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Edward Bellamy - Das Jahr 2000 - Ein Rückblick auf das Jahr 1887 (1888)
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Zehntes Kapitel

»Wenn ich Ihnen erklären soll, wie wir unsere Einkäufe machen«, sagte meine Begleiterin unterwegs, »so müssen Sie mir sagen, wie Sie es taten. Aus dem, was ich darüber gelesen, konnte ich mir niemals ein richtiges Bild machen. Wenn Sie eine so große Anzahl von Läden hatten, jeden mit so verschiedener Auswahl, wie konnte sich eine Dame zu einem Kauf entschließen, bevor sie alle Läden besucht hatte? Denn ehe sie das getan hatte, konnte sie nicht wissen, was sie dort finden würde.«
»So war es; das war die einzige Weise, wie sie es wissen konnte«, erwiderte ich.
»Mein Vater nennt mich eine unermüdliche Einkäuferin, aber ich würde bald sehr ermüdet sein, wenn ich es so machen müsste«, war Ediths lächelnde Entgegnung.
»Der Zeitverlust beim Gehen von Laden zu Laden war in der Tat eine Verschwendung, über die die Beschäftigten sich bitter beklagten«, sagte ich, »aber für die untätigen Damen, obgleich sie sich auch beklagten, war die Einrichtung eine wahre Gottesgabe, um die Zeit totzuschlagen.«
»Aber nehmen wir an, es gab tausend Läden in der Stadt, hunderte vielleicht derselben Art, wie konnte selbst die untätigste die Zeit dazu finden, die Runde zu machen?«
»Sie konnte natürlich nicht alle besuchen«, erwiderte ich. »Diejenigen, welche viel kauften, erfuhren zu rechter Zeit, wo sie finden konnten, was sie suchten. Diese Klasse von Damen hatte die Spezialitäten der Läden studiert und machte vorteilhafte Einkäufe, indem sie die beste Qualität und größte Quantität für den geringsten Preis erhielt. Diese Kenntnis erforderte aber eine lange Erfahrung. Diejenigen, welche zu geschäftig waren oder zu wenig kauften, um Erfahrung machen zu können, kauften gewöhnlich ungünstig ein und erhielten die geringste Qualität und Quantität für teures Geld. Es war der reinste Zufall, wenn unerfahrene Leute beim Einkaufen den Wert ihres Geldes erhielten.«
»Aber warum hielten Sie so eine schrecklich unpraktische Einrichtung aufrecht, wenn Sie die Fehler derselben so klar einsahen?«
»Es war mit ihr wie mit allen unseren sozialen Einrichtungen«, antwortete ich. »Sie können ihre Fehler schwerlich klarer wie wir selbst sehen, aber wir sahen kein Mittel dagegen.«
»Hier sind wir an dem Laden unseres Bezirks«, sagte jetzt Edith, als wir in das große Portal eines der prächtigen Gebäude einbogen, die ich bei meinem Morgengang bemerkt hatte. Das Äußere des Gebäudes zeigte dem Repräsentanten des 19. Jahrhunderts durch nichts an, dass es ein Laden war. Es waren keine ausgelegten Waren in den großen Fenstern zu sehen, noch irgend etwas um Kundschaft anzuziehen. An der Front des Hauses zeigte kein Zeichen, keine Aufschrift den Charakter des darin betriebenen Geschäftes an; aber statt dessen stand über dem Portal eine majestätische Gruppe in Lebensgröße in Stein gehauen, die Mittelfigur stellte die Göttin des Überflusses mit ihrem Füllhorn dar. Als wir eintraten, sagte mir Edith, so ein großes Geschäft gebe es in jedem Bezirke, so keine Wohnung mehr als fünf oder zehn Minuten davon entfernt sei. Es war das erste Mal, dass ich das Innere eines öffentlichen Gebäudes des 20. Jahrhunderts erblickte und das Schauspiel machte einen tiefen Eindruck auf mich. Ich befand mich in einem mächtigen Saale, wohlerhellt durch die Fenster an allen Seiten, sowie durch das von einer hundert Fuß hohen Kuppel einströmende Licht. Darunter, in der Mitte des Saales, sprudelte ein prächtiger Springbrunnen, der durch seinen Wasserstrahl die Luft köstlich erfrischte. Die Wände und die Decke waren mit zartfarbigen Fresken bedeckt, die das Licht, von dem das Innere durchdrungen war, milderten, ohne es zu verschlingen. Um den Springbrunnen herum waren Stühle und Sofas, auf denen viele Menschen saßen und sich unterhielten. Inschriften an den Wänden um den Saal herum zeigten an, welcher Arten von Ware die Tische darunter dienten. Edith schritt auf einen derselben zu, wo Muster von Musselin von außerordentlicher Mannigfaltigkeit ausgebreitet waren, und begann sie sorgfältig durchzusehen.
»Wo ist der Ladendiener?« fragte ich, denn es war keiner hinter dem Ladentische und schien auch niemand zu kommen, die Dame zu bedienen.
»Ich brauche noch keinen Diener«, sagte Edith, »ich habe noch nicht meine Wahl getroffen.«
»Zu meiner Zeit war es das Hauptgeschäft des Ladendieners, den Käufern bei ihrer Wahl beizustehen«, erwiderte ich.
»Was! Den Leuten zu sagen, was sie brauchten?«
»Ja, und noch öfter ihnen zuzureden zu kaufen, was sie nicht brauchten.«
»Aber fanden denn das die Damen nicht sehr impertinent?« fragte Edith verwundert. »Welches Interesse konnte es denn für den Ladendiener haben, ob die Leute kauften oder nicht?«
»Es war ihr eigenstes Interesse«, antwortete ich. »Sie waren dazu angestellt, die Ware loszuwerden, und man erwartete von ihnen, dass sie zu diesem Ende ihr Äußerstes taten.«
»Ach ja! Wie dumm ich war das zu vergessen!« sagte Edith. »Das Auskommen des Kaufmanns und seiner Diener war zu Ihren Zeiten abhängig von dem Verkaufe ihrer Ware. Natürlich ist das jetzt alles anders. Die Ware gehört der Nation. Sie ist hier für die, welche sie brauchen, und es ist das Geschäft der Diener die Leute zu bedienen und ihre Aufträge in Empfang zu nehmen; aber es liegt nicht im Interesse des Dieners oder der Nation, einen Meter oder ein Pfund von irgend etwas an irgend jemanden abzugeben, der es nicht wünscht.« Sie lächelte indem sie hinzufügte : »Wie höchst absurd muss es gewesen sein, Ladendiener zu haben, die einem aufzureden versuchten, etwas zu nehmen, was man nicht wollte, oder worüber man unschlüssig war!«
»Aber sogar ein Diener des zwanzigsten Jahrhunderts könnte sich nützlich machen, indem er Ihnen über die Ware Aufschluss gibt, wenn er auch Sie nicht zu bereden suchte, sie zu kaufen«, warf ich hin. »Nein«, sagte Edith, »das geht den Ladendiener nichts an. Diese gedruckten Karten, für welche die regierenden Autoritäten verantwortlich sind, geben uns alle Auskunft, die wir möglicherweise brauchen.«
Darauf sah ich, dass an jedem Stück eine Karte befestigt war, mit der kurzen Angabe, aus was für Material der Stoff gemacht sei und aller seiner Eigenschaften sowohl als auch des Preises, so dass einem keine Frage mehr übrig blieb.
»So hat also der Diener nichts über die Ware zu sagen, die er verkauft?« fragte ich.
»Durchaus nichts. Er braucht nicht einmal etwas davon zu verstehen oder sich nur ein solches Ansehen zu geben. Höflichkeit und Genauigkeit beim Empfang der Aufträge ist alles, was man von ihm verlangt.«
»Wie vieles Lügensagen fällt bei dieser einfachen Einrichtung weg«, erwiderte ich.
»Meinen Sie, dass alle Ladendiener zu Ihrer Zeit ihre Ware fälschlich anpriesen?« fragte Edith.
»Gott bewahre, das möchte ich nicht sagen!« entgegnete ich, »denn es gab viele, die so etwas nicht taten und sie verdienten besondere Anerkennung, denn wenn jemandes Leben und das seiner Frau und Kinder von der Menge der abgesetzten Ware abhing, war die Versuchung, den Käufer zu täuschen oder ihn selbst sich täuschen zu lassen, beinahe überwältigend. Aber, Fräulein Leete, ich halte Sie mit meinem Gespräch von ihrem Geschäfte ab.«
»Durchaus nicht. Ich habe gewählt.« Bei diesen Worten drückte sie auf einen Knopf und im Augenblick erschien ein Diener. Er notierte ihre Aufträge mit Bleistift auf ein Täfelchen, wodurch er zwei Kopien erlangte, von denen er eine ihr übergab, die andere in einen kleinen Behälter steckte und sie dann zur weiteren Beförderung in eine Röhre legte. »Das Duplikat der Bestellung«, sagte Edith, dem Ladentische den Rücken kehrend, nachdem der Diener den Wert ihres Kaufes aus der Kreditkarte, die sie ihm gab, gestanzt hatte, »wird dem Käufer gegeben, so dass etwaige Fehler beim Ausfüllen leicht berichtigt werden können.«
»Sie waren sehr rasch entschieden bei Ihrer Wahl«, sagte ich. »Darf ich fragen, wie Sie wussten, dass Sie in einem anderen Laden nicht etwas finden könnten, was Ihnen besser gefallen würde? Aber wahrscheinlich wird erwartet, dass Sie in Ihrem eigenen Bezirk kaufen.«
»O nein«, entgegnete sie. »Wir kaufen wo wir wollen, obwohl natürlich meistens in dem uns nächsten Laden. Aber ich würde nichts gewonnen haben, wenn ich andere Läden besucht hätte. Die Auswahl ist überall dieselbe, indem jeder Behälter Muster von allen verschiedenen Arten enthält, die in den Vereinigten Staaten gemacht oder importiert werden. Deshalb kann man sich schnell entscheiden und braucht nicht zwei Läden zu besuchen.«
»Und ist dies nur ein Musterladen? Ich sehe keine Diener Stoffe abschneiden oder Bündel adressieren.«
»All unsere Läden sind Musterläden, mit Ausnahme einiger Artikel. Die Waren sind, mit jener Ausnahme, alle in dem großen Zentral-Warenhause der Stadt, wohin sie direkt von den Fabriken geschickt werden. Wir bestellen nach dem Muster und der gedruckten Angabe des Gewebes, der Arbeit und der Qualität. Die Bestellungen werden nach dem Warenhause gesandt und die Stoffe von dort verschickt.«
»Das muss eine beträchtliche Ersparnis von Arbeit sein«, sagte ich. »Nach unserem System verkaufte der Fabrikant an den Grossisten, der Grossist an den Kleinhändler und der Kleinhändler an den Konsumenten, und die Ware musste immer durch verschiedene Hände gehen. Sie vermeiden das Handhaben der Ware und machen den Kleinhändler mit seinem Profit und der Unterhaltung so vieler Diener überflüssig. So ist dieser Laden eigentlich nur das Departement für Bestellungen an das Großgeschäft mit nur wenigen Gehilfen. Bei unserem System, die Stoffe zu handhaben, die Käufer zum Kaufen zu überreden, abzuschneiden und zu packen, bringen zehn Diener nicht fertig, was hier einer tut. Die Ersparnis muss enorm sein.«
»Vermutlich wohl«, sagte Edith, »aber wir haben es natürlich nie anders gekannt. Aber, Mr. West, Sie sollten sicher Vater bitten, Sie einmal mit nach dem Zentral-Warenhaus zu nehmen, wo sie die Bestellungen aus den verschiedenen Musterhäusern aus der ganzen Stadt empfangen, und die Stoffe ihrer Bestimmung zusenden. Er hat mich einmal mit dahin genommen und es war ein wundervoller Anblick. Das System ist sicher ein vollkommenes; z.B. dort drüben in dem Verschlag ist der Versendungsbeamte. Die Bestellungen, welche in den verschiedenen Abteilungen dieses Ladens gemacht werden, werden ihm durch Zwischenträger zugeschickt. Seine Gehilfen sortieren sie und legen sie abgesondert in einen Tragkasten. Der Versendungsbeamte hat ein Dutzend pneumatische Zwischenträger vor sich, welche den Klassen von Waren entsprechen, jeder von ihnen führt zu der entsprechenden Abteilung des Warenhauses. Er lässt die Bestellhülse in die betreffende Röhre fallen und bald darauf fällt sie, zugleich
mit allen Bestellungen von derselben Art von anderen Musterläden, auf den betreffenden Ladentisch. Die Bestellungen werden abgelesen, eingetragen und wie der Blitz zur Ausführung abgesandt. Die Ausführung ist der interessanteste Teil davon. Ballen von Stoff werden auf Spindeln gebracht, die mit Maschinen gedreht werden, und der Ausschneider, der auch eine Maschine hat, schneidet einen Ballen nach dem anderen auf, bis er ermüdet ist, dann tritt ein anderer an seine Stelle; und in ähnlicher Weise werden die Bestellungen von anderen Waren ausgeführt. Die Pakete werden mittels größerer Röhren zu den Stadtbezirken befördert, von wo sie in die Häuser verteilt werden. Wenn ich Ihnen sage, dass meine Bestellung wahrscheinlich früher zu Hause sein wird, als ich sie hätte tragen können, werden sie einen Begriff bekommen, wie schnell alles geschieht. «
»Wie ist die Einrichtung in den schwach bewohnten ländlichen Bezirken?« fragte ich.
»Das System ist dasselbe«, erklärte Edith, »der Musterladen für ein Dorf ist durch Zwischenträger mit dem Zentral-Warenhaus verbunden, das zwanzig Meilen entfernt sein kann. Die Vermittlung geschieht aber so schnell, dass die durch den Weg verlorene Zeit gar nicht in Betracht kommt. Jedoch, um Kosten zu vermeiden, verbindet in vielen Bezirken eine Röhrenlage mehrere Dörfer mit dem Warenhause und dann wird Zeit durch das Warten verloren. Manchmal dauert es 2-3 Stunden, bis die bestellten Waren ankommen. So war es an dem Orte, wo ich den letzten Sommer zubrachte, und ich fand es sehr unbequem. «
»Die Läden auf dem Lande müssen auch in vielen anderen Punkten den Läden in der Stadt nachstehen«, sagte ich.
»Nein«, erwiderte Edith, »sie sind sonst gradesogut. Der Musterladen des kleinsten Dorfes gibt Ihnen, ganz wie dieser, Ihre Wahl von allen Waren, die die Nation überhaupt hat, denn das Warenhaus auf dem Lande bezieht aus derselben Quelle, als das in der Stadt.«
Als wir weitergingen, sprach ich über die Verschiedenheit der Größe und folglich des Preises der Häuser. »Wie verträgt sich«, fragte ich, »dieser Unterschied mit der Tatsache, dass alle Bürger gleiches Einkommen haben?«
»Das kommt daher«, erklärte Edith, »dass bei gleichem Einkommen der persönliche Geschmack darüber entscheidet, wie es verwendet wird. Manche lieben schöne Pferde, andere, wie ich, schöne Kleider, wieder andere die Freuden der Tafel. Die Mietpreise für diese Häuser sind verschieden, je nach Größe, Eleganz und Lage, so dass jedermann seinem Geschmack folgen kann. Die größeren Häuser werden gewöhnlich von großen Familien bewohnt, in denen mehrere Mitglieder zu der Miete beitragen. Kleine Familien, wie die unsrige, finden kleine Häuser bequemer und sparsamer. Ich habe gelesen, dass in alten Zeiten Leute oft einen großen Haushalt hielten und in anderen Beziehungen über ihre Mittel lebten, nur damit man sie für reicher hielte, als sie waren. War das wirklich so, Mr. West?«
»Das werde ich wohl zugeben müssen«, antwortete ich.
»Das wäre heutzutage unmöglich, wie Sie sehen; denn jedermanns Einkommen ist bekannt, und man weiß, dass, was in einer Weise ausgegeben wird, in einer anderen erspart werden muss.«

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