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Jan Petersen - Unsere Straße (1933)
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Geschrieben im Herzen des faschistischen Deutschlands 1933/34

VORWORT DER AUSLÄNDISCHEN AUSGABEN

Dieses Buch, unter, den größten Schwierigkeiten in Deutschland geschrieben, ist eine Chronik der Ereignisse in der Wallstraße in Berlin-Charlottenburg. Sie wird trotz ihrer lokalen Begrenzung nicht nur die Geschichte einer Arbeiterstraße im faschistischen Deutschland sein. Ähnlich hat sich der Faschismus in den Arbeitervierteln aller deutschen Städte ausgewirkt. Die beigefügte Personenliste enthält die Namen der ermordeten Antifaschisten Charlottenburgs. Sie ist authentisch, jedoch sicher nicht vollständig, und dabei sind es nur die Opfer dieses einen westlichen Berliner Stadtbezirkes.
Dieses Buch soll ein Vermächtnis der Charlottenburger Toten sein. Ein Denkmal aller vom Faschismus Ermordeten. Es soll berichten von der Tapferkeit Tausender, Zehntausender namenloser Helden. Vom Henkerbeil, vom Kerker bedroht, führen sie ihren Kampf unerschrocken weiter. Den Kampf um die endliche Befreiung des deutschen Volkes. Um den Sozialismus!

VORWORT ZUR DEUTSCHEN AUSGABE

Die Entstehung dieses Buches kann jetzt, bei seinem Erscheinen in Deutschland, dreizehn Jahre nach der Niederschrift, erzählt werden. Diese Chronik des antifaschistischen Kampfes und der Ereignisse in der Wallstraße in Berlin-Charlottenburg beginnt wenige Tage vor dem Machtantritt der Nazis und endet Mitte des Jahres 1934. Die Aufzeichnungen dazu wurden gemacht, als die Geschehnisse sich ereigneten. Die endgültige Niederschrift des Buches erfolgte an zwei Stellen: in der Siedlung am Kleinen Werbellinsee, nahe Oranienburg, und in meinem kleinen Zimmer in Charlottenburg, Knesebeckstraße, wenige Minuten von der Wallstraße entfernt.
Die Arbeit an dem Buch - ebenso wie meine damalige Tätigkeit in der Widerstandsbewegung - musste häufig unterbrochen werden. Oft, weil Kameraden, mit denen ich eng zusammen arbeitete, verhaftet wurden, und auch, weil die Gestapo zweimal meinen Namen notiert hatte und man dann jedes Mal abwarten musste, „was kommen würde".
Mit den neu geschriebenen Manuskriptseiten im Rucksack fuhr ich wöchentlich mit dem Motorrad vom Werbellinsee nach Berlin, an den Posten des Oranienburger KZ-Lagers vorbei, um die entstandenen Seiten mit einem Schriftstellerkameraden durchzusehen und zu besprechen. Er ist seit Jahren einer unserer vielen Toten.
Ich wohnte neun Jahre in der Wallstraße und war in der antifaschistischen Bewegung Charlottenburgs tätig. Wenn der
SA-Sturm 33. unter dem Schutz der Polizei durch „Unsere Straße" marschierte, machten die Braunen das Zeichen des Hängens zu unseren Wohnungsfenstern hinauf. Nach der Machtübernahme kamen dann auch die Dreiunddreißiger in unsere Wohnung und durchsuchten danach das ganze Haus, die Revolver in den Händen. Ich war zufällig kurz vorher umgezogen. Das zuständige Polizeirevier, das an der nächsten Straßenecke lag, hätte meine neue Adresse auf Befragen angegeben. Es stellte niemand Erkundigungen an.
Vieles erscheint einem in späteren Jahren so unerklärlich, dass man es fast „Glück haben" nennen möchte. Das gilt auch für die Umstände, unter denen das fertige Buchmanuskript ins Ausland geschmuggelt wurde.
Im Herbst 1934 hatte ich das Manuskript fertig getippt, in drei Exemplaren. Zwei der Manuskripte wurden, wasserdicht verpackt, an verschiedenen Plätzen eingegraben. Eins wurde mit Hilfe illegaler Verbindungen nach Hamburg gesandt. Ein tapferer unbekannter deutscher Matrose sollte es auf seinem Schiff nach England bringen. Nach vielen Wochen kam aus Hamburg Bescheid: das Manuskript musste in letzter Minute in den Hafen geworfen werden, weil der Matrose nur so einer Entdeckung entgehen konnte. Erst nach langen Bemühungen konnte der Versuch wiederholt werden, ein Manuskript ins Ausland zu bringen. Es wurde von Gesinnungsfreunden nach Dresden gebracht und sollte von dort nach der Tschechoslowakei geschmuggelt werden. Wochen, ja Monate vergingen, doch aus Dresden war kein Bescheid über den Verbleib des Manuskripts zu erhalten. Es blieb verschollen und schien ebenfalls verloren gegangen zu sein. Das dritte und letzte Manuskript des Buches lag, unter einer gezeichneten Tanne vergraben, am Rande einer Waldschonung außerhalb Berlins. Ging es gleichfalls verloren, war alle aufgewandte Mühe vergebens gewesen, war der Versuch gescheitert, den Kampf deutscher Antifaschisten dem Ausland deutlich zu machen.
Weihnachten 1934 verwirklichte ich daher den schon lange
gefassten Plan, das letzte vorhandene Manuskript selbst ins Ausland, nach Prag, zu bringen. Ich war seit dem Machtantritt der Nazis mehrmals in Prag gewesen, um dorthin emigrierte deutsche Schriftsteller zu Besprechungen zu treffen. Ich wusste also, wie man die Grenze „blind" kreuzte, um dann auf gleiche Weise an einer anderen Grenzstelle nach Deutschland zurückzukehren.
Wir gingen diesmal zu zweit, in voller Schiausrüstung, auf eine anscheinend harmlose Weihnachtsfahrt. Das Manuskript lag, in zwei Kuchen eingebacken, in meinem Rucksack. Mein Freund Walter Stolle - er war einige Zeit vorher aus dem KZ-Lager Brandenburg entlassen worden - hatte in seinem Rucksack ein eigenes Manuskript. Wir wussten, dass Schitrupps der SS mit Karabinern bewaffnet die Grenze kontrollierten. Wir mussten eben ungesehen durch diese Streifwachen durchschlüpfen.
Am zweiten Tage unseres Aufenthaltes in Prag kam die Frau des emigrierten Schriftstellerkollegen, bei dem wir wohnten, und erzählte, dass sie gehört hätte, aus Deutschland sei heute ein antifaschistisches Romanmanuskript in Prag eingetroffen. Es war das seit Monaten in Dresden verschollene Manuskript von „Unsere Straße". Der Überbringer hatte es - ein riskanter Bluff - in einem offenen Handkörbchen, mit Stullenpaketen zugedeckt, an den Grenzbeamten eines der offiziellen Grenzübergänge vorbeigetragen. Die Grenzwachen nahmen einige der Stullenpakete prüfend in die Hände, jedoch nur die, die obenauf lagen. Die Dresdener Gesinnungsfreunde hatten, wie wir selbst, für das Unternehmen den stärkeren Weihnachtsgrenzverkehr abgewartet. Deshalb hatten sie so lange nichts von sich hören lassen. Bereits im April 1935 erschien dann in Paris ein Auszug aus „Unsere Straße". Uns in Berlin blieb dies unbekannt.
Meine ausländischen Verleger erkundigten sich vor Drucklegung des Buches, ob die darin enthaltenen realistischen Schilderungen nicht die in Nazideutschland noch tätigen Kameraden gefährden würden. Schon bei der Niederschrift war
daran gedacht worden. In einem besonderen Vorwort des Übersetzers wurde klargestellt, dass die Ereignisse und die Schicksale der Personen wahrheitsgemäß geschildert wurden, dass das Buch inhaltlich authentisch sei, jedoch nicht immer in der Form. Die Namen der Beteiligten, ihr Aussehen, ihre Familienbeziehungen mussten verändert oder vertauscht werden. Einzelne Episoden aus der unterirdischen Arbeit anderer Berliner Stadtbezirke wurden mit der Handlung des Buches verflochten. Die in der Charlottenburger Totenliste genannten Namen sind alle wirkliche Namen. Die Umstände, die zu ihrem Tode führten, sind den Tatsachen entsprechend wiedergegeben.
Es kam darauf an, ein wahrheitsgetreues Bild zu vermitteln - ohne der Gestapo Fingerzeige zu geben. Um ein Beispiel zu nennen: Heinz Preuß ist in Wirklichkeit mein Kamerad Walter Stolle, den ich jetzt wiedertraf. Einer der wenigen überlebenden Gefährten der damaligen Zeit. Er erzählte mir damals, nach seiner Entlassung, von den Misshandlungen Erich Mühsams. Er war Erich Mühsams Nachbar auf dem Strohsacklager im KZ Brandenburg.
Dieses Buch hat der Gestapo wohl keinerlei Anhaltspunkte gegeben. Hätte sie die Identität des Autors ermittelt, wären vielleicht gewisse Schlussfolgerungen möglich gewesen. Auch meine Angehörigen wären gefährdet worden. Man war sich dessen immer bewusst, auch später im Ausland. Seit meiner Rückkehr aus der erzwungenen Emigration hatte ich Gelegenheit, meine Gestapoakten einzusehen, die zufällig nicht verbrannt sind. Aus ihnen ergibt sich, dass die Gestapo bis zum Jahre 1941, also selbst während des zweiten Weltkrieges, im Ausland Nachforschungen über meinen Verbleib anstellte. Meine frühere Tätigkeit in der deutschen Widerstandsbewegung war der Anlass dazu. Alle Bemühungen der Gestapo blieben ergebnislos. Und doch trägt die umfangreiche Gestapoakte den Vermerk: „Wieder vorzulegen am 30. 10. 45. Geheime Staatspolizei, Geheimes Staatspolizeiamt, Berlin S W11, Prinz-Albrecht-Straße 8. B.-Nr. IV, Al-B., Nr. 3209/41.
Im Auftrage: gez. Seibold. Beglaubigt: von Renngarten, Kanzleiangestellte."
„Unsere Straße" erscheint nun in Deutschland, unverändert, so wie ich das Buch damals niederschrieb. Es entstand unter besonderen Umständen, und jede nachträgliche Korrektur hätte seiner Wirklichkeitsnähe in Form und Inhalt Abbruch getan. Es ist meines Wissens das einzige Antinazibuch, das in Hitlerdeutschland geschrieben wurde und im Ausland erschien. Es hat wohl schon deshalb geholfen, dem Ausland „das andere Deutschland" glaubhaft nahe zu bringen.
Wenn dieses Buch in der Heimat dazu beiträgt, dass der Faschismus nie wieder Wurzeln fassen kann und in gemeinsamer Arbeit aller deutschen Antifaschisten ein Deutschland der Freiheit und des Friedens geschaffen wird, hat es seine Aufgabe voll erfüllt.
Berlin-Charlottenburg, im Februar 1947
J.P.

 

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