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Friedrich Wolf - Cyankali (§ 218) (1929)
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IV.

Sprechzimmer von Dr.Moeller: Schreibtisch, Instrumentenschrank Solluxlampe, Waschbecken, Stühle. Zugänge rechts und links. ~, Dr. Moeller hat eben eine Dame untersucht und beraten; er hat ein Zeugnis geschrieben und kuvertiert es.
Dame: Ich kann bestimmt auf Ihre Diskretion rechnen, Herr Doktor?
Dr. Moeller: Ärztliche Schweigepflicht, meine Gnädigste!
Stempelt den Umschlag und gibt ihr den Brief.
Dame: Darf man wissen, Herr Doktor, ob das Zeugnis positiv ausfiel?
Dr.Moeller: Es unterliegt noch der Entscheidung des ausführenden Gynäkologen, der den Eingriff zu machen hat.
Dame schnell: Dafür garantiere ich.
Dr.Moeller: Sie unterschätzen unsere Verantwortlichkeit!
Dame: Was haben Sie zu riskieren? Bitte, ich verstehe! Aber soll ich mir wegen eines Zufalls einen ganzen Winter verderben lassen, jetzt, da ich in bester Form bin! Mein Hockeyteam in Davos erwartet mich dringend.
Dr. Moeller: Unser Gutachten gründet sich lediglich auf den sachlichen Befund.
Dame: Herr Doktor, ich liebe es nicht, mich durch Nichtbeantwortung von Fragen demütigen zu lassen: Haben Sie den Eingriff befürwortet?
Dr.Moeller: Glauben Sie, ich schreibe sonst! Hilft ihr in den Mantel.
Dame: Tausend Dank! Ich danke Ihnen sehr...
Dame, vom Arzt geleitet, nach links ab. Dr. Moeller geht umher, ordnet seine Instrumente, setzt sich an den Schreibtisch, macht eine Eintragung; geht dann nach rechts: „Na, bitte!" - Von rechts kommt Max.
Max tritt vor und legt seinen Krankenschein auf den Schreibtisch. Dr.Moeller nimmt ihn und macht seine Eintragungen: Wo fehlts?
Max: Zwischen den Rippen, Herr Doktor.
Dr.Moeller: Fieber?
Max: Ich weiß nicht.
Dr.Moeller immer noch schreibend: Machen Sie frei!
Max: Ganz?
Dr.Moeller: Doch nur, wo Sie Beschwerden haben, Mensch! Schon acht Mann heut von eurem Betrieb! Streikfieber, was?
Max: Wie meinen, Herr Doktor?
Dr.Moeller: Ich meine, Krankengeld ist auch nicht zu verachten, wenn die Gewerkschaftskasse versagt und der Staat keinen Kies mehr hat, was?
Max mit nacktem Oberkörper: Ich bin zur Untersuchung gekommen, Herr Doktor.
Dr. Moeller mustert ihn scharf: Aha! Wo sitzt es denn, mein Sohn?
Max: Hier, zwischen den Rippen ... Schmerzen beim Atmen.
Dr. Moeller mit Hörrohr horchend: Einatmen ... aus! Einatmen ... aus! Luft anhalten! Legt die Hände unter die Schulterblätter. Sagen Sie: Neunhundertneunzig! Siebenhundertsiebenundsiebzig! - Prima! Immerhin, fabelhaftes System, das ihr da habt ... unkontrollierbar, denkt ihr ... Setzt sich wieder an den Tisch. Rippenfellentzündung, was?
Max: Möglich.
Dr. Moeller: Essig! Meinen Sie, mich zwickt's nicht einmal bei dem Sudelwetter hier und da? Nein, da sage ich mir: Nacken steif! Zähne aufeinander! Es ist der Geist, der sich den Körper schafft!
Max: Was fehlt mir, Herr Doktor?
Dr.Moeller: Etwas Härte gegen sich selbst, Verantwortungsgefühl gegenüber dem Staat...
Max: Wenn man sich nicht mal zwei Eier kaufen kann und einen Liter Milch!
Dr.Moeller: Aha!
Max erregt: Natürlich! Für euch ist Hunger keene Krankheit!!
Dr.Moeller: Schlagworte! Phrasen! Auf den Menschen
kommt es an, auf den Menschen! Auf seinen Glauben an Fleiß, Redlichkeit, Tüchtigkeit! Selbst eure Frauen streiken ja und wollen keine Kinder mehr! Kein Tag vergeht, dass nicht eine den Gashahn aufdreht oder zu uns kommt mit verbrecherischem Ansinnen!
Max: Soll es denn noch mehr Kinder geben, und Hungerkrüppel, und Arbeitslose?
Dr.Moeller: Wollen Sie gegen das wichtigste göttliche Gebot handeln: Du sollst nicht töten!
Max sieht ihn nur an.
Dr.Moeller: Ein Volk, das keinen Geburtenüberschuss hat...
Max: Wird kein Kanonenfutter und keine Reservearmee von Streikbrechern mehr liefern!
Dr.Moeller: Moskau!! Der Rubel rollt wieder! Meinen Sie, wir merken das nicht! - Hier Ihr Schein!
Max blickt darauf: Gesund! Grabendienstfähig! Ich danke, Herr Doktor! Will nach rechts.
Dr.Moeller nach links weisend: Dort! Max links ab. Das! fehlte mir noch im Wartezimmer! Wäscht sich; nach rechts. Bitte!
Herein kommt Hete, sehr zögernd.
Dr.Moeller am Schreibtisch: Bitte, den Krankenschein Sieht auf. Hätten Sie die Güte, sich etwas schneller zu äußern! Was fehlt Ihnen?
Hete: Herr Doktor ... Schweigt.
Dr. Moeller erkennt jetzt: Es warten draußen noch zehn Kranke, Verehrteste, die alle auf mich ein Anrecht haben; ich bitte, sich kurz zu fassen!
Hete heftig, aber leise: Sie müssen mir helfen, Herr Doktor!
Dr. Moeller obschon er es weiß: Nochmals, worum handelt es sich?
Hete in großer Angst: Es ist kein Verbrechen, Herr Doktor..., es ist wirklich kein Verbrechen, wenn Sie mir helfen, Herr Doktor!! Ich musste weg von Haus ... wir haben ja für uns selber nichts ... die Aussperrung nun schon vier Wochen, kaum Brot und Kartoffeln, sechs Menschen in einer Kammer ... wie soll da noch ein siebentes herein! Sie sind doch Arzt, Sie sehen täglich ja das ganze Elend, Sie müssen mir helfen!!
Dr. Moeller aufstehend: Wenn ich recht verstehe, fordern Sie von mir eine strafbare Handlung!
Hete: Herr Doktor, ich weiß nicht, was Sie da sagen ... ich brauche Ihre Hilfe, Herr Doktor ... wir Arbeiterinnen wissen ja viel zu wenig von diesen Dingen, die wir wissen müssten, jeden Tag kommen sie an uns heran ... und dann hilft uns niemand.
Dr.Moeller: Und Ihre Mutter, was sagt die?
Hete: Die redet ... von Schande.
Dr.Moeller: Ist's vielleicht 'ne Ehrentat? Aber eine Errungenschaft der „neuen Zeit" ist es, da alle Bindungen und Zügelungen zerschnitten! Oder nicht?
Hete: Ja, jaja, Herr Doktor! Sie haben recht! Aber ich brauche jetzt Hilfe, Herr Doktor, Hilfe! Es darf nicht kommen: es hat keinen Fleck zum Liegen, keine Windel, keinen Korb, keine Nahrung...
Dr.Moeller: Und der Vater?
Hete: Oh, Herr Doktor von Weinen geschüttelt, ich kann nicht mehr...
Dr. Moeller fasst sie an der Schulter: Immer dasselbe, jede Sprechstunde ... Streicht ihr übers Haar. Kommt denn niemand für das Kind auf?
Hete: Doch, Herr Doktor, doch..., aber er hat doch keine Arbeit.
Dr.Moeller: So drücken sich alle.
Hete vor ihm: Der drückt sich nicht, der steht für das hin, der mir's gemacht hat!
Dr.Moeller: Weshalb ist er denn nicht hier ... jetzt?
Hete: Weil er türmen musste.
Dr. Moeller: Ah so!
Hete: Nein, nein, Herr Doktor, kein gemeiner Mensch, kein Dreckskerl! Ein Mensch, der hinseht für die andern, der Paul! Er hat nur aus Not gehandelt, für die andern, Herr Doktor!
Dr.Moeller: Aber Sie lässt er in Not?
Hete erschlafft einen Augenblick, reißt sich dann zusammen: Er würde hinstehen, auch für das Kind; aber Sie sehen selbst, dass er verfolgt ist; Sie sind doch auch ein Mensch, ein Mensch, ein Arzt, der helfen soll...
Dr. Moeller: Wenn ich Ihnen helfen dürfte. Wie soll ich's denn machen? Das Gesetz bindet uns Ärzten doch die
Hände ... Einen Augenblick schwankend; dann: Die Sache scheint Ihnen doch nicht ganz klar, meine Teure! Holt aus dem Schreibtisch ein Buch. Hier, hier, im Strafgesetzbuch des Deutschen Reiches der §218, bitte: „Eine Schwangere, welche ihre Frucht vorsätzlich abtreibt oder im Mutterleib tötet, wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren bestraft. Dieselben Strafvorschriften finden auf denjenigen Anwendung, welcher die Mittel zur Abtreibung bei ihr angewendet oder ihr beigebracht hat." - Bitte! Hete steht schweigend da.
Dr. Moeller eifernd, fast begeistert: Nicht wahr, das klingt anders! Und dann: Der 45. Deutsche Ärztetag in Eisenach und der Reichstagsausschuss haben bekundet, dass in Deutschland dennoch jedes Jahr mindestens achthunderttausend verbotene Abtreibungen stattfinden; über zehntausend deutscher Mütter sterben jährlich an solch unsachgemäßer Behandlung durch Nichtärzte! Gegen fünfzigtausend schwere Erkrankungsfälle kommen nach solchen schwarzen „Fehlgeburten" in Deutschland jährlich zu unsrer Kenntnis!
Hete sieht ihn an: Und da können Sic noch Arzt sein?
Dr.Moeller stutzt: Wie? Was soll das heißen? Wollen Sie mir etwa die Schuld an diesen Zuständen zuschreiben? Gerade wir Ärzte, wir reden uns ja die Lungen lahm; aber wenn heute alle Bindungen und Pflichten fallen, wenn man lieber in die Kinos und auf die Sportplätze rennt und die ewige Wahrheit verhöhnt: „In Schmerzen sollst du Kinder gebären..."
Hete geht stumm zur Tür.
Dr.Moeller ihr nach: Was wollen Sie tun?
Hete sieht ihn an: Dorthin gehen, wo man mir hilft.
Dr.Moeller: Machen Sie keine Dummheiten, Mädchen! Gehen Sie nicht dahin, Mädchen, wo man Ihnen Cyankali gibt oder mit Schmierseife spritzt, oder wo man Sie mit einem unsauberen Instrument verletzt, wo Sie dann im Kindbettfieber in Krämpfen sterben; gehen Sie nicht dahin, ich warne Sie!
Hete aufschreiend: Aber Sie ... Sie schicken mich ja dahin!!
Dr.Moeller erschrocken: Ich? Ich schicke Sie dahin? Sind Sie toll? Ich habe Sie nicht gerufen und nicht weggeschickt! Soll ich ein Verbrechen begehen? Kann ich den Paragraph ändern?
Hete starrt ihn an: So viele Ärzte seid ihr in Deutschland ... tausende Ärzte ... und so lasst ihr die Menschen sterben? Hält sich am Tisch.
Dr. Moeller: Setzen Sie sich doch ... hier ... Sie sind überreizt, seien Sie doch ruhig, nehmen Sie sich zusammen ... Gießt Hoffmannstropfen in ein Glas Wasser. Trinken Sie, es wird Ihnen sofort leichter ... sehen Sie, sagte ich nicht... alles geht vorüber, mein Kind, alles...
Hete steht auf.
Dr. Moeller: So, mein Kind, nun überschlaf das Ganze ... morgen sieht das alles schon ganz anders aus ... eine rein psychogene Sache, mein Kind, sehr typisch für den zweiten Monat ... jovial und nun gehst du zu deiner Mutter, hörst du, zu deiner Mutter; es wird alles wieder gut! Führt sie nach links. Weißt du, man muss nur den Kopf nicht verlieren, immer tapfer sein und den Nacken steif, Nacken steif...
Hete hilflos links ab.

 

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