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Edward Bellamy - Das Jahr 2000 - Ein Rückblick auf das Jahr 1887 (1888)
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Zweiundzwanzigstes Kapitel

Wir hatten verabredet, die Damen zum Mittagessen im Speisehaus zu treffen; nachher verließen sie uns und wir blieben am Tische sitzen, wo wir bei einem Glase Wein und einer Zigarre über eine Menge Dinge sprachen.
»Herr Doktor«, sagte ich im Laufe der Unterhaltung, »ich müsste unvernünftig sein, wenn ich Ihr soziales System, im Vergleich mit irgendeinem früher geltenden und hauptsächlich mit dem meines eigenen, höchst unglücklichen Jahrhunderts, nicht bewundern wollte. Wenn ich heute Nacht wieder in einen ebenso langen mesmerischen Schlaf fallen und die Zeit rückwärts, anstatt vorwärts laufen, und ich wieder im neunzehnten Jahrhundert aufwachen sollte, und wenn ich dann meinen Freunden erzählte, was ich gesehen habe, sie würden alle zugestehen, dass Ihre Welt ein Paradies in Ordnung, Gerechtigkeit und Glückseligkeit sei. Aber meine Zeitgenossen waren sehr praktische Leute und, nachdem sie ihre Anerkennung Ihres Systems ausgesprochen, würden sie sogleich rechnen und fragen, woher Sie das Geld genommen hätten, jedermann so glücklich zu machen; denn, um die ganze Nation mit solchem Komfort und sogar Luxus auszustatten, wie ich ringsumher sehe, muss viel größeren Reichtum erfordern, als die Nation damals hatte. Wenn ich ihnen nun auch alle Einzelheiten Ihres Systems ziemlich gut erklären könnte, würde mir doch diese Frage zu beantworten nicht gelingen, und dann würden sie mir sagen - denn sie waren genaue Rechenmeister - ich hätte geträumt, und würden mir nie wieder etwas glauben. Ich weiß, dass zu meiner Zeit das ganze jährliche Einkommen der Nation, wenn es ganz gleichmäßig verteilt worden wäre, nicht größer war, als dass drei- bis vierhundert Dollar auf den Kopf gekommen wären, nicht viel mehr als genug, um damit das Nötigste fürs Leben, mit sehr wenig oder keinem Komfort zu bestreiten. Wie kommt es, dass Sie jetzt so viel haben?«
»Das ist eine sehr berechtigte Frage, Mr. West«, erwiderte Dr. Leete, »und ich würde es in einem solchen Falle Ihren Freunden nicht verdenken, wenn sie Ihre Erzählung für leeres Gerede erklärten. Ich kann diese Frage nicht erschöpfend hier in dieser Sitzung beantworten und muss Sie bezüglich der Statistik, welche meine allgemeinen Angaben bekräftigen müssen, auf einige Bücher in meiner Bibliothek verweisen, aber es wäre wirklich schade, wenn Sie aus Mangel an einigen Grundlagen bei Ihren alten Freunden in Verlegenheit kämen, wenn der Fall, von welchem Sie sprachen, eintreten sollte.
Wir wollen mit einer Anzahl kleiner Posten anfangen, worin wir im Vergleich mit Ihnen reiche Ersparnisse machen. Wir haben keine nationalen, Staats-, County- oder Gemeindeschulden und dafür nichts zu bezahlen. Wir haben keinerlei militärische oder Flottenausgaben für die Leute oder das Material, haben weder Heer, noch Flotte, noch Miliz. Wir haben keine Zoll- und Steuerbeamten. Was unser Gerichtswesen, unsere Polizei, Sheriffs und Gefangenenwärter betrifft, so genügen die Leute, die Massachusetts allein zu Ihrer Zeit unterhielt, jetzt für die ganze Nation. Wir haben keine Verbrecher, wie Sie, die den Reichtum der Gesellschaft raubten. Die Zahl der Personen, die mehr oder weniger durch körperliche Unfähigkeit der Arbeit verloren gingen, die Lahmen, Kranken und Schwachen, welche damals eine solche Last für die Gesunden waren, ist gegenwärtig, da alle in Gesundheit und Behaglichkeit leben, auf kaum wahrnehmbare Verhältnisse herabgesunken, und verschwindet mit jeder Generation mehr.
Ein anderer Posten, an dem wir sparen, ist das Geld, das wir außer Gebrauch gesetzt haben, und die Tausende von Beschäftigungen, die mit finanziellen Operationen verbunden waren, wodurch früher ein Heer von Männern von nützlicher Tätigkeit abgezogen wurde. Bedenken Sie auch, dass die Verschwendung der Reichen jener Zeit durch ausschweifenden persönlichen Luxus aufgehört hat, obgleich dies leicht überschätzt werden könnte. Bedenken Sie ferner, dass es gegenwärtig keine Faulen, reiche oder arme, -keine Drohnen gibt. Eine sehr wesentliche Ursache der früheren Armut lag in der ungeheuren Verwüstung von Arbeitskraft und Material, welche in der Hausarbeit, Waschen und Kochen lag, und in der getrennten Verrichtung unzähliger anderer Arbeiten, wo wir das Assoziationssystem anwenden.
Eine größere Ersparnis als diese alle, ja als alle zusammen, besteht in der Organisation unseres Verteilungssystems, wodurch die Arbeit, welche einst von Kaufleuten, Händlern, mit ihren verschiedenen Maklern, Groß- und Kleinhändlern, Agenten, Reisenden und tausenderlei Unterhändlern mit übertriebenem Aufwand an Kraft, bei unnötigem Transport und unendlicher Handhabung getan wurde, von einem Zehntel der Arbeitskräfte und ohne eine unnötige Drehung eines Rades verrichtet wird. Dieses System haben Sie kennen gelernt. Unsere Statistiker haben ausgerechnet, dass der achtzigste Teil unserer Arbeiter genüge für alle Verrichtungen bei der Verteilung, welche zu Ihrer Zeit den achten Teil der ganzen Bevölkerung erforderten, soviel Kraft wurde der produktiven Arbeit entzogen.«
»Ich beginne einzusehen«, sagte ich, »woher Sie Ihren größeren Reichtum haben.«
»Entschuldigen Sie«, erwiderte Dr. Leete, »aber das können Sie kaum schon. Die von mir erwähnten Ersparnisse zusammengenommen, konnten möglicherweise den Wert Ihres jährlichen Erwerbs um die Hälfte übersteigen. Diese Posten sind jedoch kaum der Erwähnung wert im Vergleich mit anderen erstaunlichen, jetzt ersparten Aufwänden, welche die unvermeidliche Folge davon waren, dass Sie die Industrie der Nation in Privathänden ließen. Wie große Ersparnisse auch Ihre Zeitgenossen im Verbrauch von Produkten gemacht haben mögen, und wie wunderbar der Fortschritt in mechanischen Erfindungen war, sie würden sich niemals aus dem Sumpf der Armut haben retten können, solange sie an diesem System festhielten.
Es hätte keine verschwenderischere Art der Verwendung menschlicher Arbeitskraft erdacht werden können, und zur Ehre des menschlichen Geistes sei es gesagt, dass das System nicht erdacht worden, sondern ein Überbleibsel aus rohen Jahrhunderten ist, da der Mangel einer sozialen Organisation jede Art von Assoziation unmöglich machte.«
»Ich will gerne zugeben«, sagte ich, »dass unser System vom ethischen Standpunkte aus herzlich schlecht war, aber zum Geldmachen, abgesehen von der Moral, schien es uns bewundernswürdig.«
»Wie gesagt«, antwortete der Doktor, »der Gegenstand ist zu umfassend, um ihn jetzt eingehend zu besprechen, aber wenn es Sie wirklich interessiert, die hauptsächlichsten Ausstellungen zu hören, die wir Modernen an Ihrem System, im Vergleich mit dem unsrigen, zu machen haben, so will ich kurz einige davon berühren.
Es sind namentlich vier Punkte, in denen Sie durch Überlassung der Leitung Ihrer Industrie an unverantwortliche Individuen, die vollständig ohne gegenseitiges Einverständnis arbeiteten, am meisten verschwendeten: Erstens, der Verlust durch falsche Unternehmungen; zweitens, der Verlust durch die Konkurrenz und gegenseitige Feindschaft der Industriellen; drittens, der Verlust durch die periodischen Stockungen und Krisen mit den darauf folgenden Unterbrechungen; viertens, der Verlust durch untätiges Kapital und Arbeitskraft zu allen Zeiten. Einer dieser vier Gründe allein, ohne die anderen, würde genügen, für die Nation einen Unterschied zwischen Reichtum und Armut zu machen.
Beginnen wir mit dem Verlust durch falsche Unternehmungen. Da zu Ihrer Zeit die Produktion und Verteilung von Waren ohne Einmütigkeit und Organisation erfolgte, konnte man den Umfang des Bedarfs irgendeines Produktes oder den Betrag des Vorrates nicht kennen. Deshalb war jedes Unternehmen eines Privatkapitalisten ein zweifelhaftes Experiment. Da der Unternehmer keinen allgemeinen Überblick über das Feld der Produktion und des Konsums hatte, wie unsere Regierung ihn hat, konnte er weder sicher sein, was das Publikum wünscht, noch was für Vorkehrungen andere Kapitalisten getroffen hatten, das Gewünschte zu liefern. Mit Rücksicht hierauf können wir uns nicht wundern, dass die Wahrscheinlichkeit für das Misslingen irgend eines Unternehmens groß war, und dass es für Personen, die endlich einen Schlag machten, gewöhnlich war, erst verschiedene Male Bankrott gemacht zu haben. Wenn ein Schuhmacher bei jedem Paar Schuhe, das er macht, erst das Leder für vier oder fünf Paare verschneidet und die darauf verwendete Zeit noch obendrein verliert, so würde er dieselbe Gelegenheit haben, reich zu werden, wie Ihre Zeitgenossen mit ihrem System der Privatunternehmungen, und den durchschnittlich vier bis fünf Bankrotten auf einen Treffer.
Der nächste große Verlust war der der Konkurrenz. Das Feld der Industrie war ein Kampfplatz, so groß wie die Welt, auf dem die Arbeiter in ihrem Ringen gegeneinander Kräfte verschwendeten, welche, in Gemeinschaft verwendet, wie sie es heutzutage sind, alle reich gemacht hätten. In diesem Kampfe wurde absolut kein Pardon gegeben. Mit Überlegung ein Geschäftsfeld betreten und die Unternehmungen derer zerstören, welche es vorher innegehabt, um auf ihrem Ruin das eigene Unternehmen aufzubauen, war eine Tat, welche nie verfehlte, die allgemeine Bewunderung zu erregen. Auch geht man nicht zu weit, diese Art von Kampf mit einem wirklichen Krieg zu vergleichen, was die Seelenangst und das körperliche Leiden betrifft, die den Kampf begleiteten und das Elend; welches den Besiegten und die von ihm Abhängigen niederschmetterte. Auf den ersten Blick ist in Ihrem Zeitalter für einen Mann der neueren Zeit nichts erstaunlicher, als dass die in derselben Industrie beschäftigten Menschen einander als Rivalen und Feinde betrachteten, die niedergeworfen und erwürgt werden müssten, anstatt mit ihnen zu fraternisieren als Kameraden und Mitarbeiter für ein gemeinsames Ziel. Dies scheint wahrhaftig der reinste Wahnsinn, eine Handlung des Tollhauses würdig. Aber bei näherer Betrachtung scheint es nicht so. Ihre Zeitgenossen, mit ihrem gegenseitigen Halsabschneiden, wussten sehr wohl, was sie wollten. Die Produzenten des neunzehnten Jahrhunderts arbeiteten nicht, wie die unsrigen, für die Erhaltung der Allgemeinheit, sondern für ihre eigene Erhaltung auf Kosten der Allgemeinheit. Wenn bei solcher Arbeit der allgemeine Reichtum wächst, so ist das zufällig. Es war geradeso möglich, und gewöhnlich, durch dem allgemeinen Wohle nachteilige Handlungen den eigenen Schatz zu mehren. Seine schlimmsten Feinde waren notwendig die in seiner eigenen Branche, denn bei Ihrem System, Privatgewinn zum Beweggrund der Produktion zu machen, war ein Mangel in dem Artikel, den er produzierte, der Wunsch jedes einzelnen Produzenten. Es lag in seinem Interesse, dass nicht mehr davon produziert werden sollte, als er selbst produzieren konnte. Sein beständiges Bemühen war, dies soweit als möglich durch Entmutigung und Unterdrückung der in seinem Fache Arbeitenden ins Werk zu setzen. Wenn er so viele als möglich unterdrückt hatte, so war sein Bestreben, sich mit denen, welchen er nichts anhaben konnte, zu verbinden und einen Krieg gegen die große Menge zu führen durch Sperrung des Marktes und durch Hinauftreiben des Preises, den das Publikum lieber bezahlte, als die Ware ganz entbehrte. Tag und Nacht träumte der Produzent des neunzehnten Jahrhunderts davon, unbeschränkte Kontrolle über die Lieferung eines Lebensbedürfnisses zu erlangen, so dass er das Publikum am Rand des Verhungerns halten und immer Teuerungspreise für sein Produkt fordern konnte. Dies nannte man im neunzehnten Jahrhundert ein System der Produktion. Ich will es Ihnen überlassen, Mr. West, ob dies nicht vielmehr ein System war, die Produktion zu verhindern. Wenn wir einmal recht viel Zeit haben, werde ich Sie bitten, mir zu erklären, was ich, trotz fleißigem Studium, nie verstehen konnte, wie solche Schlauköpfe, wie Ihre Zeitgenossen gewesen zu sein scheinen, je dazu gekommen sind, das Geschäft, die Gesamtheit zu versorgen, einer Klasse anzuvertrauen, die darauf ausging, dieselbe für ihren Nutzen auszuhungern. Wir wundern uns in der Tat nicht darüber, dass die Welt unter einem solchen System nicht reich wurde, sondern darüber, dass sie nicht aus Mangel zugrunde ging. Und diese Verwunderung nimmt noch zu, wenn wir noch einige andere Beispiele von Verschwendung, welche Ihr Jahrhundert kennzeichnen, erwägen.
Abgesehen von der Arbeitskraft- und Kapitalverwüstung durch schlecht geleitete Industrie und die durch das beständige Blutabzapfen durch den industriellen Krieg, erfuhr Ihr System leicht periodische Erschütterungen, die den Weisen wie den Unweisen, den erfolgreichen Halsabschneider wie sein Opfer stürzten. Ich meine die Geschäftskrisen in Zwischenräumen von fünf bis zehn Jahren, welche die Geschäfte der Nation zugrunde richteten, alle schwachen Unternehmungen niederwarfen und die stärksten lähmten, und denen lange, oft jahrelange Perioden von so genannten schlechten Zeiten folgten, während welcher die Kapitalisten langsam ihre verlorenen Kräfte wieder sammelten und die Arbeiter hungerten und strikten. Dann kam wieder eine kurze Zeit des Wohlstandes, der abermals eine Krisis und Jahre der Erschöpfung folgten. Als der Handel sich ausbreitete und die Nationen gegenseitig voneinander abhängig machte, erstreckten sich diese Krisen über die ganze Welt und die Hartnäckigkeit dieses Zustandes nahm mit dem von der Erschütterung berührten Areal und dem daraus folgenden Mangel an Sammelpunkten zu. Als nun die Weltindustrie wuchs und kompliziert wurde, und die Größe des beteiligten Kapitals zunahm, wurden diese Geschäftskalamitäten häufiger, bis im letzten Teil des neunzehnten Jahrhunderts zwei schlechte Jahre auf ein gutes kamen, und das Industriesystem, das nie zuvor so ausgedehnt und imposant gewesen war, in Gefahr schien, unter seiner eigenen Last zusammenzustürzen. Nach endlosen Verhandlungen scheinen Ihre Nationalökonomen sich dahin geeinigt zu haben, dass es ebenso wenig möglich sei, diese Krisen zu verhüten oder zu beschränken, als trockene Zeiten oder Stürme. Sie mussten als notwendige Übel getragen werden und es blieb nichts übrig, als, wenn sie vorüber waren, das erschütterte Gebäude der Industrie wieder aufzubauen, gerade wie die Bewohner von Erdbebengegenden ihre Städte wieder auf demselben Platz errichten.
In Beurteilung der Gründe für diese ihrem System anhängenden Schwierigkeiten hatten Ihre Zeitgenossen jedenfalls recht. Sie lagen in seiner Grundlage und mussten notwendig mit der Zeit noch bösartiger werden, da der Geschäftsbau an Umfang und Verworrenheit wuchs. Eine dieser Ursachen war der Mangel an gemeinsamer Kontrolle der verschiedenen Industriezweige und die daraus folgende Unmöglichkeit ihrer regelmäßigen Entwicklung. Infolgedessen war es auch unvermeidlich, dass sie untereinander nicht Schritt und nicht Fühlung mit dem Bedarf hielten.
Für den letzteren gab es keinen Maßstab, wie wir ihn in der organisierten Verteilung haben, und das erste Zeichen dafür, dass der Bedarf in irgendeiner Branche überschritten worden ist, war ein Sinken der Preise, Bankrott der Produzenten, Hemmung der Produktion, Herabsetzung der Löhne oder Entlassung von Arbeitern. Dieser Prozess fand beständig in vielen Industriezweigen statt, sogar in so genannten guten Zeiten, aber eine Krisis trat nur ein, wenn diese Gebiete ausgedehnt waren. Die Märkte waren dann mit Waren überfüllt, von welchen niemand mehr haben wollte, als er brauchte. Da der Lohn und der Nutzen derer, welche diese Waren fertigten, herabgesetzt wurde oder völlig stillstand, so kauften dieselben auch keine anderen Waren, die es nicht im Überfluss gab, und in Folge davon wurden solche, die eigentlich nicht im Übermaß vorhanden, auf künstliche Weise überzählig, bis ihre Preise auch sanken und die Fabrikanten außer Arbeit kamen und ihr Einkommen verloren. So kam die Krisis heran und nichts konnte sie aufhalten, bis das Gut der Nation verschwendet war.
Eine Ihrem System anhängende Ursache, welche die Krisen oft herbeiführte und sie erschwerte, war die Manipulation mit Bargeld und Kredit. Solange die Produktion in vielen Privathänden sich befand und Kaufen und Verkaufen zum Erwerb dessen, was man brauchte, notwendig war, war auch das Geld unentbehrlich. Man konnte jedoch das offenbar gegründete Bedenken dagegen hegen, dass es als übliches stellvertretendes Symbol für Lebensmittel, Kleidung und anderes dienen sollte. Die Verwechslung von Waren und ihrem Symbol führte zu dem Kreditsystem und seinen ungeheuren Illusionen. Das Publikum, schon daran gewöhnt, Geld für Waren anzunehmen, begnügte sich zunächst mit Versprechungen von Geld und suchte hinter dem Ersatz nicht mehr das Ding, das ersetzt wird. Geld war ein Zeichen für wirkliche Waren, aber Kredit war nur ein Zeichen für ein Zeichen. Es gab eine natürliche Grenze für Gold und Silber, d.h. für das eigentliche Geld, aber keine für den Kredit, und das hatte zur Folge, dass der Umfang des Kredits, d.h. der Geldversprechungen alle bestimmbare Proportion zum vorhandenen Geld und noch mehr zu den Waren verlor. Unter einem solchen System mussten häufig periodische Krisen nach demselben Gesetze eintreten, nach welchem auch Gebäude einstürzen, die sich über ihren Schwerpunkt neigen. Es war eine Fiktion von Ihnen, dass die Regierung und die von ihr dazu ermächtigten Banken Werte emittieren, während jedermann, der für einen Dollar Kredit gab, emittierte Geld zu diesem Betrag, das so gut wie jedes andere war und die Zirkulation bis zur nächsten Krisis vermehrte. Die große Ausdehnung des Kreditsystems war bezeichnend für den letzten Teil des 19. Jahrhunderts und erklärt die beinahe unaufhörlichen Krisen in dieser Periode. So gefährlich der Kredit auch war, so. konnten Sie ihn doch nicht entbehren, denn, da Sie keine nationale oder öffentliche Organisation des Kapitals hatten, war es das einzige Mittel, um letzteres auf industrielle Unternehmungen zu konzentrieren. So vergrößerte er auf das Wirksamste die Hauptgefahr des Systems von Privatunternehmungen, indem er es abgesonderten Industriezweigen möglich machte, unverhältnismäßige Beträge des disponiblen Kapitals zu absorbieren und so Missgeschick vorzubereiten. Geschäftsunternehmungen waren stets tief in Schulden für Kreditvorschüsse, bald untereinander, bald Banken und Kapitalisten gegenüber, und die schleunige Zurückziehung dieses Kredits beim ersten Anzeichen einer Krisis wirkte gewöhnlich beschleunigend für letztere.
Es war ein Unglück für Ihre Zeitgenossen, dass sie ihren Geschäftsbau mit einem Material zusammenflicken mussten, das jeden Augenblick sich in einen Sprengstoff verwandeln konnte. Es ging ihnen wie einem Manne, der beim Bau seines Hauses statt Mörtel Dynamit verwendet, denn der Kredit ist mit nichts anderem zu vergleichen.
Wenn Sie einsehen, wie unnötig diese Erschütterungen des Geschäfts waren, von denen ich gesprochen habe und wie sie lediglich daher kamen, dass man die Industrie Privathänden überließ und nicht organisierte, würden Sie unserem System Gerechtigkeit widerfahren lassen. Überproduktion in einzelnen Zweigen, die das große Schreckgespenst Ihrer Tage war, ist gegenwärtig unmöglich, denn bei der Verbindung von Verteilung und Produktion ist der Vorrat abhängig von der Nachfrage, wie die Schnelligkeit einer Dampfmaschine von dem Regulator. Wir wollen aber annehmen, durch einen Irrtum in der Beurteilung sei ein Gegenstand im Übermaß produziert worden, so würde durch eine Verlangsamung oder Einstellung der Fabrikation niemand außer Arbeit oder außer Stellung kommen. Für die suspendierten Arbeiter wird sofort in verschiedenen anderen Abteilungen der großen Werkstätte Beschäftigung gefunden und sie verlieren nur die Zeit, die der Wechsel erfordert, und was die Warenanhäufung betrifft, so ist das Geschäft der Nation groß genug, um eine noch so große Menge von überproduzierten Waren aufspeichern zu können, bis die Nachfrage sie erschöpft. In einem solchen Falle von Überproduktion kommt bei uns nicht, wie bei Ihnen, ein komplizierter Mechanismus in Unordnung, wodurch der ursprüngliche Fehler noch um das Tausendfache vergrößert wurde. Natürlich, da wir nicht einmal Geld haben, so haben wir noch weniger Kredit. Alle Schätzungen beziehen sich direkt auf wirkliche Dinge, wie Mehl, Eisen, Holz, Wolle und Arbeit, wofür Sie in Geld und Kredit nur trügerischen Ersatz hatten. In unserer Kostenberechnung kann kein Irrtum vorkommen. Der notwendige Betrag für den Unterhalt des Volkes wird aus den jährlichen Produkten gewonnen, und für die erforderliche Arbeit zur Beschaffung des Bedarfs für nächstes Jahr gesorgt. Der Überschuss an Material und Arbeit stellt dar, was ohne Nachteil auf Verbesserungen verwendet werden kann. Fällt eine Ernte schlecht aus, so ist der Überschuss für das Jahr geringer als gewöhnlich, das ist alles. Außer diesen geringen Folgen solcher natürlichen Ursachen gibt es keine Schwankungen im Geschäft; das materielle Wohlergehen der Nation fließt ununterbrochen von Generation zu Generation, wie ein immer breiter und tiefer werdender Strom.
Ihre Geschäftskrisen, Mr. West«, fuhr der Doktor fort, »sowie jede einzelne der anderen von mir erwähnten Verschwendungsarten genügten schon allein, Ihnen für immer auf den Nerven zu liegen; aber ich muss von noch einer anderen triftigen Ursache Ihrer Armut sprechen, nämlich davon, dass ein großer Teil Ihres Kapitals und Ihrer Arbeitskraft brach lag. Bei uns ist es Sache der Verwaltungen, den geringsten Teil nutzbringenden Kapitals und der Arbeitskraft im Lande in steter Tätigkeit zu erhalten. Bei Ihnen dagegen gab es weder für das Kapital, noch für die Arbeit eine allgemeine Kontrolle, und ein großer Teil von beiden blieb unbenutzt. Sie pflegten zu sagen, »das Kapital sei von Natur ängstlich«, und es wäre in der Tat eine Verwegenheit gewesen, wenn es in einer Zeit, wo die Wahrscheinlichkeit vorherrschte, dass jedes besondere Geschäftswagnis fehlschlagen würde, nicht ängstlich gewesen wäre. Es gab keine Zeit, wo nicht das in produktiver Industrie angelegte Kapital, bei nötiger Sicherheit, bedeutend hätte vermehrt werden können. So war es beständig ungewöhnlichen Schwankungen ausgesetzt, je nachdem die industrielle Lage mehr oder weniger als fest galt, so dass der Ertrag der nationalen Industrie in verschiedenen Jahren bedeutend wechselte. Aber aus demselben Grunde, dass der Betrag des arbeitenden Kapitals in besonders unsicheren Zeiten viel kleiner war als in sichereren, wurde ein großer Teil gar nicht angelegt, weil die Gefahr im Geschäfte selbst in den besten Zeiten immer noch groß war.
Es muss auch bedacht werden, dass das große Kapital, das Anlage mit erträglicher Sicherheit suchte, die Konkurrenz unter den Kapitalisten bei einer günstigen Aussicht bedeutend anregte. Das Brachliegen von Kapital, die Folge seiner Ängstlichkeit, bedeutete natürlich eine entsprechende Untätigkeit von Arbeitskraft. Überdies machte jeder Wechsel in der Geschäftseinrichtung, die geringste Änderung in den Handels- und Fabrikationsverhältnissen, von den unzähligen Bankrotten, die selbst in den besten Zeiten jährlich stattfanden, gar nicht zu sprechen, eine Menge Arbeiter wochen-, monate-, jahrelang arbeitslos. Eine große Zahl dieser Arbeitsuchenden wanderten beständig im Lande umher und wurden bald Vagabunden von Profession und dann Verbrecher. »Gebt uns Arbeit!« war der Schrei des Heeres von Arbeitslosen, und zu allen Zeiten der Geschäftsflauheit schwoll dieses Heer zu einer so großen und verzweifelten Masse, dass es die Sicherheit der Regierung bedrohte. Kann es einen schlagenderen Beweis geben für die Unfähigkeit des Systems von Privatunternehmen als einer Methode, die Nation reich zu machen, als die Tatsache, dass, in einer Zeit so allgemeiner Armut, die Kapitalisten sich einander erwürgen mussten, um eine sichere Gelegenheit für Anlage ihres Kapitals zu finden, und dass die Arbeiter Aufruhr machten und sengten und brannten, weil sie keine Arbeit fanden?
»Nun, Mr. West«, fuhr Dr. Leete fort, »bitte ich Sie nicht zu vergessen, dass diese Punkte, von denen ich eben sprach, nur negativ die Vorteile unsrer Organisation andeuten, indem sie gewisse verhängnisvolle Mängel und Schwächen Ihres Systems von Privatunternehmen nachweisen. Diese Punkte allein würden schon ziemlich klar dartun, warum die Nation soviel reicher ist als zu Ihrer Zeit. Aber von der größeren Hälfte unsres Vorteils über Sie, von der positiven Seite habe ich kaum noch gesprochen. Angenommen, das System der industriellen Privatunternehmung wäre ohne alle diese erwähnten Mängel; es bestände kein Verlust aus den Fehlern bezüglich der Nachfrage und der Unmöglichkeit, einen allgemeinen Überblick über das Feld der Industrie zu gewinnen; angenommen ferner, die Konkurrenz übe keinen neutralisierenden Einfluss, indem sie die Produktion steigert; angenommen auch, durch die Geschäftskrisen, Bankrotte und langen Unterbrechungen des Geschäfts erwachse kein Verlust, auch nicht durch Brachliegen von Kapital und Arbeitskraft; angenommen, alle diese Übel, welche für die Leitung der Industrie durch Privatkapital wesentlich sind, könnten vermieden, und das System doch beibehalten werden; selbst dann würde das Übergewicht der mittels des modernen Systems der nationalen Kontrolle erreichten Resultate überwältigend sein.
Sie besaßen einige ziemlich große Geschäfte in der Textilmanufaktur, aber nicht vergleichbar mit den unsrigen. Sie haben sicher diese großen Fabriken Ihrer Zeit besucht, welche ein großes Areal bedeckten, Tausende von Händen beschäftigten und unter einem Dache, einer Kontrolle die hunderterlei Prozesse vereinigten, die zwischen einem Ballen roher Baumwolle und einem Ballen glänzenden Kattuns sich abwickeln. Sie haben die ungeheure Ersparnis an Arbeit, an mechanischer Kraft bewundert, die durch das pünktliche Eingreifen jedes Rades und jeder Hand erzielt wurde. Sie haben auch ohne Zweifel daran gedacht, wie viel weniger dieselbe Anzahl Arbeiter fertig bringen würden, wenn sie zerstreut wären und jeder unabhängig arbeitete. Würden Sie es für eine Übertreibung halten, wenn ich sage, dass das Produkt dieser Arbeiter, die abgesondert arbeiten, seien auch ihre gegenseitigen Beziehungen noch so freundschaftliche, nicht nur um einen Prozentsatz, sondern vielfach erhöht werden würde, wenn ihre Arbeit unter einheitlicher Kontrolle organisiert wäre? Nun, Mr. West, die Organisation der Industrie der Nation unter einheitlicher Kontrolle, so dass alle Prozesse ineinander greifen, hat das Gesamtprodukt über das Höchste erhoben, was unter dem früheren System geleistet werden konnte, selbst wenn wir die vier erwähnten großen Verluste unberücksichtigt lassen, und zwar in demselben Verhältnis als das Produkt dieser Fabrikarbeiter durch ihre Verbindung wuchs. Die Leistungsfähigkeit der Arbeitskraft einer Nation, unter der vielköpfigen Leitung des Privatkapitals, selbst wenn die Leiter sich nicht gegenseitig befeindeten, verglichen mit dem, was sie unter einem Haupt leistet, kann der militärischen Leistungsfähigkeit eines Pöbelhaufens, oder einer Horde von Wilden mit tausend Häuptlingen gegenübergestellt werden, verglichen mit der einer disziplinierten Armee unter einem General -z.B. einer solchen Kriegsmaschine, wie die deutsche Armee zur Zeit von Moltkes war.«
»Nach dem, was Sie mir hier gesagt haben«, erwiderte ich, »staune ich nicht so sehr darüber, dass die Nation jetzt reicher ist, als damals, sondern dass Sie nicht alle Krösusse sind.«
»Nun«, entgegnete Dr. Leete, »wir sind in ganz guten Verhältnissen. Die Art und Weise wie wir leben ist so üppig, wie wir nur wünschen können. Das Streben nach äußerem Scheine, das zu Ihrer Zeit zur Verschwendung führte, die doch kein Behagen gewährte, kann natürlich in einer Gesellschaft von Menschen keinen Raum finden, deren Hilfsquellen absolut gleich sind, und unser Ehrgeiz ist durch unsre Umgebung, die dazu dient, dass wir uns des Lebens freuen können, befriedigt. Wir könnten alle ein größeres Einkommen haben, wenn wir den Überschuss unsrer Produktion verwenden wollten, aber wir geben ihn lieber für öffentliche Zwecke aus und für Vergnügungen, an denen alle teilnehmen, für öffentliche Säle und Gebäude, Kunstgalerien, Brücken, Statuen, Verkehrsmittel und Bequemlichkeiten unserer Städte, große musikalische und theatralische Aufführungen und für Volksvergnügungen im großartigen Maßstabe. Sie haben noch gar keinen rechten Begriff, wie wir hier leben, Mr. West. In unsren Wohnungen haben wir Komfort, aber die Pracht in unsrem sozialen Leben teilen wir mit unsren Mitbürgern. Wenn Sie mehr davon werden gesehen haben, werden Sie begreifen, wohin unser Geld geht, wie Sie zu sagen pflegten, und ich denke, Sie werden zugeben, dass wir wohl daran tun, es in dieser Weise zu verwenden.«
Auf unserm Rückweg vom Speisehaus bemerkte Dr. Leete: »Ich vermute, keine Erwägung würde die Leute Ihres den Reichtum anbetenden Jahrhunderts unangenehmer berührt haben, als die dass sie es nicht verstanden, Geld zu machen. Dessen ungeachtet ist dies das Verdikt der Geschichte über sie. Ihr System der unorganisierten Industrie war wirtschaftlich so töricht, wie es moralisch verabscheuenswert war. Selbstsucht war alles was sie kannten, und bei industrieller Produktion ist Selbstsucht Selbstmord. Konkurrenz, die Wurzel der Selbstsucht, ist nur ein anderer Ausdruck für Kraftvergeudung, während in Verbindung das Geheimnis erfolgreicher Produktion liegt; und erst wenn der Gedanke an Mehrung der persönlichen Schätze dem an Mehrung des Gemeinvermögens weicht, kann die industrielle Verbindung verwirklicht werden, und die Erwerbung von Reichtum eigentlich beginnen. Selbst wenn das Prinzip des Anteilhabens und zwar des gleichheitlichen Anteilhabens aller Menschen, nicht die einzige humane und vernünftige Grundlage der Gesellschaft wäre, würden wir es als wirtschaftliches Auskunftsmittel zwangsweise einführen, wenn wir zu der Einsicht gekommen wären, dass keine echte Einigung der Industrie möglich ist, ehe der zersetzende Einfluss der Selbstsucht ausgerottet ist.«

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