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Wilhelm Nitschke – Der neue Glaube (1929)
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Neuer Geist.

Wie aus dem Nichts brachten Ingenieure und Techniker eine neue Kraft zur Geltung. Welt- und Gewerbeausstellungen zeigten der Menschheit ungeanhntes Neues, Bahnen und Fahrzeuge liefen durch die Welt, wie wenn sie selber lebten. In den großen hellen Arbeitssälen gab es bald keine Treibriemen mehr; ein Druck auf einen Hebel oder Knopf brachte ein Riesenwerk in Bewegung. Die schwarzen Fenster der alten verlassenen Werkstellen gähnten wie zahnlose Mäuler leer in die dunklen Höfe. Neue Fabriken, deren Fronten einem großen Fenster glichen, wuchsen an den Außenseiten der Stadt aus der Erde. Kapitalisten borgten ihr Geld denen, die Verstand genug besaßen, es schnell zu vermehren.
Die Kleinmeister verfluchten die verrückte Welt. Die Gesellen ließen sie im Stich und liefen in hellen Scharen in die modernen Fabriken. Ein Gefühl der Stärke erwachte in ihnen, wenn sie so zu Hunderten in die weiten Tore hineinströmten. Doch die Bemessung der Löhne lag immer noch im Belieben der Meister. Da muss Ordnung und Regel hineingebracht werden, dachten die Gesellen....
Von einem Krauter, der schon selbst den Gesellen nachläuft, ist wohl nicht viel zu erwarten, dachten die Walzbrüder, als Meister Schulze auf der Herberge einen Drechslergesellen verlangte. Erst als er hervorhob: bei ihm herrsche noch kein Zwang, wie in den großen Fabriken, ein jeder könne arbeiten, solange er Lust habe und seinen Verdienst nach Belieben steigern, erst danach erhob sich ein in der Mitte der Zwanziger stehender Bursche und ging mit ihm.
Schlag sieben Uhr fegte Emil Maiwald seinen Arbeitsplatz sauber, strich sich durch sein dichtes Haar, richtete sein dunkelblondes Schnurrbärtchen zurecht und ging mit lautem Gruß aus der Werkstatt.
Albert und die anderen sahen beschämt hinter ihm her; alle waren ganz erstaunt über den Mut des Neuen.
„Der macht woll janz und jar, wat er will," sagte der Altgeselle, nahm seine Lampe vom Ständer und ging an Emils Drehbank. „Ach du mein Jott nee!" rief er und leuchtete an Emils Arbeit herum. „Nu seht doch, Kinner, nich een Dutzend Beene hat det Kind jeschafft; beim zwölften is 'm die Puste ausjejang'n, det steckt noch in de Entwicklung! Ach, un det Fason," suchte der Altgeselle die Arbeit herabzusetzen. „Wie schwangere Frauen seh'n die Dinger aus." Dann trottete er kopfschüttelnd an seinen Platz: „Nee, Meester Schulze, da biste wieder ma scheene rinjefall'n."
Der Lehrling setzte eben den mit Bier- und Schnapsflaschen gefüllten Korb ab.
Frische Wurst beim Budiker!" rief er die Werkstatt entlang.
„Mir für fünfzehn!"
„Mir für zehn!"
„Mir für zwanzig!" riefen die Gesellen durcheinander. Dann nahmen sie einen kräftigen Schluck aus der Flasche, und das Klopfen, Kreischen und Schaben ging in alter Weise weiter.
Meister Schulze trat ein. „Wo ist der hin?" fragte er Albert, auf die daneben stehende Drehbank weisend.
„Weg, hat Feierabend gemacht."
„Soo, schon Feierabend?" Der Meister besah die in einer Reihe aufgestellten Bettfüße, nahm einen und betrachtete ihn bei Licht. „Da liegt aber ein feiner Schwung drin," sagte er wohlgefällig. „Der Kerl scheint was loszuhaben." Dann besah er das Werkzeug. „Ja, tadellos! Der versteht seine Sache. Eine solche Fase brachte sein Vorgänger nicht an den Stahl. Na, wenn er man seine Arbeit rechtzeitig fertig schafft, dann ist es mir ja gleich, wann er Schluss macht."--
Wenn die Gesellen am Morgen müde und verdrossen zur Arbeit kamen, surrte schon Emils Drehbank, und die weißen Spähne pfiffen ihm lustig über die Schulter und kringelten in langen Bändern zur Erde.
Sich so gegen den Willen aller anderen durchsetzen, so unbeirrt seine Bahn gehen, Donnerwetter, das ist ein Charakter! dachte Albert.
„Wer ist von Euch im Verband?" fragte Emil eines Tages.
„Keiner," erwiderte Albert. „Auch du nicht?"
„Ich war eine Zeitlang im Fachverein." „Und hast das Weiterzahlen vergessen, wie gewöhnlich."
„Liest du denn keine Zeitung?" „Hin und wieder kauf ich mir den ,Vorwärts'." „Wem gabst du bei der letzten Wahl deine Stimme?" „Fritz Zubeil."
„Demnach wärest du Sozialdemokrat. Doch welchen Sinn hat das alles, wenn du hier die halben Nächte arbeitest, während Tausende Kollegen auf der Straße liegen?"
Albert wurde verlegen. Sich Vorwürfe gemacht und mit sich selber gerungen hatte er schon öfter. Schämen tat er sich, las er zuweilen im „Vorwärts", mit welchen Opfern die Genossen um mehr Lohn und ein wenig Freiheit rangen. Und abweisen würden sie ihn, wenn sie wüssten, wie er immerzu gegen ihre Ordnung verstieß. „Hast wohl recht," erwiderte er bedrückt, „aber mach ich es nicht, dann sitz ich draußen; und arbeitslos war ich schon ohnehin oft genug."
,Das glaub' ich gern. Hast Familie, musst für sie sorgen, doch wie sollen wir einmal zum Ziele kommen, wenn ein jeder nur auf sich bedacht ist.
Wisst Ihr denn schon, dass in den nächsten Tagen in ganz Berlin gestreikt werden soll?" fragte Emil die Werkstatt entlang. Alle horchten auf. „Na, dann lies mal;" er reichte Albert die „Holzarbeiterzeitung", „und gib sie weiter."
Der Altgeselle trat ans Fenster und buchstabierte halblaut den angezeichneten Aufruf. „Nee, nee, mein Lieber, sowat mach'n wir nich mit," sagte er aufblickend, „wat kümmert uns der Vaband; hier hab ick zu bestimm'!" und gab die Zeitung an Albert zurück.
Emil hielt seine Drehbank an. „Zum Teufel noch eins!" stieß er empört hervor, nahm das Blatt zur Hand und las den Aufruf laut vor. „Also am Sonntag früh kommt Ihr alle zur Versammlung!" schloss er mit Nachdruck.
„Auch nich eener jeht hin! Hier bestimm' ick, verstehste!" trat ihm der Altgeselle entgegen. „Überhaupt eener, der sich nich nach d' Ordnung in d' Werkstatt richten tut, will uns wat lehr'n!"
„Kollegen!" begann Emil, um sich zu verteidigen.
„Bist kein Kollege!" riefen alle. „Gib erst Einstand!"
„Gut, sollt Ihr haben, in der Versammlung."
„Nein, sofort!"
„Schön."
Und als sie alle rauchten und tranken, durfte Emil sprechen.
„Mensch, haste det noch nich intus, det unser Meester selber een Roter is?" rief der Altgeselle dazwischen. „Der weeß schon, wat er zu dune hat."
„Um so besser. Da liegt es doch nur an Euch, die Nachtarbeit zu unterlassen und die Anordnungen des Verbandes durchzuführen."
„I wat, Nachtarbeet. Wat heeßt det? Wenn der Verband die verbieten tut, denn wird er woll auch d' Meesters am Sonnabend det Kostgeld vorschießen müssen."
„Wir können doch nicht auch noch auf die Geldsorgen der Meister Rücksicht nehmen."
„Hört, hört, den Kickindiewelt.   Als ob uns det jarnischt anjinge."
„Kommst in die Versammlung," beruhigte Emil den Alten, „dann kannst du deinem Herzen Luft machen."
„Gewiss, mach ick. Denkst woll, der Verband kann schon janz und jar machen, wat er will?"
Emil wandte sich zufrieden lächelnd seiner Arbeit zu. In der Wirtschaft, in die Albert am Abend mit Emil eintrat, war reges Leben. Männer und Frauen umstanden den Kassentisch. Aus Holzrahmen von der Wand herab schauten zwei Männer. Einer Löwenmähne gleich trug der ältere sein Kopfhaar und den mächtigen Bart. Dabei sah er so gutmütig auf das Treiben nieder, wie wenn er sagen wollte: Macht nur so weiter, lieben Freunde, schichtet Stein auf Stein, bis euer Bau fertig ist. Aber weicht mir um Gottes willen nicht von der Zeichnung ab, die ich euch machte." Den jüngeren brannte Ungeduld in den Augen; er schien heruntersteigen zu wollen, um in das ganze mit einzugreifen.
Und so zog es auch Albert förmlich hin zur Mitarbeit am Aufbau der Zukunft. Wie wenn sein Name in der Weltgeschichte eingemeißelt stände, so betrachtete er sein Verbandsbuch. Ganz tief im Innern begann es zu tönen und zu jubeln, als sei etwas erlöst, zum Leben erwacht. Emporgehoben fühlte er sich in eine höhere Gemeinschaft. Und sich abwendend von all dem öden Kneipenlärm schritt er seinem Heim zu.
Wie verschüchtertes Hühnervolk bei nahendem Gewitter den schützenden Stall aufsucht, so krochen die Meister am folgenden Sonntag morgen in ihren Stammlokalen zusammen. Seit Menschengedenken hatten ihre Werkstätten am Sonntag früh nicht leergestanden. Einer klagte dem anderen sein Leid. Die großen, roten Versammlungsanzeigen an den Anschlagsäulen flößten ihnen Furcht und Schrecken ein.
Ganz verzweifelt rannte am Montag früh einer zum anderen, bald eine Treppe höher, bald eine tiefer. Aber wo sie auch anfragten, überall die gleichen Forderungen: Erhöhung des Lohnes und Verkürzung der Arbeitszeit, Abschaffung aller Überstunden und der Sonntagsarbeit.
Waren die Gesellen wirklich des Teufels? Wollten sie das Jahrhunderte alte Handwerk mit einem Schlage vernichten, oder es wenigstens zur Stadt hinausjagen? So fragten sich die Meister. Sollten sie nur einen Teil dieser Forderungen erfüllen, i dann, ja — dann mussten sie in wenigen Monaten ihre Werkstätten schließen.
Der Kampf war schnell entschieden; die größten Fabrikanten setzten ihre Betriebe schon am Dienstag früh wieder mit Volldampf in Gang. Jedes Zögern der Kleinmeister war nun zwecklos. Sie schickten ihre Frauen aus und ließen die Gesellen zu sich rufen.
In diesem kurzen Kampfe hatten die Gesellen den Glauben an ihre eigne Kraft gewonnen. Sie gaben die alten Gewohnheiten auf und achteten zunächst streng auf die vom Verband vorgeschriebene Ordnung.

*

In den großen Betrieben erhielt sich die Ordnung selbst; da ließ die üppige Saat des Verbandes kein Unkraut aufkommen. Aber dort, auf den Kleinmeisterhäfen, wo Bretter,
Kantholz, Fourniere und Leimsäcke haufenweise umherlagen, wo Hobelbänke und Werkzeuge durcheinander standen, zwischen denen schmutzige Trödeljuden hindurchkrochen, die alles auf ihre Karren packten, was sie unter dem Hammer des Gerichtsvollziehers billig geramscht hatten, dort war nun Albert sein Tätigkeitsfeld.
Kirchhofstimmung beschlich ihn zuweilen, wenn sich über die Reste einstmaligen Meisterglücks die abendliche Dämmerung breitete, und das stille Weinen der Meisterfrauen wie zwischen Gräbern hindurchzog. Die Kleinmeister sahen in Albert den wahren Todesboten, denn nur allein den Verband mit seiner neuen Ordnung machten sie für alles Unheil verantwortlich. Viele Gesellen stellten sich wie Schutzengel ihren Meistern zur Seite; sie halfen ihnen, Albert mit Püffen und Schlägen aus den Werkstätten jagen, wenn er kam, um an die Feierabendzeit zu erinnern.
Es war Sonntag. Albert saß still im Nebenzimmer einer Budike, dessen Wirt ein ehemaliger Kollege war. Er sah unverwandt durch die grünen Blätter des hochrankenden Efeu hinüber zum Eingang eines großen Industriegebäudes, wo immer einzelne Männer durch die schmale Pforte verschwanden. Ein lauter Gruß machte ihn aufschauen. Neben ihm stand Schulze, sein ehemaliger Meister, der ihm freundlich die Hand reichte. „Na, auch schon wieder im Dienst?" Albert nickte, gebot ihm aber durch eine Handbewegung Schweigen.
„Immer feste — keine Rücksicht nehmen!" ermunterte Schulze. „Was sich nur durch Unrecht erhält, hat keinen Anspruch auf Dasein, das ist jetzt mein Grundsatz", dabei setzte er sich neben Albert.
Bald stampfte der lahme Flickschuster herein, der im Keller des Nebenhauses seine Werkstatt hatte. Hinter ihm drein kam der alte Tischlermeister Lemke mit dem schwindsüchtigen Bäcker Schindler.
„He, Schulze!" rief der Schuster, während sich alle drei an einem Tisch niederließen. „Wie wär's denn mit 'm Skat?"
„Nein, nichts zu machen, — ich geh' gleich zur Versammlung!"
„Ih, lass doch den", wehrte Lemke ab, „der hält doch jetzt zu seinen Kollegen!"
Der dürre Bäcker rückte an seinem Stuhl, so, dass er Schulze den Rücken zukehrte und sagte heiser: „Pfui Teufel, erst würgen ihn die Roten ab, dann geht er mit ihnen durch Dick und Dünn!"
„Ja, wirklich!" — „Ganz unbegreiflich", sagten die anderen.
„Aber Kinder, regt euch um Gottes willen meinetwegen nicht auf!". Schulze wandte sich den Dreien zu: „Ich bin sicherlich kein Prophet, aber das will ich Euch sagen: wenn Euch der Tod nicht davor bewahrt, dann folgt Ihr mir am Ende auch noch."
„Bist woll verrückt!" schrie der graubärtige Tischler. „Mit dir wär's auch nicht soweit gekommen, wenn — wenn"
„Ja freilich, wenn", unterbrach ihn Schulze, „wenn ich auch einen Schwager hätte, der bei Wolf & Goldschmidt erster Geschäftsführer wär, dann — ja dann — könnte ich."
„Das ist eine gemeine Beleidigung!" Lemke fuhr wütend auf. „Meinst wohl gar: ich darf darum Schund liefern, was? Du!"
„Na, man kommt doch wohl leichter über den Strom, wenn der Kahn vom andern Ufer aus--"
„Nu — nu hört doch so 'ne Frechheit an!" Der hagere Bäcker fuhr von seinem Sitz auf.
Und der lahme Schuster stampfte mit dem Klotzfüß, dass die Gläser klirrten.
„Regt Euch doch nicht auf wegen dem roten Verleumder", sagte Lemke mit erzwungener Ruhe.
Albert verließ seinen Posten und ging mit Schulze hinaus.
„Na, so wollen wir der blöden Gesellschaft den Leidensweg ein wenig abkürzen helfen", sagte Schulze, Albert die Hand reichend, als sich an der Straßenecke ihre Wege trennten.
Ein Schutzmann stand gelangweilt vor einem Schaufenster und betrachtete die Warenauslagen.
Albert überlegte ein Weilchen, ehe er neben ihn trat und darauf hinwies, was er im Laufe des Morgens beobachtet hatte. Es tat ihm weh, seine Kollegen der Polizei auszuliefern, aber irgendwie musste man doch der Sonntagschändung beikommen.
„Was geht das mich an? Ich bin im Dienst, wie Sie sehn", sagte der Schutzmann kühl. Die Hände auf dem Rücken schritt er bedächtig weiter.
Auch nicht ein Wort der Verurteilung findet dieser Mensch, dachte Albert. Dabei liegt eine Gesetzesübertretung klar zu Tage! Es handelt sich doch um eine der heiligen zehn Gebote, das in allen Schulen gelehrt und in allen Kirchen gepredigt wird. So fühlte er sich ganz im Recht, als er in die Polizeistube eintrat.
Der Wachtmeister strich sich den langen Schnurrbart und sah gleichgültig zum Fenster hinaus, während Albert sein Anliegen vortrug. „Ja wissen Sie denn genau, dass die Leute arbeiten?" fragte er endlich.
„Sicherlich. Was sollten sie heut sonst in der Werkstatt tun?"
„Was heißt: sicherlich? Gesehen müssen Sie es haben!"
„Ich weiß genau!" behauptete Albert.
„Genau? genau wissen Sie gar nichts!"
Mit finsterem Blick prüfte er Alberts Ausweispapiere. „Gehen Sie! Ich werde einen Beamten rumschicken! Aber hören Sie: Stimmen Ihre Angaben nicht, werden Sie bestraft!" fügte der Gestrenge hinzu.----
„Na seh'n Se, da hab'n wirs! Wo wird denn hier gearbeitet?" sagte der Polizist, als er an der verschlossenen Werkstattür klinkte.
Albert klopfte dreist.
„Wer dort?" kam es endlich von drinnen. Dann ging die Tür langsam auf. Ein altes Männchen fuhr erschreckt zurück, als der Schutzmann ohne Gruß eintrat.
„Herr — Herr Wachtmeister, bloß een bißken für sich arbeiten die Gesellen heut", stammelte der Alte verlegen.
„Auch dieses dürfen sie nicht. Es ist bereits Kirchzeit; ich muss die Leute aufschreiben!"
„Aber, aber — Herr, Herr Wachtmeister, es ist ja heut das erste Mal, dass bei —"
„Es nützt nichts, lieber Mann, ich muss!" beteuerte der Polizist, wobei er seinen Blick auf Albert ruhen ließ. Dann schrieb er, schob das dicke Notizbuch wieder zwischen die blanken Rockknöpfe und wandte sich zum Gehen.
„Die Leute werden weiter arbeiten; dürfen sie das?" fragte Albert, in der Tür stehend.
„Nein, das dürfen sie allerdings nicht! Sofort anziehen und sich aus der Werkstatt scheren!" schnarrte der Schutzmann im Kommandoton zurück. Dann zog er seine Handschuhe wieder an und wollte die Treppe hinabsteigen.
„Wenn ich bitten darf, Herr Sergeant; da oben sind noch mehr solche Nester", sagte Albert mit einer auffordernden Bewegung.
Knurrend schritt der Schutzmann hinter Albert die Stufen hinauf.
„Na, da sehn Se 's doch! Schön reingefallen! Was wollen Se denn nun eigentlich hier?" triumphierte er hinter Albert, der die weitgeöffnete Tür in der Hand hielt und die leere Werkstatt entlang sah.
Ein Hüne mit einer reingewaschenen Schürze über dem runden Leib, kam langsam hinter der Tür hervor und fragte harmlos lächelnd nach dem Begehr der beiden.
„Hier soll gearbeitet werden, Herr Meier", sagte der Schutzmann mild, wobei leichter Spott seine Lippen umspielte.
„Ja, freilich, aber feste, mein lieber Günther, bloß heute nicht", erwiderte der Große gefasst und reichte dem Polizisten die Hand. „Nee, was jetzt alles so gemacht wird — nee, nee", der Meister schüttelte entrüstet den Kopf.
„Ja, Herr Maier, die Zeiten ändern sich!"
„Und ob! Was man früher als Fleiß schätzte, das wird heute zum Verbrechen gestempelt. Nee, die Welt steht schon reene uff'm Kopp!"
„Ja, ja — so is es wirklich bald", stimmte der Gesetzeswächter dem Meister zu.
,Heda! Was wollen Sie da? Was fällt Ihnen ein?" rief der Meister erregt die Werkstatt entlang, als Albert die eiserne Kamintür öffnete.
„Hier, bitte schön!" sagte Albert, und ein halbes Dutzend Gesellen kamen mit niedergeschlagenen Augen langsam aus dem schwarzen Versteck herausmarschiert.
„Wer ist der Mensch? Was haben Sie hier zu suchen?" schrie der Große empört.
„Ruhig, ruhig, Herr Maier, es ist mein Führer!"
„Sie nichtswürdiger Schuft! Wissen Sie, was es heut zu Tage heißt: Tischlermeister zu sein? So 'ne rote Kanaille!"
„Mäßigen Sie sich, Herr Maier!" Der Schutzmann hielt den Rasenden zurück. „Und Sie machen, dass Sie rauskommen!" befahl er Albert.
Als der Polizist auf den Flur trat, wartete Albert auf der nach oben führenden Treppe.
„Wollen Sie noch weiter hinauf?"
„Ja bitte!"
„Schöne Geschichten sind ja das", brummte  der Schutzmann widerwillig.
Hier stand die Werkstattür sperrangelweit auf. Ein Lehrling fegte zwischen den Hobelbänken Spähne zusammen und pfiff ein lustiges Liedchen dazu.
„Wo sind die Gesellen?" fragte Albert den Jungen.
„,Es sind keine hier; heute ist doch Sonntag!"
„Stecken sie etwa da im Kamin?" fragte der Schutzmann und schritt fest auf das Versteck los.
„Ach wo, da sind keine drin", beteuerte der Kleine. „Sonntags wird bei Meister Lemke nicht gearbeitet."
„Keine Maus!" kam der Beamte kopfschüttelnd zurück.
Der Junge lachte schadenfroh.
„Da müssen wir noch etwas höher gehen", drängte
Albert den Beamten.
„Höher geht’s nicht", rief der Junge, „da kommt der
Boden!"
„Ja, das wissen wir; da wollen wir auch hin!" lachte Albert.
„Verfluchte Kletterei!" schimpfte der Polizist schwitzend
hinter Albert her.
„Na, da haben Se doch den Kitt!" knurrte er, in den
dunklen Bodenraum hineinspähend.
„Überhaupt habe ich die Werkstellen zu kontrollieren und nicht die Bodenräume."
Da plötzlich — ein mächtiges Poltern — und beide standen in einer dichten Staubwolke. Mit dem Säbel nach vorn stochernd tastete der Schutzmann durch die Dunkelheit. Zwei Gesellen kamen hinter einen umgestürzten Holzstapel hervor. Von obenher schien ein Lichtstreifen, zwei Beine verschwanden durch die Dachluke.  Dumpf stampfte es übers Pappdach. In Zorn geraten, schloss der Schutzmann die Bodentür ab, schob Albert beiseite und stieg den Flüchtigen nach. Hinter Schornsteinen und Brandmauern trieb er noch vier Gesellen auf. „Sie wollten natürlich nur einen Morgenspaziergang machen, und ausgerechnet auf dem Boden und Dache des Meisters Lemke", sagte er, als die Übeltäter die Absicht zur Arbeit bestritten.
„Pfui!"  Die Gesellen spuckten aus, als sie Albert erkannten. „Nimm den Dreck!" — „Meins auch!" Sie warfen ihm die Verbandsbücher vor die Füße. „Wir pfeifen auf deinen Verband!" Schimpfend ging es die Treppe hinunter. „Schlagt den erbärmlichen Schuft nieder, wie einen Hund!" schrie der alte Lemke den wütenden Meistern und Gesellen zu, die auf dem Hofe standen.
Der Polizist sprach beruhigend auf die Erregten ein, während etliche hinter Albert hersetzten, der in eine vor­überfahrende Straßenbahn flüchtete.

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