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Johannes Robert Becher - (CHCl=CH)3As (Levisite)  oder Der einzig gerechte Krieg (1925)
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Zweites Kapitel

DIE ERDE PLATZT!

Schlagwetterkatastrophe auf der Zeche „Königin Luise". Die „Majestät des Todes". — Was tut Not!? „Lieber im Feuer der Revolution verbrennen, als... "

1

Die Menschen waren nicht mehr in den Häusern zu halten. Es trieb sie heraus auf die Straße. Sie hetzten zunächst einzeln, ein jeder für sich, dann in Gruppen dahin, Hunderte ballten sich an: in einer Masse von Tausenden schon schwemmte es die Straße hinunter.
Mit eckig aus den Schultern geschleuderten Armen. Manche halbnackt, nur mit einem Lumpen um.
Sie kletterten über Zäune. Gitter und Schranken wurden niedergetreten. Dazu läuteten die Glocken auf allen Türmen der Stadt.
Keinen Betrunkenen sah man mehr. Keine Kneipe lärmte mehr.
Maschinen stampften in den Kesselhäusern, von keiner Menschenhand mehr bedient, in einem unregelmäßigen Rhythmus weiter.
Die Straßenbahnen hatten ihren Betrieb eingestellt.
Überall standen auf den Gleisen wie leblose Klötze die verlassenen Wagen. —

Es war gegen fünf Uhr nachmittags, als ein lang gezogener Donner unter der Erde hinrollte. Über der Erde war es wie ein elektrischer Stoß, der in alle Winkel, auch in die kleinsten Häuserwinkel der Stadt, hineinzuckte. Die Telefone schrillten noch einmal auf. Die Telegrafenapparate knatterten drauflos... Und es warf sich von Mund zu Mund: eine unheimliche Erschütterung: sie sprang von Nerv zu Nerv über, jedes Menschenherz krampfte sich zusammen, dann stieß es wieder um so gewaltiger einen Strom von Blut aus. Abwechselnd färbten sich die Wangen der Menschen kreideweiß, schwarzrot... Automatisch schnappten Münder auf und zu. Wie im Starrkrampf blieben sie weit offen... Der Boden schien plötzlich unter den Füßen weggezogen. Man tappte wie im Finstern, trotzdem es noch helllichter Tag war. Wie in einem Hohlraum. Man tastete sich wie im Leeren... Ja, wie ein riesiges unsichtbares Fragezeichen stand es plötzlich mitten im Raum. Das ganze Leben, das Menschendasein selbst war in einem Sekundenaugenblick, mit einem jähen Ruck zu einer Frage geworden.

Die Läden waren im Nu geschlossen.
Niemand zeigte sich an den Fenstern.
In den Stadtteilen der Reichen kehrten die Autos schleunigst in die Garagen zurück. Auch dort, in den vornehmen Villenvierteln, war der Druck spürbar. Man sprach halblaut: „Was wird wohl daraus wieder werden?!"
Die Fabriksirenen heulten.
Rudel von Kindern krallten sich kreischend in die Röcke der Mütter fest, die, wie vom Irrsinn gehetzt, dahinfegten.
Auch die Polizeimannschaften, auf Lastkraftwagen heraneilend, vermochten diesem Menschensturm keinen Einhalt zu tun, Dazwischen klingelten die Löschfahrzeuge der städtischen Feuerwehr. Sanitätskolonnen sputeten vorüber.
Wahnwitzige schrille Schreie gellten jetzt über diese Flut fliegender Menschenhäupter hinweg.
Da rannten auch welche querfeldein. Einige stürzten. Andere packten sie wieder hoch. Ohne dass sie ihre zerschlagenen Beine bewegen mussten, trug der über die holperigen Trottoire sich dumpf dahinwälzende Menschenstrom unwiderstehlich sie mit vorwärts. —

Es war im Februar. Aber es war wie ein Frühlingstag.
Durch die Rauchschicht, die in dieser Gegend ewig in der Luft lagerte, waren Fetzen blauen Himmels sichtbar. Die Sonne dampfte, und spärliche Reste schmutzigen Grases fingen an den Böschungen, die die Schlackenhalden dort von der Straße abgrenzten, bereits dürftig zu grünen an.
Es roch nach Blut, Schweiß, Pulver.
Es roch nach verbranntem Fleisch. —

 

2

Von einem großen freien Platz aus, der mit russerstickten verkrüppelten Bäumchen umpflanzt war, tönt jetzt eine gewaltige Stimme herüber:
„So ist bereits festgestellt, dass riesige Kohlenstaubmengen vorhanden waren, die weder berieselt noch mit Gesteinsstaub unschädlich gemacht wurden... Die Koksablagerung nach der Explosion ist der sicherste Beweis... Auch die Ansammlung von Schlagwettern ist auf der ,Königin Luise' keine Seltenheit gewesen. Sehr oft haben wir vom Betriebsausschuss bei unseren Befahrungen Wetter festgestellt. Aber gerade darum, weil wir sehr oft die Verwaltung belästigten und dem Betriebsführer und Steiger meldeten, dass dort und dort Wetter stehn, sind wir an der Befahrung gehindert worden... Ja, seit Oktober vorigen Jahres hat man uns vom Betriebsausschuss am ordentlichen Befahren gehindert... Ihr alle spürt es ja am eigenen Leib — und an Hand der Förderzahlen können wir es auch leicht nachweisen —, bei uns hier herrscht das schlimmste Antreibersystem... Ja, so sieht in Wahrheit der Geist des Unternehmertums aus... Was dem Bergmann Not tut, dass der Bergarbeiter schließlich auch ein Mensch ist, seine Bedürfnisse, seine Sorgen, seine Nöte hat: das, das alles scheint man im Laufe der Zeit wieder ganz und gar vergessen zu haben. Wir, wir hausen hier unten in unseren Gruben wie in einer unterirdischen Leichenfabrik..."
Tausende von Kumpels standen dort, eng um den Redner gedrückt. Mit stieren Augen sogen sie sich fest im Boden ein. Tausende Fäuste waren wie zu einem Klumpen aus Stein geballt.
Es war ein großes Schluchzen. —

Von der Zechenverwaltung war strenge Anweisung gegeben worden, keinerlei Nachrichten über den Umfang des Unglücks sowie auch über die Zahl und die Namen der Toten den Draußenstehenden bekannt zu geben.
Die Menschenmassen stauten sich vor den Zechentoren zu einer Mauer.
Fest stand diese Menschenmauer. Schwankte vor. Neigte sich wieder elastisch vor der Polizeikette zurück.
Wie Brandung und Ebbe war das.
Wie Atemzüge. —

 

3

Vor einer halben Stunde war im Nordostfeld der Zeche „Königin Luise", Fach 7, die Schlagwetterexplosion erfolgt.
Zuerst: ein Riss. Ein gewaltiger Schnitt mitten durch die Luft... Das Trommelfell platzt, den Brustkasten quetscht es wie einen Schwamm aus... als zöge es einem die Lunge wie einen Schlauch durch den Hals herauf... Der Explosionsstoß: und die Bergarbeiter klatschten an die Wände. Mit zerbrochenen Gliedern, mit Gehirnerschütterungen, mit Schädelbrüchen kleben sie da, bereits unkenntlich entstellt... Zwanzig, oft dreißig Meter weit fliegen sie, manche nach oben, zappelnd: schwer wie ein Sack fallen sie wieder nieder... Und da rast auch schon die Explosionsflamme daher: verbrennt, verkohlt, stürzt sich von allen Seiten zugleich auf dich, reißt mit ihrem stechenden Feuer dir die Augen aus... Die wenigen noch Überlebenden fliehen, flüchten durch brennende Gänge; wie Feuerschlangen winden die sich; die Angst peitscht sie, die Todesangst sitzt wie ein Stachelhalsband fest an der Gurgel. Auf allen Vieren flieht man, krabbelt, macht Schwimmbewegungen. Stürzt über sich selbst im Dunkeln, das ununterbrochen giftigen Kohlenstaub regnet.
Gesteinhagel prasseln.
Ein schlagartiger Wind schlägt.
Ein eiserner Luftdruck. Ein unsichtbarer atomhafter
Riesenknebel...
Wirbel. Strudel. Böen. Flammenschüsse kreuzweis. — Und in diesen Felsenkellern wirkten zudem noch die
fliegenden Steinmassen wie Geschosse von höchster
Splitterwirkung.
Die Kolbengestänge der Lokomotiven und Wasserpumpen, Stahlhäute zerknüllte es leicht, als wären sie aus Konservenblech. Ganze Förderzüge schleudert es spielend vor sich hin und her. Hier wird ein frisch gebohrter Tunnel durch ein Bündel dort aufgestapelter Reserveschienen verstopft. Gebogen, geknickt; in allen Formen. Drahtgewirre hingen herum wie Spinnenweben... Und einem passiert vielleicht mitten im Todeskampf noch der Witz: „Das ist ja beinahe akkurat so, als hätte hier der Riese, Herr Breitbart, gehaust..."

Hier war ein Ausweg... Aber da ist der Stollen schon längst wieder zugemauert. Hier stehen metertiefe Tümpel. Dort prallt man mit anderen zusammen. Aus allen vier Richtungen nun toben sie kaminähnliche Steingänge hinauf, schluchtenartige Durchbrüche kollern sie sich wieder hinab... Auch hier, auch hier, auch hier kein Ausweg...
Und schon zieht das Gas heran, ganz sanft, ganz unmerklich, wie der heilige Geist, wie auf Taubenfüßen. Schwebt heran. Schmilzt heran... Ein Schluck: und alle Glieder sind behängt wie mit Blei. Ein inneres, unheimliches Gewicht. Sinken nach unten...
Es war ein Geräusch wie xs... xs... xsss...
Xs... xss... und immer xs... xsss ...
Hinter den Schläfenwänden trillerte es, tickte es...
Es zirpte, wisperte...
Und immer wieder das: xs... xsss...
Gäule: ein Beinpaar gespreizt, das andere steif angezogen: unwirklich, wie zerschlagenes hölzernes Spielzeug. Der Bauch wie ein Ballon aufgetrieben...
Förderwagen, mit Kohlenschutt beladen, schieben sich polternd noch abschüssige Strecken hinunter, irgendwo
im Dunkeln. Ein dumpfer Knall in der Ferne. Irgendwo stoßen sie jetzt auf.
Und nichts mehr. Kein Laut.
Nur immer wieder das xs... xsss...

Da findet das Aufräumungskommando nach Tagen, wenn auch die letzten Nachschwaden verzogen sind, noch gefüllte Kaffeeflaschen, Kreidezeichen an den Wänden: „Um elf Uhr nachts habe ich noch gelebt." — „Grüßt mir schön die Jule."
Der Riesenventilator surrt. Das Massengrab wird ordentlich durchgelüftet, und nach einer Woche vielleicht tut der gespenstische Erdrachen sich wieder auf, bereit zu neuen Opfern. —

 

4

Dick aber kleben jetzt die Gasschwaden noch unten.
Die Rettungsmannschaften kommen in den Förderkörben immer wieder betäubt nach oben. Eingekleidet wie Taucher. Die Gaskonzentration ist zu stark. Immer wieder versagen die Sauerstoffapparate.
Da erspäht die vieltausendäugige lebendige Menschenmauer durch die Gitter des Zechentores hindurch, wie einer auf der Treppe zum Verwaltungsgebäude mit der Schulter zuckt, den Kopf schüttelt...
Und die lebendige Menschenmauer schreit aus vielen tausend Mündern einen einzigen Schrei, Namen, Hunderte von Namen schreit sie, jede Frau schreit den Namen ihres Mannes, jeder Kumpel den Namen irgendeines Kameraden: „Lutz, Fritz, Adolf... wo bist du... habt ihr den Anton, den Karl gesehen... ist der Stieben noch unten... August, Josef Zarewski..."
Und die Frauen machen Bewegungen mit den Händen, als schaufelten sie; krümmen die Finger, als ob sie ihre Männer gewaltsam aus der Grube herauskratzen wollten.
Die Polizeikette schwankt. Reißt mittendurch — Und die lebendige Menschenmauer stößt sich in die Gitter des Zechentores hinein. —

Bälge.
Hautfetzen.
Von Armen und Beinen abgequetschte Rümpfe. Verkohlte Menschenköpfe, wie kugelähnliche Versteinerungen:
So lag es schon, ein wirres Durcheinander, auf den Höfen herum.
Die Lebenden stürzten sich mit einem schrillen Aufschrei auf diese Toten. Rissen, zerrten an ihnen herum. Wem gehörte dieses Haarbüschel?! Dieser Arm mit den Tätowierungen!? Dieser Ring mit dem Finger da!? Wer ist das mit dieser Narbe am Hals da?!...
Fackeln waren jetzt angebrannt.
Ein Haufen von Menschen: nach allen Seiten hin wendete man der Reihe nach so einen Menschenbrocken.
Und wie Baggermaschinen arbeiteten die Förderkörbe: neue Weinkrämpfe, neue Herzschmerzen, neue unermessliche Leiden, neue unselige Gewissheiten, immer neue Tote, Leichenfetzen und Leichenbrocken schöpften sie aus der Tiefe herauf. —
Eine Stunde später: und die Nachricht von der Grubenkatastrophe verbreitet sich, dreihundert Kilometer von der Unglücksstätte entfernt, in der Hauptstadt.
„Wie kam es zur Entzündung!?"
„Durch eine Lampe!? Durch einen Schuss!?"
„Ist der Sicherheitssprengstoff, der verwendet wird, auch wirklich ganz sicher!?"
„Hat der Schießmeister nicht einen Fehler begangen!? Und wie steht es mit der Ausbildung der Bergleute überhaupt!?"
„Funktionierten die Kohlensperren?! Und wenn nicht, was ist die tiefere Ursache?!"
„Über zwei bis drei Tote im Ruhrbergbau täglich, oft über siebenhundert Verletzte monatlich... Muss das so sein!?"
„Nein, nein, nein... Das verstehen Sie so nicht recht, Herr, um was es sich bei solchen Unglücksfällen eigentlich handelt... Das ist Schicksal. Alles ist bestimmt in Gottes unerforschlichem Rat... Wie der Weltkrieg ein Gericht Gottes ist, um die Übervölkerung zu beseitigen, so ist ein Grubenunglück eine Vorsehung Gottes, um den Kapitalismus zu vernichten. Gott nimmt den Proletarierfamilien den Ernährer, damit der Kapitalist Frauen und Kinder unterstützen muss. Dadurch zeigt Gott den Kapitalisten, dass er ihnen nicht gut gesinnt ist..."

 

5

Es war gegen zwölf Uhr nachts.
Die Arbeiterviertel horchten auf.
Ein kurzer Ruck auch dort. Eine Sekunde lang zögerte auch dort in jeder Brust der Herzschlag. Bis in die Fingerspitzen hinein floss die Nachricht als eiskalte Blutwelle. Lähmend.
Auch Max Herse sprang noch einmal aus dem Bett hoch und zog sich an, als der Kollege von nebenan, ein
Straßenbahner, der eben vom Dienst heimkam, bei ihm anklopfte.
„Du, Max, hast schon gehört!?" „?"
„Bis jetzt über einhundertzwanzig Tote ... "
„?"
„Schlagwetterexplosion. Grubenkatastrophe... Natürlich, sicher genau wie bei uns bei der Straßenbahn. Überall fehlt's, zu nichts ist Geld da, die Schachtanlagen waren sicher mangelhaft... Ist doch heutzutag die Arbeitskraft eines Proleten billiger, als neue technische Anlagen kosten. Das rentiert sich ja heutzutag nicht... Und das, das muss man sich merken, das sind doch noch obendrein die Herrschaften, die höchst ehrenwerten Herrschaften, sage ich, die Millionen, viele Millionen Ruhrkredite verschlungen haben. Unersättlich sind die. Der Krieg, die Revolution: nichts kann sie satt genug kriegen... Wenn wir Proleten ihnen nicht endlich das Maul stopfen..."
Und der Straßenbahnerkollege schlug auch schon mit der Faust auf den Tisch. „Wann, frage ich mich, Herrgottsdonnerwetter, werden wir endlich soweit sein, einig, einig, einig... Darauf, nur darauf kommt's noch an... Wir, wir, wir Proleten, verfluchte Proleten, die wir sind..."
Max Herse musste dem zustimmen.
Dann sprachen die beiden noch lange.
Woher und warum dieser Zwist in der Arbeiterschaft!? Dass die einzelnen Berufsverbände zu wenig, viel zu wenig zusammenarbeiten, ja oft sogar gegeneinander arbeiten. Dass zum Beispiel Arbeitslose und Arbeitende schon recht oft hart aneinander geraten sind. Dass der eine im Produktionsapparat eben den, der andere den Platz einnimmt. Daher auch die verschiedenen Interessen, die unterschiedliche Denkart... die Konflikte. Dass die meisten unter ihnen eben leider immer noch nicht weiter zu sehen vermögen als bis zu ihrer eigenen Nasenspitze... Ganz dumm, ganz eng gedacht ist das... Wie das ganze System rücksichtslos korrumpiert... Dass sie neidisch sind, Lohndrückereien usw. Wegen der kleinsten Differenzen oft gleich übereinander herfallen, wie Kampfhähne, zum Gaudium der „Dritten"... dass sie allesamt viel zu wenig die Gesamtinteressen der Arbeiterschaft im Auge behalten. Dass sie endlich auch kampfmüde geworden sind und immer noch natürlich viel, viel zu wenig opferbereit... Wie der Beruf sich auswirkt: dass einer, der acht Stunden und mehr noch hinter sich hat, halt eben einfach nicht mehr die Kraft hat, die Konzentrationsfähigkeit, nicht mehr genügend aufnahmefähig ist, halt ein ausgepumpter und beinahe zu nichts mehr brauchbarer Mensch ist... Da, da bleibt aber auch schon gar kein Überschuss an Menschenkraft mehr, im Gegenteil, jeder Tag bringt an Menschenkraft ein Defizit. Man muss sich schon verteufelt ernst ranhalten, um sich auch nur einigermaßen wieder herzustellen... Und dass das alles eben daran liegt, dass-
Na, dass die Arbeiterschaft eben heute beinahe schon nichts mehr zu sagen hat —
Dass sie alle Machtpositionen, die sie einstmals innegehabt hat, sich hat entwinden lassen —
Dass sie wehrlos, entwaffnet, vergewaltigt ist —
Führern anvertraut ist, die —
Und dass man sich unbedingt wieder aufraffen muss, zusammenschließen muss, wieder kämpfen muss — Kämpfen um das, was nur recht und billig ist —
Kämpfen um das, was jedem Menschen auf Grund der Tatsache seines Menschendaseins allein, auch schon von Natur wegen, zusteht —
Was die „Anderen" aber freiwillig nie und nimmer gewähren werden —
Dass man also kämpfen muss — um die Macht!...
Nicht mehr so gutgläubig, vertrauensselig, verzeihend sein wie vordem. Sondern: unerbittlich, nüchtern, das Ziel fest im Aug. Und alle die rücksichtslos aus den Reihen des kämpfenden Proletariats stoßend, die durch ihre stete Geneigtheit zu Verhandlungen und Konzessionen die Kampfkraft, die revolutionären Energien schwächen. —

So drückte die Katastrophe den Proleten nieder.
So richtete sie ihn aber auch wieder auf.
Mit furchtbaren Schlägen hämmerte sie ihm wieder Klassenbewusstsein ein, das Zusammengehörigkeitsgefühl, die Solidarität, die Kampfverbundenheit.
Die Klassenehre, die Klassenpflicht.
„Dass wir Arbeiter endlich allesamt werden: ein Wille, ein Herzschlag, ein Blut, ein Leib, ein Geist..."

Mit einem festen Händedruck schieden die beiden Proleten voneinander.
„Diese Welt muss unser sein!" sagte der eine.
Der andere: „Dann werden wir die Rächer sein... Der endliche Sieg ist unser!" —

 

6

Noch in derselben Nacht wurde in den Bureaus der Korrespondenzen und der Zeitungen die Katastrophe gründlichst bearbeitet.
Und schon früh am Morgen stürzte sich die große Welt wie eine gierige Meute, die Blut zu schmecken bekommen wird, auf dieses neueste Ereignis.
Die letzten Wochen war es schon so: abwechslungsreich in jeder Beziehung kann man sagen: zugleich mit dem Frühstück wurde einem im Morgenblatt jeden Tag ein anderer Skandal serviert.
Nun, eine Grubenexplosion: das war eine delikate Abwechslung in dem öden Grau und allmählich langweilig werdenden Einerlei ganzer Serien von Skandalaffären.
Man selbst fern vom Schuss... Nur hie und da ein Kolonialkriegchen, nicht sonderlich aufregend... Bolschewistengräuel ziehen zwar immer noch... Auch Waffenlager, Bombenfunde, geplante Dynamitattentate, Tscheka-Abenteuer... Cholerabazillen. Tagebücher berühmter Scharfrichter... Doppelt so gut schmeckt einem dabei so ein Kännchen Mokka...
Aber auch eine Katastrophe, und ginge die Hälfte des Volkes dabei zugrunde, muss leicht verdaulich und schmackhaft zubereitet werden. Flink wirbelten herum in den Redaktionsküchen die Presseköche. Die an das Papiergift ziemlich gewöhnten Gehirne der Zeitungsleser vibrierten wieder mal heftig unter dem Nervengewitter dieser schaurigen Sensation. „Erinnert das nicht an Zolas ,Germinal'?" - „Gewiss, Schatz, auch in der Literatur ist solch ein Stoff schon des Öfteren und man kann sagen ziemlich erfolgreich behandelt worden. Ein lohnender Vorwurf, in der Tat. Auch Sinclairs
,König Kohle' lies mal nach, auch nicht übel..." Und die bis zur Unerträglichkeit gesteigerte Spannung entlud sich. Die Journalisten schoben Artikel um Artikel. Sentimentale und schmalzige Nachrufe waren sofort lieferbar in Hülle und Fülle. Theoretische gelehrte Abhandlungen über das „Wesen von Grubenexplosionen" standen in Menge zur Verfügung. „Grubenexplosionen in alter und neuer Zeit", mit Bildermaterial reichlich versehen, oder „Der Kampf des Menschen mit der Natur" oder „Die Rache der Elemente". „Katastrophe im unterirdischen Reich der aufgespeicherten Sonnenenergien". Der Apparat funktionierte wieder mal ausgezeichnet; alles lief wie am Schnürchen. So oder so: Professoren, Historiker, technische Sachverständige, Dichter: sie alle waren eifrig dabei, unermüdlich tätig waren sie, um das von den allein schuldigen Industriemagnaten groß angelegte Ablenkungsmanöver ideologisch zu stützen. Wobei es sich erübrigt zu bemerken, dass die professionellen Arbeiterverräter auch in diesem Fall getreulich ihre Pflicht taten. Und man blieb, was in einem gewissen Moment doch recht zweifelhaft schien, Herr der Situation. Auch dieser Situation.
Eine Wohltätigkeitsaktion wurde eingeleitet.
Berühmteste Namen, Größen der Nation, stellten sich uneigennützig an die Spitze. —

Der Reichstag trat zusammen.
Die Abgeordneten erhoben sich zum Zeichen der Trauer von ihren Plätzen.
Als die Kommunisten den Antrag stellten, aus den von diesem Unglücksfall betroffenen Betrieben heraus sofort eine Untersuchungskommission wählen zu lassen, um gründlich und wirklich wahrheitsgemäß die
ganze Sachlage nachprüfen zu lassen, da erhob sich der Präsident.
Die Regierungsvertreter tuschelten miteinander. Der Präsident rückte sich die Krawatte zurecht. Pathetisch schlüpften ihm die Hände bei seiner Rede aus den Rockärmeln.
„Vor der Majestät des Todes mögen für heute alle Parteistreitigkeiten schweigen... Burgfrieden...!"
Gegen die Stimmen der Kommunisten wurde der Antrag abgelehnt. Als agitatorische Nutznießer dieser Katastrophe wurden die Kommunisten außerdem noch gebührend gebrandmarkt.
In einem schwarzen Gehrock wandelt die „Majestät des Todes" geschäftig hin und her zwischen den Bankreihen der Herren Abgeordneten hindurch: man kondolierte, man beglückwünschte sich aber auch, bei dem gerüttelten Maß von Schuld, das ein jeder der hier Anwesenden für sich buchen konnte, so unerwarteterweise glimpflich dabei weggekommen zu sein.
„Gerne geschehen... Bitte sehr... Meinen allerverbindlichsten Dank... Und die allerbesten Empfehlungen, wenn ich bitten darf, an Ihre Frau Gemahlin... "
„Nichts für ungut... Sie wissen schon, wir nehmen nichts so leicht krumm... Ganz gut so, ein bisschen hie und da Opposition mimen, Herr Levi... Nur im entscheidenden Augenblick zur Stange halten... Darauf kommt's an... Und darauf, na darauf können wir uns ja wohl verlassen... "
Und die „Majestät des Todes" betonte nochmals nachdrücklich den Herren Abgeordneten gegenüber ihre stete Bereitwilligkeit zu jeder Art von Gegendienstleistung... „Wir lassen Sie nicht im Stich... Verlassen Sie sich darauf..." Die „Majestät des Todes" versprach es außerdem noch jedem einzelnen in die Hand hinein. „Über die Frage der Unkosten, die Sie eventuell dabei haben sollten, verständigen wir uns schon. Aktien oder direkt. Dass dabei was ganz Hübsches herausspringt, das ist ja ganz selbstverständlich."
Man schmunzelte schon wieder. Zwinkerte verteufeltlistig mit den Blau-Äuglein nach allen Seiten, blinzelte ein Dankstoßgebet zum Himmel hinauf, und die „Majestät des Todes" entfernte sich, eine dick gestopfte Aktentasche unter dem Arm, um bei den Gewerkschaften und anderen Organisationen noch rasch Almosen und Liebesgaben, nach bewährtem Muster von 1914 bis 1918 Anno dazumal, für die Opfer der Hinterbliebenen zusammenzubetteln. Die „Majestät des Todes" ging dabei recht geschäftstüchtig vor, auch nahm sie es dabei nicht allzu genau. —

An den Bahren der Ermordeten aber standen sie mit entblößten Häuptern; der Reichskanzler und die Abordnungen der Behörden, die Herren der Industrie, die Abgesandten der Großbanken. Auch die Herren Sozialisten standen wie immer mit ihnen. Wohlangesehene Bürger. Ein Bürgermeister. Noch einer. Und ein Oberbürgermeister.
„Leichenschändung. Nichts weiter als Leichenschändung treiben diese da, wenn sie so herumstehen... Jeder ehrliche Prolet muss das so empfinden... "
Sonderzüge in das vom Unglück betroffene Gebiet waren auch sofort von der Eisenbahnverwaltung in bereitwilligster und anerkennendster Weise für die Herren der Regierung usw. eingelegt worden. —
Gut so, aber dachte auch mancher der Angehörigen der tödlich Verunglückten, gut, dass er wenigstens noch
bei einem Massenunglück umgekommen ist... Kommt einer als einzelner um, so kümmert man sich um uns schon überhaupt nicht... Da muss man sich eben hübsch brav mit der Bettelrente, die die Unfallversicherung einem gewährt, abfinden... In einem Jahr sind es über sechstausend solcher Unfälle, mindestens sechshundert davon tödlich...

 

7

Die Tränen der Hinterbliebenen versiegten allmählich.
Man ging zwar noch unter der unheimlichen Last gebeugt, aber auch schon beobachtend und lauernd. Und schon einen Tag vor dem gemeinsamen Begräbnis der Opfer hatten sie sich wieder gefasst, um einige Grade härter und kampfentschlossener waren die meisten unter ihnen geworden, und mit roten Fahnen an der Spitze durchzogen schon früh am Morgen des Begräbnistages Gruppen von Kumpels, Witwen und Waisen die rußverschlammten Straßen der Bergarbeiterstadt und sangen die Internationale.
Oh, erinnerte sich da mancher, das war schon einmal so.
Drei, vier Jahre zurück vielleicht. Aber ein jeder denkt noch voll Stolz daran. Schade nur, dass nicht... Aber aus unseren Fehlern muss gelernt werden... Es geht eben mal schwer vorwärts, und nichts wird einem geschenkt, das ist nun einmal so...

Die Rote Armee zog damals von Stadt zu Stadt. Hals über Kopf rückte die Reichswehr ab. Das Rote Banner flog —
Höhen und Täler leuchteten...
Wir marschierten durch Wälder, setzten uns auf eroberten Pontons über die Flüsse, Tag und Nacht, unermüdlich immer hinter dem weißen Feind her...
Rote Soldaten stiegen aus den Gruben, warfen sich, wo noch eine Lücke war, in die Rote Front...
Das ganze Bergwerksrevier marschiert.
Das ganze Bergwerksrevier kämpfte seinen bewaffneten Aufstand.
So war es.
So wird es wieder sein.
Grab an Grab, Schächte, in denen Tausende verschüttet, erstickt, zermalmt worden sind, Schlachtäcker des Bürgerkriegs, gedüngt mit proletarischem Heldenblut: das ist westfälischer Boden.
Das Land ist hier wie erdiges Geschwür.
Trüb schwelt heute die Flamme der Revolution.
Die Bergwerke wie erloschene Krater...
Menschenfleisch, Arbeiterfleisch verfault bei lebendigem Leib in den Ruinen dieser modernen Katakomben.
Rußt ein. Und der Menschenkadaver heizt sich zur Not noch an in den Schnapsschenken mit giftigem Fusel...
Aber täuscht euch nicht!
Morgen, übermorgen brechen sie wieder auf: Narben, Wunden, Schmerzen brechen wieder auf, und Millionen Kumpels stürzen sich wieder herauf aus der Erdtiefe, wie lebendige Lavamassen.
Die Erde platzt!
Der Erdbauch platzt: und herauf aus den mit lebendigen Menschenleichen angefüllten Erddärmen fördert es Haufen an Haufen, wandelnde, leibhaft gewordene Kohlenstrunke... Wehe:  die Kohle kommt!  Wehe,
wenn die Menschenkohle über euch kommt, wenn die aus Bitternis über Jahrhunderte lang geduldig ertragenes Leid glühend gewordene Menschenkohle über euch kommt!...
Das wird der Auferstehungstag, der Tag der Befreiung sein ganzer Geschlechter lebendig Begrabener... Glück auf! —

 

7

Nur die Leiche des alten Bergarbeiters Hempel konnte noch nicht geborgen werden.
Soviel wusste man: er saß halb aufrecht, wohl ein wenig in sich zusammengekauert, durch riesige Felstrümmer abgeriegelt, in einem vergasten Schachtloch. Man konnte aber nicht herankommen, so, aber auch so nicht, bei jedem Aufräumungsversuch lösten sich immer wieder von oben neue Gesteinsmassen ab. Auch stieß man in dieser Gegend immer wieder von neuem auf plötzlich hervorbrechende Gasquellen.
So musste man den guten Vater Hempel eben bis auf weiteres in seinem stillen Kämmerlein sitzen lassen.
Vergebens warteten zwar oben schon seit zwei Tagen und Nächten die Seinen auf ihn.
Warteten händeringend auf ihn bei jedem Zug aus der Tiefe. Sahen sich die Augen aus —
Nein, der Alte kam nicht.
Nicht einmal, dass er heut bei dem großen Begräbnis mit dabei war...
Halb aufrecht saß er da, wohl ein wenig in sich zusammengekauert, der Kopf tief auf die Brust heruntergeklappt, der Oberkörper war entblößt, schwarz bestrichen: so dick war er mit Kohlenstaub bedeckt. Das Fleisch schwammig, vom Gas aufgebläht. Nur wenig sah man vom Mund: die Lippen waren fest aufeinander­ gepresst, schief, auf der einen Seite beinahe in einem rechten Winkel nach oben verzogen. Von leicht gekräuseltem Schaum überkrustet. Die Augäpfel vorgetrieben, feucht und glanzweiß. Um die Backenknochen herum dicke, kurze weißliche Bartstoppeln.
Neben ihm Jacke, Sicherheitslampe, irgendein Werkzeug. Über fünfunddreißig Jahre Arbeit in der Grube saßen da, Vater dreier Söhne: einen davon an den Krieg drangegeben, einen als „Hundejungen" vor zwei Jahren im Schacht verloren, einer noch überlebend... Da half nichts, da musste auch die Mutter noch in der Fabrik an der Brikettmaschine mitverdienen.
Nun, der Alte war schon immer ein wenig absonderlich.
„Ach, tappen wir Menschen nicht eigentlich alle im Dunkeln. Ist gar nicht so schlimm. Hände gefaltet. Augen zu. Welt, schwarzer Traum, ade!..."
Hundertundfünfzig Särge zugleich, einhundertundfünfzig Leichen von Bergarbeitern, in billige, roh zurechtgezimmerte Holzsärge gepackt, schwankten jetzt oben dahin unter den blechernen Klängen eines Trauermarsches durch die Frühlingsluft.
Ein ungeheurer Menschenzug stampfte dahinter her.
Abordnungen aller Bergarbeiter der Welt waren erschienen.
Schwarze Fahnen. Rote Fahnen.
... Kohle und Blut...

Unten in der Tiefe löste sich wieder ein Felsblock. Der Alte fiel weit hintenüber. Nun lag er ausgestreckt.
Oben meinte die Mutter: „Ja, ja, ich hab's gleich gesagt: diesmal macht der Vater Feiertag..."
Der Mund war ihm aufgeschlagen. Die Zunge stieg zurück, bis in den Gaumen geklemmt. Um den Lippenrand herum, wie ein eingelegter Kranz, bräunliche Zahnstummeln.
Der Begräbniszug war wie fernes Wasserrauschen.
Und immer noch hing die unsichtbare Gaswolke fest in dem unterirdischen System: Korridore, Labyrinthe, Windungen: es sickerte darin, die Wände flüsterten, eine Quelle schlüpfte vorüber, es krachte und knarrte in dem Gebälk, ein Winddruck fauchte hindurch, in einem Kohlentümpel gluckste es... und schwarz war es, so schwarz, als müsste man, um diese Finsternis zu durchdringen, Bohrmaschinen gegen sie auffahren. Undurchdringlich schwarz.
Das war endlich Ruhe. Die Große Ruhe. —

 

9

Die einen nahmen an diesem Begräbnistag Paradeaufstellung.
Sie rüsteten sich zu einer Toten-Parade.
Patriotische Ansprachen, Trauerreden wurden gehalten.
Ein Filmoperateur kurbelte.
Dutzendweis Leichen ließen sie an sich vorüberdefilieren. Viel Tröstungen und Weihrauch und Versprechungen taten not. Viel künstliche Tränen mussten vertropft werden. Denn das Ganze schmeckte wieder mal bedenklich nach Massenmord... Mit einem breiten Trauerflor waren die Zylinder umflochten.
Die Regie klappte.
Die anderen aber nahmen Kampfaufstellung.
Sie standen da, gerüstet zu einem neuen Kampf.
Wie: Gewehr bei Fuß.
Blutrote Wimpel. Blutrote Banner.
Es war ein blutrotes Meeting.
Flammende Kampfaufrufe schossen empor.
Und stießen sich frei in dem Schwur: „Lieber im Feuer der Revolution verbrennen, als elend verrecken auf dem Misthaufen dieser Republik... "

Und die Sonne schwang flimmernd über sie hin, den ganzen Raum erfüllend, ein gespenstischer Lichtkreisel. —

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