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Jan Petersen - Unsere Straße (1933)
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Seine Lippen sind schmal. Alt sieht er aus. Mir ist, als hätte ich ihn jahrelang nicht gesehen.
„Du gehst mit Ernst Schwiebus eure Fünfergruppen benachrichtigen", sagt er.
„Um sieben ist Demonstration. Alter Sammelplatz. Sorgt dafür, dass alles blitzschnell geht!"
Seine grauen Augen glänzen. Knapp, als wiederhole er nur, was längst besprochen ist, sagt er das. Der ist schon mit der Zeitungsmeldung fertig - schon einen Schritt weiter.
„Mach's gut - ich muss weiter!"
Ich will reden, ihm alles sagen, was in mir wühlt. Aber Franz ist schon an der Tür, nickt mir noch mal zu, springt in langen Sätzen die Treppen hinunter.
Demonstrieren - schon wieder?! Es ist, als ob wir uns noch mal satt demonstrieren wollen! - Was bleibt von unserem persönlichen Leben jetzt noch übrig? Übermorgen ist der 1. Februar. Da wollte ich zu Zanders ziehen. Wir wollten heiraten, Käthe und ich. Aber vorige Woche haben sie Willi aufgenommen. Er ist illegal. Aus Mitteldeutschland geflüchtet. Sie suchen ihn. Er hat Flugblätter in eine Reichswehrkaserne geschmuggelt. So blieb alles, wie es war. Wir können doch nicht zu fünft in den zwei Zimmern wohnen.
Der Abend kommt. Wir gehen in kleinen Gruppen durch unsere Straße. Sie ist wie ein Ameisenhaufen, in den man getreten hat. Vor allen Haustüren stehen Menschen, diskutieren erregt.
Der Sammelplatz ist ein wogender Menschenhaufen. Er zieht sich aber blitzschnell auseinander, Viererreihen formieren sich. Die Luft ist geladen. Ich sehe nirgends eine Fahne. Da kommt mir die Situation wieder zum Bewusstsein. - Die beschlagnahmen sie sonst gleich! Die Demonstration ist ja nicht angemeldet - dummer Gedanke - wie kann sie es auch sein? Wo ist die Polizei? Ich sehe keine. Dort sind unsere Gruppen I
'n Abend ihr", sage ich hastig.
Käthe gibt mir die Hand. Sie freut sich.
„Ist Willi auch hier?"
Sie sieht mich erstaunt an.
„Nein. Der muss sich doch vorsehen."
„Ich marschiere mit den Häuserschutzstaffeln", sage ich schnell. Ich ärgere mich. Dass ich jetzt die blöde Frage nach Willi gestellt habe!
„Die sind vorn. Ich bleibe hier", sagt Käthe.
Das alles hat nur Augenblicke gedauert. Vorn setzt sich der Zug schon in Bewegung. Ich laufe. Eine rote Fahne steigt plötzlich links aus dem Zug - dort - noch eine! Hier ist die Polizei! In kleinen Gruppen läuft sie neben dem Zug her, mit dem Sturmriemen unter dem Kinn. Dort fährt auch ein Lastwagen! Er ist dicht mit blauen Uniformen besetzt. Wie lang der Zug ist! Straffe Reihen junger Burschen kommen. Die Häuserschutzstaffeln. An ihrer Spitze gehen Richard Hüttig und Franz Zander. Sie werfen mir einen kurzen Blick zu, als ich neben ihnen auftauche.
„Das wird unsere letzte geduldete Demonstration sein!" höre ich Franz sagen. Seine Stimme klingt hart.
In Hüttigs Gesicht zucken die Kinnladen.
„Ja - dann kommt das Parteiverbot!"
„... reinen Tisch macht mit dem Bedränger - Heer der Sklaven, wache auf ..."
Wir singen. Es ist uns plötzlich wie ein neues Lied, als ob wir es zum ersten Mal singen. Mir wird heiß unter der Jacke, mein Herz klopft.
„... erkämpft das Menschenrecht..."
Das Lied ist vorbei. Nur unsere Stiefel klappen. Wenig Polizei, sie hält sich auch abseits. Die wissen, dass sie heute nicht nur Demonstranten vor sich haben, sondern eine maßlos erregte Volksmenge, voller Hass und Entschlossenheit. Die engen, schlecht beleuchteten Straßen, die dichten Menschenreihen auch auf den Bürgersteigen, sie werden sich hüten ...
Franz sieht Richard Hüttig an.
„Is 'ne Demonstration heute! Die ganzen Straßenseiten voll. Alles dabei, viele Sozialdemokraten."
„Wenn's nur nicht schon zu spät ist!"
Eine helle, starke Stimme ruft plötzlich: „Nieder mit der Hitlerregierung! Nieder mit dem Faschismus!"
„Nieder! Nieder! Nieder!" schreit es tausendstimmig.
Auf dem Lastwagen der Polizei dreht sich der Scheinwerfer, der bisher die Straßenfenster abgesucht hat, mit einem Ruck zu der Stelle, von der der Ruf kam. In Gruppen rennen Schupos an uns vorbei. Ich sehe, wie sie dort abwartend neben dem Zug hergehen. Sie teilen sich aber bald, kommen zu uns an die Spitze, rennen auch nach hinten, wo der Zug eben als dunkle Schlange um eine Ecke biegt. Von überall kommen jetzt Rufe aus dem Zug. Jedes Mal rennen Schupos. Aber ich fühle: sie wollen uns nur einschüchtern, sind selbst verstört. Sonst haben sie immer längst dazwischengeschlagen. Der Polizeilastwagen kommt langsam den Zug entlanggefahren. Sein Scheinwerfer tastet unsere Reihen ab. Sie wollen vor Überraschungen sicher sein.
Wir ziehen an einer Fabrik vorbei. Der uniformierte Pförtner steht in der Toreinfahrt. Die Fenster der Werkhallen sind hell erleuchtet.
„Franz!"
Er sieht mich an.
„Wir müssen morgen früh vor den Betrieben sein. Wenn die weiterarbeiten ..."
„Kommst nachher mit, aber unauffällig. Schon besprochen", sagt er kurz.------
Eine Stunde später. Richard Hüttig und Franz Zander gehen zehn Meter vor mir her. Die Straßen liegen leer und verschlafen. Sie gehen in eine Kneipe. Ich folge ihnen. Sie stehen schon an der Theke und trinken Bier. Die trinken jetzt ruhig Bier! Ja, was denn, ich denke...? Da gehen sie schon wieder. Endlos lang sind die Straßen. Wir sind doch gar nicht mehr in unserem Bezirk! Sie verschwinden wieder in einer Kneipe, stehen wieder an der Theke. Was soll denn der Blödsinn! Ich will auf Franz zugehen, ihm meine Meinung sagen, da gehen sie auch schon an mir vorbei, hinaus. Sie sehen mich überhaupt nicht an. Ihre Gesichter sind so abweisend, dass mir die Worte in der Kehle steckenbleiben. Die tun, als ob sie mich überhaupt nicht kennen! Ich laufe wieder hinterher. Ist ja alles albern. Die sind verrückt, total verrückt! Eine dritte Kneipe kommt. Ich nehme mir fest vor, mich diesmal nicht wieder wie ein Trottel hinterher lotsen zu lassen. Die beiden bestellen wieder Bier. Das Lokal ist schwach besucht, nur an einem Tisch sitzt eine lärmende Skatrunde. Die Karten klatschen auf das Holz. Ich sehe, wie Franz und Richard die leeren Gläser absetzen. Wenn sie jetzt an mir vorbeigehen ... Aber sie gehen langsam durch den Raum, verschwinden hinter einer Tür.
Das Zimmer ist sehr voll. Ich setze mich still in eine Ecke. Die Gesichter ringsum sind mir fremd. Franz und Richard sitzen an der anderen Seite.
Ein großer, rotblonder Mann steht vorn an einem quergestellten Tisch. Er sieht alle der Reihe nach an, wirft jedem ein Wort an den Kopf.
„Du?"
Es ist wohl für alle wie eine lange Frage. Die Antworten kommen knapp zurück: „Rote Hilfe - Zelle 217 - IAH - Zelle
274-."
Franz nennt unsere Zellennummer. „Häuserschutzstaffeln",
sagt Hüttig.
„Du?"
Der Rotblonde sieht mich mit zusammengekniffenen Augen an. Sein Blick verwirrt mich......Ich ... ich ..."
„Wer kennt ihn?!" höre ich ihn scharf fragen.
„Ich - ist in Ordnung!" sagt Franz drüben.
Neben ihm hebt Richard Hüttig den Zeigefinger. Ich kenne ihn auch, soll das heißen. Und ob Richard mich kennt! Auf einmal freue ich mich sehr, dass er mich kennt, ja, ich bin sogar stolz. Wie lange kenne ich ihn eigentlich? Drei Jahre schon. Wie er vornübergebeugt dasitzt! Seine gedrungene Gestalt sieht jetzt noch kleiner aus. Er macht immer ein so ernstes Gesicht, als ob er ständig über schwere Fragen grübelt. Jetzt sind die Falten um den schmalen Mund, über den buschigen Augenbrauen in der Stirn noch tiefer. Die dunkelblonden, dichten Haare liegen wirr darüber. Wie er hier wohl reden würde? Wie immer, knappe Sätze. Rauh. Er hat immer halb gebellt. Richard!
Ich war wohl der letzte, der gefragt wurde. Der Rotblonde vorn spricht: „Genossen! Für uns kommen morgen früh folgende Betriebe in Frage: die Aronwerke, Zwietusch, das Wernerwerk und das Schaltwerk in Siemensstadt. Die Flugblätter werden heute nacht an den euch bekannten Stellen in der Laubenkolonie abgezogen. Ihr holt sie morgen ganz früh ab."
Er macht eine Pause, sein Blick geht die Reihe herum.
„Bleibt bis dahin die Nacht durch in Alarm. Ihr habt doch eure Genossen verständigt? Es wird ..."
Die Tür geht auf. Ein junger Genosse geht auf den Rotblonden zu. Sein Gesicht ist krebsrot, er sieht abgejagt aus. Sie sprechen leise, dann geht der junge Genosse.
Der Rotblonde sagt wieder: „In diesem Augenblick macht die gesamte Berliner SA einen Fackelzug durch das Regierungsviertel. Sie wird siegestrunken zurückkommen, ein Grund mehr, wachsam zu sein! Ist alles klar - oder hat noch jemand eine Frage?"
Niemand meldet sich.
Wir gehen einzeln. Die Straßen sind ausgestorben. Mich spannt das Unnatürliche dieser Ruhe. Mein Kopf schmerzt.
Vom Rathausturm schlägt es viertel zwölf. Wir stehen bei Rothacker im Hausflur. Die Haustür klappt. Es ist Paul Teichert.
„Was Neues?"
„Nein. Der Fackelzug wird noch nicht zu Ende sein!"
„Bilden wir uns vielleicht nur ein, dass die Dreiunddreißiger heute ihr Mütchen an uns kühlen wollen. Die haben sicher genug mit ihrer ,Siegesfeier' zu tun."
„Mich soll es wundern, wenn sie uns ihren ,Sieg' nicht kosten lassen. Was kann ihnen denn jetzt noch passieren? Die Polizei? Die wird sich hüten, gegen die politische Wehrorganisation des neuen Staates einzuschreiten. Er ist erst knapp zwölf Stunden alt - aber er ist der zukünftige Brotgeber! Wer bringt da noch seine Stellung, seine Pension in Gefahr?"
Franz spricht in die Ecke hinein, wo Rothackers Nickelbrille glänzt.
„Ich habe vorhin auf meinem Rundgang keinen Tschako gesehen. Die rechnen wohl auch damit - alle Augenblicke kommt doch sonst die Streife hier durch!"
Paul Teichert hat seinen Mantelkragen bis über die Ohren hochgeklappt. Er sagt halblaut: „Ist schon so. Wenn wir uns nicht selbst schützen, ist's aus. Haben wir an Braunschweig und Altona gesehen. - Die Jungs in Altona waren richtig."
„Ist Stani in Alarm?" fragt Rothacker.
Stani ist der abgekürzte Name des Lokals, in dem unser Massenselbstschutz liegt.
„Selbstverständlich. Sie haben sogar Radfahrerpatrouillen."
Franz räuspert sich, spuckt aus.
Lange fällt kein Wort.
Dann ist wieder Rothackers Stimme da, sie scheint von weit herzukommen.
„Ich habe mir das alles schon oft durch den Kopf gehen lassen, Franz. Was haben viele von uns schon hinter sich! Ich auch. Vier Jahre Dreck und Blut im Krieg. Spartakus, Neunzehn, dann Dreiundzwanzig..."
Ein Auto fährt draußen vorbei. Wir spähen hinaus. Es ist nur ein Taxi.
„... Dreiundzwanzig. Da haben wir auch gesessen und gewartet - auf unseren Anfang! Heute stehen wir in Alarm - um unser nacktes Leben."
„Die Revolution ist ein Auf und Ab", sagt Franz leise.
Teichert reckt sich. Er gähnt. Dann sagt er: „Manchmal könnte man verzweifeln. Tote, Tote, Tausende. Zuchthaus, Maßregelung, die ganzen Jahre. Die Nazis quatschen immer über ihre ,alte Garde'. Arschlöcher die! Haben immer die Kanone ungestraft in der Tasche getragen - die Justiz für sich gehabt. Schöne ,alte Garde'!"
Die Haustür fliegt auf. Wir fahren herum. Ernst Schwiebus! Er fuchtelt mit den Armen, atmet schwer.
„Die Nazis - ein Radfahrer ist hier - sie kommen!"
Wir stürzen hinaus.
„Sie müssen gleich hier sein - der ganze Sturm!" sagt der Radfahrer hastig. Es ist ein junger Bursche mit einer Ballonmütze.
„Verständige Richard und die Staffeln!" sagt Franz.
Der Radfahrer springt auf, saust los. Franz dreht sich um.
„Los! Hofalarm! Jeder nimmt ein paar Genossen. Rothacker bleibt bei mir!"
Aus unserm Lokal Werner stürzen auch schon Genossen. Rasselnd fahren die Jalousien herunter. Wir reißen die Haustüren auf, rennen auf die Höfe. Schreien in Sprechchören gegen die schwarzen Wände: „Achtung! Achtung! Die Nazis stürmen die Wallstraße!" In den Fenstern flammt Licht auf. Menschen kommen die Treppen heruntergehastet. An der Straßenfront klappen Fensterriegel. Ein Mann rennt in einem Bademantel an mir vorbei, er hat darunter nur das Nachthemd an. Unsere Straße ist wach! Vom Knick der Straße kommt plötzlich Gesang:
„... Die Straße frei den braunen Bataillonen! - Die Straße frei dem Sturmabteilungsmann!..."
Sie singen nicht, sie brüllen. Die nächsten Worte gehen in ohrenbetäubendem Pfeifen und Rufen unter.
„Nieder! Nieder! - Rot Front! Rot Front!"
Ich sehe den dunklen Menschenhaufen schnell näher kommen. Das ist kein Marsch mehr! Sie hasten, schieben sich in dichtem Knäuel vorwärts. Mitten in den Haufen hinein klatscht es plötzlich dumpf - Blumentöpfe! Ein wüstes Gebrüll steigt aus dem Knäuel, dann eine schrille Stimme: „Fenster zu! - Straße frei!"
Die wollen Polizei spielen! Sie kommen näher, ich sehe die Schnallen der Schulterriemen im Laternenschein glänzen, die Schlösser ihrer Koppel.
„Da! - Da! - ein Schupo!"
„Ja!"
Ein einzelner Schupo läuft vor dem Zug her, sein Tschako glänzt. Ein Brauner läuft neben ihm. Ich sehe, wie der Schupo erregt auf den Braunen einspricht. Der aber dreht sich um, brüllt, brüllt in den Höllenlärm:
„Ausschwärmen! - Feuer auf die Fenster!"
Rothacker packt Franz an den Rockaufschlägen, sein Gesicht ist weiß.
„Die Hunde! - - Die Hunde! - - Die Hunde!"
Der Uniformknäuel zieht sich auseinander. Ein ununterbrochenes Knattern springt gegen die Häuserwände, die dunkle Straße ist vom Mündungsfeuer der Pistolen zerrissen. Der Feuerkreis schiebt sich langsam zu uns heran. In das Knallen der Schüsse hinein klatschen immer noch Wurfgeschosse aus den Fenstern, kommen noch aus allen Häusern der Wallstraße Rufe: „Bluthunde! - Arbeitermörder!" Meine Kehle ist zugeschnürt, ich zittere, kann es nicht beherrschen. Plötzlich sehe ich, wie der Schupo vor dem Zug aufhört, zu laufen. Er reißt sich die Arme vor den Leib, dreht sich um sich selbst und stürzt. Der einzelne SA-Mann neben ihm springt herum, er will wohl dem Haufen etwas zurufen. Seine Arme fuchteln in der Luft - fallen plötzlich herunter - er sackt in die Knie.
Was ist denn - was denn?! Ich kann keinen klaren Gedanken fassen. Aus der vor uns liegenden Seitenstraße rennen jetzt einzelne Gestalten. Sie springen in die Häusernischen. Vereinzelte Schüsse blitzen auf.
Jetzt jagt die SA an uns vorbei. Die Schaftstiefel trappeln um die Ecke. Verschwunden sind sie wie ein Spuk. Zwei dunkle Körper liegen auf dem Asphalt.
Einige Minuten später schrillt die Sirene eines Polizeiüberfallautos. Der Wagen kommt in rasender Fahrt heran. Das Licht seiner Scheinwerfer streift den Asphalt. Er bremst kreischend. Das Scheinwerferlicht steht jetzt auf den dunklen Körpern auf dem Asphalt. Zwei von unseren Stanileuten gehen auf die Schupos zu. Die Schupos haben ihre Pistolen in den Händen.
Ich höre die Stimme des einen Genossen klar und fest: „Die Nazis haben einen Überfall auf die Wallstraße gemacht!"
Er zeigt auf die Gefallenen.
„Die gehen auf ihr Konto, Herr Wachtmeister!"
Sie helfen noch die beiden aufladen.
„Zum Krankenhaus Westend! - Schnell! — Schnell!"
In derselben Nacht. In der Laubenkolonie Siemensstadt. Wir sind nach dem SA-Überfall gleich hierhergegangen.
Franz klappt den federnden Deckel des Abziehapparates zu und gähnt. Ich wische mir die mit Farbe beschmierten Hände an einem Lappen ab.
„Wie spät ist's?"
„Kurz vor vier" sagt Strubbel. Er hält seine Taschenuhr dicht an die Petroleumlampe.
Ich biege meinen schmerzenden Rücken zurück. Mich fröstelt. Schlafen, bloß schlafen können! Im Mund habe ich einen faden, metallenen Geschmack, der die Müdigkeit bis zum Übelsein steigert.
„Bist ooch fertig, wa?" fragt Strubbel. Sein schwarzes Haar hängt ihm wirr ins Gesicht. Man hat dauernd das Gefühl, es ihm zurückstreichen zu müssen.
„Soll man nicht sein!" antwortet Rothacker für mich. Er liegt halb ausgestreckt auf dem wackligen Sofa der Laube. Er ist blass. Seine Augenränder hinter den Brillengläsern sind rot entzündet.
„Lasst man, sind auch tausendfünfhundert Blatt!" tröstet Franz. Und zu Strubbel sagt er: „Hätt'st du allein nicht nudeln könn'." - „Nee!"
Die Flugblätter liegen quer und längs gestapelt auf dem Tisch. Sie sind noch feucht.
„Wenn die andern ooch so ville ham, wird Siemens überschwemmt!" freut sich Strubbel.
Niemand antwortet. Ich habe mich in den ausgefransten Korbsessel gesetzt und döse. Franz sitzt neben Rothacker. Jetzt, da der Körper ohne Bewegung ist, wird das Schlafbedürfnis noch stärker. Ich muss die Augen krampfhaft offen halten.
An den Bretterwänden rings hängen mit Papier ausgestopfte Kaninchenfelle an Schnüren. In der linken Ecke steht ein eisernes Feldbett mit einer zerschlissenen roten Steppdecke. Hinter der danebenliegenden schmalen Tür schlafen Strubbels Frau und der dreijährige Heini. Strubbel wohnte früher bei uns in der Straße. Er ist seit drei Jahren arbeitslos. Er wurde vom Wirt exmittiert. Der ließ ihm die Möbel auf den Bürgersteig stellen. Strubbel zog damals zu Genossen. Später haben wir ihm die Laube bauen helfen. Jetzt ist er politischer Leiter unserer Zellen in der Siemensstädter Laubenkolonie. Siemensstadt ist Nazihochburg. Alles Kleinbürger. Bei den Wahlen hängen aus zehn Fenstern acht Hakenkreuzfahnen.
Jemand rüttelt an meiner Schulter, ich bin doch eingenickt.
„Los, is Zeit!"
Strubbel schlägt den Kartoffelsack, der vor der Tür hängt, zurück.
„Macht's jut. Lasst euch nich schnappen!"
In den Laubengängen riecht es nach Mist und Verfaulendem. Irgendwo schlägt ein Hund an. Ein milchiger Dunstschleier liegt über den Lauben. Es ist kalt. Wir biegen scharf rechts ein. Der hohe Bahndamm taucht vor uns auf. Ein langer Güterzug fährt polternd über die Brücke. Die Lokomotive stößt dicke weiße Wolken in die Luft. Die Bahnhofsuhr zeigt einige Minuten vor fünf. Der Schaltervorraum ist leer. Der Knipser sitzt verschlafen in seiner „Wanne". Er sieht uns fragend an.
„Wir warten draußen", sagt Franz halblaut.
Auf dem Kanalwasser hinter der Bahnüberführung zittert das Bogenlampenlicht. Ich lehne mich gegen das Geländer.
„Sie kommen!"
Ernst Schwiebus, der Konfektionär, Heinz Preuß und Ede sind da.
Ede trägt sein Glasauge. Wir schütteln uns die Hand.
„Heute nacht war in der Wallstraße Razzia, du!" sagt Schwiebus. „Um zwei Uhr haben sie die Zugangs Straßen besetzt. Paul Teichert war nicht am Treffpunkt. Wird nicht raus können, du." Das „Du" ist bei Schwiebus oft am Abschluss seiner Sätze, eine Angewohnheit von ihm.
„Weißt du Näheres? Verhaftungen?" fragt Franz.
„Nein. Ist aber möglich, du."
„Wir müssen uns überlegen, wo wir die Nacht waren!" Franz nickt mir und Rothacker zu.
Wir verteilen hastig die Flugblätter. Jeder steckt sich die Taschen voll. Ein hell erleuchteter Zug fährt über die Brücke vor uns. Franz drängt zur Eile. Er sagt: „Du sprichst bei deiner Gruppe, Schwiebus. Ich bei uns. Fangt an der Zugspitze an, wir nehmen die hinteren Wagen. Wir pendeln, kommen mit den leeren Zügen hierher zurück. Wenn eine Kolonne nicht ankommt, verlässt die andere den Bahnhof. Auf den Bahnsteigen aufpassen, ob die Luft rein ist. Los!"
„Ich kann nur bis sieben Uhr, du, mein Tretmotor wartet", sagt Schwiebus hastig. Er ist Fahrradbote in einem Parfümgeschäft.
„Sind wir längst fertig!"
Wir trennen uns. Meine Nerven sind angespannt. Die Müdigkeit ist verflogen. Nur im Kopf ist ein dumpfer Druck, und die Augen brennen. Der Bahnsteig ist voller Menschen. Ununterbrochen laufen jetzt die elektrischen Züge ein. Die Frühschicht der Siemenswerke fährt zur Arbeit. Tausende. Am ersten Morgen nach der Kanzlerernennung Hitlers.
Das Abteil riecht nach Schweiß und kaltem Rauch. Mit verschlafenen Gesichtern sitzen die Menschen auf den Bänken. Einige lassen die Köpfe hängen. Sie schlafen hier weiter, nützen die Bahnfahrt aus. Wir drücken jedem ein Flugblatt in die Hand. Ich bin benommen. Es ist alles so anders, als ich es erwartet habe. Niemand diskutiert, keine Erregung ist zu spüren. Sie nehmen uns die Flugblätter stumm ab. Einige lesen darin, die meisten stecken sie gleich in die Tasche. Franz stellt sich in die Wagenmitte. Laut fängt er an:
„Kollegen! Gestern ist Hitler Reichskanzler geworden. Der deutsche Kapitalismus hat ihn gerufen, er sieht aus seiner Krise keinen andern Ausweg als noch größere Ausbeutung der Arbeiterschaft. Hitler soll aus Deutschland ein Arbeitszuchthaus machen. Jeder Widerstand soll durch Terror erstickt werden. Gestern abend hat schon die SA begonnen, Arbeiterbezirke zu überfallen. Kollegen! Die Arbeiter der ganzen Welt blicken in diesen Stunden auf euch. Auf euch in den Betrieben wird es ankommen, ob der blutige Faschismus sein Vorhaben durchführen kann." Hinter den Wagenfenstern ödes Land. Bunte Signallichter. Franz wirft einen schnellen Blick seitwärts, spricht rascher. „Wir Kommunisten, Arbeitslose und Betriebsarbeiter, kommen zu euch, um kameradschaftlich mit euch dagegen zu kämpfen. Wir sagen euch: Rührt heute keinen Schalthebel an! Setzt keine Maschine in Gang! Macht sofort in den Garderoben, in den Speisesälen, überall, Abteilungsversammlungen! Besprecht die Lage. Wählt euch Aktionsausschüsse. Es gibt nur eine Antwort auf die Hitlerdiktatur: Politischer Massenstreik in ganz Deutschland! Es geht um euer Leben, um die Zukunft eurer Kinder, denkt daran!"
Franz spricht leidenschaftlich. Ich beobachte die Gesichter ringsum. Alle Augen hängen an ihm, aber das Abteil bleibt auch jetzt stumm. Sie müssen uns verstehen, sie müssen begreifen. Jetzt, in diesen Minuten!
„Los diskutieren!" raunt uns Franz zu.
Der Zug geht in eine steile Kurve, liegt ganz schräg.
Ich trete in eine Bankreihe. Zwei junge Arbeiter, ein älterer und eine Frau sitzen dort. Die Frau hat das Flugblatt zu einem kleinen Viereck zusammengekniffen, dreht es zwischen den Fingern. Der Alte liest darin, die beiden andern müssen es schon in die Tasche gesteckt haben.
Gelesen haben sie es dann nicht.
„Kollegen! Wir dürfen so nicht auseinander gehen. Ihr fühlt sicher wie wir, dass etwas geschehen muss. Heute noch! Die Arbeiterschaft muss sich wehren. Sprecht sofort mit euren Abteilungskollegen."
Ich stehe vornübergeneigt, der schwankende Zug schüttelt mich. Die Frau sieht mich mit kleinen, unruhigen Augen schräg an. Ihr Mund ist zusammengekniffen. Streiken! Hast einen schlauen Bauch, mein Lieber! scheint ihr Blick zu sagen. Der junge Arbeiter links zuckt mit den Schultern. „Schon richtig - ja", sagt er gedehnt. Der neben ihm nestelt verlegen an seiner Frühstückstasche. Draußen über dem Land liegt eine dünne, schmutziggraue Eisschicht.
„Wir können nichts machen. Man muss abwarten, was die Gewerkschaften beschließen", sagt da der Alte.
An seinen ruhigen, dunklen Augen finde ich endlich Halt.
„Nicht abwarten, Kollege. Irgendwie muss doch ein Anfang gemacht werden. Die andern werden dann mitgerissen!"
Der Alte schüttelt den Kopf.
„Ohne Anweisung der Gewerkschaften! Ohne Streikkassen! Einfach wild drauflos?!" Der Junge links nickt zustimmend: „Unmöglich!"
„Die Arbeit verlieren wir nur dabei, die Arbeit!" wirft die Frau spitz ein.
„Gegen die gesamte Arbeiterschaft können sie nicht..."
Der Zug bremst zischend und hält. Alle drängen zur Tür. „Wernerwerk" steht draußen auf großen Emailleschildern.
Auf dem offenen Bahnsteig pfeift ein eisiger Wind. Dicht vor uns ragen Werkgebäude. Die hellen Fenstervierecke steigen hoch in den fahlgrauen Himmel. Hinter den Glaswänden sieht man wie ein Gerippe die breite Treppe. Kleine Punkte von Menschen wimmeln. Über den Werkhof unten links ziehen dichte Reihen. Zehntausende sind in ein paar Minuten verschluckt. Wenn sie alle ...
„Dort! Vor dem Bahnhof, vor dem Werkeingang Flugblattverteiler!" sagt Rothacker.
„Die Laubenkoloniezellen."
Auf der andern Bahnsteigseite läuft ein leerer Zug ein. Schwiebus springt mit seiner Gruppe heraus.
„Was ist, du?"
„Bleibt hier oben, wir gehen zum Bahnhof Fürstenbrunn", sagt Franz.
Wir laufen hastig durch enge Straßen, in denen nur Fabrikgebäude stehen. Graue Mauern, davor ein Streifen Rasen und Eisenzäune. Ede ist jetzt bei uns. „Ick will mit", hat er gefordert. Arbeitertrupps kommen uns entgegen. Rothacker beginnt Flugblätter zu verteilen. Nirgends ist Polizei zu sehen.
„Lass, für die Brücke", sagt Franz.
Auf den Bürgersteigen liegen Flugblätter verstreut. Werfen sie einfach weg, sind die ganz Ängstlichen. Rechts bleiben die Fabriken zurück, die Fürstenbrunner Brücke taucht vor uns auf. Hier am Kanal ist der Wasseranschluss der Werke. Hinter der Brücke wölbt sich der dunkle Buckel des Bahnhofs Fürstenbrunner Weg. Er ist die zweite Bahnverbindung der Werke. Am Tage liegt er tot und still. Jetzt aber kommen Tausende hier an. In Viererreihen schieben sich die Arbeiter über die enge Brücke. Wir verteilen Flugblätter, sagen ein paar hastige Worte. Für Diskussionen ist hier nicht Zeit, alle haben es eilig. Mein Flugblattvorrat ist bald erschöpft. Auch Rothacker kommt mit leeren Händen.
„Und nicht mal Polizei!"
Franz sieht starr auf die vorbeihastende Menge.
„Hier hätte mehr sein müssen, viel mehr! Der erste Morgen nach der Hitlerkanzlerschaft, im größten Industriebezirk Berlins! Zweihundert Mann Schutz, ein Führer der Partei in der Mitte. Zwei, drei Minuten sprechen. Das wäre ein Signal für ganz Deutschland."
Wir stehen, bis der Zug der Arbeiter abbröckelt. Nachzügler rennen vorbei. Eine Sirene zerreißt die Stille, schwillt singend zu einem hellen Ton an und verröchelt winselnd. Franz ruckt mit dem Kopf. „Gehn wir!"
Unsere Stiefel klappen. Niemand spricht. Ein Gefühl der Ohnmacht füllt mich bis an die Haarwurzeln. Links ragt über das Häusermeer das breite, kantige Viereck des Siemensturmes. Dünne Rauchfahnen kriechen aus seiner Spitze. Er ist Schornstein und Uhr, das Wahrzeichen von Siemensstadt. Jede Turmseite trägt meterhohe Leuchtzeiger, um sie herum helle Vierecke, die Stundenmarkierungen. Kilometerweit kann man die Zeit ablesen. Die Zeiger scheinen mir höhnisch zu winken. „Ihr wollt Unruhe in den befohlenen Trab bringen? - Hier! - Auf die Minute genau sind alle gekommen. Hört ihr es brausen in den Hallen? Ha, ha, ha, es läuft alles weiter."
Franz sagt plötzlich rau: „Wir sind alle zur Stelle. Wir berennen die Industriefestungen. Von außen! Und das Echo drinnen?"
Sein Gesicht sieht müde und eingefallen aus. Die Mütze sitzt ihm tief im Genick. Er wiegt schwerfällig die breiten Schultern. Auch Edes und Rothackers Gesichter sehen verbissen aus. Eine furchtbare Wahrheit lag in Franzens Worten. Meine Füße sind wie Blei. Die physische Erschöpfung kommt dazu. Bloß schlafen, schlafen. Links beginnen die Laubenkolonien. Unsere Laubenkolonien. „Klein-Moskau" heißen sie hier. In einigen der niedrigen Fenster brennt gelbliches Licht. Dünner Rauch steigt senkrecht aus einem Blechschornstein. Ein Hahn kräht.
Rothacker sagt: „Wir sind alles Arbeitslose. Warum? Weil die Besten immer aus den Betrieben rausgeflogen sind! Bist du nicht selber hier rausgeflogen?! Jetzt von außen her - das ist nicht dasselbe!"
Franz dreht den Kopf. Er sieht Rothacker an, als sehe er ihn zum ersten Mal. „Unsere Gewerkschaftsarbeit —"
Er holt tief Atem.
„Du hast heute die Antworten gehört! Abwarten -"
Ede spuckt geräuschvoll aus und schlägt die Arme übereinander. „Verdammt kalt, watt?" Dann sagt er, als besinne er sich auf das Thema: „Abwarten, abwarten. Ick sage euch, darunter verbirgt manch eener watt. Der Heini Ketzel bei uns nebenan zum Beispiel. Ihr kennt ihn, Bulletenheini. Der arbeitet ooch hier, als Former. Sauschufterei, erzählt er, mit dem feuchten Sand und so. Er verdient een paar Kröten, so in die dreißiger Mark. Aber der hat Angst, die Käsearbeit zu valier'n, sage ick euch! Und dann: Für seine Kalle spart der. Die will een Koffergrammophon ham."
Er lacht verächtlich.
„Watt hab ick mit dem jeredt! Die Kleene, det Grammophon, sonntachs mit ihr int Kino - weiter interessiert den nischt. Von der Sorte jibt's 'ne Menge. Dett kommt dazu!"
Wir haben den Bahnhof Jungfernheide erreicht. Dicht besetzte Straßenbahnen fahren hintereinander vorbei. Über die Eisenbahnbrücke rollen Züge. Sie brennen noch Licht, obwohl es schon hell ist. Die Siemensangestellten fahren in die Büros.
Franz bleibt stehen.
„Trennen wir uns. Vorsicht in der Wallstraße."
Die Zeitungen bringen lange Artikel über die Vorfälle, die sich in der Nacht der Kanzlerernennung Hitlers in unserer Straße abgespielt haben. Der Schupo, den wir vor der schießenden SA plötzlich zusammenbrechen sahen, heißt Zauritz. Der SA-Mann aber ist der Sturmführer Maikowski vom Sturm 33! Sie sind beide tot.
Die Dreiunddreißiger haben mit ihren sinnlos vor Angst abgefeuerten Revolversalven einen Polizisten getötet - sie haben ihren Sturmführer erschossen! Wir haben es mit eigenen Augen gesehen - und jetzt lesen wir in den Zeitungen, dass die beiden Opfer der Kommunisten seien! In den Zeitungsartikeln steht kein Wort davon, dass die Dreiunddreißiger in unsere Straße einmarschiert sind, dass sie unsere Straße in dieser Nacht im Sturm „erobern" wollten. Die Nazizeitungen schreiben wüste Hetzartikel. Sie bezeichnen Maikowski als „neues Blutopfer der Kommune". Es scheint, als ob der Tod Maikowskis der Anlass zu einer verstärkten Terrorwelle gegen unsere von ihnen so gehasste rote Straße werden soll, denn gestern abend hat diese Pressehetze sich schon ausgewirkt. Die gesamte Standarte West der Berliner SA ist durch unsere Straße marschiert. Es war eine Rachedemonstration wegen der „Ermordung" Maikowskis. Lange vor Beginn derselben kam die Polizei in unser Verkehrslokal Werner und forderte den Wirt auf, das Lokal zu schließen. Dann besetzte sie alle Ecken, sperrte die Straße für den Verkehr. Ein Überfallauto fuhr ununterbrochen hin und her, leuchtete mit seinem Scheinwerfer zu den Fenstern der Wohnungen hinauf. Sogar die Dächer suchte die Polizei nach eventuell verborgenen „Schützen" ab. In unserer Straße brannte in den Wohnungen an der Straßenfront kein Licht. Es war, als ob alles Leben erstorben sei. Dann zogen die Braunen in langen Reihen, mit brennenden Fackeln durch die Straße. Ihr Rachegeschrei, ihre gebrüllten Lieder empfing Grabesstille. Diese erzwungene Stille sprach trotz alledem am lautesten.
Die Nervenanspannungen der letzten Tage haben einen heißen Wunsch nach Leben und Ausspannen bei mir hervorgerufen. Nie habe ich das so empfunden. Ich muss zu Käthe gehen. Ich will sie sehen, ihre Stimme hören.
Frau Zander sitzt in der Küche an der Nähmaschine.
„Ist Franz da?"
Ich schäme mich auf einmal, gleich nach Käthe zu fragen.
„Nein. Aber geh nur rein, Käthe ist da."
Sie sitzt auf dem Sofa. Ein Berg Strümpfe liegt neben ihr. Sie hat mich nicht kommen hören.
'n Abend, Käthe."
„Jan!" In ihre braunen Augen kommt ein warmer Glanz. „Setz dich."
Das weinrote Kleid mit dem geflochtenen Ledergürtel hat sie heute an. Es liegt eng an. Sieht gut aus. Eine helle Haarsträhne fällt ihr ins Gesicht, als sie sich über den Strumpf bückt. Sie pustet sie zurück.
„Bist ja so still?"
Sie sieht mich prüfend an.
„Man kann nicht immer reden."
In der Küche summt die Nähmaschine. Sie setzt aus, summt weiter.
„Ich wollte dich abholen. Wir wollen ein bisschen laufen."
Sie nickt. „Gleich, ja. Noch ein Loch."
Die Straßenlaternen brennen schon. Es ist kühles, trockenes Wetter. Ich atme die Luft tief ein. Sie ist rein um diese Jahreszeit, wie sonst nie in der Stadt. Käthe hat die Hand in meiner Manteltasche. Ich kann sie umfassen, so klein ist sie. Ich mache kurze Schritte wie Käthe. Was sie für ein buntgewürfeltes Tuch um den Hals hat! Es sieht so frisch und lustig aus. Es ist alles schön so. Mal an nichts denken, nur gehen, gehen. Wir wollen auch gar nicht reden. Das Cafe ist klein und fast leer. Käthe lehnt sich an mich. Wir freuen uns. Die heiße Tasse Kaffee wärmt uns wieder auf. Käthes Gesicht ist gerötet, ihre Augen glänzen. Ich greife nach der Illustrierten auf dem Nebentisch. Auf der zweiten Seite ist ein Bild marschierender Schupos.
„Polizei mit Hakenkreuzfahne auf der Rheinbrücke."
Also schon offiziell! Ich lege die Zeitung hin.
„Willi ist schon weg", sagt Käthe.
Sie hat das Bild auch gesehen.
„So?"
„Es war ihm nach der Razzia zu unsicher."
Plötzlich ist das alles wieder da. Richtig. Ich hätte ihn auch in der Wohnung sehen müssen.
„Komm, Käthe, gehn wir zu mir."
Ich schließe meine Haustür auf. Käthe ist dicht neben mir. Wir haben kein Wort gesprochen. Wir tappen die dunklen Treppen hoch.
„Leise - die Wirtin!"
Vor einigen Tagen schrieben die Zeitungen schon, dass Maikowski, der erschossene Sturmführer des SA-Sturmes 33, und der Polizist Zauritz Staatsbegräbnis erhalten. Heute sind die beiden im Berliner Dom aufgebahrt worden. In Anwesenheit Hitlers, der Regierung, der Spitzen von SA, SS und der Polizei hat dort eine Feier stattgefunden.
Die Abendzeitungen bringen lange Berichte mit Bildern. Wieder steht die Lüge darin, dass die beiden von Kommunisten ermordet worden seien. Der SA-Sturm 33 und eine Abteilung der Polizei sind vor dem Dom aufmarschiert.
Franz erzählte mir, dass die Feier über den ganzen deutschen Rundfunk übertragen wurde. Er war gerade bei einem Genossen und hörte, wie der Rundfunkreporter (ein Photo zeigt ihn vor dem Mikrophon auf den Stufen des Domes) die SA mit den Worten empfing: „Ha, ha, da kommt der gefürchtete ,Mordsturm' 33."
„Sie loben die Dreiunddreißiger noch öffentlich für ihren jahrelangen Terror", meinte Franz. Das könne für die nur eine Aufforderung zu neuen Gewalttaten gegen unsere Straße sein. Dieser Fall Maikowski werde sich für uns sicher noch schlimm auswirken, umsonst ziehe die Naziregierung das alles nicht so groß auf. Wir müssten allen Genossen einschärfen, jetzt doppelt vorsichtig zu sein.
Noch nie hat Franz so besorgt zu mir gesprochen.
„Deutschland ist nicht Italien", haben viele Genossen immer gesagt. - Unsere ersten Versuche, einen Generalstreik gegen die Hitlerregierung auszulösen, sind gescheitert. Hat Franz recht? Stehen wir wirklich am Beginn eines blutigen deutschen Faschismus?
Die Straße läuft einen kleinen Berg hinauf.
„Röntgenstraße. Ihr Jagdrevier."
Franz nickt über den Fahrdamm. Drüben liegt das Sturmlokal der Dreiunddreißiger. Es ist keine Uniform zu sehen. Wo die wieder stecken?
Wir haben die Höhe der Straße erreicht. Eine große Brücke überspannt die Spree. Links schwanken Bogenlampen auf der Kaimauer. Ein großer Kran fährt lautlos hin und her, steckt seinen Greifer tief in die Lastkähne. Dahinter stehen lange, erleuchtete Werkhallen. Aus ihrer Mitte stößt ein riesiger Schornstein in den Abendhimmel. Die Laufkatzen der Koksschwebebahn kreischen. Es ist das Elektrizitätswerk Charlottenburg am Spreebord.
Franz bleibt plötzlich stehen. Der Wind trägt mehrfaches Knallen über die Spree. Wir lauschen. Jetzt wieder: drei-, vier-, fünfmal!
„Klingt wie Schüsse!"
Ich nehme die Hand von der Ohrmuschel.
„Ja. Wenn das nur nicht bei Willmann ist."
Willmann ist ein Häuserschutzstaffellokal von uns. Es liegt in der an die Spree grenzenden Nebenstraße.
„Das Sturmlokal sah so verlassen aus", sagt Franz langsam.
Er spricht meinen Gedanken aus.
Wir gehen an langen Garagenwänden entlang, biegen dann links ein. Franz drückt dreimal auf eine Torklingel. Das Haus ist mir fremd. Der elektrische Türkontakt schnarrt. Im Flur erscheint am Guckfenster der Portier. Ein kleines graues Männchen mit einer Brille.
„Wir möchten eine Auskunft über die freie Zweizimmerwohnung."
„Bitte sehr. Rechts die erste Tür", sagt das Männchen mit dünner Stimme.
Es geht durch einen langen Flur, dann kommt ein spärlich beleuchtetes großes Zimmer. Drei Männer schütteln uns die Hand. Ich kenne nur einen vom Nachbarbezirk. Die andern sind ein großer kahlköpfiger Mann mit einem energischen Gesicht und ein Untersetzter mit einem kleinen dunklen Bärtchen. Das Portiermännchen lässt die Türe angelehnt. Seine Pantoffeln schlürfen den Korridor zurück.
„Wir können noch nicht anfangen", sagt der Kahlköpfige zu Franz.
„Es fehlen zwei Staffelleiter."
„Ja, gut."
Eine Standuhr tickt. Über einem Sofa hängt ein Vogelbauer. Er ist mit einem dunklen Tuch zugedeckt. Wir sitzen auf schweren, gedrechselten Stühlen. Draußen schrillt plötzlich die Klingel. Die Pantoffeln des Alten schlurfen. Wir sehen zur Tür.
Eine tiefe Stimme: „Wir möchten eine Auskunft über die freie Zweizimmerwohnung."
Die dünne Stimme des Alten antwortet. Dann tappen schwere Stiefel auf dem Korridor. Richard Hüttig! Wer ist der andre? Ich kenne ihn nicht. Hüttigs Gesicht ist düster. Um seinen Mund liegen tiefe Falten.
„Wir haben uns verspätet. Die Dreiunddreißiger haben vor einer halben Stunde einen Feuerüberfall auf Willmann gemacht."
Es ist totenstill. Hüttig sieht an uns vorbei.
„- Ein Genosse hat einen Bauchschuss - der andere Schultersteckschuss."
Ich sehe, wie sein Gesicht zuckt. Seine schweren Hände packen den Gürtel. Noch immer ist Schweigen. Endlich spricht der Kahlköpfige. „Darüber nachher. Zuerst..."
Er fährt sich über die Stirn.
„Ihr wisst, dass einige Genossen verhaftet worden sind. Wegen der Nacht vom 30. Januar. Meistens sind's Staffelleute von Stani. Die ganze Presse hat auf höheren Befehl die Vorfälle in der Nacht groß ausgeschlachtet. Aus dem erschossenen Sturmführer Maikowski soll anscheinend ein neuer Horst Wessel gemacht werden. Wir müssen der Öffentlichkeit die wahren Mörder zeigen, Genossen. Mit Zeitungen und Flugblättern."
Einen Augenblick lang hört man nur das Ticken der Standuhr.
„Wir müssen folgende Fragen aufwerfen: Was wollte der schwerbewaffnete Sturm in dieser Nacht in der Wallstraße? Sein Rückmarschweg lag entgegengesetzt. Warum nimmt man keine Obduktion der Leichen vor? Weil sie beweisen würde, dass die Schüsse aus nächster Nähe abgefeuert wurden. Weil sie beweisen würde, dass Maikowski und der Polizist Zauritz von dem hinter ihnen marschierenden Sturm erschossen worden sind."
Der Kahlköpfige sieht jeden an.
„Merkt euch vor allem: Wie wir hören, war uns dieser Schupo Zauritz nicht feindlich gesinnt. Man zwingt die Frau, jetzt den Hetzrummel mitzumachen. Man will ihr sonst die Pension streichen. Sie hat ein Kind. Die Nazipresse schreibt, dass man die Straße in Maikowskistraße umbenennen will. Eine Bronzeplakette soll an der Todesstelle eingeweiht werden. Ihr seht, sie werden alles tun, um uns als ,Mordkommune' abzustempeln."
Richard Hüttig hebt den Kopf, er will etwas sagen.
„Augenblick noch. Noch eins: Wir werden in den nächsten Tagen für den erschossenen Polizisten Zauritz an der Mordstelle einen Kranz mit roter Schleife niederlegen. Als Zeichen unserer Trauer und um öffentlich zu unterstreichen, dass wir an seinem Tod unschuldig sind. Darüber strengstes Stillschweigen. Gegen jeden!"
Richard Hüttig legt seine großen Hände auf den Tisch. Er sieht sie an. Er sagt: „Wir Häuserschutzstaffeln werden euch unterstützen wie immer. Wir sind ja verantwortlich für das Leben der Charlottenburger Proleten. Ihr wisst, wie viel Tote wir schon haben ..." Seine Stimme wird leiser. „Vielleicht ist es jetzt schon einer mehr."
Seine Hände schließen sich. Er hebt den Kopf.
„Ich muss euch im Namen meiner Jungs sagen, dass wir uns nicht länger wehrlos abschlachten lassen. Keinen individuellen Terror, jawohl. Aber wir müssen unser Leben verteidigen können. Das heute wird für die SA der Anfang sein. Wir sind Freiwild geworden!"
Hüttig schweigt. Ich bin tief erregt.
Da sagt der Kamerad neben ihm: „Jawohl. Andere Kampfbedingungen gibt es für uns nicht mehr."
Der Kahlköpfige sieht die beiden lange an.
„Wir können nichts dagegen haben, wenn ihr euer Leben verteidigt. Aber keine Provokationen. Kerle wie euch werden wir bitter nötig haben."
Er steht auf.
„Nochmals: Die Abziehapparate dürfen nicht stillstehen!"
Ich habe Franz und die Mädels abgeholt. Wir wollen in ein Kino gehen. Hilde und Käthe gehen eingehakt vor uns.
Ich freue mich, dass Franz mein Genosse und Freund ist. Dass wir beide verliebt sind. Dass unsere Mädels Kameraden sind.
Die Mädels bleiben an der Ecke vor der Litfasssäule stehen.
„Liebe, Spionage, das Übliche", sagt Hilde.
„Marmorhaus, ein Rene-Clair-Film", meint Käthe.
„Schon eher was."
Franz ist um die Säule gegangen.
„Seht euch das mal an!"
„Der Ton - was hat er denn?"
Die Litfasssäule ist von oben bis unten mit Naziplakaten zur Reichstagswahl am 5. März beklebt. Ein Zug verhungerter Gestalten, Männer, Frauen mit Kindern, ist auf dem einen abgebildet. Darunter steht groß: „Unsere letzte Hoffnung: Hitler." Darüber klebt ein Plakat mit Hitlers Kopf: „Deutsches Volk, gib mir vier Jahre Zeit, dann urteile!"
„Nur ihre! Die Berek hat Klebeverbot für andere Plakate", sagt Franz.
„Im Radio geht das den ganzen Tag. Sie winseln förmlich: Wählt Hitler, wählt Hitler", sagt Hilde.
„Sie haben doch schon erklärt, dass sie mit oder ohne Mehrheit weiterregieren. Dass sie unsere Abgeordneten nicht mehr zulassen."
Wir gehen langsam weiter.
„Unser Hausfaktotum, die Bürovorsteherin", erzählt Käthe, „hat immer deutschnational gewählt. Hugenberg vorne, Hugenberg hinten. Wir brauchen einen Mann mit starker Hand, erklärt sie jetzt. Adolf Hitler hat uns Gott gesandt."
Am Bahnhof Zoo ist wie immer dichtes Gedränge. Franz stößt mich plötzlich an. Die Schlagzeilen der Zeitungshändler:
„Das Karl-Liebknecht-Haus erneut durchsucht!" „Unterirdische Katakomben. Befehle für den bewaffneten Aufstand!" steht darunter. Wir sehen uns an. In all den Jahren dutzendmal durchsucht. Jetzt finden sie „Katakomben" -„Befehle zum bewaffneten Aufstand". Vor uns drehen die Menschen die Köpfe. Ein Schupo und ein SA-Mann kommen uns entgegen. Die braune Mütze sitzt flach auf dem Kopf, der Sturmriemen unter dem Kinn. Über der braunen Uniform trägt der SA-Mann einen blauen Schupomantel, am Koppel Gummiknüppel und Revolvertasche.
„SA-Hilfspolizei", sagt Franz leise.
Wir stehen vor dem Kino. Mir ist die Filmfreude vergangen. Aber ich will die Mädels nicht enttäuschen. Franz geht es wohl genauso. Er sagt kein Wort, seine Augenbrauen sind zusammengezogen. - Die Schallplattenmusik, die flüsternden Menschen im Raum, alles ist mir plötzlich unerträglich. Ich kann den Vorgängen auf der Leinwand nicht richtig folgen. Immer wieder sind die Zeitungsüberschriften und der SA-Hilfspolizist da.
Wir sind auf dem Heimweg. Zeitungshändler rufen die Schlagzeilen der letzten „Nachtausgabe" aus:
„Neue Funde im Karl-Liebknecht-Haus!" „Geheime Falltüren. Unterirdische Gänge."
„Sie überschlagen sich", sagt Franz. „Organisier'n vielleicht noch 'ne große Sache vor der Wahl, sieht ganz so aus. Auch Mussolini hatte bei Regierungsantritt sein Attentat."
Lautsprechermusik kommt dröhnend aus der Seitenstraße. Ein Auto der Reichsrundfunkgesellschaft. Es ist mit grellen Naziplakaten beklebt. Die Musik bricht ab.
„Am 5. März: Nur Hitler!" schreit es aus dem Lautsprecher. In mir steigt Wut hoch.
Am Eingang der Wallstraße bleiben wir stehen. Wir haben den ganzen Weg schweigend zurückgelegt. Hilde mustert den Wurstmaxen an der Ecke. Er sitzt in Decken gehüllt unter seinem Zeltpilz. Der Nickelkessel vor ihm dampft.
„Ich gebe eine Bockwurst aus. Als Abschluss", sagt Hilde.
Der Wurstmaxe freut sich. Er kennt uns gut. Ich weiß, dass ihm Franz ab und zu eine Zeitung verkauft. Er hat auch schon auf Sammellisten gezeichnet.
„Wollt ihr Brot?"
Wir danken.
„Dicke Luft, watt?"
„Kann man wohl sagen."
„Müsst eben die Ohr'n steifhalten, Jungs!"
„Werden wir besorgen", sagt Franz. 'n Abend."
'n Abend. Macht's jut."
Zwei Tage später. Franz hat mich beauftragt, zu Hinrich zu gehen. Er macht die Zeichnungen für unsere Zeitung.
Zwei Treppen, drei Treppen. August Hinrich, Lehrer, steht auf dem Messingschild. Ich läute. Einen Augenblick später wird die Klappe am Guckloch fortgezogen, dann steht Hinrich vor mir. Ein großer Mann mit rundem Gesicht. Sein schwarzes Haar ist glatt nach hinten gekämmt. Es glänzt fettig.
„Du - Jan?"
Er macht eine steife Handbewegung. „Bitte."
Was hat er denn? Sieht verstört aus und spricht so förmlich? Die Diele hat saubere, helle Tapeten, rotlackierte Garderobenhaken, ein kleines Tischchen in gleicher Farbe, ein geschliffener Spiegel darüber. Ich stülpe meinen Hut auf einen Haken.
„Entschuldige, es ist nirgends aufgeräumt - gehn wir ins Wohnzimmer."
Auf den lederbespannten Bauhausstühlen liegen durcheinander geworfen Hemden, Krawatten, zusammengerollte Strümpfe. Auf der Couch in der Ecke zwei Anzüge. Hinrich räumt einen Stuhl ab.
„Setz dich."
Er geht zu dem Tisch in der Zimmermitte, rollt einen starken Bogen Zeichenpapier zusammen. Will der verreisen? Die Neubauwohnung sieht doch sonst immer wie ein Schmuckkasten aus. Hinrich rollt den Bogen wieder auf, breitet ihn vor mir aus. „Kennst es wohl schon - habe ich selbst gemalt", sagt er langsam.
Ich fühle, eine Verlegenheitsgeste. Es ist eine Federzeichnung. Eine Zeche. Röhren und Stahlträger laufen wirr durcheinander, auf einem Förderturm weht eine Fahne mit Hammer und Sichel.
„Hing doch immer im Nebenzimmer?"
Hinrich nickt. Er rollt den Bogen zusammen, bindet eine Schnur herum.
„Weshalb ich kam. Du sollst für die Zeitung einen neuen Kopf zeichnen. Die Wachsplatte habe ich mitgebracht."
Hinrichs Kopf fährt hoch, sein Mund geht auf und zu. Was ist denn nur wieder? Der tut, als ob ich ihn um Gott weiß was bitte?
„- - Kann ich nicht - ich verlasse heute die Wohnung -verschwinde aus der Gegend ..."
„Ist mir neu."
Er wirft die Papierrolle auf den Tisch.
„Ja, weißt du denn nicht, was los ist?" schreit er; seine Stimme überschlägt sich.
Ist der verrückt geworden?! Ärger steigt in mir hoch.
„Was soll los sein?"
Ich habe Mühe, ruhig zu bleiben. Hinrich kommt ganz nah an mich heran, eine Haarsträhne ist ihm ins Gesicht gefallen.
„Der Reichstag brennt - der Reichstag ist angesteckt worden!"
Ich sehe ihn mit großen Augen an.
„Der Reichstag!" wiederholt er. „Der Rundfunk hat's angesagt. Sie geben immerzu Situationsberichte!"
Jetzt erfasse ich erst, was er sagt. Der Reichstag - die haben den Reichstag...
„Das ist ihr Reißer!" schreie ich ihn an. „Das geht gegen uns - ist ihr Reißer für die Reichstagswahl!"
Hinrich läuft nervös auf und ab, dreht die Papierrolle in der Hand.
„Ich muss fort - bin zu bekannt - jetzt geht's erst richtig gegen uns —", sagt er. Er sieht an mir vorbei. „Überhaupt -ich kann nicht mehr mitmachen."
Ich stehe auf. Alles hier widert mich an. Die verstreuten Kleider, Hinrichs Gesicht.
„Dann Servus", sage ich spöttisch.
Es ist schon spät, aber überall stehen Menschen und erzählen. Den Händlern werden die Zeitungen aus der Hand gerissen.
„Der Reichstag brennt!"
Ich springe auf einen Autobus. Zurück - zu Franz!
In der Wallstraße stehen vor allen Haustüren Gruppen und diskutieren. Unter den Gaslaternen lesen sie die ersten Zeitungsberichte. Das letzte Stück fange ich an zu laufen. Dort steht Franz, vor seinem Haus. Ein Menschenknäuel ist um ihn. Ich erkenne Rothacker, Teichert, Schwiebus, Ede.
„Mensch, Franz!"
Er zieht mich ein Stück abseits. Ernst Teichert bleibt neben ihm.
„Ist groß aufgezogen", sagt er, ohne dass ich ein Wort über den Brand gesprochen habe, „die lassen sich die Kommunistenhetze ein hübsches Stück ,Volksvermögen' kosten."
Der steht vor mir wie sonst! Er spricht ruhig wie immer!
Alles in mir ist aufgewühlt, und er sieht mich mit klaren Augen an, hat die Hände in den Hosentaschen!
„Wie können wir jetzt... wir müssen doch ..."
„Wir werden in den nächsten Tagen Einzelheiten hören", fällt mir Franz ins Wort, „darauf müssen wir reagieren. Kurze Flugblätter, Tatsachen aufzählen."
Er hat recht, ich schäme mich meiner übereilten Gedanken. Überstürzung hilft jetzt auch nicht.
Ernst Teichert spuckt im Bogen aus.
„Die Art ist neu, die Methode alt", sagt er. „Denkt an Spartakus, Neunzehn. Damals erfanden sie die Meldung von den fünfzig erschossenen Kriminalbeamten in Lichtenberg."
Ich werde wieder wild.
„Heute fabrizieren sie aber Tatsachen! Und sie haben alle Propagandamittel: Rundfunk, Kino, Presse. Wie wir gegen die Lügenhetze ankommen sollen ..."
„Es war immer schwer für uns", sagt Franz knapp.
Wir gehen zu den andern zurück. Fast hätte ich jetzt Hin-
rich vergessen!
„Hinrich ist weich geworden, macht nicht mehr mit."
Franz zieht die Augenbrauen hoch.
„Wird nicht der einzige bleiben", sagt er, als hätte er nichts anderes erwartet.
Wir bleiben noch eine Zeitlang bei den andern stehen.
„Ich gehe rauf", sagt Franz.
Ich begleite ihn und Teichert noch bis auf den Hof.
„Wenn was los ist, an die Scheibe klopfen", sagt Franz noch zu Teichert.
Sie wohnen nämlich in gleicher Stockwerkhöhe. Franz im Seitenflügel, Teichert im Quergebäude. Ihre Fenster liegen gegenüber, in der Ecke, wo die Gebäude aneinander stoßen.
Ich gehe langsam durch die Wallstraße. Hinter den hohen, geriffelten Fenstern des Umformerwerkes brennt helles Licht. Die Maschinen brummen. Auf dem Bretterzaun des Lumpenplatzes kleben unsere letzten Plakate. Dort ist Edes Dauertransparent: Der dunkle Fleck auf dem frei stehenden Giebel. Die vereinzelten ein- und zweistöckigen Häuschen sind im Laternenlicht noch kleiner und buckliger zwischen den Mietskasernen. Sie stammen aus der Gründerzeit Charlottenburgs, haben Generationen überdauert. Die Ziegel auf den Dächern sind verwittert und bemoost. Schwere Holzläden hängen im Parterre vor den Fenstern: Wallstraße. Hier war wohl früher mal der Stadtwall. Dahinter haben sicher Bäume gerauscht, Wiesen gab es. Jetzt ist nicht der kleinste grüne Zweig in der Straße. Ich bin aber doch jetzt froh. Es ist unsere Straße, meine Straße, ich gehöre hierher.
Meine Augen brennen. Ich bin müde und abgespannt.
Am nächsten Tag. Teichert hat mich heute im Morgengrauen herausgeklingelt. Ich hatte Mühe, meine Wirtin zu beruhigen. Er musste sofort wieder weg, zur Arbeit. Franz ist heute nacht geflüchtet! Teichert warnte mich, in seine Wohnung zu gehen. Ich soll auch Hilde warnen. Ich habe vorsichtig Erkundigungen eingezogen. Polizei und SA habe heute nacht in der Wallstraße Razzia gemacht.
Der Wurstmaxe erzählte mir, wie es begann. Er saß unter seinem Zeltpilz. Zwei offene Lastwagen fuhren mit abgeblendeten Lichtern und lautlos arbeitenden Motoren in die Straße. Polizei und SA-Uniformen saßen auf den Bankreihen.
Am Knick der Straße hielten die Autos. Die Uniformen sprangen herunter.
Ein SA-Mann mit Sternen auf dem Kragenspiegel gab halblaute Befehle.
„Drei Treppen rechts, Zander."
Ein kleiner Trupp ging.
„Haus achtundachtzig - Fischer - Haus fünfundachtzig -Katorek!"
„Befehl!"
Von Zanders und Teichert weiß ich das übrige.
Frau Zander hört nachts jedes Geräusch im Haus, so leicht schläft sie. Schwere Tritte kamen die Treppen herauf. Sie lief zur angrenzenden Stubentür.
„Franz!"
Franz fuhr hoch; auch Käthe war aufgewacht, sie saß aufgerichtet im Bett.
„Da kommen welche die Treppen rauf!"
Franz fuhr in Hosen und Stiefel, warf sich die Jacke über. Er hörte es jetzt selbst, sie mussten schon an ihrem Treppenabsatz sein.
Käthe drückte dem Bruder ihre Geldtasche in die Hand. Dann lief sie zu seinem Bett, strich es glatt. Franz riss das Fenster auf und spähte in den Hof. Dort war noch niemand! Er kletterte auf das Fenstersims, klopfte an Teicherts Scheibe. Hinter ihm donnerte es schon gegen die Korridortüre.
„Aufmachen! Polizei! Aufmachen!"
Käthe machte ihre Stimme verschlafen: „Einen Moment, bitte - wir müssen uns etwas überwerfen."
Hinter der Scheibe drüben tauchte Teichert auf. Er war im Hemd. Er riss das Fenster auf, streckte wortlos die Hand aus. Einen Augenblick hing Franz über dem Hof, dann stand er neben Teichert. Der schloss das Fenster. Franz sah noch, wie Käthe drüben ebenfalls zumachte.
Bei Zanders traten sie jetzt schon mit den Stiefeln gegen die Tür. Das Krachen riss das ganze Haus aus dem Schlaf. Überall horchten sie.
Käthe öffnete. Die Mutter stand hinter ihr. Sie hatten sich ihre Mäntel übergeworfen. Sie prallten zurück. Vor dem grellen Licht von elektrischen Lampen. Pistolenläufe blitzten auf. Die vorderste Uniform stieß mit dem Fuß die Tür weit auf, sie flog Käthe gegen den Arm. Sie kamen in die Küche. Es waren vier Hilfspolizisten und zwei Schupos. Ein SA-Mann, ein breitschultriger Hüne, hielt der alten Frau den Revolver vor die Brust.
„Sind Sie Frau Zander?"
Käthe sah, wie die Hände der Mutter, die den Mantel zusammenhielten, plötzlich nicht mehr zitterten. „Ja. Sie wünschen?" fragte sie ganz fest. Der Breitschultrige gab keine Antwort. Er ließ den Lichtkegel der Lampe in der Küche kreisen, stieß die Stubentür auf. Alle polterten hinter ihm her. Die leeren Zimmer brachten den SA-Mann in Wut. Er drehte sich mit einem Ruck um, beleuchtete die Frauen im Türrahmen.
„Wo ist Ihr Sohn Franz?!" Er brüllte.
„Das weiß ich nicht!" sagte die Mutter.
„Das wissen Sie nicht?!"
Jetzt ging es an Käthe.
„Und Sie? Wissen auch nichts, was?!"
„Nein!"
Die Lampen der Männer waren jetzt alle auf Käthe gerichtet. Käthe zog den Mantel fester, klappte vorn den Kragen zu.
„Machen Sie Licht!" wurde die Mutter angebrüllt.
Sie ging in die Küche, ein SA-Mann mit ihr. Als sie unter den Vorhang in der Küchenecke griff, fragte er argwöhnisch: „Was machen Sie da?"
„Den Gashahn aufdrehen."
„Ach so."
„Durchsuchen!"
Der SA-Mann mit den breiten Schultern hatte anscheinend Kommandogewalt oder übte sie einfach aus, die beiden Schupos reagierten auch sofort auf seine Befehle. Die Männer warfen die Betten auf die Erde, hoben die Matratzen hoch und ließen sie dröhnend fallen. Zwei SA-Leute gingen in die Küche. Die Frauen hörten Geschirr scheppern. Die rückten den Küchenschrank ab! Ein SA-Mann stand vor dem Bücherschrank. Er nahm jedes Buch prüfend in die Hand, warf Bücher auf den Fußboden, andere legte er vor sich auf den Tisch. Gorki- und Lenin-Bände waren dabei, sah Käthe. Der Breitschultrige hatte den Kleiderschrank aufgerissen. Er griff in alle Anzugtaschen, befühlte sogar die Kleidersäume. Er warf die kontrollierten Sachen auf Käthes Bett. Dann nahm er die Bilder herunter, klopfte die Wände ab. Ein Leninbild zerschlug er an der Tischkante. Käthe merkte, die Schupos suchten nur gezwungenermaßen. Sie sahen bloß unter die Betten, fuhren mit den Händen in die Sofapolsterung. Der Breitschultrige kletterte auf den Tisch, um auf den Ofen zu sehen.
„Sie ruinieren mir ja den Tisch. Da oben ist höchstens Staub", sagte die Mutter ruhig.
Der SA-Mann sprang herunter.
„Das überlassen Sie gefälligst uns, verstanden?! Wir kamen hauptsächlich wegen Ihres sauberen Sohns! Aber Sie wissen ja nicht, wo der ist!" Er ging plötzlich ganz dicht an die Mutter heran. „War er denn heute überhaupt schon hier?"
Die alte Frau schwieg einen Augenblick, sah Käthe an.
„Nein!" sagte sie dann fest.
Der SA-Mann sah sie durchbohrend an, auch die andern drehten die Köpfe.
„Er war wirklich noch nicht hier!" sagte Käthe in die Stille hinein.
Der Breitschultrige drehte sich zu ihr um.
„Dann werden wir ihn hier empfangen!"
„Brauchen wir das Licht?" fragte ein anderer.
„Nee. Wir werd'n den Burschen nicht noch warnen. Nachher genügen die Stablampen!"
Er drehte sich zu den Frauen um, machte eine verrenkte Handbewegung.
„Bitte, meine Damen! Sie dürfen die so roh unterbrochene Nachtruhe fortsetzen - im Nebenraum natürlich!"
Teichert hatte Franz Hut und Mantel gegeben.
„Montag nach der Wahl, um drei, Jan kennt den Treff", hatte Franz noch gesagt. Dann lief er die Treppe des Quergebäudes hinunter, kletterte im Hof über eine Mauer und flüchtete durch den Barackenweg am Umformerwerk.
Vielleicht bin ich auch schon „beschattet"? Sie wissen Namen! Die Razzia gestern war bestimmt lange organisiert. Weshalb gingen sie zu Franz? Wie ist es sonst möglich, dass sie gerade Fischer und Katoreck verhaftet haben, beide Gruppenleiter der Häuserschutzstaffeln! Der Gang mit Hüttig und Franz durch die drei Kneipen am Abend der Kanzlerernennung fällt mir ein. Damals habe ich innerlich über den „konspirativen Blödsinn" geflucht. Was haben doch die wenigen Wochen für andere Menschen aus uns gemacht! Richard Hüttig. Ob er in Sicherheit ist? Ich habe heute versucht, ihn zu erreichen. Vergeblich.
Eine einsame Haltestelle kommt. Ich warte, bis die Straßenbahn im Anfahren ist, springe auf. Die Straßenbahn ist dicht besetzt. Die meisten Gesichter sind hinter Zeitungen vergraben. Ich spüre die Spannung im Wagen, jeden bewegt jetzt nur der Reichstagsbrand. Ich sehe meinem Nachbarn über die Schulter in die Zeitung.
„Verordnung des Reichspräsidenten!"
Es ist eine der letzten Ausgaben. An einer Haltestelle winke ich vom Perron einen Zeitungshändler heran.
„----Todesstrafe für Hochverrat, Brandstiftung und Anschläge gegen die Regierung, Beschränkung der persönlichen Freiheit, Aufhebung des Brief-, Telegrafen- und Fernsprechgeheimnisses, Sanktion für Haussuchungen zu jeder Tagesund Nachtzeit —"
Hilde steht schon an der Haltestelle. Ich habe sie telefonisch hinbestellt.
Sie sieht mich angstvoll an.
„Du hast dich so komisch ausgedrückt - ist was passiert? -Mit Franz - -?"
Ich nehme ihren Arm.
„Ja, mit Franz. - Er ist heute nacht geflüchtet."
Hildes Hand packt meinen Arm. Sie bleibt stehen.
„Komm! Du musst ruhig bleiben. Wir dürfen nicht auffallen."
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