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Johannes Robert Becher - (CHCl=CH)3As (Levisite)  oder Der einzig gerechte Krieg (1925)
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Drittes Kapitel

„FRIEDE AUF ERDEN" —

Max Herse, ein junger Arbeiter, besucht eine sozialdemokratische Wahlversammlung. — Die Befriedung der Welt ist da. Der Weltfrieden scheint gesichert. Deutschland: die Industriewerkstatt der Welt! — Zeitungsleser im Cafe Unheimliche Nachrichten. — Einiges vom Studenten Peter Friedjung. Max Herse und seine Kollegen auf dem Heimweg. — Klebekolonnen bei der Arbeit. — Schlafende Menschen. — „Friede auf Erden."

1

Der Nebelrauch stand unbewegt in den Straßen. Tausende Lichtpunkte flimmerten. Die Verkehrstürme blinkten grün, weiß, rot. Die Menschen gingen sehr schnell. In Trupps schoben sie sich über die Plätze...
Ein Lichtband fließt oben vorüber...
Max drückte sich aus dem Menschengewühl heraus auf die hintere Plattform einer Elektrischen.
Er studierte noch immer den Aufruf der Gewerkschaften.
Der lautete:
„Wo soll die Frage entschieden werden, ob wir den gesetzlichen Achtstundentag wiederbekommen sollen?! Im Reichstag. Wo wird das Arbeitsgerichtsgesetz, das Arbeitsvertragsgesetz, die Schlichtungsordnung, das Tarifgesetz gestaltet? Im Reichstag. Wo wird die Verteilung der Lasten gesetzlich geregelt, die der Dawes-Plan uns gebracht hat!? Im Reichstag... "
Also doch! dachte Max. Wenn nur die Mark stabil bleibt! Dann kann man wenigstens wieder rechnen...
Man braucht ja heutzutage, mehr denn je, schon wirklich gewaltig viel Geld... Sich zu Tode schuften. Aber das Resultat ist dann wenigstens doch ein stabiler Hundelohn...
Eine Theatergesellschaft scherzte im Wageninnern.
Die schwimmen hübsch obenauf, wie auf der Suppe die Fettaugen...
Reichswehrsoldaten, den Tornister aufgepackt, dar­über den Stahlhelm. Sie kamen von einem Truppen­übungsplatz.
Ein Unteroffizier erläuterte das neue Visier: „Fünfzigtausend Gewehre sind bis jetzt schon darauf eingeschossen. Tadellos. Ein jeder Schuss aber muss bei uns auch sitzen."
Gesprächsfetzen schwirrten:
„Na, also doch, dass wir wieder geordnete Zustände bekommen haben! Ja, wissen Sie, die Inflationszeit. Die steckt mir immer noch wie die Grippe in den Gliedern."
„Ich, Herr Kulicke, hab es immer schon gesagt — und was die vielen Parteien anbetrifft — eine Linke, eine Rechte, eine Mitte: das genügt vollauf, dann hat jeder was..."
„Lassen Sie mich nur aus damit, Herr Rechnungsrat, sage ich Ihnen, mit den Regierungen! Lassen Sie die neue ein wenig liegen und schon wieder wird sie abgeholt... Sie werden sehen, der starke Mann ist's, der uns fehlt... So ein Bismarck... "
„Also wird's doch Wahrheit, dass Amerika uns unter die Arme greift..."
Auch mit dem Straßenbahnschaffner sprach natürlich jemand, der eine duftige Zigarre rauchte. „Na, was macht's... Viele Unfälle, was... Ja, das deutsche Volk muss eben erst wieder arbeiten lernen!..."
„Wenn man oft über zwölf Stunden Dienst hat, Herr, dazu nicht genug, um einmal in der Woche sich ordentlich satt zu essen... außerdem vier Jahre schließlich im Krieg gewesen ist, ein paar Mal verwundet ist, wie unsereins... Das stellen Sie sich schon einfacher vor, wie es ist... Stellen Sie sich mal vorn an den Kurbelkasten... Und wie das alles heruntergekommen ist... Die Bremsen, die Sicherungsanlagen... aber dazu ist ja eben kein Geld nicht da..."

Millionen Räder drehten sich, um die Menschenmassen an die Arbeitsstätten zu befördern. Hin und zurück. Es war ein gewaltiger Kreislauf, ein schwingender Wirbel. Unter der Erde, auf der Erde, hoch in der Luft. Eingepfercht in die eisernen Kasten der Untergrundbahnen schossen Menschenhaufen durch zementgemauerte unterirdische Röhren, stießen auf Treppen hoch, rannten kreuz und quer... Rufe splitterten, Signale pfiffen, schief gestellt schmissen sich die Autobusse um die Kurven... Jeder wehrte sich gegen den andern... Wie das Meer kennt auch die Großstadt Flut und Ebbe. Brandung und Springflut... Erst tief in der Nacht ziehen stillere weite Kreise die beruhigten Menschenwellen...

Max war mit dem Gewerkschaftsaufruf fertig.
„Gott der Allmächtige!" stöhnt in sich hinein ein Kriegskrüppel. Er trug die Soldatenmütze mit schwarzweiß-roter und schwarz-weißer Kokarde, das Eiserne Kreuz, eine Hakenkreuznadel, einen Totenkopf, und handelte mit patriotischen Ansichtspostkarten.
Er stolperte mit einem Prothesenbein.
Vor jedem Bessergekleideten salutierte er, stand stramm.
Rheinische Mädchen bei rheinischem Wein", orgelte ein Leierkasten.
Schupo patrouillierte vorüber, prüfte den Ausweis eines Straßenhändlers.
Schon zwitscherte es aus den Anlagen. —

 

2

Arbeiterviertel:
Übermenschengroße Stücke von Verputz waren von den Häuserfronten heruntergebrochen. Das ganze Viertel hatte seinen besonderen Geruch. Das Nebeldickicht schlug sich durch Mauerritzen in das Innere der Häuser hinein. Winkelig und unaufwaschbar vor lauter Gerümpel war es in den Geschäften. Überall rochen die feuchten Keller herauf. Überall troff es. In einem steilen Zickzack kletterten knarrend die Treppen empor. Gaslicht gespensterte.
Ein Greis schleppte sich mit einem Bündel Holz quer über die Straße. Frauen standen, aus zahnlosen Mündern wispernd, in Gruppen herum. Festen Schritts kamen einige Burschen vorüber, Mützen auf, die Fäuste tief in den Hosentaschen. Kinder jagten sich. Droschkengäule hatten den Futtersack vor.
Das Herz-Innere der Häuser bestand, durch längst schlissig gewordene Gardinen sichtbar, aus Küche, Kampier, Stube. Mit spärlichen Möbelresten waren sie dürftig ausgeflickt.
Menschenwerk sind diese Häuser.
Doch in diesen Häusern formten sich unmerklich auch wieder die Menschen um.
Eine kalkige Kruste sind diese Häuser, über einen lebendigen Leidenskern gestülpt.
Wo sind die Gefangenenaufseher, fragt man. Es sind freiwillig Gefangene, bekommt man zur Antwort. Sie beaufsichtigen sich selbst. Sie haben sich ihrem Schicksal ergeben. Lieben sie wirklich ihre Verdammnis... ?
Menschen und Häuser dieser Gegenden: lebensverbunden!
Sie schlagen den gleichen Herztakt. Mit Leidenszeichen sind sie überreichlich besät und mit Todesrunen. Viele Morde, Verzweiflungsmorde sind schon in ihren Gängen geschehen. Sie bergen in sich ein Maß von Not, das übermenschlich ist. Seht diese Häuser an! Kaum dass sie sich noch auf ihren Füßen halten können! Die Fundamente sind längst unterwühlt. Erdschlamm dringt vor. Alles steht hier auf Abbruch. Sie sind wirklich schlecht genährt. Gemüsereste, Kartoffeln, Brennsuppen, Heringe. Immer ist es derselbe Trott. Wer die Augen noch im Kopf hat, um zu sehen, der sieht: das sind Kerker, Leichenkasernen, Grabhäuser, und die Fetzen der Fassaden schlottern an ihnen herunter wie Lumpen an einem Skelett...
Nenn mir den glücklichen Besitzer, und du erfährst: er heißt vielleicht heute noch Krätzig und wohnt im Ostseevillenörtchen Heringsdorf. Aber die Häuser, zweihundert Stück gleich auf einmal, sie wandern: sie wandern herum zwischen Tschechoslowakei und Amerika; nur die Verwalter bleiben, treiben die Mieten ein, besorgen redlich und treu Kündigungen und Hinausschmisse... Denn auch das todwunde Häuserrevier ist immer noch ein lohnendes Spekulationsobjekt. —
Hier führen die Menschen tagaus, tagein einen heroischen Kampf um die Wohnung. Hier ist ein rumpfgroßes Loch in der Wand. Es müsste vermörtelt werden. Man muss die Bettstellen rücken, einmal hierhin, einmal dorthin: denn die Decke tropft. Es müsste geteert werden. Hier sind ganze Barrikadensysteme gegen Ratten errichtet. Dort unternimmt man vergebens Feldzug um Feldzug gegen das Ungeziefer. Hier wächst der Schmutz von selbst. Mit zusammengebissenen Zähnen versucht man zu retten, was noch zu retten ist. Aber der Schimmel marschiert, er erobert mühelos das Innere der Schränke. Die Tuberkulose bricht ein, die Geschlechtskrankheiten pflanzen zynisch triumphierend ihr Banner auf... Und schon ist wie immer Arbeitslosigkeit, Hunger, Skrofulose da... Eine höllische Armee, zusammengesetzt aus allen Kadres der menschlichen Notdurft und Hilflosigkeit, ist vollzählig zur Stelle... Der Generalangriff beginnt. Aus Schlitzen, Ritzen, Poren, Verschalungen, Mauern hindurch, millionenmäulig, speit es Verderben. Da gibt's keinen Widerstand. Jede Abwehr ist nutzlos...
Und in den Höfen waten die Kinder, wenn sie spielen wollen, bis zu den Knöcheln in einem fauligen Tümpel...
Erbarmungslos vollzieht sich hier unter den Augen des Gesetzes, infolge Gesetzeskraft und laut Paragraph so und soviel — erbarmungslos vollzieht sich hier eine ganz viehische, ganz trockene Blut-Kleinarbeit...
Glanzblau glaste der Himmel darüber, wunderbar grenzenlos über dieses Massenelend gespannt. —

 

3

Ein Kino vorn:
Mit einem Plakat: ein Schiff, das im Eismeer versinkt, ein Auto, das vollbesetzt auf einer mexikanischen Alpenstraße in den Abgrund saust, eine Großaufnahme von einem blonden Mädchenkopf, „Lia Mara" oder die „Ge-
fesselte Schönheit" genannt, bengalisch überstrahlt von himbeerroten Lichtern. —
Und hinten über zwei Höfe hinweg war das Versammlungslokal.
Neue Frankfurter Festsäle nannte es sich.
Es mochten gegen zweitausend Menschen anwesend sein.
Der Bühnenhintergrund war sichtbar, gemalte Kulissen, eine Seelandschaft, dahinter im Sonnenuntergang leuchtende Bergspitzen, ziegelrot. Auf knallgrüner Leinwandalm weideten braunlackierte Kühe, auch die schöne Sennerin fehlte nicht, in samtschwarz gestrichenem Mieder, die Lippen wie ein Kügelchen so rund.
Blauweiße Fahnengirlanden waren kreuz und quer gespannt.

Als Max eintrat, sprach der Redner schon.
Es hatte auch schon einige Zwischenrufe gesetzt, Kollegen informierten Max gleich darüber, aber der Saalschutz funktionierte diesmal gut, und man hatte die Störenfriede gleich in vereinfachtem Verfahren an die Luft befördert.
Auch Max nickte mit dem Kopf. „Eine bodenlose Frechheit, unsere Versammlungen zu stören... Radaubrüder... "
Und er war stolz auf seinen Saalschutz. „Es ist gut so... Mögen die sich woanders austoben... "
Und auch aus ordentlich gekleideten Kerls bestand der Saalschutz. Gut ausgerüstet: blaue Mütze, Wickelgamaschen, Windjacke. Bewaffnet mit stählernen federnden Totschlägern und Gummiknüppeln. —
Man musste also über die bevorstehenden Reichstagswahlen mit sich ins klare kommen.
Der Redner ließ es sich dabei nicht nehmen, der Reaktion, worunter er vor allem die Deutschnationalen verstand, einiges ordentlich auszuwischen, ging dann von der innerpolitischen Lage zur außenpolitischen über und erörterte sachlich und wirkungsvoll die wichtigsten Probleme. Es gelang ihm dabei, überzeugend darzutun, dass unter den nun einmal gegebenen politischen Verhältnissen dem deutschen Volke, das, schlecht geführt, den Krieg verloren hat, nichts anderes übrig bleibt, als das Sachverständigengutachten anzunehmen, das — im Vergleich zu den Verpflichtungen, die vor dem Deutschland aus dem Versailler Vertrag erwuchsen —, wesentliche Erleichterungen biete, die Räumung des Ruhrgebiets und damit die Befreiung einiger Millionen Deutscher von der französischen Fremdherrschaft bringe, der Industrie die lebenswichtigen, nicht unerheblichen Kredite vermittle, der zerrütteten deutschen Wirtschaft wieder aufhelfe — man denke nur an die passive Handelsbilanz! — und damit auch zugleich dem Proletariat Verdienstmöglichkeiten und Arbeit verschaffe. Über die Lastenverteilung aber entscheide der Reichstag, und es komme nun darauf an, möglichst stark dort einzuziehen, um die Gewichtsverteilung der Lasten zugunsten der werktätigen Bevölkerung auf die Schultern der besitzenden Klasse abzuwälzen.
„Ja, aber meine Herrschaften!" rief der Referent aus, als sich aus einer Saalecke heraus wieder Widerspruch bemerkbar machte. „Wir leben eben nun einmal in einer kapitalistischen Gesellschaft, und ich kann nicht, so gern ich auch möchte, sie von heute auf morgen wegpusten. So heißt es also, sich so gut es geht mit dieser Tatsache
abzufinden und sich so häuslich wie irgend nur möglich in dieser Gesellschaft einzurichten... Gedulden Sie sich, warten Sie ab, bitte, alles zu seiner Zeit..." Dies alles schien sonnenklar.
„Solange die Arbeiterschaft noch nicht einmal unter sich selbst einig ist... Da kann man ja jeden x-beliebigen Betrieb als Beweis dafür hernehmen... "
Und auch das, was der Redner nur so nebenbei bemerkte, dass man es sich schon was kosten lassen solle, um die Hohenzollern außer Land zu halten: „Wir werden uns schon in dieser Frage nicht lumpen lassen..."
Auch das war Maxens Standpunkt.
„So haben eben nun doch die Herrschaften der Entente einsehen gelernt, dass man auf dem Weltmarkt ohne den deutschen Arbeiter, ohne den begabten, gründlichen, gewissenhaften deutschen Arbeiter nicht auskommt. Deutschland: Industriewerkstatt der Welt! Das ist der Inhalt, das wahre Wesen dieses von uns angenommenen Gutachtens! Stellt euch vor, Arbeiter, wie nun langsam, aber sicher von Monat zu Monat euere Lage sich bessert, euer Lebensniveau sich heben wird... In einem solchen Moment sollen den Mut wir sinken lassen...! Nach all den Jahren, in denen ein schlimmer Unstern über Deutschland, über euch Proleten im besonderen, waltete!? Nein, dreimal nein! Nimmermehr! Mit vollem Recht können heute wir wieder ausrufen: am deutschen Wesen, am Wesen des deutschen Arbeiters im besonderen, wird wieder die Welt genesen... Schaut frohen Mutes drum in die Zukunft!"
„Ja, ja. So, so ist es."
Viele nickten mit den Köpfen.
„Reaktion oder Revolution!? Schwarz-weiß-rot oder schwarz-rot-gold!? Entscheidet euch?! Monarchie oder
Republik!? Gebt euere Stimmen, Proleten, der Republik, schafft mit an dem Erlösungswerk der werktätigen Massen. Die Revolution, die Befreiungsaktion des Proletariats marschiert, wenn auch langsam... Auf zur Wahl! Schließt die Reihen dicht!... Beziehen wir unsere alten revolutionären Kampfpositionen! Hinein in die Wahlschlacht... Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, sie lebe... "
„Hoch! Hoch! Hoch!"
Der Saal schmetterte.
Die Internationale sang. —

 

4

Wird es nun wirklich schon Frühling?! Die Fenster sind weit offen. Menschenstimmen hört man aus den Höfen. Diese Jahreszeit ist ein Heldengedicht. Gewaltig und grau ziehen den Horizont herauf Wolkenquader um Wolkenquader: formlos, unbehauen, roh: rebellische Figuren...
Die Zeitungsleser saßen um diese Stunde wie immer im Cafe. Glatzköpfig, vollbäuchig, manche mit prallen, rötlich getupften Bäcklein. Tranken Mokka, schlürften Limonaden aus Strohhalmen, schluckten auch sonst noch was...
Draußen prasselten Hagelschauer nieder. Ein kurzer Zwischenfall. Eine Stimme: „Sie Kapitalssau, Sie Dreck-... " „Was, Drecklump, Kapital... haben Sie mich genannt. Mein Herr, ich bitte Sie, das sofort zu berichtigen... " Und die Drehtüre schob beide ins Freie. Das Cafe-Innere war wie ein Aquarium. Tropisch-
warm; die Bewegungen der Cafehausbesucher waren, als sei die Luft eine zähe, kleberige Flüssigkeit.
Schönes Buchstabengift. Schönes Papiergift.
Sie sahen nur selten mal auf. Die Augen waren in dem Papierwinkel, den sie an einem Holzgriff steif vor sich herhielten, festgesogen.
Gehirne fraßen. Gehirne verdauten.
„Grand-Hotel, Honolulu" — „Isa, die Serbenfürstin"
— „Raubmord" — „Lustmord" — „Spanische Flugzeuge bombardieren die Rifkabylen mit Gasbomben" — „Neue SchreckenstatendesKommunisten-Gesindels"—„Tscheka"
— „Parade der Stahlhelmer... "
Die Zeitungsblätter bewegten sich. Legen sich um. Es knistert. Ein geheimnisvoller Wind weht. Ein neues Pack mit Ereignissen. Mit einem Blick hüpft da ein Auge über eine ganze Seite hinweg. Ein neuer Teil, mit Schicksalen, Erlebnissen, amüsanten Neuigkeiten nur so voll gepfropft...
Nun sind die Hände der Leser in eine Papierfläche eingekrallt wie Tatzen.
„...von den Fräcken der Herren ist nur zu sagen, dass sie ausnahmslos up to date und im besten englischen Stil waren; nicht ein Millimeter der weißen Weste war unterhalb des Frackrandes sichtbar... Die Toiletten der Damen im Stylkleid weiß Gourdeille mit Pelz Suhmann, den man seiner großen Seltenheit wegen noch wenig sieht... Lisa Benedict aber hatte ihren prachtvollen Rubens in dunkellila Chadourne gehüllt, benäht mit marokkanischen Pailletten aus vielfarbiger Mika... Ein zart aquarelliertes Kleid hellgelbe Merveille-Saturé. In schwarzem Craou, besetzt mit Jorkin, ein Fell, das wie goldgepudert aussieht... Es war einem ganz indianisch zumute..."
Schwerarbeiter!" knurrte lautlos der Bettler, der zwischen den Tischen herumstrich. Von dem Geschäftsführer und einem Kellner arretiert, verlässt er wieder das Lokal.
Weiter arbeiten sich durch den Papierschlamm hindurch die Zeitungsleser.
Vulkane brechen auf, Länder werden überschwemmt, Kolonialvölker rebellieren, Massenselbstmorde, Maschinenhinrichrungen, Hungersnöte. Lächelnd thront dabei das Büfettfräulein über dieser Flut rauchverwolkter Häupter, aus deren Gehirnwindungen jetzt bei der Lektüre abessinische Residenzen erstehen, Petroleumquellen aufknattern, Bohrtürme durch Kalifornien wandern, mit breitwulstigen Epauletten die Achseln bestickt hochwamstige Negergeneräle vor dem amerikanischen Präsidenten paradieren...
Das Gesäß des Lesers drückt sich fest im Stuhl.
Ein fleischerner Riesenpudding...
Merkwürdige Dinge werden im letzten Teil des Blattes über den großen Ozean gemeldet. Was davon wohl auf Wahrheit beruht!?
„Sir William Pope, in der Präsidentschaftsrede in der Chemical Society am 27. März 1919: Die englische Methode zur Herstellung giftiger Gase sei dreißigmal so wirksam, wie die von Deutschland, während die Kosten in Deutschland dreißigmal so groß seien wie die in England. Bei Kriegsende hätte die Entente täglich ebensoviel herstellen können wie die Zentralmächte monatlich. Anmerkung der Redaktion: Was man besonders dem bekannten Führer der zionistischen Bewegung, Herrn Prof. Waitzmann, verdanke, dem kühnen Organisator des chemischen Krieges auf ententistischer Seite."
Wie auf einem scheu gewordenen Gaul galoppiert unser sehr verehrter Leser weiter. Schüttelt sich. Nun geht es wieder in gewohntem Tempo. Die Sprünge, die schließlich diese mörderisch gottverfluchte Zeit macht, zwingen auch den unsichersten Kumpan am Ende noch fest in den Sattel... Neue Entdeckungen! Ein neues Geheimnis! Und wieder von jenseits des Ozeans, aus dem Wunderland!
„Ein Todesregen! — Ein neues Gift, so tödlich, dass drei Tropfen auf der menschlichen Haut genügen, um den Tod herbeizuführen, ist die neueste Erfindung des chemischen Kriegsdienstes der amerikanischen Armee. Man führt Fachleute an, die aussagen, dass, wenn man die Flüssigkeit aus Röhrchen an der unteren Fläche eines Flugzeuges ausstieße, sie alles, was sich im Wege dieser Maschine befindet, töten würde. Ein Flugzeug, fügt man hinzu, könne zwei Tonnen der Flüssigkeit über eine sieben Meilen lange und hundert Fuß breite Gegend verteilen, und dies würde genügen, um jedermann in dieser Gegend zu töten. Die Flüssigkeit kann leicht hergestellt werden, und eine Ausbeute von einigen tausend Tonnen täglich könnte angeblich schnell erreicht werden..."
Hat man noch Zeit, über das alles nachzudenken!? Bleibt einem da nicht die Luft weg!? Staune vor nichts, sagt sich der Spießer oftmals selbst vor und richtet energisch und stolz sich dabei auf im Steigbügel. „Alles ist möglich... Alles schon dagewesen... Nichts unter der Sonne ist neu..."
So ist doch zum Beispiel bekannt das so genannte griechische Feuer im vierten Jahrhundert vor Christi, aus Harz, Petroleum, Schwefel und ungelöschtem Kalk bestehend, und das später, im zwölften Jahrhundert, häufig von den Sarazenen gegen die Kreuzfahrer zur Anwendung gebracht wurde... ? Und dann erst das Mittelalter! Eine reiche Ausbeute für unsere geschichtliche Exkursion! Lesen wir da nicht in dem berühmten „Kompendium der Sekrete" des Arztes und Naturforschers Leonhard Floravanti von Bononia um 1600 von einem Öl, destilliert aus Terpentin, Schwefel, Asa foetida, Menschenkot, Menschenblut usw., das dermaßen stinkt, dass kein Mensch in der Festung, in die es geworfen wird, mittels Schleudermaschinen, versteht sich, es darin aushalten kann...
Also, alles schon dagewesen... Was zu beweisen war.
„Prosit Neujahr!" entfuhr es aber da dennoch einem kleinen Bankangestellten, als er das las. „Schöne Aussichten, das kann ja noch recht gemütlich werden... Heiter, immer heiterer, in der Tat! Aber man muss schon mit den Wölfen heulen... "
Und er versucht gleich ein Gespräch über dieses Thema mit dem Studenten anzuknüpfen, der noch mit an dem Tisch saß.
Der wehrte aber energisch ab.
„Ja, warum denn nicht... Glauben Sie vielleicht noch an den Abrüstungsschwindel!?..."
„Sie entschuldigen schon... Das war doch nicht so ernst gemeint..."
Unablässig drehten sich indes die Drehtüren.
Zwei Bekannte prallten dort unerwarteterweise im Gang aufeinander.
„Du hier, ach Emil, wer hätte das gedacht... ja, wie lange schon... ? Und immer wohlauf... Und das Geschäft..." Und schon zogen sie sich gegenseitig an einem Tischchen nieder, und wie eine Litanei wurde die ganze Skala der Bekannten und Geschäftsfreunde abgeklappert.
Die Schnurrbartspitzen des Portiers leuchteten wie zwei rötliche Stichflammen.
Der eine oder der andere stolzierte in dem Caferaum auf und ab wie in einer Wandelhalle. Der Zeitungsmann flitzte geschäftig.
Der Nachtbetrieb begann. —

 

5

Peter Friedjung war Werkstudent. Sechs Stunden arbeitete er täglich bei einem Patentanwalt in der Alten Jakobstraße am Setzkasten. Die Patentanmeldungen wurden hier auf einer kleinen Handdruckmaschine abgezogen. Ein seltsamer Betrieb. Hunderte von Patentanmeldungen liefen täglich ein. Da waren Patentgesuche darunter auf fahrbare Rucksäcke, auf Hosenträger, die mit einer Hand bedient werden konnten, Klosetts, mit selbsttätigem Wischapparat, zwanzig Modelle des Perpetuum mobile täglich, Studierlampen, die zu gleicher Zeit als Kochapparat benützbar waren, ohne jede Inangriffnahme des Zylinders selbstverständlich, Patente auf in der Dunkelheit leuchtende Füllfederhalter usw., usw. Gegen Einsendung eines nicht unbeträchtlichen Vorschusses wurden diese Gesuche exakt der Reihe nach behandelt und dem Patentamt vorgelegt... Damit war aber auch die Angelegenheit dieser Hunderte von kleinen Erfindern erledigt... Eine Ausnutzung des Patentes kam natürlich nicht in Frage...
Bis zum Ruhrabenteuer war Peter deutschnational. Deutschnational bis auf die Knochen. Er glaubte an Deutschland, als an ein auserwähltes Volk, er selbst hatte ja bereits gekämpft und gelitten für Deutschlands Herrlichkeit. Sollen die vier Jahre Krieg für die Katz gewesen sein... Sollte es wirklich wahr sein, dass... Daran konnte er nicht glauben. Das hing mit Sinn oder Sinnlosigkeit seiner eigenen Existenz zusammen. Dass Krieg das Produkt geschäftlicher Konflikte ist, das Kriegsziel nichts weiter, als dem Gegner diejenigen wirtschaftlichen Bedingungen aufzuzwingen, die man für sich als notwendig erachtet; dass das Wesentliche dabei, das Herzblut des Krieges sozusagen: der Beutel, die Interessen der Kapitalisten sind; dass in Wirklichkeit aber alles kämpft für die Interessen eines Häufleins von Magnaten des Finanzkapitals, für ein Dreihundert-Männerkollegium; und dass auch das Instrument der Schiedsgerichte nur dazu dient, den Ausbruch ungewollter Kriege zu verhindern... Das alles mochte vielleicht für England, für Amerika, Frankreich stimmen, für unsere Gegner stimmen, aber für Deutschland!? War nicht für Deutschland Krieg: Schicksal, elementar wie eine Naturgewalt, Aufbruch der Jugend, Blutrausch!?... Gott hat den Krieg gewollt, und ich, Peter, habe ihn geführt... Als Kriegsfreiwilliger hatte er den Krieg mitgemacht. Als Kriegsfreiwilliger im Regiment List, mit „Deutschland, Deutschland über alles" hatte er gestürmt, dieses Lied auf den Lippen waren bis auf ihn alle seine Kameraden gefallen... Und das soll nicht das Wunderbarste, das Höchste, das Heldenhafteste in der Welt gewesen sein...? Die Fahne Schwarz-weiß-rot, die soll nicht die Fahne, die Fahne unseres Blutes, die Fahne der Ehre der gesamten Nation gewesen sein...? Die Fahne, die damals bei Tannenberg, bei Verdun... Deutschlands gesamte idealistische Jugend muss sich um sie scharen, damit sie nicht der rote Sturmgeier zerfetzt...
Bis er eines Tages, selbst Mitglied einer völkischen Sturmabteilung, plötzlich erkannte: es ist ein Unterschied zwischen der Phraseologie einer Sache und dem Inhalt einer Sache. Und dass die nationalen Phraseure sich im Grunde ihres Herzens keinen Deut um die wahren Interessen der Nation scheren, sondern: Profitjäger, Hasardeure, Spekulanten, Großschieber, Hyänen sind, ganz raffinierte, abgefeimte, ausgebrühte Burschen, die das Blut und das Lebensmark des Volkes aussaugen; die nationale Phrase aber als Köder benutzen, blindgläubigen, von dem sozialdemokratischen Regime enttäuschten Kleinbürgern gegenüber; und dass sie, ja, dass sie die eigentlichen Volksverbrecher, Hochverräter, Landesverräter sind und die... ja, die Kommunisten, die revolutionären Proletarier, die eigentliche Lebens- und Schaffenskraft des deutschen Volkes: keineswegs! keineswegs! —

Seitdem sympathisierte Peter Friedjung mit der proletarischen Bewegung.

Ereignisse an Ereignissen sich überstürzend, eine gewaltige chaotische Lawine, so stieg es empor aus dem Zeitungshaufen. Peters Gehirn wurde mit hineingerissen in einen ungeheuren Weltwirbel.
Stänkereien und Zänkereien: das war immer mehr der Grundton unserer Zusammenkünfte. Die Enttäuschung über die Bewegung äußerte sich immer mehr in persönlichen Verunglimpfungen, Anschuldigungen, Verleumdungen übelster Art. Nichts und niemand mehr blieb von Witzen und Zotereien verschont: auch Schlageter begann man bereits nach Strich und Faden herunterzureißen, viele wollten wissen, dass... Ein abstraktes, von patriotischen Phrasen triefendes Gefasel: genüge es, wem es wolle... Keiner wollte das endgültig besiegelte Debakel wahrhaben. Ein jeder drückte sich mehr oder minder feig um die Tatsache herum, dass von einer Mission der völkischen Bewegung bereits nicht mehr gesprochen werden konnte... Und blieben gar einmal die Geldunterstützungen aus, deren Quelle immer mystischer verhüllt und ungenannt blieb, dann war es schon gar nicht mehr zum Aushalten. Es war schon so: Abzeichen, Hakenkreuze, Totenkopffahnen, Armbinden, Wickelgamaschen, Windjacken: damit musste man sich darüber hinweghelfen, dass man eigentlich nichts zu sagen hatte. Ja, gewiss, bei jeder Versammlung, bei jeder Heldengedenkfeier redete man, aber bitte sehr, nur bildlich gesprochen, aus hohlem Bauch... Ein jeder misstraute dem andern. Rohheiten, Exzesse jeder Art, Unterschlagungen waren an der Tagesordnung. Da gab es Degenerierte aller Art, Effeminierte, pathologisch Klatschsüchtige, Hochstapler, Abenteurer, Dilettanten, Homosexuelle, Päderasten, Sadisten, Masochisten, kurzum, ein Klub von Deklassierten tat sich in prächtigen Salons auf, die Politik war nur meist für geschäftliche und erotische Beziehungen die Maske, und dieser hochpolitische Klub unterhielt durch seine Kuriere und Mittelsleute eine stete Verbindung mit den übelsten lumpenproletarischen Kloakenbuden und Obdachlosenasylen. Lumpenproletarier waren es, die man zuerst durch Versprechungen auf Unterstützung und Anstellung in die Stahlhelmverbände lockte, dann trieb man die Kleinbürger, heillos borniert wie sie waren, zu Paaren, sie waren es gewohnt, zu gehorchen wie dem Hund die Schafherden. Die hatten während der Novembertage geradezu Angst vor ihrer eigenen Freiheit bekommen, waren sie doch dressiert, nur auf
Kommando zu parieren. Eine geringe Dosis schwarzweiß-roter Gemütssalbe genügte, feste druff, und schon hatte man sie wieder bei der Stange. Sie waren von den hohen Stellen bestimmt, die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Preußische Disziplin, kerndeutsch, treudeutsch: das waren so die üblichen Zauberworte, um damit jeden, der sich irgendwie missliebig gemacht hatte, ordentlich unter die Fuchtel zu nehmen, und das besorgten auch ausreichend die jeden Tag sich noch „nationaler" gebärdenden kleinen Herrschercliquen. Und zwar nach allen Regeln der Kunst. Zeitweilig wurden Speiseküchen eingerichtet, man wollte künstlich die Bewegung ins Proletariat hinein verbreitern, auch gab die Großindustrie in der damaligen Zeit viel Geld: bei all diesen Wohlfahrtseinrichtungen verschlangen aber über sechzig Prozent die betreffenden Organisationen. Richtige Parasitennester entstanden, die ungeheuerlichsten und schamlosesten Forderungen wurden für die geringsten Dienstleistungen gestellt. Die Inflation warf auch noch jeden Tag neue Postenanwärter in die völkischen Reihen... Dann gab es eine Periode: jeder war sein eigener Ludendorff. Man sprach überhaupt nur noch in Zitaten... Dann kam eine Zeit, da tauchten Gestalten auf, die nicht nur für eine Seite spitzelten, sondern mit wahren und falschen Nachrichten fünf bis sechs Stellen zugleich bedienten... Mit den widerlichsten Krankheiten behaftete Kretins taten sich dazwischen breit, zeterten „Heil" und schrieen Mordio und Feurio, kolportierten bis zum Brechreiz die beinahe nur noch pathologisch zu bewertende Phrase vom rassenreinen Menschentum, vom Sonnen-Arier, trieben Wotankult und verzückten sich augenverdrehend an einem paradiesischen Traum-Walhall, indessen fütterten sie sich beträchtlich und rafften mit gierigen Händen, alles was ihnen unter die Finger kam, zusammen. Dann kam eine Zeit, Flaute nannte man sie, keiner wurde eigentlich mehr recht froh seiner begangenen Spitzbübereien und vollbrachten Morde, die eisenkreuzgeschmückten Bramarbasse wurden bedeutend ruhiger, und man begeisterte sich plötzlich wieder für eine vernünftige deutschnationale Realpolitik... Nur konfessionelle Gegensätze trieb man noch ab und zu auf die Spitze... Auch in der Angelegenheit des Erbfeindes kriselte es schon bedenklich. Der Revancheangriff, großmäulig vorbereitet und um so schlechter organisiert, wurde plötzlich über Nacht abgeblasen... Das wäre also in Umrissen die Geschichte einer politischen Bewegung, vom Finanzkapital ausgehalten und von ihm in einem gewissen Zeitabschnitt als politisches Druckmittel gehandhabt, als ein Instrument der Erpressung, in einem Zeitabschnitt, da man noch nicht an die Möglichkeit einer legalen Restauration glaubte. Als Ideologen figurierten durchwegs Lumpenbourgeois, internationale Desperados, abgetakelte Offiziere; die Träger der Bewegung, die Masse waren: Studenten, Angestellte, Gymnasiasten, kleine Beamte, Lumpenproletarier, Kleinbürger. Mag sein, dass sich auch mancher persönlich lautere Charakter und idealistisch Gesinnte dorthin verirrt hatte. Diese aber haben sich bald voll Ekel abgewandt... Überhaupt, es dauerte nicht mehr lange: die ganze Bewegung erstickte vollends im Schlamm der Korruption, verschmorte in ihrem eigenen Fett. Nur hie und da ein Nebbich-Sektenbildner rumorte noch wo herum als Diskussionsredner in einer Versammlung. In hellen Scharen war man zu den Deutschnationalen übergelaufen, andere zogen sich schmollend aus dem politischen Leben zurück... Drei Monate in solch
einer Bewegung verbracht: da heißt es gründlich mit sich abrechnen, das Fazit ziehen und dann: für die Zukunft daraus lernen. Nur Narren und Phantasten binden sich weiter die Scheuklappe um, erhitzen sich selbst künstlich bis auf vierzig Grad Fieber und sind eben unempfindlich gegen jede Art von kalter Dusche. Dass Deutschlands Aufstieg allerdings gleichbedeutend ist mit der restlosen Ausrottung dieser Banditen und ihrer Geldgeber, dass die Niederkämpfung dieser Bewegung vielmehr die Grundvoraussetzung der wirklichen Gesundung Deutschlands ist: das wurde mir im Verlauf jener drei Monate, die ich in dieser Gesellschaft verlebt hatte, eindringlich klar. Die Antisemiten pumpten wacker beim Juden, und ein Jude wiederum schrieb zum Dank dafür für die Völkischen das antisemitische Exerzierreglement!

 

6

Weiter jagten sich Peters Gedanken:
Da gleiten hin die Industriemagnaten durch die Stadt auf ihren schnittigen Luxuskraftwagen. Weit außerhalb der Stadt, den schmutzig-gelben Strom entlang, ragen die Fabrikschlote. Fronten von Mietskasernen, scharf ausgerichtet, starren leblos, unbewegt. Fünfzig Stock hoch türmen sich in den Stadtzentren die Bankhäuser...
Ein Boxkampf findet statt: als der Sieger abtritt, rasen fünfzigtausend Menschen vor Begeisterung. Der Riesenraum der Arena ist ein vieltausendfaseriges zuckendes Nervenbündel...
Es hält in Moskau der rote Kriegsrat eine Sitzung ab. Der rote Reitergeneral Budjonny spricht. Seine Worte sind Trompetensignale, sind Hammerschläge...
Und die Straßen Jokohamas sind voll von demonstrierenden Menschenmassen. Japan, ganz Japan läuft Sturm gegen das amerikanische Einwanderungsgesetz. Im Staate Ohio aber wird indes ein Neger gelyncht: ein Scheiterhaufen ist errichtet und man verkauft an die vornehmen Amerikanerinnen, fünf Dollar pro Stück, Fleischfetzen, Knochenteile von dem verkohlten Gerippe... Sie sollen wohl Gesundheit und Glück bringen...
Während in Stuttgart ein berühmter Deutscher Soziologe seinen Vortrag über nationalökonomische Probleme mit den Worten beschließt: „Zurück zu Gott!"...
Oh, da ist ja auch die ganze Scharfrichterfamilie versammelt, Herr Gröpler: so heißt er, der der ordnungsgemäßen Handhabung des Richtbeils nur Allzukundige, im Nebenberuf Inhaber einer gut gehenden Dampfwäscherei; da feiert er auch schon im Kreis seiner Lieben das Jubiläum seiner fünfzigsten Hinrichtung. Und die Wände seines trauten Heims sind mit Sprüchen aus der Bibel (Korinther) und mit Kaiserbildnissen geschmückt. Den fünf zum Tode Verurteilten aber hat man über Weihnachten drei Tage Aufschub gewährt, damit der Sängerchor der Strafvollziehungsanstalt, dessen eifrige Mitglieder die fünf Armensünder bis dato noch sind, an den hohen Festtagen wenigstens intakt bleibt...
Halleluja!...
Und wieder wird ein Betrieb stillgelegt. Tausende trollen wieder arbeitslos herum auf der Straße, schwarz, hungernd, knieschlotternd, frierend: so staut es sich vor dem Arbeitsnachweis ...
Und in den chemischen Laboratorien experimentiert man inzwischen herum an einem neuen Giftgas. In den illustrierten Zeitschriften  findet man,  neckisch  von
Blümchengirlanden umrahmt, die Photographie des genialen Konstrukteurs der neuesten Flugzeugbombe...
Die Prediger verkünden mit ausgebreiteten Armen von der Kanzel herab: „Friede auf Erden"...
„Friede auf Erden!" — „Amen! Amen", schallt vielstimmig zurück der Chor der Gläubigen. Die Kathedrale ist wie ein Sarg. Weihrauch, Kerzenglanz, geflüsterte Gebete mischen sich ineinander...
Die Strafexpedition, aus Truppenkontingenten zweier europäischer Nationen zu gleichen Teilen zusammengesetzt, stößt in die von den flüchtigen Eingeborenen angezündeten Urwälder vor. Riesige Giftmücken flattern um die von der Siedehitze brodelnd aufgeweichten Leichname. Der Himmel glänzt scharf. Wie glanzblau lackiert...
Tausende sterben jetzt...
Tausende entschlüpfen soeben dem Mutterbauch...
Leben und Tod: o untrennbar eins sind sie in jeder Weltsekunde.
Die Wellen des Ozeans schlagen an viele Küsten...
Da findet ein Hundediner statt. Reichlich besetzt mit wirklich köstlichen Dingen ist solch eine Tafel. In Bombay beträgt die Kindersterblichkeit zweiundachtzig Promille. Schreckliche Höllen sind überall in der Welt die Proletarierviertel. Eine grausige Blutsprache sprechen die Statistiken...
Aufgeteilt ist die Welt...
Nach blutigen Gemetzeln... Vor noch schlimmeren Morden...
Ein revolutionärer Führer spricht im Norden Berlins in einer Proletenversammlung. Ein anderer schreibt hin wie lebendige Feuerlinien aufrührerische Sätze... „Hetzer" ist ihnen ein Ehrenname...
In welchem Zeitabschnitt leben wir!?... Das Tempo der Geschichte hämmert mit gewaltigen Schlägen...
Eine große Zeit fürwahr, eine Heldenzeit... Doch wer sind ihre eigentlichen Träger... ? Namenloses Heldentum. Blutzeugentum. Kämpfertum. Märtyrertum... Ein Arsenal von Kampftaten und Opferlegenden noch für Jahrtausende...
Und einer zum Beispiel, ein Schulkamerad, ein gleichgültiger Name, fand nicht mehr heraus aus diesem Labyrinth, was er auch tun mochte, wie sehr er sich auch anstrengte. Er war bis zum Irrsinn angewidert von all dem, wurde eines Tages wirklich verrückt, titulierte Christus mit „Kollege" und schoss sich eine Kugel durch den Kopf. Als er abdrückte, schrie er überselig: „Es ist vollbracht!" Warum auch nicht. Ein anderer, Freund meines Vaters, Fabrikant Germersheimer, ebenfalls ein überaus gleichgültiger Name, mästet sich prall mit Illusionen, hält Geistersitzungen ab, lässt Tische rücken und studiert auf seine alten Tage Theosophie. Auch er muss eines Tages platzen... Andere gehn vorüber. Gehn sie vorüber!? Nimmermehr. Keineswegs. Auch ihnen wird eines Tages die Entscheidung aufgezwungen werden, auch sie werden eines Tages Farbe bekennen müssen...
Aber Arbeiterkolonnen, die abends aus der Fabrik heimkehren, scheinen mir muskelbepackt, straff, trotz der Überarbeit. Ihre Beine federn elastisch, wenn sie ausschreiten: die zeigen, dass sie noch marschieren können, trotz alledem. Dass sie sprungbereit geblieben sind. Trotz alledem. Und in ihren Fäusten sitzt ein guter Griff. Glück auf! Greift zu, wenn es soweit ist. Seid auf eurem Posten, wenn es drauf ankommt. Werdet ihr es schmeißen!?...
Und da zählen nach Tausenden, Abertausenden in diesem Augenblick die Gefangenen, die in den zwingkäfigähnlichen Zellen der staatlichen Zuchthausanstalten hocken. In allen fünf Erdteilen. Farbige ebenso wie Weiße. Alt und jung. Männer, Kinder, Weiber. Unterschiedslos. Noch-Gesunde und schon Sterbenskranke. Sie drücken sich in die Mauerwinkel. Schweigend. Nur hie und da ein Tobsuchtsanfall. Schreie, wie ein blutiger Erguss. Sind es versteinerte Menschenreste!?...
Einzelmorde, Massenschlächtereien, Bankkrachs, Umarmung, Empfängnis, Vergewaltigung, Streik, Niedertracht, Straßendemonstrationen, Ausbeutung, Prassereien: das alles geschieht jetzt in der Welt, zur selben Stunde, zur gleichen Zeit... Aber die ganze Welt ist aufgeteilt in zwei große Heerlager...

 

7

Automatisch schwang die Drehtüre des Cafehauses wieder um ihre eigene Achse. Ach, da bin ich ja noch...
Die Mäntel am Garderobenständer kletterten übereinander.
Immer noch saßen die Zeitungsleser, verschanzt hinter ihren Zeitungen. Ein Telefon klingelte. Peter ging.
Sollte das nicht doch möglich sein, das Menschen-natürlichste, das Menschenselbstverständlichste, das Aller-aller-Einfachste? Mit Aufbietung aller Kräfte, unter Zusammenraffung unseres ganzen Menschendaseins!? Das, das müsste man doch versuchen... Oder ob das
Einfachste nicht doch nur ein scheinbar Einfachstes ist, am Ende nicht gar das Allerschwerste!?...
Die Theater waren jetzt aus.
Neue Menschenströme brachen in die Straßen ein.
Ein Autohupen-Konzert.
Kokottenrudel trieben straßauf, straßab.
Liebespaare wankten eng umschlungen einem Park zu.
Ein Mädchen der Heilsarmee grölte irgendwo in einem Platzwinkel: „Jesus, süßer Bräutigam..."
Recht so, die Religion soll dem Volk erhalten bleiben. Und das drückte auch auf die Tränendrüse manch einer vornehmen Herrschaft, die gnädiglich aus krokodilsledernen Handtaschen heraus ein Almosen für die Armenspeisung spendete. Mit blankgescheuertem Gewissen schlenkerte sie dann, sich wohlig in ihren Pelzen räkelnd, von dannen.
„Menschendreck..."

Der Himmel war wie ein Eismeer.
Wie Packeis trieben die Wolken darin, zu Eisbergen sich türmend, absplitternd; Haufen von Scherben. Scharf gezeichnet hoben sich weit hinten am Horizont in der blauen Flut die unermesslich lang gestreckten Eiswände ab. Und der Mond stand mitten darin, unförmig, geborsten, ein ziellos treibendes Leucht-Wrack. „Ja, ja, das ist schon so: es stimmt schon: Die Barbarei erscheint wieder, aber aus dem Schoß der Zivilisation selbst erzeugt und ihr angehörig..." Und Peter schritt die Straße hinauf, die sich vor ihm zu heben schien und steil und immer steiler ward, wie im Sturmschritt.

 

8

Die Diskussion in den Frankfurter Festsälen begann.
„Natürlich wieder so ein Kommunist", knurrten einige, als der Versammlungsleiter bekannt gab: „Herr Schnetter hat das Wort."
Einige Zwischenrufe knallten.
Der Referent schmunzelte.
„Und man glaubt schon einen ganz gewaltig kühnen Schritt getan zu haben, wenn man sich freigemacht vom Glauben an die erbliche Monarchie und auf die demokratische Republik schwört. In Wirklichkeit aber ist der Staat nichts als eine Maschine zur Unterdrückung einer Klasse durch eine andere, und zwar in der demokratischen Republik nicht minder als in der Monarchie. — Der Feind aber, der uns die Hand zum Wahlbündnis hinstreckt und sich als Freund und Bruder uns aufdrängt — ihn und nur ihn allein haben wir zu fürchten. Wie können die Massen noch an uns glauben, wenn die Männer des Zentrums, des Fortschritts und anderer bürgerlicher Parteien unsere Bundesgenossen sind — wozu dann der Kampf gegen die bürgerliche Gesellschaft, deren Vertreter und Verfechter sie allesamt sind?... Ist einmal die Grenzlinie des Klassengegensatzes verwischt, sind wir einmal auf der schiefen Ebene des Kompromisses, dann gibt es kein Halten. Dann geht es weiter und weiter abwärts, bis es kein Tiefer mehr gibt... Mit der Bewilligung der Kriegskredite 1914 hat die Sozialdemokratische Partei Deutschlands diesen Tiefpunkt erreicht."
Hier schon wurde der Diskussionsredner unterbrochen.
„Reden Sie nicht in Zitaten und besonders nicht in solchen, die Sie nicht verstehen!"
Das habe nicht ich, sondern Karl Marx in seiner Einleitung zum ,Bürgerkrieg in Frankreich' gesagt, und das zweite Zitat ist von Wilhelm Liebknecht. Sie zeigen durch Ihre Zwischenrufe nur, dass sie mit diesen beiden Männern nichts mehr gemein haben...", erwiderte der Diskussionsredner.
„Na, also da haben wir's ja. Weiter habe ich ja auch nichts gesagt."
Der Zwischenrufer hatte Beifall.
„Der Arbeiterverrat, den Sie heute vertreten", fuhr Genosse Schnetter fort, „ist schon von langer Hand vorbereitet worden. Schon Kautsky, der Historiker... in seinen Vorläufern des Sozialismus . . . Welche internationale Bedeutung aber die Zustimmung zu den Kriegskrediten 1914 hatte, das kann nur der ermessen, der die ungeheure Ausnahmestellung, die die deutsche Sozialdemokratie innerhalb der Zweiten Internationale damals innehatte, kennt, die deutsche Sozialdemokratie war die Perle der..."
„Wirf sie jetzt nicht vor die Säue, Hund... "
„Theoretischer Quatsch!"
„Schluss damit!"
„Erledigt! Raus! Abtreten! Zur Sache!" Der Ordnerdienst schob sich unauffällig nach vorn. Hielt im Saal Umschau und stellte die Positionen derer fest, die dem kommunistischen Redner zustimmten. Eine kurze Unruhe entstand.
Der Versammlungsleiter klingelte.
„Holt doch einfach die Schupo... "
Der Diskussionsredner hatte sich dem Referenten halb zugewendet.
„Lauter!" brüllte jemand.
„Keine Dialoge! Sprechen Sie zur Versammlung!"
„Ihr seid an der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht schuld! Wollt ihr das noch immer nicht wahrhaben ... Ihr, ihr..."
Und unter einem brüllenden Gelächter zog der Kommunist eine Broschüre hervor.
„Pfui! Pfui! Pfui! Schurke! Halunke! Schuft! Verleumdung! Elender Lügner! Von Moskau bezahlt! Erbärmliche Niedertracht! Brenn ihm eins! Jib ihm Saures... "
„Zehn Jahre SPD!"
Einen Augenblick wurde es ganz still.
„Blamieren Sie sich, so gut Sie können!" schmunzelte jovial der Referent!
„Arbeiter! Genossen! Seht euch euere Führer an! Wir Kommunisten würden doch nicht immer wieder auf die Haltung der SPD während des Krieges zurückkommen, wenn nicht die Politik der SPD nach dem Krieg in jeder Epoche der Nachkriegszeit denselben Arbeiterverrat darstellen würde... Dieser Herr, der Herr Referent, der euch heute Abend noch soeben das Sachverständigengutachten so wohlschmeckend zubereitet hat, ist er nicht derselbe, der einstmals begeistert ausgerufen hat: ,Ich geh zum Hindenburg!' und der damals folgendes geschrieben hat: ,Nur im Zeichen dieser Ströme von Blut, nur im Zeichen des zermalmenden Eisens, das diese Ströme hervorbrechen macht, können wir davon sprechen, dass das Ziel nahe ist. Wir müssen den Kriegswillen der Gegner im Blut ersticken...' Das ist das eine. Das andere lautet - passt gut auf! -: ,Um alles in der Welt möchte ich jene Tage inneren Kampfes nicht noch einmal erleben! Dies drängend heiße Sehnen, sich hineinzustürzen in den gewaltigen Strom der allgemeinen nationalen Hochflut, und von der anderen Seite her die furchtbare seelische Angst, diesem Sehnen rückhaltlos
zu folgen, der Stimmung ganz sich hinzugeben, die rings um einen herum brauste und brandete und die, sah man sich ganz tief ins Herz hinein, auch vom eigenen Inneren ja schon Besitz ergriffen hatte. Diese Angst: Wirst du auch nicht zum Halunken an dir selbst und deiner Sache!? Darfst du auch so fühlen, wie dir ums Herz ist? Bis dann — ich vergesse den Tag und die Stunde nicht — plötzlich die furchtbare Spannung sich löste, bis man wagte, das zu sein, was man doch war, bis man — allen erstarrten Prinzipien und hölzernen Theorien zum Trotz — zum ersten Mal (zum ersten Mal seit fast einem Vierteljahrhundert wieder!) aus vollem Herzen, mit gutem Gewissen und ohne jede Angst, dadurch zum Verräter zu werden, einstimmen durfte in den brausenden Sturmgesang: >Deutschland, Deutschland über alles!<"'
Die Versammlung atmete kaum noch...
„Nun, Arbeiter-Genossen und sehr verehrte ,Herren' Zwischenrufer von vorhin, ich frage euch jetzt, urteilt selbst: ist das die Sprache eines Sozialisten!? Wem von euch noch ein Funke proletarischen Ehrgefühls innewohnt, wer noch ein klein wenig proletarischen Klasseninstinkts sein eigen nennt, der wird nicht umhinkönnen, eine solche Auffassung zu brandmarken als das, was sie in der Tat ist: als Ausdruck der schamlosesten, hundsföttischsten Korruption. Das ist zwar nicht Landesverrat, auch nicht Hochverrat, jeder dieser ehrenwerten Spießer ist würdig, mit dem Pour le mérite dekoriert zu werden... aber dafür ist es Arbeiterverrat, Arbeiterverrat und nochmals Arbeiterverrat!..."
Viele Arbeiter sahen bei diesen Worten sich unschlüssig an.
Manche schüttelten mit den Köpfen.
„Hat der wirklich so was geschrieben?!"
„Kann's gar nicht glauben..."
„Ja, bei der Stimmung, die damals gewesen ist..."
Vieler Augen öffneten sich jetzt weit, viele Ohren horchten gespannt.
„Rasch! Mach schnell!" flüsterte der Versammlungsleiter einem Funktionär zu. „Sonst geht uns am Ende noch die ganze Versammlung aus dem Leim. Lieber noch sie hochfliegen lassen..."
Und der Funktionär gab unauffällig ein Zeichen.
Vier oder fünf unter den Tausenden schrieen plötzlich los: „Unsinn! Blödsinn! Schuft! Neue Lügen! Kein Wort ist wahr! Alles gefälscht!..."
Die Arbeiter sahen sich wieder an.
„Siehst du, das hab ich doch gleich gedacht, dass das so eine Lüge ist. Das wäre doch schon... Da dürfte der ja gleich einpacken... Aber was die Kommunisten sich nicht alles aus den Fingern saugen... Pfui Teufel... "
„Das haben Sie, das haben Sie, Sie, Sie, Herr Genosse Bauer geschrieben, damals, und jetzt, jetzt schämen Sie sich nicht, jetzt wagen Sie es... "
„Schluss! Schluss! Schluss!"
Der Versammlungsleiter klingelte.
„...und so entziehe ich dem Redner wegen grober Verleumdungen persönlicher Art und wegen vollkommenen Mangels an Objektivität und Sachlichkeit das Wort... Da kein Redner mehr gemeldet ist, hat unser Genosse Bauer das Schlusswort."
„Recht so!"
„Bravo! Bravo! Raus mit ihm!" Der Saal stampfte. —
Und schon wurde der Kommunist von einigen kräftigen Ordnungsleuten heruntergeholt. Genosse Bauer schüttelte noch den Kopf und riet überlegen freundschaftlich von Gewaltanwendung in diesem besonderen Falle ab.
Hofrichter-Rauscher-Breuer-Kuttner!" drohte der Kommunist mit der Faust... „Und damals in den Kapp-Tagen, erinnern Sie sich noch, auf der Pressekonferenz... Sie ihr, die wirklichen Urheber an der Ermordung... Soll ich Ihnen das sozialdemokratische Rezept verraten: Was sagt euer Wels: ,Wir haben eine Bewegung der Arbeitermassen nicht zu fürchten. Wenn sie über unsere Köpfe hinwegzugehen droht, stellen wir uns an ihre Spitze und biegen die Bewegung um, wie 1918 .."
Dies schrie der Kommunist noch, schon halb aus dem Saal geschleift.
Ein riesiger athletischer Bursche vom republikanischen Ordnerdienst klopfte jetzt auf ihm mit einem stählernen Totschläger einige Mal herum.
„Längst erledigt! Zur Sache! Moskowiter! Genosse Bauer hat jetzt das Wort..."
„Hinaus... aus... aus... ", echote es rings.
Am Saaleingang aber vermochte sich der Kommunist doch noch einmal aufzurichten, sich loszureißen und mit einer mächtigen Stimme schleuderte er zurück: „Ihr, ihr, ihr dort oben: ihr habt dem Proletariat den Mut, das Kraftgefühl, das Selbstvertrauen gestohlen. Und das ist vielleicht von allen eueren Missetaten, Unterlassungssünden, Gemeinheiten das Allerschlimmste... Ihr seid in den Reihen der bürgerlichen Klassenarmee nichts weiter als die Spezialkommandos zur Niederknüppelung der revolutionären Arbeiterschaft... Ihr seid der Klassenfeind im eigenen Lager... Pfui, Mörder, Schufte, Verräter! Schluss mit euch... !"
Die Saaltür krachte jetzt zu.
„So ein Kommunist ist nicht tot zu kriegen... "
Die Luft war wieder rein. —

 

9

Max beobachtete den Referenten, der soeben das Schlusswort ergriff.
Wie vertrauenerweckend allein schon seine Gestalt war! Breit und behäbig, prall gefüllt mit Wohlüberlegtheit und kugelrund vor Verantwortlichkeit! Rotbackig, mit schwärzlich buschigem Schnurrbart. Ganz im Gegensatz zu dem Kommunisten, einem jungen und aufgeregten Bürschlein... Sachlich, wenn es sachlich zu sein galt, voll von Entrüstung und gewitterschwangerem Pathos, wenn er auf die Umtriebe der Reaktion oder auf die schändlichen Machenschaften und Spaltungsversuche der Kommunisten zu sprechen kam. Ausgeglichen, männlich-reif... Der hat Kenntnisse, der versteht was vom Handwerk, der lässt sich nicht so leicht unterkriegen, der hat Erfahrungen. Nun, schau nur einmal!... Kurz gesagt: es war, als spreche hier der gesunde Menschenverstand selbst.
Wie fieberig erhitzt dagegen der Kommunist wirkte! Überspitzt in allen seinen Gesten und Äußerungen, jedes Wort maßlos übertrieben. Vor solchen Menschen muss man sich in acht nehmen, wie das in ihren Augen flackert, in ihren Fäusten zuckt, in ihrem Brustkasten rumort...! Die sind nicht schlecht verrückt!... Donnerwetter...
„Nun, Genossen und Genossinnen, werte Versammlung!
Dieser allem Anschein nach systematisch vorbereitete Sprengungsversuch der Kommunisten ist dank dem wirksamen Eingreifen unseres Reichsbanners... "
„Bravo! Frei Heil!"
missglückt. Da haben Sie es! Aber der deutsche Arbeiter ist schließlich gerechtigkeitsliebend genug, um auch den Gegner so zu sehen, wie er ist. Ich spreche jetzt von der besitzenden Klasse. Lassen wir uns bei deren Beurteilung nicht von blindwütigem Hass hinreißen, ich gebe zu, mancher von uns muss, um zu einem objektiven Urteil über seinen Gegner zu kommen, noch viel an sich arbeiten, denn die Theorie vom Klassenkampf hat viel an uns verdorben. Wir Sozialdemokraten vertreten die Gesamtheit der Nation, wir vertreten die Interessen aller Bevölkerungskreise, das Wort ,Klassenkampf ist überhaupt veraltet und wissenschaftlich bereits längst überholt ... Also: mit dieser kommunistischen infamierenden Klassenhetze haben wir Sozialdemokraten nichts gemein. Von Kriegsgewinnlern und Inflationsschiebern abgesehen, was haben uns schließlich die Reichen getan, die in den Palästen wohnen? Sie sind dem Nestbaubetrieb gefolgt, sage ich, nichts weiter. Und dieser Tatsache müssen wir Verständnis entgegenbringen. Dafür wollen wir ihnen, bei Gott, nicht allzu gram sein... Nun, zur Frage der Amnestie! Wer hat sich für die Amnestie eingesetzt!? Die Sozialdemokratie... Ich brauche euch wohl nicht den Brief Max Hoelzens zu verlesen. Ihr kennt ihn ja aus dem ,Vorwärts'. Aber es ist schließlich nicht ganz so leicht, immer gleich ebensoviel aus den Zuchthäusern herauszubringen, wie die Zentrale der Kommunistischen Partei jeden Tag durch ihre putschistische Taktik wieder hineinschafft. Eine Beharrlichkeit zeigen darin die Herrschaften, dass man sie bei-
nahe bewundern möchte... Wer aber knebelt, knechtet, verfolgt und verrät die Arbeiterschaft schlimmer als die dunkelste Reaktion!? Die Bolschewisten. Werft einen Blick in die russischen Gefängnisse, in die sibirischen Öden! Denkt an die Gräueltaten und an die Folterkammern der Tscheka! Und wer, frage ich euch, stellt immer wieder eigene Kandidaten auf, auch dort, wo gar keine Aussicht auf Erfolg ist, wer spaltet durch diese Manöver die Arbeiterschaft und wird so objektiv zum Steigbügelhalter der Reaktion? Wieder die Kommunisten. Ja, die Kommunisten sind an allem schuld. Und ich sage, lebte Rosa Luxemburg heute noch, sie stünde bestimmt in unseren Reihen..." „Bravo! Sehr richtig!"
„Die Kommunisten aber treiben mit ihr Leichenschändung. Also darum! Auf an die Wahlurne! Abrechnung mit den Hetzern! Abrechnung mit jenen Kanaillen der Arbeiterschaft, den kommunistischen Berufsrevolutionären! Nieder mit der kommunistischen Bewegung, nieder mit den Kommunisten, dieser reaktionären Masse!... Es lebe... "
Und wieder dröhnte der Saal von dem dreimaligen „Hoch!"
Langsam und schleppend wurde jetzt die letzte Strophe der Internationale gesungen.
Wie ein Trauermarsch.
„Diese Welt muss unser sein!"
Ja, so ist es. Aber wer glaubte noch daran!?
Wie ein muskelloser, schlaffer, erschöpfter Körper: so war dieser Gesang. Tausend Münder schnappten automatisch auf und zu... Kein Schwung, keine Kraft. Es zog nicht durch...

Erst wenn wir sie vertrieben haben —
Dann scheint die Sonn ohn Unterlass...

Auch viele kannten den Text nicht...
Aber ein Proletariermädchen sang mit, es war klein und schmal, es hustete oft dazwischen, die Haut war durchsichtig, die Augen groß aufgerissen: es sang mit einer hohen schönen Stimme, diese Stimme schwang sich im Gesang hell empor aus Elend, Lebensnot und Alltagseinerlei, diese Stimme war wie klares Eiswasser: die Hände ballten sich, schneller sang sie die Strophen wie die andern, aber sie wurde auch immer wieder unwiderstehlich in den zähen, trüben, kleberigen Strom des Massengesanges zurückgerissen...
Die Versammlung war zu Ende.
Polizeimannschaften mit umgehängtem Karabiner patrouillierten.
Das Wetter war umgeschlagen. Das Nebeldickicht verdampft. Es wehte ein scharfer Wind... Die Nacht war eisig.
Mit einigen Kollegen machte sich Max zu Fuß auf den Heimweg. —

 

10

Lange Autoreihen vor den Hotels: betresste Diener öffneten, die Hand an der Mütze, den Verschlag. Damen in Pelzmänteln, Herren in hochgeschlossenen schwarzen Mänteln, den Zylinder auf, dahinschreitend, beinahe akkurat so wie die Göttergestalten aus dem Altertum. Oder wie die Ritter meinetwegen... Läden: aus denen wunderbar lackierte Autokarosserien hervorleuchteten... Und wirklich schöne Frauen waren das
vorhin, radikal mit den Augen einen zerschmeißen konnten die; duftiges Fleisch, ohne Fehl und Makel, irdische Göttinnen, gelenkig und geschmeidig. Wie sicher sie sich bewegten! Man musste schon genau hinhören, wenn man ihre Sprache verstehen wollte. Gleichnisse, Tonfall: alles war anders.
„Während unsereinem zu Hause die Frauen vor lauter Haushaltungsarbeit und Nahrungssorgen wurmstichig werden."
An den drei von der Versammlung heimkehrenden Proleten glitt das alles vorüber, wie eine unwirkliche Erscheinung.
Das war wie das „Jenseits".
Einmal stieß der Metalldreher Lange den Max Herse in die Seite, man sprach aber dazu kein Wort: eine Gruppe von übergeschminkten Kokotten zwitscherte an einer Straßenecke herum, stürzte sich auf einen dicklichen angetrunkenen Herrn, der leicht schlingernd seines Weges daherzog: der dickliche Herr stoppte auch, nicht ohne Mühe, gestikulierte eifrig, nickte am Ende der Unterhandlung jovial und verschwand auch schon in der Nebenstraße, auf der einen Seite eingehakt von einer Spindeldürren, auf der anderen von einer Fetten.
„Was so ein Späßchen bloß wieder mal kosten mag!"
„Da schau nur mal an: so ein vollgefressenes Schweinchen das... Na, dem gehört auch von seiner Alten der Buckel voll..."
Die Proleten lachten nur dazu. Schüttelten die Köpfe.
„Nein, Wilhelm, wenn ich seh, wie die im Betrieb arbeiten! So eine Pfuscherei... Ich sag dir... Lass mich aus damit..."
„Rin in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln...
und das nennen sie dann Arbeit im Konsum, Gewerkschaftsarbeit... Ist schon richtig: Fehler werden alleweil gemacht, Fehler müssen sogar gemacht werden, nur einer, der nichts tut, macht keine, aber absolut sich nun darauf zu versteifen, aus den Fehlern ausgerechnet nichts zu lernen..."
Der einzige von den dreien, der eben noch etwas für die Kommunisten übrig hatte, war Lange, Lange Wilhelm. Er war in einem Großbetrieb Metalldreher. Der Kollege Stilling von der AEG und Herse Max drangen nun auf ihren Arbeitskollegen Lange energischer ein.
„Beim Streik bei der Turbine haben wir es wieder gesehen. Schön hübsch zuwarten, bis alles von selbst losgeht... Dann sich hinten anhängen und das große Maul haben, aber nur, nur nichts organisieren... was kommt's denn auf drei oder vier Pfennig mehr Lohn an, sagen sich die vornehmen Herrschaften... und doch kommt's darauf an, sag ich, der hat auch für große Kämpfe nicht das Vertrauen der Arbeiter, der nicht ihre kleinen und kleinsten Alltagsschmerzen mit ihnen teilt... Auf ein mehr oder minder gutes Klosett kommt's an, und wer das nicht begreift... Eine richtige Schwanzpolitik ist das... Na, ihr werdet euch noch gewaltig die Finger verbrennen..."
„Und damals Wilhelm, wie war's denn im Oktober!... Ich geb dir die Hand darauf, ich hab gewartet, dass es endlich losgeht. Kaum heimgehn hab ich noch können, immer war ich wie auf dem Sprung, und dann... so in den Dreck gekrochen... Pfui Teufel..."
Die beiden überschütteten Wilhelm mit einem Trommelfeuer von Vorwürfen.
„Mag sein. Mag alles sein. Wir, wir vor allem in den Betrieben, müssen eben jetzt diese Fehler wieder
herauswirtschaften... Aber, wenn man so wie ihr auf der Seite steht... Und seht da: siebentausend. Hunderte von Jahren Zuchthaus und Gefängnis sind es, Kollegen. Und fünfzehntausend haben sie allein in Deutschland unter die Erde geschossen. Und von Rechts wegen müsstet ihr auch die Kriegsverluste noch dazuzählen: dreizehn Millionen insgesamt gibt das... Und diese Proleten, Kollegen, haben doch mit bestem Wissen, mit bestem Glauben, voll und ganz für uns gekämpft. Das könnt ihr doch, trotz alldem, nicht ableugnen... Ist doch unser Blut!..."
„Mag sein. Die Führer sind schuld daran. Die haben sie hereingebracht. Die sind allesamt durch die Bank faul... Moskau... "
„Nein, Kollegen, daran liegt's nicht. Daran liegt's, dass wir bisher noch keine richtige Partei gehabt haben. Die müssen wir uns erst schaffen. Ohne Partei keine Führer... So ist's. Und die SPD ist eine bürgerliche Partei... Wir brauchen jetzt eine wirkliche Arbeiterpartei. Das ist keine geringe Aufgabe... "
Der Kollege Lange wurde sich eigentlich erst, während er sprach, selbst klar darüber, was er jetzt vorbrachte.
„Gut. Mag vieles davon stimmen, was ihr angeführt habt, du, Herse, und du, Stilling. Aber auf das Ganze kommt es an, und da, das weiß ich, haben wir wohl recht..."
„Na, und stimmt das oder nicht, dass ihr Kommunisten auch immer dort eigene Kandidaten aufstellt, wo ihr gar keine Aussicht auf einen Wahlerfolg habt. Dadurch schwächt ihr nur die Arbeiterstimmen und leistet der Reaktion Vorschub. Wie heute Abend auch richtig der Redner auseinandergesetzt hat..."
Bin schöner politischer Schmierölfabrikant das... Da erteilt euch aber Karl Marx eine ordentliche Abfuhr. Bei dem heißt es nämlich klipp und klar: ,Selbst da, wo gar keine Aussicht zu ihrer Durchführung vorhanden ist, müssen die Arbeiter ihre eigenen Kandidaten aufstellen, um ihre Selbständigkeit zu bewahren, ihre Kräfte zu zählen, ihre revolutionäre Stellung und Parteistandpunkte vor die Öffentlichkeit zu bringen. Sie dürfen sich hierbei nicht durch die Redensarten der Demokraten bestechen lassen, wie zum Beispiel, dadurch spalte man die Demokratische Partei und gebe der Reaktion die Möglichkeit zum Siege. Bei allen diesen Phrasen kommt es schließlich darauf hinaus, dass das Proletariat geprellt werden soll. Die Fortschritte, die die proletarische Partei durch ein solches unabhängiges Auftreten machen muss, sind unendlich wichtiger als der Nachteil, den die Gegenwart einiger Reaktionäre in der Vertretung erzeugen könnte... So, da habt ihr's, schwarz auf weiß, wie damals, so heute..."

 

11

Aber die Gegner Langes gaben sich damit nicht zufrieden. Nun fuhren sie, wenigstens ihrer Meinung nach, ein besonders schweres Geschütz auf.
„Und Bazillen, Cholerabazillen, Giftgase und Fälscherzentralen... So lies doch die Zeitung!... Auch eine deutsche Tscheka gibt es und Terrorgruppen... Ich will nichts zu tun haben mit diesen Bombenwerfern und Gurgelabschneidern... Jeder ehrliche Prolet... Ich meine nur: Pfui Teufel..."
„Wir haben doch das denkbar größte Interesse daran,
dass der Kapitalismus sich entwickelt. Und solange außerdem noch zwei Drittel der Bevölkerung für den Kapitalismus stimmen... Nein, Wilhelm, so eine Putschtaktik mache auch ich meinerseits nicht mit... Und kannst du vielleicht bestreiten, dass gerade die Kommunisten es sind, die am meisten unserem Reichsbanner zu schaffen machen. Da, wie war's denn neulich im Sportpalast. Glaubt ihr denn im Ernst: Radau, Zwischenrufe, Gummiknüppel und Schlagringe sind ein ausreichendes Beweismittel. Gerade das Gegenteil erreicht ihr! Das müsst ihr schon anders anfangen!... Wie wollt ihr das alles vom Arbeiterstandpunkt, vom Standpunkt der proletarischen Revolution aus rechtfertigen. Aber Befehl ist eben Befehl. Und Moskau ist für euch schon der liebe rote Gott. Ja, wenn der Rubel rollt, so war es schon immer in der Weltgeschichte, und wo der hinfällt, da wächst keine Vernunft mehr. Heute ist die Dritte Internationale nichts weiter mehr als ein Instrument der russischen Außenpolitik... Mit Arbeiterinteressen hat das verflucht wenig zu tun... Und Reichsbanner oder Stahlhelm, was ist da das kleinere Übel...? Außerdem, so schlimm ist es ja nun, Gott sei Dank, mit dem Kapitalismus doch nicht. Wer arbeiten will und etwas kann, etwas kann vor allem, der bekommt auch Arbeit und hat zu essen. Aber schau dir nur einmal im Betrieb die Herren Genossen Kommunisten-Kollegen an: verstehn die vielleicht was vom Handwerk!?... Bengels, freche Bengels sind sie, die große Schnauze haben sie, können sie vielleicht auf sachliche Einwände etwas wirklich Ernstzunehmendes erwidern... zurückgeblieben und stehngeblieben mit ihren Anschauungen sind sie, weiter nichts... Hie und da, das gebe ich gern zu, ist auch so ein Ehrlicher, so ein Fanatiker darunter... So verbohrt, so verdreht... Ich sage mir: man muss sich halt durchboxen... Leben und leben lassen... Wird schon werden. Und die Auswüchse des Kapitalismus, die muss man bekämpfen. Habe nichts dagegen, wenn man die Wucherer und Schieber, und mögen sie Minister und Kaiser und Könige und weiß Gott wie heißen, dass man die vor das Gericht stellt. Gerechtigkeit muss sein. Und die allzu große Ungleichheit zwischen Löhnen und Profit, die allerdings sollte auch beseitigt werden. Und wenn wir erst einmal die Mehrheit im Reichstag haben, dann wirst du sehen: wie ein Hagelwetter prasseln die Steuern auf den Rücken der Besitzenden nieder... Du hast es doch heute Abend selbst gehört..."
„Illusionen! Illusionen! Merkwürdig, wie ein Prolet sich heute noch solche Illusionen machen kann... Ja, was ein jeder sich wünscht, daran glaubt er... So arbeitet die SPD... Es ist wirklich zum Verzweifeln. Zum Tieftraurigwerden..."
Wilhelm Lange pfiff leise vor sich hin.
„Ruhe und Ordnung!"
Auch der Kollege Stilling von der AEG war der gleichen Ansicht wie Herse. „Wir brauchen einen Linksblock", meinte der, „mit Einschluss der Kommunisten meinetwegen, wenn, ja wenn sie positive Arbeit, Wiederaufbauarbeit leisten wollen. So etwas wie in England oder in Frankreich. Da sieh dir nur einmal das Leben eines Arbeiters in England an! In Amerika. Hast du nichts von Ford gehört. Es gibt eben zweierlei Kapitalisten. Solche und solche... Jeder hat da bald schon sein eigenes Auto. Ganz bestimmt, so wird es bald auch noch bei uns kommen... Und ich sehe gar nicht ein, warum wir uns nicht friedlich weiterentwickeln sollen. Die Kapitalisten haben gar kein Interesse mehr am Kriege.
Ein viel zu großes Risiko. Viel zuviel Angst vor einer Niederlage, die immer mit Revolutionsgefahr verbunden ist... Für den Kommunismus aber sind wir noch nicht im entferntesten reif... Hast du denn keine Augen und Ohren, Wilhelm, und siehst und hörst nichts in den Betrieben!? Diese Schweinereien! Diese Schmierereien! Wie der eine gegen den andern stänkert! Denunziert! Den Lohn drückt! Sich zu Überstunden drängt! Um den Meister herumschwänzelt! Streik bricht! Da ist es mit dem Klassenbewusstsein nicht weit her... Und die Kommunisten, sage ich, die haben, sage ich, durch ihr Maulaufreißertum ein für allemal abgewirtschaftet. Revolutionsgewäsch, überradikales Geschwätz, weiter nichts. Ich meine halt schon, auf das eine kommt es jetzt an — Frieden auf Erden... "
Endlich kam auch der Kommunist wieder zu Wort.
„Schau, Max, neulich bei dem Grubenunglück, da hast du ganz anders gesprochen. Da bist auch du aus deiner SPD-Haut gefahren. Und heut!?... Es ist viel zu viel von Frieden die Rede, als dass es wahr sein könnte. Glaub mir's. Und haben wir nicht eigentlich noch immer Krieg: in Indien, in Ägypten, in China, bei den Türken, bei den Rifkabylen... Bei uns selbst: ein trockener Krieg, wenn du willst... Jeder Tag bringt doch neue Verluste... Erwerbslose, Verhungernde, solche, denen die tödlichen Krankheiten direkt aufgezwungen werden... Da war ich neulich dabei bei einer Armenkommission und habe einige Wohnungen besucht... Na, sage ich dir: oft neun, zwölf Menschen in einem Raum, in einem Stalloch, und das war längst noch nicht das Schlimmste... Hundert Wohnungen gehören da einem, der vielleicht in Czernowitz sitzt. Heute ist der Besitzer, morgen der... So einer wechselt die Häuser wie die Wäsche. Reine Spekulationsobjekte sind solche Wohnhäuser... Dabei verfaulen sie, verfallen sie... Wer kümmert sich um sie. Der Staat vielleicht!? Na, der hat andere Sorgen... Die Bettstellen waren halb durch die verfaulten Bodenbretter in den Keller heruntergebrochen, ein Gestank darin... nein, so was kann man nicht schildern... Ich sage dir, so eine Wohnung ist weiter nichts als ein langsam sich vollstreckender Lebensmord... Und außerdem, sag ich euch, schaut euch nur einmal die Kriegsrüstungen an, das ist jetzt nur eine Atempause, und alles spricht dafür, dass es bald wieder losgeht..."
„Nachtigall, ick hör dir tapsen... Das ja eben ist's, was ihr braucht. Natürlich! Natürlich! Aufstieg und Gesundung unseres wirtschaftlichen und politischen Lebens dürft ihr ja nicht wahrhaben wollen. Ihr müsst im trüben fischen. Wo reine helle Luft ist, da ist keine Atmosphäre für euch, da ist für euch nichts herauszuholen... Je schlimmer aber die Verelendung ist, je grö­ßere kriegerische Konflikte ausbrechen, desto mehr Wasser, glaubt ihr, bekommt ihr auf eure Mühle... Ich könnte mir denken, dass ihr von diesem Standpunkt aus, wenn Ebert mal tot ist, auch dem Hindenburg noch zur Präsidentschaft verhelft... Doch wartet nur!... Vielleicht läuft der Hase doch anders... "
„Ach, lass mich aus jetzt mit der leidigen Politik, dar­über werden wir uns doch nicht einig werden, warten wir die Zeit ab, aber so, wie es heute ist, sind die Kommunisten nichts weiter als ein Agentenklub der russischen Außenpolitik. Lenin, das war schon ein Mann, Trotzki, meinetwegen auch, aber alle anderen, diese Berufsfeldwebel der Revolution, sind von Übel... Da schaut euch nur die deutschen Kommunisten an!...
Reaktionäre Masse... Jüngelchen in kurzen Hosen, noch nicht trocken hinter den Ohren, Novembersozialisten, Dienstzeit: insgesamt drei Jahre Arbeiterbewegung höchstens. Aber das Maul um so voller mit Phrasen, mit revolutionären Scheinparolen, und wenn es mal losgeht, ebenso die Hosen voll... Nur ein Lastkraftwagen mit Schupo... und, heidi, heida, verschwunden schon sind sie... Hast du nicht neulich gesehn, wie am Alexanderplatz von zehn Schupos eine ganze Demonstration dieser Lausbuben auseinandergesäbelt wurde... Dieses Grünzeug. Recht geschieht ihm... Immer mal feste druff... Kein ehrlicher deutscher Prolet..."
Wilhelm haute jetzt nur noch die Sätze hin: „Aber die sozialdemokratischen Führer haben die Arbeiterschaft entwaffnet, wehrlos gemacht, verraten, dem Klassenfeind ausgeliefert... Das haben sie... Und fahnenflüchtig seid ihr allesamt geworden. Rot aber habt ihr mit schwarzrotschwefelgelb vertauscht. Fahnenflüchtige Mostrichbrüder!... Aber es hat ja doch keinen Sinn... Wir Kommunisten waren die einzigen, die gegen die Monarchisten wirklich mit der Waffe in der Hand gekämpft haben: siehe Kapp-Putsch... Und das werden wir auch weiterhin tun... Jetzt aber Schluss damit... "

In der Debatte setzte es jetzt wieder Schlag auf Schlag. Der Genosse Wilhelm stand in einem richtigen Kreuzfeuer...
„Kindertrompeten im Reichstag. Höllenmaschinen in Kathedralen. Explosivstoffe. Vor nichts Respekt..."
„Wir haben eben eine andere Auffassung vom Staat, wie ihr. — Wir, wir Proleten, wir sind die wirklichen Legitimen, wenn du so willst... Und was die Gewinnung der Mehrheit innerhalb des kapitalistischen Systems betrifft, so ist das auch so ein utopischer Unfug. Der Mehrheitsgewinnung steht immer der mächtige Propagandaapparat der Bourgeoisie gegenüber, schau dir nur jetzt einmal den Rundfunk an, zu was allem der herhalten muss — und außerdem durch die Verschiedenartigkeit des Arbeitsplatzes, den jeder im Produktionsprozess einnimmt... Während des Kampfes erst, im Feuer des bewaffneten Aufstandes wird die Mehrheit. Ihr solltet endlich euch über den statistischen Unsinn klar geworden sein..."
„Schon gut. Aber arbeiten, arbeiten, die Revolution wirklich vorbereiten, organisieren: das könnt ihr nicht... Nur Terrorgruppen, und niederbomben... "
„Mag richtig sein, was das erste betrifft. Darin müssen wir gewaltig viel noch zulernen. Warum sollen wir eine vernünftige Kritik nicht ertragen. Und das ist das erste Gescheite, was ihr gesagt habt... Was die Spitzel anbetrifft, so solltet ihr euch als Proleten schämen, so einen ausgemachten bürgerlichen Schwindel nachzuschwätzen... Habt es ja selbst neulich erlebt: wie diese gekauften Subjekte provozieren... um dann uns Kommunisten etwas anzuhängen... Ja immer, das sind wir schon gewohnt, sind es die Kommunisten. Die sind an allem schuld... Vielleicht auch die Sonne, das rote Biest!?... Die Bourgeoisie verzapft schon einen Mist, wäre ja alles zum Lachen, wenn die Arbeiterschaft sich doch nicht immer wieder von ihr ein X für U vormachen ließe. So ist's zum Heulen... "
Wilhelm verschnaufte sich.
Der eine oder der andere brummte noch etwas.
„Nichts für ungut", knurrte der AEG-Kollege.
„'s ist schon so, die Hemdärmel möchte man sich
hochkrempeln, wenn man mit euch diskutiert", gab Wilhelm zurück. Schwieg.
Nun war wirklich einige Minuten lang Kampfpause. —

 

12

Das Gespräch brach ab.
Schweigend schritten die drei nebeneinander her. So war kein Zusammenkommen. In Moabit begegneten sie auf einer Brücke einer Klebekolonne.
Vom anderen Ufer blinkte, hell erleuchtet, die Meierei Bolle herüber. Der Fabrikschlot rauchte. Nachtschicht. Dunkle Schleppkähne lagerten unten am Spreeufer.

Die drei betrachteten schweigend ein eben angeklebtes Plakat. Ein Gefangener, der mit ausgemergelten Fingern in die Eisenstäbe eines Gefängnisgitters hineingreift. Blutrot war die ganze Gestalt. Das verzerrte Gesicht: eine irrsinnige Grimasse. Darunter stand nichts als die Zahl: 7000.
Max erinnerte sich einen Augenblick an eine Gefängnisbeschreibung, die er neulich irgendwo gelesen hatte. Auch im Polizeigefängnis am Alexanderplatz sollen unglaubliche Zustände herrschen. Dass Gefangene auch noch geschlagen werden können, Dunkelarrest usw. Das wahnwitzige Antreiber- und Auspressersystem, das in den Gefängnissen gang und gäbe ist: das Papiertütenkleben, Bindfadenfabrizieren, wodurch Tausende von Heimarbeitern brotlos werden. Der Hundelohn, der den Gefangenen dafür bezahlt wird. Das Vorenthalten aller anderen Lektüre, außer der geistlichen. Das Untersuchungsverfahren, unter Anwendung von Torturen — wobei ohne Verurteilung schon drei Viertel des Menschen vor die Hunde geht. Während es im überzivilisierten Amerika schon Gefängnisse gibt, als Rundbau aufgeführt, von innen, von der Mitte aus alle Zellen von einem Beobachtungsturm einzusehen, der zum Schutz gegen Revolten mit einem Maschinengewehr bestückt ist... Auch Gas soll schon in Gefängnissen gegen Meuterer angewendet worden sein, wenigstens las man so was zwischen den Zeilen neulich in einem Bericht. Wie Geständnisse von politischen Angeklagten erpresst werden mit Hilfe von Daumenschrauben, Hundepeitschen, Misshandlungen mit glühenden Eisenstäben, Schlägen auf die Sohlen... dass gegen zwei Angeklagte erst neulich das Verfahren eingestellt werden musste, weil der eine während der Untersuchungshaft wahnsinnig wurde und der andere Selbstmord verübte... Und dann erst, wie hingerichtet wird... Das übersteigt schon jede Vorstellung... Im Sowjetparadies aber soll es, den bürgerlichen Berichten nach, gar am schlimmsten sein... Die Kommunisten also, die haben es gerade nötig... Ein dummer Schwindel ist das...
Ein anderes Plakat: sehr hoch angeklebt: eine Riesengestalt, die mit einer Keule ein spinnenartiges Hakenkreuzgespenst erschlägt. Darunter stand: „Proleten! Tretet ein in den Roten Frontkämpferbund!"
„Gewalt, Gewalt, nichts als Gewalt. Und ein kranker Körper, wie das deutsche Volk ihn darstellt, braucht nichts dringender als Erholung...!"
Wilhelm Lange rang noch einmal nach Luft. „Nun zum Abschied, das will ich euch beiden noch sagen, ich hab mir's überlegt. Das was ihr von Haarspaltereien bei uns sagt, ist nicht richtig, theoretische Klarheit muss sein. Wenn die nicht ist, dann kommt bei Aktionen auch nichts Rechtes heraus. Und da muss allerdings oft um einen I-Punkt gestritten werden ... Was ihr über die Arbeiterschaft Englands sagt, so müsst ihr bedenken, dass die an den Extraprofiten, die die Kapitalisten aus den Kolonien herausschlagen, Anteil hat... Also, dass es dem englischen Arbeiter besser geht, dafür schuften eben Millionen indischer Kulis... Dann: Krieg und Kapitalismus gehören zusammen. So einheitlich, wie ihr euch das vorstellt, entwickelt sich die Wirtschaft eben nicht. Sondern: in Widersprüchen, unter Krisen, Rissen und Sprüngen... Was unsere kommunistische Arbeit in den Betrieben anbetrifft: richtig ist, wir haben noch nicht gelernt, ordentlich zu arbeiten... Woher das kommt, auch das will ich euch sagen: wir haben unsere Parteiarbeit in den vergangenen Jahren eben, der ganzen politisch-ökonomischen Situation entsprechend, auf den Endkampf eingestellt. Gut, nun müssen wir ummanövrieren ... Auch wir lehnen Reformen nicht ab, aber die Grundlage des richtigen Verhältnisses ist folgende: Reformen sind Nebenprodukte des revolutionären Klassenkampfs... Die Aufgabe einer wahrhaft revolutionären Partei besteht nicht darin, den unmöglichen Verzicht auf jegliche Kompromisse zu proklamieren, sondern darin, durch alle Kompromisse hindurch — insofern sie unvermeidlich sind — die Treue unserer Prinzipien, unserer Klasse, unserer revolutionären Aufgabe, unserer Sache der Vorbereitung der Revolution und Vorbereitung der Volksmassen zum Sieg der Revolution durchzuführen... So gibt es auch Kompromisse und Kompromisse. Wenn du auf einer Landstraße von einer Räuberbande überfallen wirst und du dich nur retten kannst, wenn du ihnen dein Geld gibst, so wirst du das tun, um dich möglichst schleunigst aus dem Staube zu machen. Das ist ein Kompromiss. Aber sich der Räuberbande anzuschließen, um gemeinsam andere zu überfallen: das ist auch ein Kompromiss, und zwar ein solches, wie es die Sozialdemokraten machen. Und nun weiter: nur die Auswüchse des Kapitalismus bekämpfen, bedeutet die Illusion in den werktätigen Massen nähren, als gäbe es einen gesunden Kapitalismus, was grundfalsch ist... Zum Schluss, Kollegen: ich sage, diese Republik ist ein Treibhaus für die Kapitalisten und für die Reaktionäre und ein Zuchthaus für die Arbeiter... Und so sieht die SPD aus: die wie das Fegefeuer heute das Wörtchen Klassenkampf scheut, ihn praktisch längst hat fallenlassen, und die dafür immer vom Gesamtwohl und vom Vaterland, das der Arbeiter bekanntlich nicht hat, schwafelt: die SPD ist ihrer Politik nach, nicht den Massen nach, die ihr angehören, eine bürgerliche Partei... Lebt wohl!"
Die drei trennten sich.
Max war schon um die Ecke zu Haus. —

 

13

Nestbaubetrieb — reaktionäre Masse — fahnenflüchtig! So kollerte es noch lang in Maxens Schädel herum.
Fahnenflüchtig!?
Und diese Frage nahm plötzlich Gestalt an, wurde wie zu einem Menschen, der lang und tief in ihn hineinschaute.
Dieser Mensch war seinesgleichen. Blut von seinem Blut. Ganz seiner Art.
Hieß auch Max Herse. Trat jetzt vor ihn hin wie sein leibhaftiger Steckbrief.
Dieser Max Herse fragte ihn: „Max, stimmt das: fahnenflüchtig!? Ist da nicht doch vielleicht etwas wahr daran!?... Wie war das nur neulich bei der Grubenkatastrophe? Erinnerst du dich nicht mehr, was du unter dem unmittelbaren Eindruck dieses Unglücks alles gesagt hast!?... Versprochen hast eigentlich?!... Fahnenflüchtig... Desertiert aus der Klassenkampfreihe... Verlassen das proletarische Banner!?... Das Banner, für das dein Vater gekämpft und gelitten hat, für das deine Mutter sich so manchen Bissen vom Munde abgespart hat!? Die rote wehende Hoffnung deiner Millionen Arbeitsbrüder! Der Stolz deiner Arbeiterinnen-Schwestern, für das sie in manchen Nächten ihre Finger sich wund genäht haben... Max Herse! Willst du nicht wieder ehrlich, proletarisch ehrlich werden!?... Stimmt das nicht, was der Wilhelm sagte: Ja, für euch bleibt's halt ewig beim alten, ihr wisst schon, was ich meine: Kaisergeburtstagsfeier und Erster Mai...'"
„Wieder ehrlich, proletarisch ehrlich werden...!?" Max Herse sprach, im Halbtraum schon, diese Frage nach. Und mit dieser ungelösten Frage auf den Lippen schlief er ein. —

 

14

Man hörte die Atemzüge der schlafenden Menschen durch die Wände hindurch.
Flackernd ging der Atem, oben und unten und nebenan, von Röcheln, Seufzern und holprigen Hustenanfällen unterbrochen.
Viele Uhren tickten immer dazwischen.
Wieder warf sich einer im Bett, einer schlich den Gang entlang, jetzt tastete es nach einer Klinke; eine Tür knarrte.
Schritte kamen von der Straße hoch, fern, dann nah, wie tropfenweis. Stimmen, das Tappen eines Betrunkenen, Autohupen; Klingeln, die plötzlich schrillten. Und man konnte nur schwer unterscheiden zwischen dem ewigen selbsttätigen Knirschen der morschen Diele und dem Menschenstöhnen und Menschenächzen.
Katzen kreischten. Hunde winselten.
Auf ein Fenster drückte der Wind. Ein Schrank krachte.
Traum-Schreie...
Ein Mensch hatte seinen Anfall. Das Schaumweiß brodelte ihm um den Mund. Da zündete jemand eine Kerze an, warf sich über ihn und hielt ihn im Bett fest.
Monoton lallte jetzt einer vor sich hin. Einer räusperte sich...
Das Wasser im Kanal gluckste. Fernzüge pfiffen. Die Räder stießen auf den Schienen einen dumpfen rauschenden Takt...
In einem Kübel plätscherte es. Einer wusch sich. Die Vorposten des bei Tagesgrauen aufmarschierenden Arbeiterheers standen schon wieder auf und machten sich kampfbereit. Auch die Milchfuhrwerke schepperten schon wieder in der Straße. An den Litfasssäulen arbeiteten in weißen Kitteln die Plakatankleber...
Zähne knirschten, Fäuste krampften sich, Knie zogen sich an, Hände glitten über Decken und strichen sie glatt.
Wie ein Mensch lebt —
Wie ein Mensch kämpft —
Wie ein Mensch schläft--
Da lagen sie auf den Bäuchen, auf dem Rücken, auf
der Seite, in allen Stellungen, allein und zu zweit, ausgespreizt und zusammengedrückt, nackt, namenlos. In allen Stellungen aber wie Plastiken aus jener Galerie, die genannt ist: „Die Verdammnis des Menschendaseins"...

Andere wieder banden sich die Nacht wie eine Maske vor.
Rudelweis zogen Menschen auf Raub. Andere auf Menschenjagd.
Einer stößt jetzt vielleicht dem anderen das Messer in die Brust. Einer knüpft sich jetzt den Strick zurecht, seift ihn irrsinnig-grinsend ein. Nebenan hört man jetzt ein Geräusch, dumpf, wie das Fallen eines Gegenstandes: er hat den Stuhl unter seinen Füßen weggezogen. Zwei, drei Schlingerbewegungen macht der Körper noch: dehnt sich, ein Muskelspiel zuckt, ein Speichelfaden sabbert lang aus dem Mundwinkel... Schluss ...
Kauerten da nicht welche in Knäueln, drei, vier Leiber in einem Bett; fünf auf dem Fußboden; lagen sie nicht da, als ob sie sitzen würden, schliefen nicht welche an den Straßenecken im Stehn, und was schnarcht hier oder lehnt sich mit weit aufgerissenen Augen des Nachts in Parkanlagen auf den Bänken!?...

Das höllische Tagestempo zitterte noch in der auf Leerlauf abgestellten Menschenmaschine nach. Die Gesichter von Lebensangstschweiß und Todesschweiß überzogen wie von einem geheimnisvollen Firnis.
Verstreut wie auf einem unendlichen Schlachtfeld reihenweis Gemordete. —

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