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Karl Grünberg - Brennende Ruhr (1928)
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20. KAPITEL

Über der alten Rheinstadt Köln ging ein drückendschwüler Augusttag zu Ende. Asphalt und Dächer dampften noch von einem Gewitterregen, der aber keinerlei Abkühlung gebracht hatte. Im offenen Schaufenster eines kleinen Cafés der Hohen Straße saß ein junger Mann, in die Lektüre der „Sozialistischen Republik" vertieft. Er bemerkte nicht, dass ein Vorübergehender -seiner Wanderkleidung nach anscheinend ein Durchreisender - stehen blieb und ihn aufmerksam betrachtete. Jetzt blickte auch der Lesende auf, seine Augen begegneten denen des auf der Straße Stehenden, und ein freudiges Erschrecken flog über seine Züge. „Grothe - Max - bist du es wirklich?"
Der andere reichte ihm lächelnd die Hand. „Guten Abend, Ernst! Lange nicht gesehen."
Sukrow starrte seinen Gast mit offenem Munde an. „Stehen denn die Toten wieder auf? - Überall wurde doch erzählt, dass du unter den sechzehn Genossen warst, die bei Welkum den Rückzug deckten und als Gefangene erschossen wurden."
„Das erste stimmt schon, das zweite nur zum Teil, wie du ja selber siehst. Ich wurde nur verwundet, hier sieh, der rechte Arm ist steif, aber Unkraut vergeht nicht", antwortete Grothe, Platz nehmend.
Du siehst auch recht schlecht aus! Und grau bist du an den Schläfen geworden", bemerkte teilnahmsvoll der einstige Kampfgenosse, der vor Aufregung noch förmlich bebte.
Da soll ein verletzter Nerv dran schuld sein, vielleicht aber... ich habe allerlei durchgemacht!" Er starrte versonnen ins Leere, als ob vor seinem geistigen Auge die furchtbaren Bilder der Vergangenheit auftauchten. „Und wie bist du davongekommen? Willst du nicht erzählen?" ermunterte ihn Sukrow.
Der andere fuhr wie aus einem Traume auf. „Ja, so, natürlich, aber wie bist du denn an dem verwünschten Morgen aus Buldingrath herausgekommen?" „Viel zu erzählen ist dabei nicht, zumal die ganze Geschichte kein besonderes Ruhmesblatt für uns war." „Du meinst wegen der Panik?"
„Ja, das mach' ich mir heute noch zum Vorwurf. Wir hätten nicht blind auf die gegebenen Versprechungen bauen dürfen, bessere Vorsichtsmaßnahmen treffen müssen. Ruckers warnte mich noch am Abend vorher. Aber wer dachte auch an solch niederträchtigen Überfall!"
„Im Bürgerkrieg gelten eben in jeder Beziehung andere Regeln. Hoffentlich bist du nun von deinen Illusionen geheilt?"
„Das schon, aber wir haben es teuer bezahlen müssen", fuhr Sukrow ernst fort. „Wir hatten uns zu sechzig oder achtzig Mann nach dem Kirchhof zurückgezogen. Bald darauf aber fingen sie an, mit 15-Zentimeter- Granaten zu trommeln. Die Mehrzahl unserer Leute war schon so demoralisiert, dass sie mehr an Deckung als an Widerstand dachten. Jemand, der einige Tage später den Friedhof zu sehen Gelegenheit hatte, schilderte ihn als ein einziges Trichterfeld. Als die Soldaten stürmten, war kein einziges Maschinengewehr mehr intakt. Alles, was der Reichswehr noch lebend in die Hände fiel, wurde sofort an Ort und Stelle niedergemacht.
Wie ich weggekommen bin, weiß ich selber nicht mehr richtig. Es ging querfeldein, links und rechts purzelten die, die mit mir rannten. In einem Graben watete ich dann bis zu den Hüften im Wasser bis an einen Waldrand, und dann ging es weiter, bis ich an ein einsames Bauernhaus kam. Ich wollte ein Rad haben, aber die Leute machten Schwierigkeiten, bis sie meinen Browning sahen. Es ging um mein Leben, und ich war zu allem fähig. Ich stieß dann auf einen Trupp aus Recklinghausen, mit dem ich über die Grenze ging, wo wir von den Engländern entwaffnet und nach Köln transportiert wurden. Dort erfuhr ich, dass bei den Rückzugskämpfen auch der wackere ,Dudo' gefallen ist. Mein erstes war, dass ich dem Bauern das Rad mit einem Entschuldigungsbrief zurückschickte.
Wir wurden drüben in Deutz in den alten Ausstellungshallen untergebracht. Es waren mehrere tausend Mann, Rheinländer und Westfalen. Die ,Tommys' behandelten uns sehr anständig, gaben uns gute Verpflegung, und wir durften uns auch frei bewegen. Dann verzog sich einer nach dem andern. Ein Teil ging in das Aachener und in das Saargebiet. Manche kehrten auch auf gut Glück nach Hause zurück. Von einigen hörte ich, dass sie in der Fremdenlegion gelandet seien. Ich bekam bald Anstellung bei einer chemischen Fabrik in Kalk, habe da ein annehmbares Gehalt und kann mich in persönlicher Beziehung eigentlich nicht beklagen. In Köln ist es hundertmal schöner als in dem verräucherten ,Pütt'"
Grothe hatte, den Kopf in die Hand gestützt, aufmerksam zugehört. „Und wie stehst du jetzt politisch? Du warst doch damals in Swertrup der SPD beigetreten."
Sukrow machte eine abwehrende Bewegung. „Das war einmal, lieber Max. Wem anders als dieser Partei haben wir diese furchtbare Niederlage zu danken? Wie könnte heute die deutsche Arbeiterschaft dastehen, wenn sie von diesen Leuten beim Kapp-Putsch nicht so schnöde verraten worden wäre? - Wenn ich noch daran denke, mit welchem Elan unsere Kumpels gegen das Kapp-Gesindel losgebrochen sind! - Die Halde bei ,Deutsche Erde' wurde sozusagen mit bloßen Händen gestürmt. Wieviel Opfer sind gefallen? - Und wofür? -Keiner der siebzehn Bielefelder Punkte - soweit sie sich gegen die Hakenkreuzler richteten - wurde erfüllt. Die Kappisten laufen stolz und frei mit Orden, Ämtern und Pensionen umher. Alle Mörder von ihnen gingen straflos aus. Aber uns, die wir für die Republik, gegen die Putschisten gekämpft haben, uns verfolgt und sperrt man ein, und ein sozialdemokratischer Reichspräsident findet sich sogar bereit, Todesurteile gegen Arbeiter zu unterschreiben! Pfui Deibel! - Und das alles lässt sich die Arbeiterschaft wie die selbstverständlichste Sache der Welt gefallen? - Keinem der feigen Mörder ist bisher ein Haar gekrümmt worden. Das Blut des armen Ruckers, Oversaths, Küppers, der Genossin Kabitzki, des alten Hövelmann und all der andern ist noch ungesühnt."
„Was, der alte Hövelmann auch?" fragte Grothe, der das originelle Faktotum des Flaschnerwerks auch sehr gut kannte, erschrocken.
„Das weißt du noch nicht? Dann lass dir erzählen. Der alte Mann hat im Krieg vier Söhne verloren, und der letzte wurde vergangenes Jahr von der Sicherheitswehr in Bottrop erschossen. Um das Maß des Unglücks voll zu machen, wurde sein kleines Enkelkind bei den Kämpfen in Swertrup in seinem Bettchen von einer Kugel tödlich getroffen. Ich kam dazu, wie der arme Kerl mit dem blutenden kleinen Wesen zum Arzt lief."
Sukrow musste einen Augenblick innehalten, denn in Erinnerung an die grausige Vergangenheit erstickten Tränen seine Stimme. Dann fuhr er fort: „Seitdem war der alte Mann nicht mehr ganz bei Sinnen. Fortwährend murmelte er: ,Fünf Jungen haben sie mir erschossen und nun auch noch das kleine Hannchcn!' Schließlich brachte man ihn ins Hospital, wo man ihn gerade einen Tag, bevor die Besetzung erfolgte, als harmlosen Geisteskranken entließ."
„Und diesen harmlosen Irren haben sie auch erschossen?" fragte Grothe erschüttert.
„Totgeschlagen haben sie ihn wie einen räudigen Hund. Als er vor dem Tor der Zeche ,Deutsche Erde' die Militärwache sah, ging er mit Fäusten auf sie los. Man nahm ihn natürlich fest, und dann sah ihn keiner mehr, bis man seine grässlich zugerichtete Leiche in der Friedhofshalle wieder fand."
Grothe hatte die Lippen fest zusammengepresst, die Falten zwischen Augen und Mundwinkel traten schärfer hervor, und sein Blick ruhte starr auf der Marmorplatte.
„Siehst du", begann Sukrow, nachdem er sich durch einen Schluck neu gestärkt hatte, „das alles passiert, und kein Hahn kräht danach. Sogar der arme Oversath, der doch gewiss kein Radikaler war - man sagt, er sei der größte Antibolschewist gewesen - musste daran glauben!
Und was tun seine eigenen Obergenossen'? — Sein Freund Reese, der uns immer Knüppel zwischen die Beine geworfen hat und uns in der entscheidenden Situation im Stich ließ, wurde Beisitzer im Standgericht! Und weißt du, was er heute ist? Landrat im Hannoverschen! So wächst der Mensch mit seinen höheren Zwecken! Aber ich habe nicht Charakter genug, solche Lumperei mitzumachen, und sei es auch nur durch passive Mitgliedschaft in dieser Partei. Mir können die Scheide- und Sollmänner..."
Grothe blickte ihn aufmerksam an. „Und nun bist du ganz indifferent?"
Sukrow lächelte verlegen: „Das gerade nicht, obwohl ich mir vorgenommen hatte, mich um nichts mehr zu kümmern. Aber so ganz kommt man ja um die leidige Politik doch nicht mehr herum. Wenn man sich nicht um die Politik kümmert, kümmert sich die Politik um uns! Die SPD ist für mich natürlich erledigt! Die Unabhängigen'?- Die finde ich noch komischer! Die haben durch ihre Verhandlungswut, durch ihre ,Möchtegern, aber mit Samthandschuhen' das Ihrige zu unserer Niederlage beigetragen. - Die Kommunisten? - Die Partei ist viel zu klein, um was zu erreichen, und dann... solch günstige Gelegenheit wie beim Kapp-Putsch kommt niemals wieder! Ja, die Russen, das sind andere Kerle, aber Deutschland ist ein hoffnungsloser Fall!"
„Da hast du Unrecht, und wie ich dich kenne, wirst du auch nicht lange passiv bleiben", sagte Grothe zuversichtlich. Er rückte ein Stück näher, begann auf den Freund einzureden, wie er es früher so oft getan.
„Ich habe", fuhr er fort, „keine Philosophie aus Büchern studiert, aber mir in der Praxis eine eigene Philosophie angeeignet, und die sieht so aus:
Was wir vorhaben, überall eine neue, höher organisierte Gesellschaftsordnung aufzubauen, das ist eine Aufgabe, wie sie gigantischer noch niemals gestellt wurde, solange diese Welt besteht! Und da sollte man verzweifeln, wenn der Baum nicht auf einen Hieb fällt? -Es existieren noch keine Instruktionsbücher darüber, wie man eine soziale Revolution einwandfrei und ohne Fehler durchführt, und es wird auch keine geben, weil jede Revolution sich ihre eigenen Lehren aus Fehlern und Niederlagen erkämpfen muss. Die Russen haben 1905 damit angefangen; wir 1918... und heute schreiben wir erst 1920."
Sukrow sah den Genossen mit ungläubigem Staunen an. „Wie lange sollen wir denn noch warten? Ich bewundere dich, das heißt mehr als deine Perspektive deine Ausdauer und Geduld! Ich habe das eben leider nicht." „Und doch sind das die wichtigsten Elemente, die wir brauchen. Erinnere dich doch, wieviel Geduld wir mit dir haben mussten, ehe du vom Wahn der Weimarer Demokratie frei wurdest !"
„Bei mir waren es die Schlacken der Erziehung: meine Eltern sind Spießbürger reinsten Wassers; das musst du schon entschuldigen", verteidigte sich Sukrow.
„Weiß ich alles, aber du willst diese Entschuldigung bei den andern, die ebenfalls ein Opfer ihrer falschen
Erziehung sind, nicht gelten lassen. Das ist intolerant."
„Ja, was soll man tun?" fragte Sukrow achselzuckend und zündete sich eine Zigarette an.
„Erziehen, aufklären, aber dazu gehört Arbeit", rief Grothe so laut, dass ein paar Vorübergehende einen Augenblick stehen blieben. „Die USPD gehört in Kürze der Geschichte an, da auf dem Halleschen Parteitag sicher das Gros zur Dritten Internationale stoßen wird.
Damit sind die Vorbedingungen für eine proletarische Massenpartei und für künftige bessere proletarische Politik gegeben."
„Daran hat es leider gefehlt seit 1918; viele Parteien, viele Köpfe, viele Sinne. Einer misstraute dem andern, bekämpfte den andern. Keiner hatte Autorität, sich durchzusetzen und die riesigen Massenkräfte zu organisieren", sagte Sukrow bitter.
Grothe schmunzelte: „Wie du gelernt hast, alter Junge; so weit sind wir gar nicht mehr auseinander!"
Sukrow sah verdutzt drein, dann lächelte auch er: „Mag sein, dass wir uns mal in Damaskus wieder treffen, wenn das alles erst ein bisschen weiter hinter mir liegt." Ein herbes Zucken spielte um des anderen Mundwinkel: „Ich habe keine Zeit, über Unvermeidliches nachzugrübeln. Ich darf es gar nicht, sonst..."
„Herrgott, ja, wir schwatzen, und von dir weiß ich noch gar nichts", rief Sukrow erschrocken.
„Dann lass es dir kurz erzählen", sagte Grothe, die Stirn im Handteller seiner Linken wühlend, als müsse er die gewaltsam zerstreute Erinnerung erst zusammenklauben. Dann begann er mit halblauter, trockener Stimme:
„Wir hatten uns zu siebzehn Mann mit drei Maschinengewehren in ein einzeln stehendes Haus bei Welkum geworfen, um die bayerischen Ulanen aufzuhalten. Da haben sie uns ziemlich zehn Stunden lang belagert. Wir schlugen auch mehrere Angriffe ab und blockierten mit unserem MG die Straße. Ich erhielt dabei einen schweren Schuss in die Schulter und lag ein paar Stunden in einem Kellerloch. Mâry pflegte mich, bis... "
„Wie? - Mâry war auch bei euch? Du weißt also, wo sie geblieben ist?" fragte Sukrow atemlos.
Grothe nickte. „Sie hätte flüchten können, aber sie wollte nicht. Sie war gerade bei mir, als es oben losdonnerte, als gehe die Erde unter. Ich glaubte erst, es seien Minen, aber später erfuhr ich, dass es geballte Handgranaten waren. Ich wollte nach oben, mein Leben so teuer als möglich zu verkaufen, aber die Falltür zu unserem Kaschott war schon verschüttet. Da das Haus keinen weiteren Keller hatte, fanden mich die Noskes nicht. - Erst am anderen Morgen gruben mich die Ziegeleiarbeiter besinnungslos aus und versteckten mich vor den Spitzeln der Weißen."
„Und Mâry? Wurde sie auch gerettet? - Ist sie tot, oder geriet sie gar lebend in die Hände der Soldateska? -In Westfalen sind ja furchtbare Schandtaten an unseren Krankenschwestern begangen worden."
Voll schmerzlicher Spannung forschte Sukrow in den gramverzerrten Zügen des andern. Und plötzlich wurde ihm die ganze furchtbare Tragödie klar, als der Freund mühsam herauswürgte: „Sie kommt nicht wieder;... sie starb in meinem Arm;... sie ist tot!... "
Er hatte die Augen mit der Hand bedeckt, und ein tiefes Stöhnen entrang sich seiner Brust. Auch Sukrow hatte den Kopf auf den Tisch gestützt. Er zermarterte seinen Kopf vergeblich nach einem Trostwort und
schwieg.
Plötzlich fragte Grothe, noch immer die Hand vor Augen haltend: Du hast sie wohl auch gern gehabt?"
Sukrow überkam ein wehes Gefühl bei der Erinnerung. „Ich war dir ihrethalben einmal sehr gram, Max! Seinerzeit, weißt du noch, beim Streik auf der Zeche Beate, da sagtest du mal zu mir: In einer bekannten Familie fängt man, wenn man keine Heiratsabsichten hat, Freundschaft mit einem Mädchen erst gar nicht an! Das leuchtete mir auch ein. Und dann habe ich euch zwei bei Frau Ruckers Geburtstag beobachtet. Da machtest du dich auf dem Platz breit, den du zu räumen mir empfohlen hattest."
Grothe blickte ihn ernst an. „Du tatest mir unrecht, Ernst. Du hattest - damals wenigstens - doch keine ernsten Absichten. Darum riet ich - obwohl persönlich uninteressiert - in beiderseitigem Interesse ab. Bei mir kam das erst später - wie so etwas eben plötzlich kommt. Aber wer sagt dir, dass ich nicht ernste Absichten hatte?" Sukrow schwieg betroffen; Grothe aber, dem es wohlzutun schien, über die Tote zu sprechen, fuhr mit leise vibrierender Stimme fort: „Sie war ein lieber, tapferer Kerl, hatte das Zeug in sich zu einem Kampfkameraden, wie ihn unsereiner braucht. Sie starb tapfer, wie sie mit uns kämpfte. Wenn wir beide lebend weggekommen wären..."
Er machte eine tiefe Atempause und schien einen Augenblick in schmerzlicher Erinnerung versunken. Dann aber richtete sich seine zusammengesunkene Gestalt auf, und sein Gesicht nahm einen hartgemeißelten Ausdruck an:
„Das hat nun mal nicht sein sollen und ist auch nicht zu ändern! Auch ihr Name steht - für mich sogar obenan - auf jener langen Liste, die wir eines Tages mal zur Abrechnung vorlegen werden. Und dass dieser Tag bald kommt, daran arbeite ich, solange ich noch Blut in den Adern habe!"
„Bist du denn wenigstens gesundheitlich wiederhergestellt?" fragte Sukrow, um von diesem schmerzlichen Gegenstand abzukommen.
Grothe bewegte krampfhaft seinen steifen Arm. „Mit dem hier ist's vorbei, der bedient keine Walzstraßen mehr.
Bis gestern war ich, unter einem andern Namen, in der Klinik eines sympathisierenden Arztes in Düsseldorf. Aber ich habe zu lange bei den Ziegeleiarbeitern in Welkum gelegen und mir die Wunde mit essigsaurer Tonerde selber geheilt. Meine gute Heilhaut tat das ihrige. Jetzt ist alles verknorpelt und versteift. Aber das konnte mir im Weltkrieg auch passieren."
Sukrows Blick hing bewundernd an dem jungen Kommunisten, der trotz der furchtbarsten Erlebnisse so fest und sicher auf den Beinen stand und sogar schon wieder lächeln konnte. Unwillkürlich kam ihm ein Spielzeug seiner Kindheit, ein Stehaufmännchen, in Erinnerung.
Der da war tatsächlich nicht kleinzukriegen. Aus solchem Holz mussten wohl auch die Menschen sein, die den Sozialismus aufbauen wollten. Ein beschämendes Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit überkam ihn.
„Und jetzt, Max - willst du in Köln bleiben?" fragte er schließlich.
Grothe schüttelte den Kopf. „Ich habe die Nacht im Volkshaus auf der Severinstraße logiert und wollte eben langsam zum Bahnhof schlendern, wo schon mein Rucksack wartet."
Er sah nach der Uhr: „Eine halbe Stunde habe ich noch Zeit. Um 9.07 fährt mein Zug nach Remagen. Ich will den Rhein hinauf, vorher noch einen Abstecher ins Ahrtal machen, alte Freunde aufstöbern. Dort bin ich mal als Achtzehnjähriger langgetippelt, und ich brauche jetzt ein bisschen Erholung für meine Nerven. Also lass uns schon immer gehen; du begleitest mich doch zur Bahn?"
„Selbstverständlich, das heißt: Willst du nicht wenigstens eine Nacht bei mir bleiben? Ich habe ein hübsches Zimmer draußen in Lindenberg. Und wenn ich dir sonst mit was dienen kann; wenn du Geld brauchst? Sage es bitte ungeniert."
„Was ich brauche - es ist nicht viel, denn ich kenne den Betrieb, vom Wandern zu leben - haben mir gute Geister zugesteckt", antwortete Grothe. „Und was das Logis anbetrifft - lassen wir das bis zum Herbst. Wenn mer Träuble schneidt, bin ich wieder da, dann kehr' ich auch bei dir, mein Schatz, ein! Für deinen überflüssigen Mammon aber weiß ich eine viel bessere Anlage. Ich werde dir die Adresse von Frau Ruckers geben, die man natürlich, nachdem der Ernährer ermordet war, auch aus der Koloniewohnung herausschmiss. Hannes ist zwar vor einigen Wochen zurückgekehrt, aber er ist seine Lehrstelle losgeworden. Die beiden leben jetzt mit dem Ludwig, dem armen Krüppel, in größter Not."
„Das soll gern geschehen", antwortete Sukrow hocherfreut, dem Freund einen, wenn auch mittelbaren, Liebesdienst erweisen zu können.
„Man riet mir auch", sagte Grothe, „nach Russland zu gehen; aber was soll ich dort? Spezialist bin ich nicht, mich können sie ja nicht mal bei der Roten Armee brauchen. Darum bleibe ich im Lande und ,hetze' redlich! Zum Herbst soll ja eine große Amnestie für die Ruhrkämpfer kommen, dann kehre ich nach dem ,Pütt' zurück. Gewiss, es gibt schönere Flecken Erde, aber mein Platz ist da oben, da gehöre ich hin. Die Dickköppe und ihre Lakaien werden bald wieder von Max hören. Es ist eine Menge aufzubauen, aber es wird nicht lange dauern, denn der Boden ist gut gedüngt. Die Herrschenden täuschen sich, wenn sie glauben, den großen Brand an der Ruhr mit Blut ausgelöscht zu haben. Der frisst und knistert weiter im Innern der Erde! Tausende neuer Kämpfer werden an Stelle eines Peter Ruckers erstehen."
Sie waren aufgestanden, vom brausenden Leben des abendlichen Kölns umfangen. Über den lichtspiegelnden Asphalt der Hohen Straße flutete vom Wallrafplatz bis zur Hohen Pforte der Strom der vergnügungssüchtigen Menge. Elegante Nichtstuer und geschminkte Straßendirnen, abenteuernde Ladenmädchen und köllsche Kleinbürger; Fremde, die auf der Durchreise einmal Köln bei Nacht studieren wollten, und dazwischen die glattrasierten Typen khakifarbener Engländer mit gelbem Lederzeug und breiter Schildmütze! Aus den weitgeöffneten Kaffeehausfenstern rauschte Musik, grellbunte Plakate versprachen humorvolle Unterhaltung.
Der Zug war noch nicht einrangiert, und sie gingen Arm in Arm den Perron bis zum äußersten Ende der halbdunklen Bahnhofshalle und noch ein Stückchen darüber hinaus. Unten spiegelten sich in den dunklen Fluten des Rheins die Lichter der Uferstraßen und Brücken.
„Da oben zieht sich wieder was zusammen", bemerkte Grothe, indem er mit der gesunden Linken stromabwärts deutete, wo sich pechschwarze Wolken ballten, rötlich angehaucht, wie von einer riesigen Feuersbrunst. Wetterleuchten gespensterte durch die Nacht - in der Ferne grollte dumpf der Donner des heranziehenden
Gewitters.
Langgezogene Schiffssirenen gellten herauf. Ein schwarzer Schleppdampfer mit grünroten Buglaternen schaufelte das Wasser. Nur langsam gewann er mit der endlosen Kette tiefbeladener Kohlenschiffe hinter sich Terrain gegen die reißende Strömung.

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