leichen so hoch wie die Schwellenstapel..."
„... beim Hafenbau wurden die Opfer der Beriberi, manchmal noch lebend, in die Stützpfeiler der Mole vermauert."
„... uns Arbeiter in Hokkaido ließ man so hungern, dass die Leute uns ,Kraken' nannten, das sind die Polypen, die vor Hunger ihre eigenen Gliedmaßen fressen."
So war es in Hokkaido! Schlimmste Ausbeutung und sagenhafte Profite; übelste Menschenschinderei unter dem hochtrabendem Namen „Erschließung der Bodenschätze zum Wohle des Vaterlandes". „Warum soll ich mich eigentlich bei den Göttern bedanken, dass ich mit heiler Haut von dort weggekommen bin, wenn ich jetzt auf diesem Krabbenschiff umgebracht werden soll?" schloss der Erzähler seinen Bericht und lachte grimmig. Das Lachen war nur ein Ausdruck seiner Hoffnungslosigkeit. Schließlich wurde er still und drehte sich zur Wand. Die anderen sollten nicht sehen, dass ihm dicke Tränen über die Wangen rollten.
„Bei uns ging es nicht viel anders zu..." So oder ähnlich begannen auch die anderen ihre Berichte. Jetzt war der aus dem Bergwerk an der Reihe. Er war dabei gewesen, als neue Stollen vorgetrieben wurden. „Die Grubenherren benutzten die Kumpel als Versuchskaninchen, um die Haltbarkeit der Stollen auszuprobieren."
Sie waren ja billig zu haben, sie galten den Grubenherren auch nicht mehr als dem Eroberer von Port Arthur, dem General Nogi, die japanischen Soldaten, die er, ohne mit der Wimper zu zucken, zu Tausenden in den Tod schickte. Das Leben eines Kumpels war kaum soviel wert wie ein Papiertaschentuch. Wie in Scheiben geschnittenes Thunfischfleisch lagen die zerschmetterten Leiber der Kumpel hinter der Verschalung der Stollenzimmerung. Beschweren konnte man sich über die haarsträubenden Zustände nicht, die nächste Stadt, in der es so etwas wie einen Gemeinderat gab, lag weit entfernt. Wenn an den Kohlebrocken auf den Loren hin und wieder ein Finger oder sogar Haut- und Fleischfetzen hingen, so wunderten sich die Lorenschieber — meist Frauen und Kinder — nicht, sie waren daran gewöhnt. So eine Grube glich einer großen Knochenmühle, bei der oben die Kumpel hineingestopft wurden und unten der Profit des Eigentümers herausfloss. Die Gesichter der Kumpel waren bleich und verhärmt wie die Gesichter von Zuchthäuslern; die Arbeit fern vom Sonnenlicht, in staubgeschwängerter und von giftigen Gasen durchsetzter Luft, bei schwankendem Luftdruck und übermäßiger Hitze zerrüttete ihre Körper.
„Die Kumpel konnten zu Tausenden zugrunde gehen, der Grubenherr fand für jeden mit Leichtigkeit zehn andere. Bei Einbruch des Winters kamen sie hungernd zu den Bergwerken, um Arbeit und Brot zu finden. Was scherte den Grubenherrn ihre Gesundheit."
Jetzt ergriff einer das Wort, der es mit dem „Siedeln" versucht hatte. „Das war auch so ein Betrug: Große Phrasen von der ,Erschließung Hokkaidos' und von der Lösung des Ernährungsproblems, und Werbefilme mit märchenhaften Versprechungen — damit haben sie uns geködert und uns verleitet, unser Land aufzugeben, auf das der Gutsherr seit langem scharf war." Wenn die Siedler den Boden umgruben, stießen sie bereits in Spatentiefe auf eine zähe Tonschicht — das fruchtbare Land war längst an gutzahlende Interessenten vergeben. Der Hokkaidowinter begrub die Siedler unter seinen Schneemassen. Sie hatten nicht einmal Pferdebohnen zu essen. Oft fand ein Nachbar nach der Schneeschmelze eine ganze Familie verhungert auf; den Toten hing noch das Stroh aus dem Mund, das sie zu kauen versucht hatten. Wenn es aber einem Siedler nach jahrelanger Arbeit gelungen war, aus dem Boden etwas zu machen, dann hatten die Bankherren, Barone und anderen Geldgeber ihn inzwischen so tief in Schulden verstrickt, dass der aus Ödland gewonnene fruchtbare Acker nicht mehr sein Eigentum war. Er gehörte dann einem der habgierigen Wucherer, von denen Hokkaido wimmelte. So mussten die Siedler am Ende feststellen, dass sie sich in derselben Lage befanden wie vor dem „Siedeln", in der Lage kleiner, bis über die Ohren verschuldeter Pächter. Sie waren über die Meerenge von Tsugaru nach Hokkaido gekommen, in der Hoffnung, sich etwas Geld zu erarbeiten und damit in die Heimat zurückzukehren; aber sie waren Räubern in die Hände gefallen, die sie von dem neuerworbenen Grund und Boden verjagten. Für viele von ihnen war ein Krabbenfangschiff die letzte Zuflucht.
Ähnlich wie den Krabbenfischern erging es den Schauerleuten. Sie kamen in ganzen Schiffsladungen nach Hokkaido und hausten in Otaru, in Massenunterkünften zusammengepfercht und streng bewacht. Ihre Arbeit war lebensgefährlich. Eine ungeschickte Bewegung genügte, und ein Stapel Holz drückte sie platt wie einen Pfannkuchen. Oft kam es vor, dass auf der einen Seite Holzstämme an Bord gehievt wurden und auf der anderen Seite ein Kuli mit eingedrücktem Schädel wie ein dreckiger Lumpen über die Reling ins Meer flog.
Im japanischen Mutterland war es seit langem nicht mehr möglich, dass ein Arbeiter zu Tode geschunden wurde, ohne dass sofort große Protestaktionen gegen die Unternehmer einsetzten. Die Arbeiter in Hokkaido aber waren von jeder Verbindung abgeschnitten und ihren Fronherren schutzlos ausgeliefert. Sie hielten oft lange aus. Wenn sie aber endgültig genug hatten und sich einen anderen Arbeitsplatz suchten, dann kamen sie vom Regen in die Traufe.
„Was soll nun aus uns hier auf dem Krabbenschiff werden?"
„Ja, was soll aus uns werden? Die schinden uns zu Tode."
Es gab nichts mehr zu erzählen. Stille trat ein — eine Stille dumpfen Verzweifelns.
„E—ehe ich mich umbringen lasse, b—bringe ich selbst einen um", sagte der Stotterer, dann schwieg auch er. Nur das eintönige Plätschern der Wellen drang durch die Bordwand. Irgendwo auf Deck zischte es, als wäre ein Dampfrohr undicht. Bevor die Krabbenfischer schlafen gingen, zogen sie ihre schmutzverklebten Hemden und Hosen aus, setzten sich um den Ofen und hielten die Kleidungsstücke vor sich hin, bis sie trocken waren. Dann schüttelten sie über dem Ofen die Läuse und Wanzen aus den Kleidern. Das Ungeziefer fiel auf die Ofenplatte und verkohlte. Bald stank es im ganzen Raum wie nach verbranntem Menschenfleisch. Die Männer suchten einander die Läuse ab, zerbissen die gefangenen Läuse mit den Zähnen oder zerquetschten sie zwischen den Fingernägeln. Die blutigen Finger wischten sie am Ärmel ab und setzten die Jagd fort. Zum Schlafen kamen sie nicht viel. Das Ungeziefer plagte sie so sehr, dass sie sich seiner kaum erwehren konnten. So viele Läuse und Wanzen sie auch fingen, auszurotten waren sie nicht. Scharenweise krochen sie den Männern an den Beinen hoch, wenn sie morgens ihre Kojen verließen. Mancher hatte das Gefühl, als hätte er eitrige Stellen am ganzen Körper, als wäre er eine lebende Leiche, die von Würmern und Fliegen zerfressen wird.
Anfangs hatten sich die Krabbenfischer und Saisonarbeiter jeden Tag waschen können, trotzdem waren sie auch damals den Schmutz und den üblen Geruch nicht losgeworden. Nach einer Woche durften sie sich nur noch alle drei Tage, nach einem Monat nur noch einmal wöchentlich waschen. Dann wurde es auf zweimal im Monat eingeschränkt, „um nicht zu viel Wasser zu verbrauchen", wie der Inspektor verkündete. Der Kapitän und Asagawa stiegen jedoch jeden Tag ins Bad, bei ihnen wurde nicht mit Wasser gespart. Wer aber dauernd mit dem klebrigen Krabbenfleisch zu tun hat und nicht alle Tage baden kann, der wird eine Brutstätte für Ungeziefer. So gingen die Krabbenfischer dazu über, den Schmutz von ihrem Körper abzukratzen. Anfangs bildeten sich nur an der Gürtellinie wunde Stellen, allmählich aber am ganzen Körper. Sie hielten es vor Jucken nicht aus und kratzten sich immerfort. Das hörte auch in der Nacht nicht auf, sie hatten das Gefühl, als bewegte sich bald hier, bald da eine kleine Spirale an ihrem Körper entlang, gleich darauf spürten sie einen stechenden Schmerz. Sie wälzten sich von einer Seite auf die andere, aber es hörte nicht auf. So ging es bis zum Morgen. Der ganze Körper war bald voll Schorf und Grind. „Das Ungeziefer frisst uns auf." „Lass doch! Mal etwas anderes zur Abwechslung!" Grimmiges Lachen ertönte, dann war es wieder still.

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