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Edward Bellamy - Das Jahr 2000 - Ein Rückblick auf das Jahr 1887 (1888)
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Fünfzehntes Kapitel

Als wir bei unserer Besichtigung in die Bibliothek kamen, konnten wir der Versuchung nicht widerstehen und ließen uns in einer mit Büchern rings besetzten Nische in die bequemen Lederstühle sinken, um zu ruhen und zu plaudern.
»Edith sagt mir, Sie wären den ganzen Morgen in unserer Bibliothek gewesen«, sagte Frau Leete. »Mir erscheinen Sie als der beneidenswerteste Sterbliche, Mr. West.«
»Ich möchte wissen, warum?« entgegnete ich.
»Weil die in den letzten hundert Jahren herausgekommenen Bücher Ihnen neu sind«, antwortete sie. »Sie werden in den nächsten fünf Jahren so von der Literatur in Anspruch genommen werden, dass Ihnen keine Zeit zum Essen bleiben wird. Was würde ich darum geben, wenn ich nicht schon Berrians Romane gelesen hätte!«
»Oder die von Nesmyth, Mama«, fügte Edith bei.
»Hiernach vermute ich, dass in diesem Jahrhundert gute Literatur entstanden ist.«
»Ja«, sagte Dr. Leete, »es war ein Zeitalter von beispiellos geistigem Glanze. Wahrscheinlich hat die Menschheit nie in so kurzer Zeit eine so umfangreiche moralische und materielle Entwicklung durchgemacht, als die von der alten Ordnung in die neue im Anfange dieses Jahrhunderts. Als die Menschen die Größe der Glückseligkeit zu ermessen begannen, die sie erreicht hatten, und sahen, dass der Wechsel, den sie durchgemacht, nicht nur im kleinen eine Verbesserung ihrer Lage sei, sondern dass sich das Geschlecht zu einer neuen Existenz aufgeschwungen, die eine unabsehbare Aussicht auf Fortschritt eröffnete, wurden die Geister in einer Weise angeregt, dass die Blütezeit der mittelalterlichen Renaissance nur einen schwachen Vergleich gewährt. Es kam eine Zeit mechanischer Erfindung, wissenschaftlicher Entdeckung, einer Fruchtbarkeit auf den Gebieten der Malkunst, der Musik und Literatur, mit welcher kein früheres Zeitalter der Welt sich vergleichen lässt.«
»Apropos«, sagte ich, »da wir von Literatur sprechen, wie werden die Bücher jetzt veröffentlicht? Geschieht das auch von der Nation?«
»Gewiss.«
»Aber wie fangen Sie das an? Veröffentlicht die Regierung alles, was ihr vorgelegt wird, als eine selbstverständliche Sache, oder übt sie eine Zensur und druckt nur, was sie billigt?«
»Keines von beiden. Der Abteilung für Druckerei steht keine Zensur zu. Sie muss alles drucken, was ihr gebracht wird, aber unter der Bedingung, dass der Verfasser die ersten Kosten aus seiner Tasche bestreitet. Er muss dafür bezahlen, dass das Publikum ihm sein Ohr leiht, und hat er etwas zu sagen, was des Hörens wert ist, so denken wir, es wird ihm Vergnügen machen. Diese Regel würde allerdings, wenn das Einkommen, wie in alten Zeiten, ungleich wäre, es nur den Reichen möglich machen, zu Schriftstellern, aber da die Einnahmequellen der Bürger gleichmäßig fließen, bestimmt sie nur das Maß für das Motiv des Schreibers. Die Kosten einer Ausgabe eines Durchschnittsbuchs können mit Sparsamkeit und einigen Opfern aus dem jährlichen Kredit bestritten werden. Wenn das Buch veröffentlicht ist, wird es von der Nation zum Verkauf ausgelegt.«
»Und der Verfasser erhält, wie bei uns, einen Prozentsatz von den Kaufgeldern?« meinte ich.
»Nicht gerade wie bei Ihnen«, entgegnete Dr. Leete; »aber doch in gewisser Beziehung. Der Preis eines jeden Buches wird nach den Kosten der Publikation berechnet, mit Einschluss eines Prozentsatzes für den Verfasser. Dieser Prozentsatz wird ihm gutgeschrieben, und er wird so lange von anderen Dienstleistungen für die Nation entbunden, als dieses Guthaben, im Verhältnis zu dem den Bürgern ausgesetzten Betrag, zu seinem Unterhalt ausreicht. Er hat also, wenn sein Buch halbwegs Erfolg hat, einen Urlaub für mehrere Monate, ein Jahr, zwei oder drei Jahre, und wenn er inzwischen ein anderes Werk schreibt, so wird der Urlaub so lange ausgedehnt, als durch den Verkauf gerechtfertigt ist. Einem erfolgreichen Schriftsteller gelingt es, sich während der ganzen Dienstperiode mit seiner Feder zu erhalten, und der Grad seiner literarischen Befähigung, welcher durch die öffentliche Meinung bestimmt wird, wird auf diese Weise der Maßstab für die ihm gegebene Gelegenheit, sich der Schriftstellerei zu widmen. Das Resultat unseres Systems ist demnach dem Ihrigen nicht ganz unähnlich, aber es bestehen doch zwei wesentliche Unterschiede. Erstens gibt das hohe Ziel unserer gegenwärtigen Bildung dem Urteil des Volkes die Entscheidung über das wirkliche Verdienst einer literarischen Arbeit, wie man sie zu Ihrer Zeit nicht kannte. Zweitens gibt es gegenwärtig nichts derartiges wie Gönnerschaft, welche die Anerkennung des wahren Verdienstes beeinträchtigt. Jeder Schriftsteller hat genau dieselbe Gelegenheit, sein Werk vor den Richterstuhl des Volkes zu bringen. Diese absolute Gleichheit der Gelegenheit würde von den Schriftstellern Ihrer Zeit, nach deren Klagen zu urteilen, hoch angeschlagen worden sein.«
»Sie befolgen vermutlich ähnliche Grundsätze in der Anerkennung des Verdienstes in anderen Feldern, wie in Musik, Malerei, Erfindung usw.«, sagte ich.
»Ja«, entgegnete er, »jedoch mit Unterschieden in den Einzelheiten. In der Kunst z.B. ist das Volk, wie in der Literatur, der alleinige Richter. Über die Aufnahme von Statuen und Gemälden in die öffentlichen Gebäude stimmt das Volk ab, und sein günstiger Ausspruch entscheidet zugleich über des Künstlers Befreiung von anderer Arbeit, um sich seinem Berufe widmen zu können. In allen diesen Richtungen des Originalgenies wird derselbe Plan verfolgt - den Aspiranten ein freies Feld zu eröffnen, und sobald man ein seltenes Talent erkennt, es von allen Fesseln zu befreien, damit es freien Lauf habe. Die Befreiung von anderem Dienste soll kein Geschenk und keine Belohnung sein, sondern ein Mittel, mehr und höheren Dienst zu erhalten. Es gibt natürlich verschiedene literarische, wissenschaftliche und Kunstinstitute, deren Mitgliedschaft demjenigen, der sich Ruhm erwirbt, erteilt wird, was von großem Wert ist. Die höchste Ehre bei der Nation, höher als die Präsidentenwürde, die nur gesunden Menschenverstand und Pflichttreue erfordert, ist, wenn Schriftstellern, Künstlern, Ingenieuren, Ärzten und Erfindern von der Nation das rote Band zugesprochen wird. Nicht mehr als hundert Personen können es gleichzeitig tragen, aber jeder kluge junge Mann träumt viele Nächte davon. Ich habe es auch so gemacht.«
»Als wenn Mama und ich mehr von Dir gedacht hätten, wenn Du es bekommen hättest«, rief Edith; »aber freilich ist es etwas Schönes, wenn man es hat.«
»Du hattest keine Wahl, liebes Kind, und musstest Deinen Vater nehmen, wie Du ihn fandest«, erwiderte Dr. Leete; »aber Deine Mutter hier würde mich niemals genommen haben, hätte ich ihr nicht versichert, dass ich mit allen Kräften darnach strebe.«
Hierfür hatte Frau Leete nur ein Lächeln.
»Wie ist es mit Zeitschriften und Zeitungen?« fragte ich. »Ich kann nicht leugnen, dass Ihr System, Bücher herauszugeben, bedeutende Vorzüge gegen das unsrige hat, bezüglich seiner Tendenz, sowohl wirklich literarischen Beruf zu ermutigen, als auch bloße Federfuchser abzuschrecken; aber ich sehe nicht, wie es auf Zeitschriften und Zeitungen Anwendung finden kann. Es ist ganz gut, dass man einen Mann für die Publikation eines Buches bezahlen lässt, weil das nur eine einmalige Ausgabe ist; aber niemand könnte die Kosten erschwingen, täglich eine Zeitung erscheinen zu lassen. Es bedurfte der vollen Taschen unserer Kapitalisten, um das zu tun, und selbst diese waren oft geleert, ehe die Einnahmen einkamen. Wenn Sie überhaupt Zeitungen haben, so müssen sie nach meiner Meinung von der Regierung auf öffentliche Kosten herausgegeben werden, mit Regierungsredakteuren und Regierungsansichten vertreten. Ist nun Ihr System so vollkommen, dass in der Geschäftsführung nie etwas zu tadeln ist, so mag eine solche Einrichtung genügen. Im anderen Falle aber, dächte ich, muss der Mangel eines unabhängigen, nicht offiziellen Organs auf den Ausdruck der öffentlichen Meinung höchst ungünstig wirken. Gestehen Sie, Herr Doktor, dass eine freie Zeitungspresse, mit allem, was sie in sich schließt, ein erlösendes Element im alten System war, wo das Kapital in Privathänden war, während Sie den Verlust desselben gegen den Gewinn in anderer Richtung ausgleichen müssen.«
»Selbst diesen Trost, fürchte ich, Ihnen nicht geben zu können«, entgegnete Dr. Leete mit Lachen. »Erstens, Mr. West, ist die Zeitungspresse keineswegs das einzige, oder, nach unseren Anschauungen, das beste Mittel, öffentliche Angelegenheiten ernstlich zu tadeln. Uns scheinen die Urteile Ihrer Zeitungen über solche Dinge meist unreif und flüchtig, nicht minder aber auch stark mit Vorurteil und Bitterkeit gefärbt gewesen zu sein. Sofern sie als Ausdruck der öffentlichen Meinung angesehen werden können, geben sie einen ungünstigen Begriff von der öffentlichen Intelligenz, und sofern sie öffentliche Meinung machten, konnte man der Nation nicht gratulieren. Wenn heutzutage ein Bürger einen tiefen Eindruck in Betreff öffentlicher Angelegenheiten auf das Publikum machen will, tritt er mit einem Buch oder einer Broschüre hervor. Aber dies geschieht nicht, weil wir keine Zeitungen oder Zeitschriften hätten, oder weil dieselben nicht unabhängig wären. Die Zeitungspresse ist so organisiert, dass sie ein vollkommenerer Ausdruck der öffentlichen Meinung ist, als sie es zu Ihrer Zeit sein konnte, wo sie vom Privatkapital kontrolliert und als einträgliches Geschäft betrieben und nur als Wortführerin für das Volk benutzt wurde.«
»Aber«, sagte ich, »wenn die Regierung die Zeitungen auf öffentliche Kosten druckt, wie kann es anders sein, als dass sie auch ihre Politik kontrolliert? Wer sonst, als die Regierung stellt die Redakteure an?«
»Die Regierung zahlt keineswegs die Kosten der Zeitungen, auch stellt sie die Redakteure nicht an und übt nicht den mindesten Einfluss auf ihre Politik«, entgegnete Dr. Leete. »Die Leute, welche die Zeitung halten, bezahlen die Kosten ihrer Herausgabe, wählen ihren Redakteur und setzen ihn ab, wenn er nicht genügt. Sie werden daher kaum sagen können, eine solche Zeitungspresse sei kein freies Organ der öffentlichen Meinung.«
»Entschieden werde ich das nicht«, sagte ich, »aber wie ist es ausführbar?«
»Nichts könnte einfacher sein. Nehmen wir an, einer meiner Nachbarn oder ich selbst dächte, wir sollten eine Zeitung haben, die unsere Meinung ausspräche und sich namentlich unserem Stadtteil, dem Handel oder dem Gewerbe widme; wir würden bei den Bürgern herumgehen, bis wir so viele Unterschriften hätten, dass der jährliche Subskriptionspreis die Kosten der Zeitung deckt. Der Betrag des Abonnements wird von dem Kredit der Bürger abgeschrieben und gewährt der Nation Sicherheit gegen etwaigen Verlust durch die Herausgabe der Zeitung, denn das ist ihr einziges Geschäft dabei und sie hat kein Recht, es abzulehnen. Nun erwählen die Subskribenten einen Redakteur, der, wenn er annimmt, während dieser Tätigkeit von anderem Dienste befreit wird. Anstatt ihm einen Gehalt zu zahlen, wie Sie taten, zahlen die Subskribenten der Nation eine Entschädigung dafür, dass er aus dem öffentlichen Dienste tritt, die seinen Unterhaltungskosten entspricht. Er leitet die Zeitung, wie Ihre Redakteure taten, mit der Ausnahme, dass er von keinen Interessen des Privatkapitals gegenüber dem öffentlichen Wohl abhängig ist. Am Ende des ersten Jahres wählen die Abonnenten den früheren Redakteur wieder, oder einen anderen. Ein fähiger Redakteur behält seine Stellung für unbestimmte Zeit. Wenn die Zahl der Subskribenten zunimmt, wachsen die Fonds der Zeitung und sie wird durch bessere Mitarbeiter gehoben, wie es bei Ihnen auch geschah.«
»Wie werden die Mitarbeiter honoriert, da Sie dieselben nicht in Geld auszahlen können?«
»Der Redakteur vereinbart den Preis ihrer Waren mit ihnen. Der Betrag wird von dem Sicherheitskredit der Zeitung auf ihren individuellen Kredit übertragen und der Mitarbeiter wird auf eine Zeit, welche dem Betrag seines Kredits entspricht, vom öffentlichen Dienste entbunden, gerade wie die anderen Schriftsteller. Bei Zeitschriften ist der Gang derselbe. Diejenigen, welche sich für den Prospekt einer neuen Zeitschrift interessieren, verpflichten sich, genug Subskribenten zu sammeln, dass sich das Blatt ein Jahr lang halten kann, wählen einen Redakteur, welcher seine Mitarbeiter wie bei dem obigen Falle honoriert, und das Bureau für Drucksachen liefert Druck und Material. Wenn die Dienste eines Redakteurs nicht mehr gewünscht werden, wenn er durch andere literarische Arbeit das Recht auf seine Zeit nicht verdienen kann, so tritt er in seine Stellung in die Armee zurück. Obwohl gewöhnlich der Redakteur nur am Ende des Jahres gewählt wird und regelmäßig eine Reihe von Jahren in der Stellung bleibt, so können doch die Subskribenten, sobald er dem Blatte eine andere Richtung und einen anderen Ton gibt, ihn zu jeder Zeit entfernen.«
Als die Damen sich abends zurückzogen, brachte mir Edith ein Buch und sagte: »Wenn Sie heute Nacht nicht schlafen sollten, Mr. West, interessiert es Sie vielleicht, diese Geschichte von Berrian durchzusehen. Sie gilt als sein Meisterwerk und wird Ihnen wenigstens einen Begriff davon geben, was unsere heutigen Erzählungen sind.«
Ich saß diese ganze Nacht in meinem Zimmer auf und las »Penthesilia«, bis der Tag im Osten graute, und legte das Buch nicht aus der Hand, bis ich es beendigt hatte. Und möge mir kein Bewunderer des großen Romandichters des zwanzigsten Jahrhunderts zürnen, wenn ich sage, dass beim ersten Lesen nicht das den größten Eindruck auf mich machte, was in dem Buche war, sondern das, was nicht darin war. Die Schreiber von Erzählungen in meiner Zeit würden es für eine leichte Aufgabe gehalten haben, Backsteine ohne Stroh zu machen, im Vergleich mit dem Aufbau einer Erzählung, in der alle Effekte fehlten, welche aus dem Kontrast zwischen Reichtum und Armut, Bildung und Unwissenheit, Rohheit und Verfeinerung, Hoch und Niedrig hergeleitet wären, aus den Motiven von sozialem Stolz und Ehrgeiz, von dem Wunsche reicher zu sein, oder der Furcht, ärmer zu werden, sowie von all den niedrigen Sorgen für sich selbst, oder für andere; einer Erzählung, in welcher es allerdings Liebe in Überfluss gab, aber Liebe, ungezähmt durch künstliche Schranken, hervorgerufen durch die Unterschiede von Stand und Besitz, kein anderes Gesetz als das des eigenen Herzens anerkennend. Die Lektüre von »Penthesilia« war mehr wert, als alle Erklärungen, die mir einen allgemeinen Eindruck von dem sozialen Stand des zwanzigsten Jahrhunderts gegeben hätten. Die Belehrung, die mir Dr. Leete gegeben hatte, war gewiss umfassend in Tatsachen, aber diese hatten nur einzelne Eindrücke hinterlassen, die mir noch nicht im Zusammenhang klar waren. Berrian stellte sie mir in einem Gemälde zusammen.

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