Gegen das Nachrichtenbataillon
  Es wurde äußerlich ruhiger. Wir waren seltener in erhöhter  Alarmbereitschaft. Aber zufriedener war man nicht mit der Regierung.  Einige erwarteten von den Plakaten etwas, die überall angeschlagen  waren. 
    „Der Sozialismus marschiert!" 
    „Sozialisierung des Bergbaues!" 
    An einem wachtfreien Tage exerzierten wir auf  dem Kasernenhof. Da kam Falbel. Ich ließ stillstehen und meldete ihm. 
    Er wurde rot und sagte: „Du bist doch im Rang  über mir und meldest?" 
    „Du bist zu meinem Vorgesetzten gewählt, da muss  ich dir melden!" 
    „Du musst noch heute mit deiner Kompanie nach dem Truppenübungsplatz  Zeithain für drei Tage. Der Transportzug fährt drei Uhr nachmittags." 
    „Was sollen wir dort?" 
    „Da hat sich das Nachrichtenbataillon breit gemacht. Das hat seine  Offiziere abgesetzt und lässt sich nicht entlassen. Unglaubliche  Schiebungen sollen da vorgekommen sein. Der neu eingesetzte  Platzkommandant kann nichts machen, weil er keine Truppe hinter sich  hat." 
    Ich ließ das Exerzieren sofort beenden. Die Kompanie war gehobener  Stimmung, weil es endlich eine Abwechslung in dem stumpfsinnigen  Wachtdienst gab. 
    Wir fuhren mit einem Militärtransportzug durch eine flache sandige  Landschaft mit dürren Kiefernwaldungen und liefen in das Lager ein.  Während wir ausstiegen, sammelten sich Mannschaften des  Nachrichtenbataillons -neben den Gleisen. „Was wollt ihr hier?" 
    Keiner von uns antwortete. 
    „Wollt ihr dem Leutnant Ries helfen?" 
    „Wir kennen keinen Leutnant Ries." 
    Um die Zurufe kümmerten wir uns wenig und marschierten die große  Lagerstraße entlang zur Kommandantur. Dort ließ ich halten und ging  hinein. Ein Schreiber wies mich nebenan in ein Zimmer. Ein Major trat  auf mich zu. In der Ecke saß ein kräftiger Mann in Zivil, die Pfeife im  Mund, und sah mich von unten her an. 
    „Was wünschen Sie?" fragte der Major. 
    „Sicherheitskompanie zur Stelle! Ich habe  Befehl vom Generalkommando, mich hier zu melden!" 
    „Vorzüglich!" rief der Major. „Willkommen!" Damit schüttelte er mir die  Hand. „Sie finden uns hier in der peinlichsten Lage. Ich beriet eben  mit dem Regierungsbeauftragten", er nickte nach dem Zivilisten, „was  wir tun, wenn uns das Nachrichtenbataillon von neuem aushebt. Zwei Tage  war ich schon einmal ihr Gefangener, bis mich der Leutnant Ries mit  fünfzig Mann befreit hat. Aber seine Leute sind jetzt wieder fort, nur  er ist noch da. Nun brauchen wir das Ultimatum der Nachrichtenfritzen  nicht mehr zu fürchten! -Ich zeige Ihnen gleich Ihre Baracke." 
    Er brachte uns nach einer Ecke des Lagers, wo  wir von zwei Seiten durch hohe Stacheldrahtzäune geschützt waren. 
    „Richten Sie sich jetzt ein! In zwei Stunden müssen die Wachen  aufziehen. Wir müssen vor allem das Granatdepot bewachen, weil die  Unabhängigen Sozialdemokraten von Leipzig schon mehrmals mit der  Eisenbahn angekommen sind und mit Hilfe des Nachrichtenbataillons  Granaten geholt haben. Kommen Sie dann um acht Uhr abends zur  Kommandantur! Da will ich Ihnen die politische Lage genauer erklären." 
    Um acht Uhr meldete ich mich in der  Kommandantur. Der Major zeigte auf einen Stuhl, dass ich mich setzen sollte, 
    und erzählte mit schelmischen Seitenblicken auf den Beauftragten der  Regierung. Beide rauchten Pfeife. „Sie müssen wissen, dass sich hier so  ein Schuft an die Spitze des Nachrichtenbataillons gestellt hatte.  Kommunist nannte er sich, aber ein Gauner war's! Unterschlagen hat er  und ein großartiges Leben geführt. Wie kein Geld mehr in den Kassen  war, da hat er Bäume schlagen lassen und für einen Spottpreis verkauft,  natürlich für die eigene Tasche. Schließlich, als er merkte, dass der  Boden zu heiß wurde - weil nämlich der Leutnant Ries im Anrollen war -,  ist er auf und davon. Hinterlassen hat er einen Haufen Schulden und ist  mit einem Weibsbild und einem Freund fort. In irgendeiner Kneipe hat er  sich am Abend vollgesoffen, und am Morgen waren Weibsbild, Freund und  Brieftasche fort. -Und dieses Mistvieh, das nur ein paar revolutionäre  Phrasen drosch, hat es fertig gebracht, das Nachrichtenbataillon  monatelang unumschränkt zu beherrschen." 
    Der Beauftragte sog an seiner Pfeife und  nickte bedächtig mit dem Kopf. „Sind Sie Ihrer Leute sicher?" 
    „Ich glaube schon." 
    „Wir gehen jetzt nach dem Volkshaus", sagte der Major. „Dort ist  Versammlung des Nachrichtenbataillons. Da können Sie die Leute selbst  reden hören!" 
    Wir gingen in die kalte Nacht hinaus und einen Fußweg mit Kies zwischen  zwei Holzgeländern entlang. Zwischen den hohen Kiefern blinkten ein  paar Sterne. 
    Das Volkshaus war das ehemalige Offizierskasino. Als wir in den Vorraum  traten, sah ich zu meinem Erstaunen zwei von meinen  Sicherheitsfreiwilligen im Gespräch mit Leuten des  Nachrichtenbataillons. 
    Der Major bog nach links eine Treppe hinauf. Oben traten wir in ein  Zimmer voll von Artillerieoffizieren, vor denen abgegessene Teller  standen. Also gab es doch noch Offiziere im Lager? Und so viele! Der  Major begrüßte sie mit breitem Lachen und rief: „Kommen Sie mit, Ries?" 
    „Wohin, Herr Major?" Ein ganz junger  Leutnant erhob sich lang und dünn. 
    „Auf die Galerie des Saals, hören, wie sie uns  beschimpfen!" 
    „Natürlich komme ich da mit!" Er sah mich rasch an. „Sie sind der  Führer der Sicherheitstruppe? Ich bin Ries, der die Kommandantur  gestürmt hat, ohne einen Menschen anzurühren!" Er lachte mir offen ins  Gesicht und drückte mir freundschaftlich die Hand. 
    Der Major wandte sich an die Offiziere: „Bitte, seien Sie mal still,  bis wir draußen sind!" Damit öffnete er die Tür und schlich gebückt  hinaus. Wir drei hinterher. 
    Die Galerie war ein schmaler Gang an der Längswand eines verräucherten  Saales, aus dessen Tiefe Stimmengewirr tönte. Der Leutnant schloss  leise die Tür hinter sich und drückte mich an der Wand nieder, die  gekalkt war. Rechts saßen der Major und der Beauftragte, gleichfalls am  Boden, und tuschelten miteinander. 
    Der Leutnant erzählte mir flüsternd, wie er das Lager regelrecht  beschlichen hatte und auf einmal aus dem Wald heraus mit Schützenlinien  vor der Kommandantur erschienen wäre. „Sie hätten sehen sollen, wie die  Nachrichtenkerle bleich aus dem Hause herauskamen!" Er lachte wie ein  Junge. „Und dann haben sie versucht, Zwietracht zwischen mir und meinen  Leuten zu säen. Sie haben gesagt: Ihr wollt eine revolutionäre Truppe  sein und habt einen Offizier als Führer? - Aber da haben meine  Freiwilligen geantwortet: Das ist kein Offizier, sondern den haben wir  uns gewählt! -Darüber waren die Kerle so verblüfft, dass sie nichts  weiter gesagt haben!" 
    „Ach, Sie sind auch Wahlführer, Herr  Leutnant?" 
    „Natürlich! Kennen Sie mich denn nicht? Ich  bin doch auch von der Sicherheitstruppe." 
    Jetzt begann einer unten zu reden: „Kameraden! Wir haben euch  zusammengerufen, weil es dringend nötig ist, dass wir zu den  Verhältnissen im Lager Stellung nehmen! Heute ist wieder so eine  Kompanie der Sicherheitstruppe erschienen. Diese Leute geben vor,  revolutionär zu sein. Sie führen immerfort das Wort Sozialismus im  Munde. Aber sie sind nichts als Reaktionäre! Ihr habt das bei dem  Leutnant Ries gesehen! - Wenn ich eine Handgranate dahätte - die würde  ich dem Leutnant Ries in den Arsch stecken und sie losbrennen!" Er  brüllte das in den Saal hinein. 
    Der Leutnant stieß mich mit dem Ellbogen an  und lachte, dass es ihn am ganzen Körper schüttelte. 
    Der Redner fuhr in dieser Weise fort. Die Versammlung endete in einem  Gebrüll, weil niemand einen vernünftigen Vorschlag machte, was man  gegen uns tun sollte. 
    Ich ging nach unserer Lagerecke und trat in eine der Stuben. Sie saßen  in Hemdärmeln um den geheizten Eisenofen und hörten einem zu, der  gerade erzählte, wie der Redner im Volkshaus das mit der Handgranate  sagte. 
    Alle lachten. Einer stand auf und dehnte sich,  dass seine Armmuskeln schwollen. 
    „Na, wenn die nichts Vernünftigeres zu sagen  haben, dann sind sie nicht gefährlich!" 
    „Ach die! Ein Faulenzerleben wollen sie hier führen! Deshalb lassen sie  sich nicht entlassen. Eine politische Idee steckt da gar nicht dahinter  - wenn sie auch noch so sehr von Kommunismus reden!" 
    „Habt ihr vielleicht erfahren, was das für  Artillerieoffiziere hier im Lager sind?" fragte ich. 
    „Ja, es liegt auch ein Bataillon Fußartillerie hier, und die haben ihre  Offiziere noch. Ich habe mit einem gesprochen. Der hat mir gesagt, sie  beteiligten sich nicht an dem politischen Unsinn. Aber, sagte er, nehmt  euch in acht und mischt euch nicht in unsere Angelegenheiten! Wenn ihr  den Nachrichtenfritzen eins auf die Schnauze gebt, das könnt ihr  machen!" 
    Ich ging nach der Schreibstube, in der ich auch schlafen sollte. Einer  der Schreiber war noch auf und las in einer Broschüre. 
    „Was liest du denn da?" fragte ich leise,  um nicht den Feldwebel und seinen Vater, den Schreiber, zu wecken. 
    „Kautsky, ,Über das Weitertreiben der Revolution'.  Wir haben eine Menge solcher Dinger zum Verteilen gekriegt." 
    „Ja, ich habe das gelesen. Der sagt ja, man soll nicht weiterkämpfen,  sondern die Sache sich entwickeln lassen. -Aber ich weiß nicht recht -  vom Krieg haben wir ja alle die Schnauze voll, aber mit der friedlichen  Entwicklung - das ist vielleicht nur eine faule Ausrede?" 
    „Was meinst du damit?" 
    „Nu, uns gefällt vielleicht die Schrift, weil wir das Schießen und die  Aufregungen satt haben. Aber deswegen ist es mit der friedlichen  Entwicklung doch nicht richtig." 
    Er sah bedenklich vor sich nieder. „Unsereins versteht ja nicht viel,  aber so viel ist mir klar, dass die Reaktionäre schon wieder lausig  Oberwasser kriegen. Und uns schieben sie so hin und her. Uns haben sie  ja versprochen, dass wir den Stamm des Friedensheeres bilden sollen.  Aber wenn die Offiziere wieder an die Spitze kommen, dann werden die  uns schon wegzudrängen wissen! - Der Major, den sie eingesetzt haben,  scheint ja ein ganz vernünftiger Mann zu sein. Aber es ist wieder ein  Offizier da, und hinter ihm hängt seine ganze Vergangenheit und die  ganze Masse der Offiziere, die weniger geschickt und menschenfreundlich  sind als er. So kommen die schlimmsten Leuteschinder mit den besseren  Offizieren wieder herein und dann - da frage nicht!" 
    Ich hörte ihm mit steigender Freude zu, dass ich endlich einen gefunden  hatte, der das auch so empfand. Wir saften noch lange zusammen,  rauchten und sprachen leise darüber, was man machen könnte. Wir fanden  keinen klaren Ausweg, aber es tat schon gut, sich einmal ausgesprochen  zu haben. 
    „Weißt du übrigens", sagte er, „weshalb wir hier sind? Das Lager gehört  eigentlich gar nicht zu unserem Korpsbereich, sondern zu Leipzig. Aber  dort herrschen die Unabhängigen. Und da hat die Regierung die Unordnung  hier benutzt, um das Lager einfach zu besetzen. Das ist nämlich  wirklich 'ne Art Krieg! Die Unabhängigen haben von hier ihre  Artilleriemunition geholt. Wir können noch einiges erleben, wenn das so  weitergeht. - Aber ich bin jetzt müde!" 
    Wir drückten uns herzlich die Hand und krochen  auf die Betten. Nun hörte ich nur noch atmen. 
    Die drei Tage, die wir im Lager sein sollten, vergingen, und auch der  vierte. Das Nachrichtenbataillon hatte sich beruhigt. Man entlieft dort  täglich Mannschaften. Als am fünften Tag wieder keine Nachricht da war,  wann der Transportzug käme, um uns in die Garnison zurückzubringen,  ging ich auf die Kommandantur. Der Beauftragte telefonierte daraufhin  lange mit jemand. „Noch zwei Tage?" sagte er mit einem Seitenblick auf  mich, als ob er die Wirkung prüfen wollte. 
    „Aber dann unbedingt!" sagte ich  ärgerlich. 
    Er hängte den Hörer an. „Ist denn das so schlimm, die paar Tage länger,  bei dem schönen Wetter, wenn's auch ein bisschen kalt ist?" 
    „Mir und den Ledigen kann es ja gleich sein, wo wir sind. Aber die  Verheirateten! Wenn wir erst übermorgen abgelöst werden, so sind wir  vier Tage über die Zeit hier, und die Frauen hatten schon gestern mit  der neuen Löhnung gerechnet! Bei den kärglichen Haushalten unserer  Freiwilligen bedeutet so eine Sache einfach Hunger für die Familie!" 
    In diesen Tagen war es für den März warm. Ich  streifte allein ums Lager, wobei ich vorgab, die Posten zu kontrollieren. 
    Der siebente Tag unseres Hier seins verging, ohne dass der Transportzug  kam. Am achten Morgen kam ein Brief von Falbel. Darin erklärte er, dass  sich die Ablösung noch um zwei Tage verschöbe. Er hätte alles versucht,  aber leider wäre keine einzige Kompanie verfügbar. 
    Ich verbarg den Brief vor dem Feldwebel und den Schreibern, damit die  Freiwilligen nicht davon erführen, bevor ich mit ihnen geredet hätte.  Zur Dienstausgabe trat ich mit unsicherem Gefühl vor die Kompanie. Aber  als ich den Brief verlesen und ein paar Worte darum gemacht hatte,  bemerkte ich keine Verstimmung auf den Gesichtern und besprach  erleichtert das übrige. 
    Der neunte Tag ging strahlend auf. Die Post brachte keinen Brief. Ich  ging auf die Kommandantur. Der Major rauchte seine Pfeife und blinzelte  verschmitzt. „Für morgen Nacht planen die Kommunisten einen Angriff  aufs Lager." 
    Ich merkte, dass er doch nicht so ganz sicher  war. 
    „Wir haben die Nachricht, dass sie von Riesa im Süden und von  Großenhain im Norden anmarschieren und sich mit dem  Nachrichtenbataillon vereinigen wollen, das ja seine Waffen noch hat. -  Ist Ihre Kompanie sicher?" 
    „Die kommt nicht mehr in Betracht, weil sie  heute abgelöst wird." 
    „Ach so! Wann kommt denn die Ablösung? - Ich  habe noch keine Nachricht darüber." 
    Ich war erschrocken und ärgerlich. So ging das  doch wirklich nicht! Um erst einmal zu überlegen, was ich tun sollte. 
    ging ich nicht gleich zu unseren Baracken,  sondern eine andere Straße nach der Lagerverwaltung zu. 
    Drei Zahlmeister kamen mir entgegen. „Sind Sie  von der Sicherheitskompanie?" wandte sich einer aufgeregt an mich. 
    „Ja, ich bin der Führer." 
    „Sind Sie auch imstande, das Lager zu schützen? Wir sind benachrichtigt  worden, dass morgen Nacht das Lager gestürmt und dass alle Offiziere  ermordet werden sollen! Die Kommunisten haben auch Artillerie in  Großenhain, mit der sie das Lager beschießen können!" 
    „Ich sage Ihnen ja", regte sich ein anderer auf, der sehr dick war,  trotz der Hungerjahre. „Wir wollen Zivil anziehen und fort! - Was nützt  es dem Staat, wenn man uns hier totmacht? - Und ich habe Familie!" 
    „Wenn die Herren geschützt sein wollen", sagte ich, „dann müssen Sie  schon zu uns in die Baracken kommen! Betten sind noch frei." 
    Der Dicke sah mich mit entrüstetem Blick an. Er wollte wohl sagen: Sich  mit Mannschaften in eine Baracke legen? Ich bin im Offiziersrang! Er  sagte aber: „Und wenn Ihre Baracke dann doch gestürmt wird, dann wird  man annehmen, dass wir die Verteidigung geleitet haben, und man wird  sich an uns blutig rächen. - Und was wollen schließlich die knapp  hundert Mann Ihrer Kompanie gegen die fanatisierte und mit Truppen  verbündete Arbeiterschaft zweier Städte und gegen das  Nachrichtenbataillon, das noch immer über tausend Mann zählt? -  Wirklich, meine Herren, ziehen Sie sich Zivil an und kommen Sie mit!" 
    Sie ließen mich stehen. 
    Bei der Kompanie war alles ruhig, als ob sie vergessen hätten, dass sie  heute abgelöst werden sollten. Der Abend kam und die Nacht. Am Morgen  stand ich besonders früh auf, weil ich von der Kommandantur den Befehl  hatte, zwischen fünf und sechs die Posten am Munitionsdepot weit  draußen, nördlich des Lagers, zu kontrollieren. 
    Nachdem ich die Kontrolle in das große Wachtbuch eingetragen hatte,  ging ich in einem Bogen nach dem Lager zurück. Den Rondezettel schaffte  ich gleich auf die Kommandantur. 
    Der Major kam aus seinem Zimmer heraus und zog  mich beiseite. „Nu, wie steht es? Wollen sie wirklich nicht?" 
    „Ich verstehe nicht, wovon Sie sprechen, Herr  Major?" 
    „Ach, Sie wissen noch gar nicht, dass Ihre Kompanie meutert? Sie  weigern sich, weiter auf Wache zu ziehen, und erklären, um elf Uhr  sämtliche Wachen zu verlassen!" 
    Ich fühlte mich blass werden. „Das ist wohl,  weil sie noch immer nicht abgelöst sind?" 
    „Ja, natürlich." 
    „Da kann ich jetzt auch nichts machen!" 
    „Was?" Er sah mich bestürzt an. „Sie  meutern auch mit?" 
    „Nein. Aber was soll ich meinen Leuten sagen, wenn sie mich fragen,  wann wir abgelöst werden? Das muss erst einmal festgestellt werden!" 
    „Ja, der Beauftragte telefoniert schon mit dem Generalkommando. Aber es  ist keiner von den maßgebenden Herren so früh im Geschäftszimmer!" Er  setzte sich aufgeregt und sog an seiner Pfeife. Ich zwang mich, ruhig  zu warten. Die Schreiber unterhielten sich im Vorraum. Ob denen zu  trauen war, konnte man nicht wissen. 
    Der Beauftragte kam herein. „Beim Nachrichtenbataillon wissen sie schon  von der Meuterei. Sie werden das ausnutzen!" Er machte vor Erregung  Bewegungen, als schnüffelte er an der Wand, und hielt seine  ausgegangene Pfeife vor seine dunkle Weste, an der eine Nickelkette mit  Kompass hing. 
    Der Major sog an der Pfeife, dass es ein zischendes Geräusch gab.  „Bitte, Herr Reißmann, versuchen Sie doch etwas auszurichten! Hier der  Kompanieführer Renn will nur mit seinen Leuten reden, wenn er ihnen  etwas Bestimmtes sagen kann!" 
    Der Beauftragte sah nach seiner Uhr. „Zwanzig Minuten vor neun. Bis elf  kann die Ablösung nicht da sein, frühestens nachmittags um drei! Aber  ich will noch einmal anrufen!" 
    Wir warteten. 
    Auf einmal blickte der Major erschrocken zum Fenster hinaus. „Dort  kommen Leute von Ihrer Kompanie mit Gewehren!" Er lief in den Vorsaal. 
    Ich blieb stehen, um meine Erregung zu  überwinden und zu überlegen, was sie mit Gewehren hier wollten. 
    An der Tür heftige Worte. Ich lief hinaus.  „Hier ist er ja!" schrie der Major und wandte sich nach mir um. 
    Etwa zehn Freiwillige starrten mich an. „Hat man dir etwas getan?"  fragte der lange Matrose. „Mir? Nein. Wer sollte mir etwas getan  haben?" „Der Major hat dich doch festgenommen und eingesperrt?" 
    Jetzt begriff ich erst. „Mich hat niemand festgenommen und eingesperrt!  Ich warte hier auf den Bescheid des Generalkommandos, wann wir nun  endlich abgelöst werden. Sobald ich es weiß, komme ich zu euch!" 
    Ein Schreiber fuhr dazwischen: „Der  Kompanieführer Renn soll ans Telefon kommen!" 
    „Wir bleiben hier!" sagte der Matrose misstrauisch. 
    „Bleibt!" sagte ich und rannte ans  Telefon. 
    Der Beauftragte gab mir den Hörer. „Hier Oberst Graf Giesmar. Ist denn  gar nichts mit Ihren Leuten anzufangen? Bis elf Uhr können wir keine  Ablösung schicken, sogar vor heute Abend nicht! Sie müssen doch  einsehen, welche Gefahr in dieser Meuterei liegt!" 
    „Das sehe ich ein. Aber sagen Sie doch eine feste Zeit, wann die  Ablösung kommt! Es ist begreiflich, dass die Freiwilligen über eine  solche Verbummlung ungehalten sind!" 
    „Natürlich! Glauben Sie mir, dass es uns selbst schon die größten  Sorgen gemacht hat! Ich verspreche Ihnen die Ablösung für morgen früh  um neun. - Geht das?" 
    „Ich hoffe es." 
    „Gut, tun Sie, was Ihnen möglich ist! - Guten  Morgen!" 
    Ich wandte mich um. Die Freiwilligen hatten  die Türen des Raumes besetzt und standen ernsthaft mit Gewehr bei Fuß. 
    „Ich muss jetzt erst mit der Kompanie  sprechen. Die Ablösung kommt morgen." 
    „Erst morgen? - Bedenken Sie, dass diese Nacht  der Angriff geplant ist!" 
    Die Freiwilligen schlossen sich um mich. 
    Der Matrose mit seinem Freund ging hinter mir hinaus. Es musste so  aussehen, als wäre ich eine ganz gefährliche Person, die sie verhaftet  hätten. 
    „Lauf einer voraus! Und ruft die Kompanie in  die große Stube Nummer zwei!" 
    Als wir uns der Baracke näherten, drängten alle mit lauten Rufen in die  bezeichnete Stube hinein. Ich ging langsam und überlegte. Dadurch bekam  unser Aufzug etwas Feierliches. Ich trat in die Stube, die Leibwache  hinter mir. 
    „Kameraden! Ihr habt geglaubt, dass sie mich festgenommen hätten. Das  stimmt nicht. Ich danke euch aber für eure Sorge um mich. — Das  Generalkommando hat mir versprochen, morgen früh um neun die Ablösung  zu schicken." 
    „Wieder einen Tag verschoben!" schrie ein junger Kerl, der oben auf  einem Bett saß - es waren immer zwei Betten übereinander. - „Wir wollen  heute um elf Uhr abgelöst sein, sonst verlassen wir die Wachen auch  ohne Ablösung!" 
    „Aber Kameraden! Wie sollen sie jetzt in einer Stunde die Ablösung  schicken? Die Eisenbahn kann doch auch gar nicht so schnell einen Zug  stellen!" 
    „Unerhört!" schrie ein anderer. „Das  hätten sie sich doch früher überlegen können!" 
    „Aber da sie sich's nicht überlegt haben, kann  es nicht mehr gemacht werden." 
    „Du nimmst sie noch in Schutz?" schrie der Junge vom Bett herunter.  „Wir dürfen uns das nicht gefallen lassen! -An einer Truppe, die sich  das gefallen lässt, kann auch der Regierung nichts gelegen sein!" 
    „Und was ist dein Vorschlag?" 
    „Wir streiken um elf!" schrie ein  anderer. 
    „Wir müssen um elf streiken", schrie der vom Bett, „damit die Regierung  merkt, dass wir richtige Kerle sind!, und keine Schlappschwänze, die  der Regierung nichts nützen!" 
    „Kameraden! Die Lage ist so: Wenn wir streiken, so ist unser ganzes  Hier sein umsonst gewesen! Dann kommen die vom Nachrichtenbataillon und  beherrschen wieder das Lager! Wollt ihr das? - Außerdem kommen diese  Nacht die Kommunisten von Riesa und Großenhain und wollen uns ausheben!  Wollen wir uns ausheben lassen?" 
    Sie schwiegen. Dann schrie der vom Bett: „Wir  müssen streiken! Wir müssen der Regierung zeigen, dass wir tüchtige Kerle  sind." 
    „Das haben wir ihr gezeigt! - Ihr hättet nur hören sollen, wie  freundlich mich der Oberst Graf Giesmar vom Generalkommando gebeten  hat, doch noch diese Nacht Wache zu stehen! - Ich möchte eure Ansichten  wissen: Wollen wir zur Regierung stehen und das Lager gegen den  angekündigten Angriff verteidigen?" 
    „Wir stehen zur Regierung", sagte einer. 
    Andere nickten. 
    „Seid ihr alle der Meinung? - Wer nicht will,  soll sprechen!" 
    „Wir stehen zur Regierung", sagte der Junge vom Bett herunter. „Aber  wir lassen uns diese Behandlung nicht gefallen. Wir wollen noch bis  morgen früh um neun stehen. Wenn dann wieder keine Ablösung da ist,  rücken wir von der Wache ab!" 
    „Sind die andern mit diesem Vorschlag  einverstanden?" 
    „Ja, ja", sagten mehrere. 
    „Gut! Abgemacht!" Ich wandte mich, um hinauszugehen, und begegnete dem  Blick des Matrosen. „Sollen wir dich begleiten, Ludwig?" 
    „Ach, was soll mir denn geschehen, Karl?  Bleibt nur hier!" 
    Am Eingang zur Kommandantur standen nachlässig fünf vom  Nachrichtenbataillon, als ob sie auf etwas warteten. Einer bemerkte  mich und flüsterte mit den anderen. Dann sahen sie mich alle an. Ich  schritt in gerader Haltung an ihnen vorbei. Auch im Vorraum standen  einige und beobachteten mich. 
    „Melde mich mal an!" sagte ich zu einem  der Schreiber. 
    Er erhob sich sofort und kam gleich wieder.  „Herr Major lässt bitten." 
    Der Major wartete, bis die Tür geschlossen  war. „Nun?" 
    „Ich melde, dass die Kompanie noch bis morgen früh um neun Wache steht.  Wenn aber dann die Ablösung immer noch nicht da ist, wird es ernst!" 
    Der Major lachte über das ganze Gesicht und schüttelte mir die Hand.  „Dort draußen stehen sie schon und warten, dass sie uns wieder ausheben  können, das Gesindel! Aber die werden sich ärgern." Er riss die Tür auf  und rief den Schreibern zu: „Nehmen Sie in den heutigen  Kommandanturbefehl auf: Die Sicherheitskompanie übernimmt die  Lagerwache weiter bis morgen neun Uhr und wird dann durch eine neu  eintreffende Sicherheitskompanie abgelöst." 
    Der Beauftragte hatte seine Pfeife aus dem Munde genommen und gab mir  die Hand. „Wir haben hier wie auf Kohlen gesessen!" Er lachte breit und  gutmütig. 
    Gegen Abend rief ich die wachtfreien Mannschaften der Kompanie zusammen  und fragte, wer Lust hätte, Streifen gegen Riesa und Großenhain zu  machen, um festzustellen, von wo sie kämen. 
    „Vor allem", sagte der Matrose, „müssen  wir wissen, was das Nachrichtenbataillon macht." 
    „Die Kommandantur hat mir mitgeteilt, dass dort ein Streit ausgebrochen  ist. Weil wir uns verpflichtet haben, noch bis morgen zu stehen, haben  die meisten Nachrichtenleute die Hoffnung aufgegeben und wollen  entlassen sein. Aber es ist eine Geldsperre über sie verfügt worden,  bis sie sich entwaffnen lassen. Daher können die gewählten Führer das  Entlassungsgeld nicht zahlen und werden von ihren eigenen Leuten  beschimpft. Von denen droht also nicht viel Gefahr. - Wer geht auf  Streife?" 
    „Ich! Ich!" schrieen einige. 
    Der Matrose sah seinen Freund an und sagte  darauf: „Lass uns nach Riesa! Wir kennen dort die Kneipen, wo man so was  erfährt." 
    Sie rückten ab, ohne Armbinden und Lederzeug, nur die Pistole in der  Tasche, und sahen recht wild aus. Wir stellten die Maschinengewehre auf  und machten Probealarm. Alle waren erregt, saßen in den Stuben und  schwatzten. 
    Um zehn ging ich hinaus, um die Posten zu kontrollieren. Der Himmel  hatte sich umzogen, und es war so dunkel, dass die Angreifer in dem  unregelmäßigen Waldgelände große Schwierigkeiten haben würden, sich  zurechtzufinden. 
    Der Matrose und sein Freund kamen von Streife  zurück. 
    „Heute kommt niemand! In Riesa ist gar nichts los. Wir haben in  mehreren Kneipen einen Schnaps getrunken und haben so herumgehorcht.  Wir haben auch verschiedene ausgefragt - mich als Matrosen halten sie  doch für einen ganz Radikalen! -, aber die wussten alle von nichts!" 
    Die andere Streife kam erst sehr spät wieder, weil sie sich in der  Dunkelheit verirrt hatte. Auch ihr war nichts Verdächtiges aufgefallen.  Wir gingen zu Bett. 
    Als ich um acht Uhr früh aufwachte, fiel mir sofort ein: Wenn die  Ablösung um neun nicht da ist? Na, ob die Wachen ein paar Stunden oder  auch Tage unbesetzt blieben, das wäre mir ja ziemlich gleichgültig.  Aber es brächte neue Unruhe und Misstrauen in die Truppe! - Ich trank  unruhig meinen Kaffee und vertiefte mich dann in Schriftstücke. Auf  einmal fuhr ich auf: Es war schon nach neun. Ich setzte mir die Mütze  auf und schlenderte scheinbar in größter Gemächlichkeit nach dem  Bahnhof. Dort war alles leer. Ich ging nach der Kommandantur und  fragte, ob sie Nachricht hätten, wann die Ablösung käme. Sie wussten  nichts. 
    Auf dem Rückweg zu unserer Baracke traf ich  den Matrosen. „Du", sagte ich, „diese Saubande lässt uns wieder  sitzen!" 
    „Na, da warten wir noch ein bisschen." „Ja, ihr seid verständig! Aber  die andern?" „Niemand hat heute Lust, Spuk zu machen. Sie haben sich  gestern genug aufgeregt." Er hatte recht. 
    Die Mittagszeit kam heran und der Nachmittag. Ich ließ neue Wachen  aufziehen. Niemand hatte etwas dagegen. Schließlich um sechs kam die  Ablösungskompanie, und wir fuhren zurück nach der Garnison. - In meiner  Kasernenstube war es mir öde und ungastlich. Im Zeithainer Lager war  ich so nah mit der Kompanie zusammen gewesen. Hier in der Stadt  zerstreuten sie sich wieder, und ich blieb allein. 
    Vor Unruhe ging ich aus und in ein Cafe, wo Musik spielte. Am  Nachbartisch saß ein freundliches Mädchen mit ihrem Burschen. Sie waren  nett miteinander. Was mochte der Bursche sein? Und was für eine Wohnung  bekommen sie, wenn sie heiraten? Ein enges Zimmer, wo sie ihre Wäsche  aufhängt, über den flachen Herdofen, an einem Strick, der vom Türrahmen  zum Fensterkreuz gespannt ist! 
    Ich holte mir die „Berliner Illustrierte", fand aber nichts für mich  und ging nach Hause. Das elektrische Licht brannte wieder einmal nicht  So musste ich schlafen gehen.  | 
  
    
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