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Giovanni Germanetto - Genosse Kupferbart (1930)
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„Wir haben heute alles Notwendige bekommen."
Er winkte den Genossen herbei.
„Ja, wir haben, was wir brauchen. Es ist alles geordnet. Ein Wärter wird die Briefe an die Zeitung hinausbefördern und dann die Zeitung hereinbringen. Wir haben viel auf dem Herzen, worüber du schreiben musst", schloss er.
„Ich bin bereit."
Sie zeigten mir das Tintenfass. Es war eine Eierschale mit etwas Tinte. An einem zu diesem Zweck hergerichteten Holzlöffel war eine Stahlfeder befestigt. Auch Papier war da.
Ich schrieb den ersten Bericht an den Triester „Lavoratore", die einzige noch erscheinende kommunistische Tageszeitung.
In der Mitte des Zimmers stand ein Pfeiler. Hinter diesem Pfeiler saß ich, von vielen meiner Mithäftlinge, die fast alle Analphabeten waren, umringt, und schrieb. Sie wachten abwechselnd an der Tür, um mir im Falle der Gefahr einen Wink zu geben. Eine kleinere Gruppe unterhielt sich wie üblich.
Am Abend ging der Brief ab.
Wenige Tage darauf traf die Zeitung mit dem ersten Bericht ein. Es wurde ein regelmäßiger Dienst eingerichtet. Ich erhielt die Nachrichten, die Ortszeitungen, informierte mich und schrieb. Das war nicht nur nützlich für die wenigen Genossen draußen, sondern auch ein Trost für mich.
Ich hatte das Gefühl, dem Leben von früher wieder näher gekommen zu sein. Eines Tages ließ der Untersuchungsrichter mich kommen. Diesmal war er allein. Er teilte mir mit, dass die Staatsanwaltschaft in Mailand sich für nicht zuständig erklärt hatte. Der Prozess vor dem Schwurgericht war damit erledigt.
„Ich hätte Ihnen dies Dokument durch den Gerichtsdiener aushändigen lassen können", erklärte mir der Richter. „Ich habe Sie aber lieber rufen lassen, weil ich ein bisschen reden möchte mit Ihnen, wenn Sie nichts dagegen haben."
Ich gab keine Antwort. Er fuhr fort:
„Sagen Sie mal, haben Sie Lenin gesehen?"
Diese Frage überraschte mich durchaus nicht. Ich hatte sie tausendmal in Italien gehört.
„Ja, ich habe Lenin gesehen, ich habe ihn gehört und habe eines Abends in seiner Wohnung mit ihm gesprochen", erwiderte ich.
Der Richter schien verblüfft über das, was er zu hören bekam.
„Lenin ist ein großer Mann", sagte er. „Und man kann ganz einfach mit ihm reden? In welcher Sprache hat er mit Ihnen gesprochen?"
„Französisch. Er kann auch Italienisch und Deutsch und versteht Englisch."
Dann folgte eine Frage auf die andere.
„Wie viele Sprachen kennen sie?" fragte er mich.
„Mehrere", antwortete ich unbestimmt, um sein Gesicht zu beobachten. „Ich habe sie so nebenbei gelernt, zwischen Rasieren und Haarschneiden."
Ich hätte am liebsten gelacht.
„Wissen Sie, dass in diesen Tagen über Ihren Prozess entschieden wird? Es finden heftige Auseinandersetzungen zwischen dem Appellationsgericht in Aquila, zu dem wir gehören, und dem in Rom statt. Die Richter in Rom möchten den Prozess haben. Es ist ja eine große Sache. Viele Anwälte werden dabei sein, und die Rivalität ist verständlich ..."
In diesem Augenblick klopfte es.
„Herein!" rief der Richter nicht sehr freundlich.
In der Tür erschien der Generalstaatsanwalt. Das Bild änderte sich. Der ein wenig aus der Fassung gebrachte Richter wurde dienstlich.
„Ah, Herr Staatsanwalt! Ich habe den Beschuldigten gerade über einige Punkte informiert."
Er war verlegen. Dann wandte er sich wieder an mich, als ob er das Verhör fortsetzte:
„Kennen Sie die Artikel des Strafgesetzbuches, die sich auf Ihre Anklage beziehen?"
„Ja, es sind dieselben, die vor einigen Jahren den gegenwärtigen Vorsitzenden des Ministerrats, Herrn Mussolini, vor das Schwurgericht gebracht haben."
„Seine Exzellenz Mussolini gehört nicht hierher."
„Ich habe ihn nur als Beispiel erwähnt, um zu zeigen, dass ich die Artikel kenne, die gegen mich geltend gemacht werden."
Der Staatsanwalt schwieg.
„Haben Sie die Begründung des Urteils gelesen", sagte der Richter, „durch das der Prozess in Mailand für die Angeklagten hinfällig wird, Herr Staatsanwalt? Was sagen Sie dazu?"
„Dass ich nicht in der Haut des Richters stecken möchte, der es abgefasst hat."
Damit ging der Staatsanwalt hinaus.
Seine Antwort war das Programm dieses „würdigen" Beamten gegenüber den Kommunisten. Sie war klar und unzweideutig.
Ein Schweigen trat ein.
„Ü brigens verstehe ich nicht", bemerkte ich, „warum diese Untersuchungskomödie fortgesetzt wird."
„Welche Komödie?" entgegnete der Richter, der mich unter dem Eindruck der Antwort des Staatsanwalts nicht verstehen konnte. Er steckte sich eine Zigarette an und fragte noch einmal:
„Welche Komödie?"
„Die Untersuchungskomödie in unserem Prozess."
Ich zog einen Zeitungsausschnitt aus der Tasche und las:
„,In innerpolitischen Fragen gibt es keine Diskussion. Was geschieht, geschieht auf meinen ausdrücklichen Wunsch und auf Grund meiner genauen Anweisungen, für die ich die Verantwortung übernehme ... Es ist unwichtig, ob eine Verschwörung festgestellt wird oder nicht...' Das hat Mussolini in der Kammer zu unserer Verhaftung bemerkt, und er hat hinzugefügt: ,Sie bleiben eine Weile im Gefängnis, und dann schicke ich sie nach Russland.' Das bedeutet, Herr Richter", schloss ich, „dass die Richter wenig zu sagen haben in unserm Fall."
Der Richter antwortete nicht.
„Ich habe also gesagt", fing er wieder an, „dass eine Rivalität zwischen Rom und Teramo besteht. Diese Verschwörung habe ich aufgedeckt. Ich habe auch die ersten Verhöre durchgeführt und die Verhaftungen angeordnet ..."
„Vielen Dank, Sie haben also die Haftbefehle unterschrieben. Es existiert ein Rundschreiben von De Bono in dieser Sache. De Bono als Polizeichef schreibt klar und deutlich, dass kein verhafteter Kommunist ohne Anweisung des Innenministeriums, also Mussolinis, freigelassen werden darf. Das ist völlig klar. Die Gerichte erhalten ihre Anweisungen von der Polizei. Ich bin durchaus nicht überrascht darüber. Ich stelle es nur fest. Sie müssen mich festhalten, auch wenn in meiner Wohnung oder meinem Büro nichts beschlagnahmt worden ist. Sie haben mir Material vorgelegt, das bei einem meiner Genossen beschlagnahmt worden ist ..."
„Schon gut, es liegen politische Gründe vor. Aber bleiben wir bei der Sache. Ich habe die Untersuchung zu führen. Ich habe schlaflose Nächte verbracht. Ich habe Ihre Notizbücher durchgeblättert — es ist zwecklos, dass Sie die Frage auf ein anderes Gebiet zu verschieben suchen — und habe mich überzeugt, dass das Verbrechen vorliegt. Ich habe schon mehrere Berichte geliefert. Es ist alles Material, das meinen Bemühungen zu verdanken ist und das andere jetzt ausnutzen möchten, weil die Kommunistische Partei ihren Sitz in Rom gehabt hat."
Er war wirklich interessant, dieser Mensch, der jede Zurückhaltung vergaß und sich über seine „Herzensangelegenheiten" vor mir aussprach, ausgerechnet vor mir, der ihm mit den anderen Genossen als Rohstoff für seinen Ruhm dienen sollte.
„Die Schlacht ist noch nicht verloren. Aber wenn ich sie verliere, entlasse ich Sie. Sie werden es sehen, ich lasse die Termine ablaufen, ohne die Verlängerung Ihrer Haft zu beantragen", schloss er. Sein Gesicht war gerötet.
„Viel Glück!" sagte ich. „Aber auch wenn Sie die Schlacht verlieren, kommen wir nicht frei. Sie werden sich erinnern, dass ich und meine ,Mitschuldigen', die hier in Teramo im Gefängnis sitzen, erbitterte Feinde der Klasse sind, der Sie angehören."
„Wir werden sehen."
Damit entließ er mich, und ich kehrte in unsere Gemeinschaftszelle zurück.

Der Gefängniskaplan war ein unbedeutender Pfaffe. Jedes Gefängnis in Italien hat seinen Kaplan, der sonntags die Messe zelebriert. Er verwaltet auch die Bibliothek, nimmt den Sterbenden die Beichte ab, gibt denen, die ihn hören wollen, Ratschläge und betätigt sich als Spitzel. Er verteidigt auch die Häftlinge, wenn diese sich eines Vergehens schuldig machen und vor das Disziplinargericht des Gefängnisses kommen.
Mich konnte er nicht leiden. Das hatte er mir mehrmals bei geringfügigen Anlässen bewiesen. Ich küsste ihm niemals die Hand, wie die armen Bauern es taten, die in die Netze der Justiz geraten waren, und ich ging auch nicht zur Messe.
Einmal — es war das erste Mal, dass er in unseren Raum kam (ich kannte ihn aber schon lange aus der Bibliothek) — erhoben sich alle, während ich sitzen blieb.
„Warum stehen Sie nicht auf? Wissen Sie nicht, wie Sie sich vor Ihren Vorgesetzten zu benehmen haben?" fuhr er mich an.
„Das verstehe ich nicht", antwortete ich.
„Wenn ein Vorgesetzer eine Zelle oder einen Raum betritt, haben sich alle Häftlinge — ich zitiere aus der Gefängnisordnung — zu erheben."
„Es wird so sein, wenn Sie es sagen", erwiderte ich, „aber ich habe die Gefängnisordnung nie gesehen."
Ich blieb sitzen. Am nächsten Tage kam die Gefängnisordnung.
Zur größten Empörung des Kaplans blieben an einem hohen kirchlichen Feiertage, während die Insassen der anderen Zellen fast alle zur Beichte gegangen waren, in der Zelle Nummer 14 22 von den 25 Häftlingen der Beichte fern.
Der Pfaffe tobte.
„Sie haben schuld daran", erklärte er mir.
„Wieso?" fragte ich.
„Sie treiben hier antireligiöse Propaganda."
„Ich? Wenn das wahr ist, muss der Glaube meiner Zellengenossen aber sehr lau sein", bemerkte ich.
„Ich bin doch neugierig, was für Argumente Sie haben. Fangen Sie mal an!"
„Ich würde gern mit Ihnen diskutieren, wenn ich nicht offensichtlich der Unterlegene wäre. Sie sind nach der Gefängnisordnung mein Vorgesetzter, und unter diesen Umständen ist natürlich keine Diskussion möglich."
Wir waren auf dem Spaziergang. Auch ein Beamter und der Oberwärter waren dabei.
„Hier können Sie diskutieren. Tun Sie sich keinen Zwang an", erwiderte der Priester.
Wir fingen an, und die Häftlinge hörten zu.
Der arme Kaplan, der nur über wenige, sehr wenige Argumente verfügte und sie obendrein nicht einmal gut vorzutragen wusste, verlor an Boden. Wir begannen mit der Erschaffung der Welt und endeten — oder vielmehr ich endete —beim Disziplinargericht. Warum? Auf eine sehr ironische Bemerkung meinerseits erwiderte der ehrenwürdige Diener Gottes:
„Cave a signatis." (Anm.: „Cave a signatis" bedeutet ungefähr „Hüte dich vor den Gezeichneten" und sollte eine beleidigende Anspielung auf mein körperliches Gebrechen sein. Das war wirklich christliche Barmherzigkeit!)
Ich habe nicht lateinisch gelernt, kenne aber viele dieser Kernsprüche.
„Ü bersetzen Sie mir das doch ins Italienische oder in den Abruzzendialekt, ehrwürdiger Diener Gottes!" sagte ich.
Der Priester, der nicht geglaubt hatte, dass ich Latein verstünde, konnte seinen Ärger nicht verbergen und schwieg.
„Nun also", wandte ich mich an die Häftlinge, „dieser Lump" — ich wies auf den Geistlichen — „weiß nicht mehr weiter und beleidigt mich daher ..."
„Genug jetzt, halten Sie den Mund! Vergessen Sie nicht, wer ich bin!" schrie der Priester.
„Sie sind ein Lump!" wiederholte ich.
Der Beamte drückte sich. Der Oberwärter wartete auf Befehle. Die Häftlinge wussten nicht, woran sie sich halten sollten.
„Ich bin Ihr Vorgesetzter!"
„Ein Lump sind Sie und sollten sich schämen. Dabei haben Sie freie Diskussion versprochen."
„In die Strafzelle mit ihm!" lautete die Antwort.
Ich kam wieder einmal ins Loch. Dort blieb ich mehrere Tage. Dann wurde ich vor das Disziplinargericht gestellt.
Es bestand aus dem Direktor, dem Oberwärter und dem Gefängnissekretär. Auch der Priester war da, der nach der Gefängnisordnung mein Verteidiger war.
„Sie haben den Herrn Kaplan beleidigt. Was haben Sie zu Ihrer Rechtfertigung zu sagen?"
„Vor allem lehne ich einen solchen Verteidiger ab, und außerdem habe ich zu sagen, dass ich beleidigt worden bin. Der Ausdruck ,Lump', den ich nicht abstreite, war nur eine Vergeltung. Zu meiner Rechtfertigung habe ich zu sagen, dass dieser Herr ein Lump ist."
Ich wurde wieder in die Strafzelle gesteckt, und man drohte mir mit einer Anzeige beim Gericht. Mehrere Tage verbrachte ich hier bei Wasser und Brot. Ich beantragte eine ärztliche Untersuchung, doch wurde sie im Gegensatz zum ersten Mal nicht genehmigt. Spazierengehen durfte ich nicht. Ich hockte und grübelte. So ein Leben ist furchtbar. Man glaubt, verrückt zu werden.

Eines Tages wurde ich ganz unerwartet aus diesem Loch befreit. Auf dem Gang begegnete ich dem Direktor. Er begrüßte mich:
„Was da geschehen ist, tut mir leid, aber Sie haben es ein bisschen wild getrieben."
Er lachte.
„Das hat nichts zu sagen, beim Prozess wird es sich zeigen", erwiderte ich.
„Der wird gar nicht stattfinden, glaube ich", sagte der Direktor und fügte dann hinzu: „Sagen Sie mal, was ist eigentlich los ? Unten im Sprechzimmer ist ein Abgeordneter, der Sie sprechen möchte. Seinen Namen habe ich vergessen. Haben Sie ihn bestellt? Haben Sie vielleicht Beschwerden?"
„Ich habe keinen Abgeordneten bestellt, und meine Beschwerden bringe ich schon selber vor. Sie haben ihn doch gesehen, wer ist es denn? Bin ich deswegen aus der Strafzelle herausgeholt worden?"
„Sie kommen wieder auf Nummer 14", sagte der Direktor. „Kommen Sie mit, ich bringe Sie ins Sprechzimmer."
Er war etwas aufgeregt, der Herr Direktor. Im Sprechzimmerfand ich einen sozialistischen Abgeordneten vor, einen Schulfreund, einen Arbeiter, der bei den Maximalisten geblieben war.
„Was führt dich her?" fragte ich meinen vornehmen Besuch nach der Begrüßung.
„Ich bin auf der Durchreise und habe dir guten Tag sagen wollen."
Der Direktor stand in respektvoller Haltung dabei. „Störe ich?" fragte er.
„Nein, nein", sagte ich. „Darf ich Ihnen den Herrn Abgeordneten Paolino vorstellen ..."
„Herr ... Herr Abgeordneter ..." Er stotterte noch mehr als sonst.
Wir unterhielten uns lange. Dann ging ich wieder auf Nummer 14, wo man mich jubelnd begrüßte. Man wusste schon, dass ich die Strafzelle hinter mir hatte und dass der Abgeordnete gekommen war. Alle umringten mich.
„Meister, sagen Sie doch dem Abgeordneten, er soll sich mit unserem Prozess befassen", sagten diejenigen, die seit Jahren auf ihr Urteil warteten.
Andere baten mich, sie dem Abgeordneten zu empfehlen.
„Der Abgeordnete müsste erfahren, dass wir hier schlechtes Brot und schmutziges Wasser als Suppe bekommen."
In diesen Gegenden ist der Abgeordnete so etwas wie der Vater im Himmel. Er gibt Empfehlungen, hilft beim Abschluss von Verträgen, ist der Diener der Wähler, begleitet sie, wenn sie Rom besuchen, übernimmt die Erledigung von Aufträgen. Er leistet Dienste jeder Art, vor allem, wenn die Wahlen nahen.
Ich nahm meine Berichterstattung für die Zeitung wieder auf. Eines Tages fragte man mich, ob ich die Stellung des Briefschreibers für die Analphabeten unter den Häftlingen übernehmen wolle. Mehr als achtzig Prozent der Häftlinge konnten nicht schreiben.
„Sie werden Hilfsschreiber sein und vorerst keinen Lohn bekommen. Wenn Sie sich bewähren, können Sie auch Hauptschreiber werden. Der jetzige ist schon recht alt", erzählte mir der Wärter von der Verwaltung, „und wird nicht mehr lange machen. Dann erhalten Sie vierzig Centesimi täglich, brutto."
Mir eröffnete sich eine glänzende Laufbahn. Ich nahm an.
Vier Stunden täglich saß ich nun in einem Zimmer und schrieb Briefe für die Häftlinge, Briefe, in denen von Jammer und Leid die Rede war. Die Unglücklichen erzählten mir ihre Angelegenheiten, als ob ich ihr Beichtvater wäre. Sie sagten mir, was ich ihrer Frau, ihrer Mutter, ihren Kindern schreiben sollte, und wenn ich ihnen den Brief vorlas, den ich mich genau nach ihren Angaben zu schreiben bemühte, hörten sie mit angehaltenem Atem zu. Manche konnten die Tränen nicht zurückhalten. Die Diebe und Einbrecher konnten fast alle schreiben. Die Analphabeten waren die anderen, die Affekttäter. Ich schrieb Briefe, Anfragen, Gesuche, Erklärungen.
Weil ich schreiben konnte, erschien ich diesen Unglücklichen — mehrere waren zu lebenslänglichem Zuchthaus, andere zu dreißig Jahren verurteilt — als ein höherer Mensch.
„Meister", sagten sie zu mir, „Sie sind unser Wohltäter! Was können wir nur für Sie tun?"
Einmal bewies es mir einer von ihnen. Es war eine fünfköpfige Bande verhaftet worden. Die Burschen waren, alle mit großen Faschistenabzeichen im Knopfloch, durch die Abruzzen gezogen und hatten im Auftrage eines angeblichen Komitees Geld gesammelt, um dem Dichter D'Annunzio eine goldene Plakette zu verehren. Sie hielten Reden in den Theatern und wurden von Bürgermeistern und Präfekten unterstützt. D'Annunzio stammt aus den Abruzzen, daher scheffelten die Burschen das Geld und amüsierten sich in den großen Hotels. Eines Tages stellte man fest, dass das Komitee überhaupt nicht existierte und dass es sich um fünf Schwindler handelte, die zwar Faschisten waren, aber auf eigene Faust arbeiteten. Sie hatten auf diese Weise etwa siebentausend Lire ergaunert. Sie wurden verhaftet. Während man sich wahrscheinlich bemühte, sie auf anständige Weise wieder in Freiheit zu setzen (ich glaube, auf Grund des von ihnen bewiesenen Unternehmungsgeistes sind sie jetzt alle mindestens Bürgermeister), landete einer von ihnen in Nummer 14.
Er war ein gut aussehender junger Mann von vielleicht 24 Jahren, hochgewachsen und blond, und trug noch das Faschistenabzeichen. Er tat sehr wichtig und erzählte den Häftlingen, er sei ein Opfer der Politik. Er war angekommen, während ich im Büro Briefe für die Analphabeten schrieb. Als ich zurückkam, sagte man mir, es sei ein Faschist eingetroffen. Ich war überrascht beim Anblick des Faschistenabzeichens. Aber der Bursche sprach nicht mit mir. Man hatte ihm gesagt, ich sei Kommunist. Die Häftlinge hätten gern eine Diskussion gehört und sprachen diesen Wunsch aus.
„Ich bin bereit", antwortete ich.
„Mit Kommunisten diskutiere ich nicht, mit denen rede ich nur mit dem Knüppel."
„Und wenn ihr zwanzig gegen einen seid", bemerkte ich.
Er warf mir einen bösen Blick zu.
Im Gefängnis hatte ich gelernt, kleine Gegenstände aus weichem Brot herzustellen. Die Häftlinge kneten richtige kleine Kunstwerke daraus. Ich war noch ein Anfänger. Ich hatte mir schon ein paar Knöpfe gemacht und arbeitete unter der Anleitung des Stubenältesten Vincenzo an einer Nadelbüchse, die ich meiner Mutter schenken wollte. Ich stellte ein Abzeichen her und malte darauf mit roter Tinte, die ich im Büro hatte, Sichel und Hammer. Ich zeigte mein Meisterwerk meinen Stubengenossen. Sie fanden es sehr schön. Am Abend hatten sie alle ein solches Abzeichen, wenn auch ohne Tinte, und steckten es an.
Als am Morgen der Oberwärter und zwei Wärter zur Visite kamen, standen wir, wie üblich, neben unseren Betten.
Beim Anblick meines Abzeichens — man darf nicht vergessen, dass es im Jahre 1923 war — sagte der Oberwärter zu mir:
„Sie sehen aber fein aus heute!"
Als er dann aber das gleiche Abzeichen bei den anderen sah, sagte er:
„Ach so! Herunter mit den Abzeichen!"
Er begann, sie einzusammeln, und hatte bald beinahe seine Mütze voll. Als er zu dem Faschisten kam, fragte dieser ihn:
„Mir wollen Sie auch das Abzeichen wegnehmen?"
„Ihnen wie allen anderen! Sie können es tragen, wenn Sie wieder draußen sind."
Als die Wärter hinausgegangen waren, kam der Faschist auf mich zu und sagte:
„Ich habe vollkommen verstanden."
„Das war nicht schwer zu verstehen, glaube ich", erwiderte ich.
Am liebsten hätte er mich erwürgt.
Da trat einer von denen auf ihn zu, die mich einmal gefragt hatten, was sie wohl für mich tun könnten, ein Mann aus den Bergen, der wegen Doppelmordes angeklagt war, und sagte zu ihm: „Wenn du mit ihm sprichst" — dabei wies er auf mich —, „nimmst du die Mütze ab." Damit schlug er sie ihm vom Kopf.
Der Faschist wurde rot vor Zorn, hob seine Mütze auf und setzte sie sich wieder auf den Kopf. Diesmal war es nicht nur um die Mütze geschehen. Ein harter Faustschlag an den Kopf schleuderte ihn unter das Bett. Er raffte sich wieder auf und griff nach einem der Tontöpfe, die den Gefangenen als Trinkgefäße dienen, aber ein neuer Faustschlag streckte ihn kopfüber hin. Er blutete und blieb totenblass liegen. Keiner von den Häftlingen hatte sich gerührt. Sie taten alle, als hätten sie nichts gesehen. Der Mann aus den Bergen wollte sich noch einmal auf ihn stürzen, aber ich hielt ihn zurück.
„Meister", sagte er, „ich bin kein Feigling. Wir kämpfen mit gleichen Waffen. Ich habe zwei Arme, und er auch. Diese Schufte dagegen fallen immer in bewaffneten Haufen über einen einzelnen her, der keine Waffen hat." Dann wandte er sich an den Faschisten: „Jetzt kannst du die Wärter rufen und erzählen, dass ich dich verprügelt habe. Merke dir, dass Schweine, auch wenn sie in eine andere Zelle kommen, so behandelt werden, wie sie es verdienen, Hoffe nicht auf Mitleid. Wir haben unsere Gesetze hier.
Der am Boden liegende Faschist schwieg und wischte sich das Blut ab. Ich glaubte, er würde um Hilfe rufen, aber er wusch sich nur die Wunde und warf sich dann auf seinen Strohsack.

Mehrere Anklagepunkte waren hinfällig geworden. Die offizielle Entscheidung des römischen Kassationshofes bezüglich des Gerichts, das unseren Fall verhandeln sollte, war mir mitgeteilt worden. Wir wurden an die XIII. Kammer des Gerichts in Rom überwiesen.
Ich wartete auf den Richter. Der musste eine Wut im Leibe haben! Alle seine Träume waren zerronnen.
Ich hatte mit der Lektüre der Prozessakten begonnen. Es war hochinteressant. Sämtliche Aussagen stammten von Kommissaren und Agenten der Sicherheitspolizei. Ich zitiere aus den offiziellen Akten, die sorgfältig in 78 Bänden zusammengefasst waren. Auf der Liste der bei den verschiedenen verhafteten Genossen beschlagnahmten Bücher standen das Invalidengesetz, ein Buch über die Mailänder Scala, eine Novellensammlung, ein Buch über Dalmatien und Italien, ein Buch über die Eroberung der Gemeindevertretungen, ein im Staatsverlag erschienenes Buch über die Besteuerung der Spritfabrikation, ein Unterrichtsprogramm für die Ausbildung von Berichterstattern und die Statuten eines unpolitischen Vergnügungsvereins. Diese Bücher dienten als Beweisstücke in unserem Prozess.
Ein Genosse war verhaftet worden, weil er die Thesen und Statuten der Kommunistischen Internationale im Hause hatte, die im Jahre 1919 im Verlag „Avanti" erschienen und allgemein bekannt waren. Bei einer Genossin hatte man vier Photographien beschlagnahmt, die nun in den Akten prangten, ein Bild von ihr selbst, eines von Lenin, eines von Bombacci und eines von Malatesta. Bei mir hatte man das Textbuch zu Verdis Oper „Ein Maskenball" beschlagnahmt. Bei der Suche nach Dokumenten und bei der Auswertung verabredeter Briefe war die Sicherheitspolizei sehr weit gegangen. Hier der Bericht eines Agenten:
„Auf dem Abort sah ich im Loch ein Stück Seidenpapier. Ich nahm es an mich und stellte fest, dass es mit der Schreibmaschine geschrieben war und die fingierte Unterschrift ,Loris' trug. Es musste erst vor kurzem fortgeworfen worden sein, denn es war noch ganz nass. In der Hoffnung, noch andere Dokumente zu finden, ließ ich die Kloake öffnen, konnte aber, weil diese voll war, nichts finden."
Welche Horizonte eröffneten sich der italienischen Sicherheitspolizei!
Um zu zeigen, wie die verabredeten Briefe ausgewertet wurden, zitiere ich aus dem Bericht eines anderen Agenten:
„Die Bemerkungen über die Beseitigung eines Schweines beziehen sich auf einen Stoß von umstürzlerischen Broschüren."
Die Intelligenz der Sicherheitspolizei offenbart sich auch im Zusammenhang mit einem Bündel, das ein Genosse auf der Flucht in einen Kanal geworfen hatte. Ein Kommissar berichtet: „Ich habe den Kanal auf der Strecke zwischen der San-Faustino-Kirche und der Casa-Leone-Brücke ergebnislos absuchen lassen. Dann habe ich den Kanal trockenlegen lassen, aber wiederum ohne Erfolg."
So ging es weiter. Sehr lückenhaft waren die Berichte über die Beschlagnahme von Geld bei den Angeklagten. Es war nichts mehr da.
Der Prozess rückte näher. Damals erhielt ich ungewöhnlich viele Briefe von Anwälten. Alle boten sich in selbstloser Weise als Verteidiger an. „Ich bin kein Kommunist", schrieb mir einer von ihnen, „aber ich bin für die Gerechtigkeit. Ich verlange kein Geld von Ihnen ..." So lauteten sie fast alle. Ich musste an den Kerkergenossen denken, der sich von einem Anfänger hatte erweichen lassen. Einer erschien an einem Besuchstage im Sprechzimmer. Es war ein junger Mensch. Er hatte Zeitungsausschnitte mit Prozessberichten bei sich, in denen er als Verteidiger genannt wurde.
„Bemühen Sie sich nicht, wir verteidigen uns nötigenfalls selber. Im übrigen kümmert sich die Partei um unsere Verteidigung."
„Gewiss, das weiß ich, aber ein parteiloser Verteidiger ist besser. Ein Parteimann muss die Frage politisch stellen, während ich sie juristisch stellen kann. Ich kenne den Prozess."
„Es tut mir leid." Damit ging ich.
Eines schönen Morgens — es war wirklich ein schöner Morgen — kam ein Wärter in das Zimmer, in dem ich Briefe für Häftlinge schrieb, und flüsterte mir ins Ohr: „Sie kommen frei. Sprechen Sie nicht darüber, denn der Direktor will es Ihnen selbst sagen." Er machte sich aus dem Staube. Bald danach erzählte mir der Stellvertreter des Oberwärters dasselbe, dann der Oberwärter, und dann der Sekretär. Als der Direktor es mir offiziell mitteilte, waren die Genossen der Ortsgruppe Teramo bereits informiert.
Ich packte meine Sachen. Die Häftlinge in Nummer 14 waren fassungslos. Unser Abschied war sehr herzlich. Im Aufnahmebüro traf ich meine lächelnden „Mitschuldigen" Presutti und Leone. Auf dem Gang begegnete mir der Richter.
„Siehst du?" sagte er mit der Miene eines Menschen, der sein Wort gehalten hat.
Zum Prozess erschienen wir auf freiem Fuß. Vorher aber wurde ich noch einmal wegen der Majestätsbeleidigung verhaftet. Man hielt mich einige Wochen fest und erklärte sich dann für nicht zuständig, weil das Vergehen unter die Amnestie fiel. Ich wurde gerade zur rechten Zeit freigelassen, um mich nach Rom begeben zu können ...
Der Prozess erregte großes Auf sehen. Die Zeitungen brachten lange Berichte. Der Saal war immer voll von Menschen. Der Prozess dauerte zehn Tage. Damals war die Justiz noch nicht faschistisch. Zweimal am Tage wurden die Polizisten auf ihren Sonderplätzen ausgewechselt. Sie waren von allen Polizeipräsidien des Königreichs gekommen, um uns persönlich kennen zu lernen.
Wir hatten zu kämpfen, um die Zahl unserer Verteidiger von über dreißig auf neun zu verringern. Ich fungierte als Vertreter der Angeklagten bei dem „Ausscheidungswettbewerb" der Anwälte, die uns um jeden Preis verteidigen wollten.
Einer der Angeklagten durfte anderthalb Stunden sprechen, während wir anderen uns auf einfache Erklärungen beschränkten. Seine Rede machte gewaltigen Eindruck. Hier sprach nicht ein Angeklagter, sondern ein Ankläger. Gramsci und Terracini waren flüchtig.
Ich gebe aus dem stenographischen Prozessbericht meine Erklärung wieder:
„Ich gehöre der Kommunistischen Partei seit ihrer Gründung an. Ich habe fast zehn Jahre der Sozialistischen Partei angehört und übernehme daher in vollem Bewusstsein die auf mich fallende Verantwortung. Ich habe die kommunistische Provinzzeitschrift ,La Riscossa' geleitet und bin Sekretär der Provinzorganisation der Kommunistischen Partei und der Gewerkschaft gewesen. Ich bin Mitglied der italienischen Delegation auf dem IV. Kongress der Kommunistischen Internationale und auf dem II. Kongress der Roten Gewerkschaftsinternationale gewesen. In Moskau habe ich das Manifest unterzeichnet."
Der Präsident: „Sie haben viele Ämter gehabt ..."
„Ich schließe mich daher den Ausführungen meines Genossen an und bin mir dabei über meine Verantwortung völlig klar."
Ebenso äußerten sich die anderen Genossen. Wir waren auf eine Verurteilung gefasst, wurden aber freigesprochen. Der Carabinieri-Oberleutnant hatte seine Mühe, das übermäßige Interesse seiner Leute für den Fall zu dämpfen.
Als der Präsident das Urteil verlas, brauste lauter Beifall auf. Alle wurden freigelassen, sogar ein Genosse, der noch einen anderen Prozess hatte. Mussolini, der bei der Freisprechung Serratis vor dem Mailänder Schwurgericht erklärt hatte: „Wenn ich von dem Freispruch erfahren hätte, hätte ich eine Sturmabteilung ans Gefängnistor geschickt", muss nicht sehr erfreut gewesen sein über seine Richter. Das beweist die Tatsache, dass er sie bald auswechselte, um ein geeigneteres Instrument für derartige Dienste zu erhalten, und zwar das Sondergericht.
Ich fuhr nicht nach Hause. In Turin hatte ich die Nachricht erhalten, dass die Polizei mich suchte, und außerdem hatte die Partei beschlossen, mich als Vertreter unserer Minderheit im Allgemeinen Gewerkschaftsbund zur Roten Gewerkschaftsinternationale zu schicken.
Ich ging über die Alpen, diesmal ohne Zwischenfall, weil die Regierung mir den Pass entzogen hatte.

Meine Freude darüber, wieder in der Sowjetunion zu sein, wurde wenige Tage nach meiner Ankunft durch den Tod Lenins getrübt. Mit tiefem Schmerz sah ich ihn, den ich vor noch nicht langer Zeit im Kreml gehört hatte, im Hause der Gewerkschaften aufgebahrt, während die Menge der Arbeiter schweigend an der Bahre vorbeizog. Das Proletariat hatte seinen Führer verloren. Ich erinnere mich an den Anblick Moskaus in jenen Tagen. Alles schien erstarrt zu sein in stummer und schmerzlicher Betroffenheit über den schweren Verlust.
Ich begann meine Arbeit. In Moskau traf ich Serrati wieder. Wir waren Wohnungsnachbarn. Er war zu uns zurückgekehrt. Marabini hatte es prophezeit.
Auch Terracini traf ich in Moskau, den ich seit dem Parteitag in Livorno nicht gesehen hatte. Der Kerker und die mehr oder weniger illegale Arbeit hatten uns getrennt und trennten uns wieder für lange Jahre.
Serrati und ich arbeiteten in der Roten Gewerkschaftsinternationale zusammen. Abends sprachen wir manchmal von unseren Kämpfen. Er freute sich, dass er wieder bei uns war. Er erzählte von seinem abenteuerlichen Leben in Amerika, in Frankreich, in der Schweiz, von Verbannung, Gefängnis und Not.
„Wie hast du Mussolini kennen gelernt?" fragte ich ihn eines Abends.
„In der Schweiz und dann in Italien. Er war immer finster und schweigsam. Er posierte. Er hatte keine Lust zur Arbeit. Auch in Gesellschaft isolierte er sich. Er machte auf mich eher den Eindruck eines Anarchisten als eines Sozialisten. Er war ein völliger Bohemien. Er lebte mehr auf Kosten der anderen als von seiner Arbeit. Er war immer bei mir zu Hause. Ich reiste in der ganzen Republik umher. Es gab viel zu tun. In der Emigration ist die Arbeit sehr schwierig. Dazu gehört Entschlossenheit und Opfermut. Ich habe mich immer bemüht, beides zu beweisen. In der Emigration wimmelt es von Elementen, die jedes Unternehmen verderben. Sie halten sich für Revolutionäre, weil sie in den Kneipen lauter schreien als andere. Viele nennen sich Anarchisten, um nichts tun zu müssen. Ich trieb Mussolini zur Arbeit an. Er zuckte die Achseln, die schwere und geduldige Arbeit des Organisators behagte ihm nicht. Er liebte die großen Versammlungen. Dort wurde er lebendig. In Italien war er noch oft bei mir, in Mailand und bei meinen Angehörigen in Oneglia. Er war auf der Suche nach einer Zeitung, er wünschte sich eine bedeutende Wirkungsstätte. Einmal erfuhr er, dass mir die Leitung einer Zeitung angeboten worden war und ich abgelehnt hatte, weil ich eine andere Parteiarbeit nicht im Stich lassen konnte. Er suchte meine Angehörigen auf, kam zu mir, bat mich um eine Empfehlung und erklärte mir, er werde sich auch mit einem geringeren Gehalt begnügen."
Serrati sprach leidenschaftslos von Mussolini und rauchte seine Zigarre dabei.
„Er wollte eine Zeitung, und er hat sie bekommen. Er hat versucht, sie den Feinden des Proletariats in die Hände zu spielen. Das ist ihm nicht gelungen. Er hat sie zugrunde gerichtet."
Bei diesem Gedanken verfinsterte sich seine Stirn.
„Leider hat es mit allen Chefredakteuren des ,Avanti' ein schlimmes Ende genommen, mit Bissolati, mit Ferri, mit Morgari... Der erste wollte uns alle erschießen lassen, weißt du noch? Und Ferri? Dieser Hanswurst! Morgari wird bestimmt einmal mit der Bourgeoisie zusammen arbeiten. Mussolini — sprechen wir nicht von ihm ... Ich ..."
Hier hielt er inne.
„Ich", fuhr er fort, als ob er zu sich selber spräche, „ich habe der Partei geschadet, aber ich habe es rechtzeitig bemerkt. Noch habe ich einige Jahre vor mir. Ich werde es wieder gutmachen."
Er hatte sich erhoben und ging im Zimmer auf und ab. „Es kommen noch schlimmere Zeiten für unsere Bewegung, aber wir werden kämpfen, nicht wahr, Barbadirame?" Seine Stimmung besserte sich.
„Bald stehe ich wieder in der ersten Linie, wie damals in Amerika, als ich aus dem Englischen übersetzte, ohne Englisch zu können, als ich die Zeitung machte, ohne den Drucker bezahlen zu können, als ich ohne Geld Reisen machte, Konferenzen und Diskussionen veranstaltete, bei den bewegten amerikanischen Volksversammlungen Boxkämpfe organisierte und selbst boxte."
Ich hatte ihm schweigend zugehört.
„Erzähl mit etwas von Cuneo", sagte er munter und legte mir eine Hand auf die Schulter. „In dieser Provinz hat mein politisches Leben begonnen. In Mondovi, wo ich studiert habe, in einer Versammlung für Trient und Triest... stell dir das vor! Erinnerst du dich an die Diskussion, die du einmal in deinen Bergen mit mir gehabt hast?"
„Und ob ich mich erinnere!" erwiderte ich. „Wenn mein Rad nicht eine Panne gehabt hätte, hätte ich mich nicht aufgehalten."
„Und ich", sagte Serrati lachend, „ich hätte meine Prosa, die zweifellos voller Widersprüche war, nicht noch einmal zu hören bekommen. Du Lump hattest vorausgeschickt, dass du ein Schüler von mir warst und meine Artikel oft zitiert und abgeschrieben hattest, und das hast du auch damals getan."
Er lachte. Bald darauf ging er wieder nach Italien, in die vorderste Linie.
Wir arbeiteten noch fast zwei Jahre in der Gewerkschaftsbewegung zusammen ... Auf illegalen Versammlungen, in der Presse, auf den Blitzversammlungen vor den Fabriken, wenn die Arbeiter herauskamen.

Während meines Aufenthaltes in der Sowjetunion bin ich einmal totgesagt worden.
Die Geschichte meines am 17. August 1924 erfolgten Todes ist sehr spaßig. Meine Mutter, meine Schwester und mein Bruder erlebten jedoch zwei wenig erfreuliche Wochen. Folgendes war geschehen.
Eines schönen oder vielmehr schlimmen Tages wurde meinem Bruder, der als Mechaniker in Fossano arbeitete, wo meine Angehörigen heute wohnen, folgendes Telegramm zugestellt :
„Dein Bruder gestorben. Ida."
Mein Bruder — meine Schwägerin hat es mir später erzählt — wurde fast ohnmächtig vor Schreck. Das Telegramm kam aus Turin. Ein Zweifel war nicht möglich. Die Adresse stimmte genau, und wir sind nur zwei Brüder. Was tun? Er beriet sich mit meiner Schwester, die in Ohnmacht fiel. Wir hatten uns immer sehr gut vertragen. Die Unterschrift hatte angesichts der Bedingungen, unter denen die Partei nach dem Marsch auf Rom lebte, nicht viel zu bedeuten.
Als sie vom ersten lähmenden Schrecken wieder zu sich gekommen waren, telegraphierten meine Geschwister an die „Unita". Dies war das einzige Mittel, um sich mit einem führenden Funktionär unserer Partei in Verbindung zu setzen. Meine Mutter wusste noch nichts. Von der Zeitung kam die Antwort:
„Haben keine Nachrichten — werden uns informieren."
Ich war fern von Moskau. Meinen Urlaubsmonat verbrachte ich nicht in einem Erholungsheim, sondern machte eine Reise, um die Sowjetunion kennen zu lernen. Ich war an der Wolga, in Nishni-Nowgorod, in Simbirsk, in Samara, in Stalingrad, in Astrachan und schrieb zahlreiche Berichte für unsere Presse in Italien. Das Telegramm erschien um so echter, als meine Briefe — ich schrieb regelmäßig einmal in der Woche an meine Mutter — gerade damals, weil ich von Moskau weit entfernt war, auszubleiben begannen. Die Nachricht war bekannt geworden. Um zu vermeiden, dass unsere Mutter sie von anderen erfuhr, mussten meine Geschwister ihr das Telegramm zeigen. Obwohl meine Geschwister unsere arme Mutter seit einigen Tagen durch die in solchen Fällen übliche Mitteilung, ich sei erkrankt, vorbereitet hatten, brach sie zusammen und war tagelang krank.
Die lokale Presse veröffentlichte die Nachricht. Freunde, Genossen und Bekannte erschienen in unserer Wohnung. Der Bürgermeister erbot sich, an die russische Botschaft in Rom zu telegraphieren. Er war ein Volksparteiler und damals noch Antifaschist. Die Antwort auf das Telegramm war sehr dazu angetan, meinen Tod glaubhaft zu machen. Die Botschaft wandte sich an die Sowjetregierung und diese an die Organisation der politischen Emigranten. Man suchte mich in der Kommunistischen Internationale und in der Gewerkschaftsinternationale, wo ich arbeitete. Hier antwortete man, ich sei verreist. Natürlich konnten in einem Telegramm nicht alle Einzelheiten erwähnt werden, und dadurch wurde die Tatsache meines Verschwindens bestätigt. Die Zeitungen in meinem Ort meldeten, ich sei in dem geheimnisvollen Russland — man schrieb das nicht direkt, deutete es aber an — gestorben, vielleicht verhungert oder auf irgendeine andere Weise ums Leben gekommen. Dann veröffentlichten einige Blätter einen Nachruf auf mich. Ich habe ihn später gelesen. Es kommt sehr selten vor, dass man seinen eigenen Nachruf liest, und man hat seinen Spaß dabei. In diesem Nachruf erschien ich als ein anständiger Gegner, der für seine Ideen gekämpft hatte und ins Zuchthaus, in die Verbannung gegangen war und so weiter. Das Rathaus — ich gehörte dem Gemeinderat an — setzte zum Zeichen der Trauer die Fahne auf halbmast.
Eines Tages traf ein Brief von mir ein. Er trug das Datum eines Tages nach meinem Tode. Man kann sich vorstellen, wie es in meiner Familie zuging. Dann kamen die Briefe wieder regelmäßig.
Die Nachricht von meinem Tode erfuhr ich bei der Rückkehr nach Moskau von einem indochinesischen Genossen (Anm.: Es war der Genosse Ho Chi Minh, von uns Ai-Quoic genannt.), den ich auf der Hoteltreppe traf. „Du bist nicht gestorben?" — „Nein, wie du siehst."
Als ich dann die Briefe und die Zeitungen las, die sich in dem Monat meiner Abwesenheit angesammelt hatten, begriff ich, was für eine Tragödie sich in meiner Familie abgespielt hatte. Meine Schwester weinte noch, als sie mir die Geschichte erzählte, und die Genossen und Freunde, die ich bei einem kurzen Besuch in meinem Ort traf, begrüßten mich wie einen vom Tode Auferstandenen.
Was war geschehen?
Mein Bruder hatte einen Schwager, der mit seiner Frau, deren Familie in Venetien lebte, in Turin wohnte. Dieser Schwager war einige Tage bei meinem Bruder gewesen. Während dieses Aufenthalts starb ein Bruder von ihm. Die Familie telegraphierte an ihn nach Turin. Seine Frau schrieb das Telegramm törichterweise ab und sandte es ohne jede Erläuterung an die Adresse meines Bruders. In Fossano kam das Telegramm zwei Stunden nach der Abreise des Schwagers nach Turin an. So kam ich durch eine Unachtsamkeit, ein bisschen Kopflosigkeit und einige Zufälle vor der Zeit in den Himmel.

Einige Monate nach meinem „Tode" kehrte ich in die Heimat zurück. Die Faschisten behaupten, Italien sei der Garten Europas, aber für uns Kommunisten ist der Zutritt zu diesem Garten eine umständliche Sache. Der „Gärtner" — besser gesagt: der Kerkermeister —, der die Beete des Gartens mit Proletarierblut begossen hat, passt genau auf. Man kommt aber trotzdem hinein, und manchmal auf komische Weise. Ich sollte also aus der Sowjetunion nach Italien zurückkehren. Wie war das zu machen?
In den Grenzorten wird gewöhnlich Aufenthaltserlaubnis im benachbarten Lande für vierundzwanzig Stunden erteilt. Falls man nicht bekannt ist, genügt in den meisten Fällen unbefangenes Auftreten, gute Kleidung und ein Benehmen, das keinen Verdacht erregt. Ich kleidete mich also sehr anständig, mietete ein Auto, steckte mir eine dicke Zigarre an und begab mich mit der Miene eines wohlhabenden Mannes aufs Zollamt. Der Wagen, die Zigarre, ein dicker gelber Ring, der mit einem Brillanten aus reinem Glas geschmückt war und den ich prahlerisch zur Schau trug, sowie die dicke Zigarre, die ich dem Zollbeamten spendierte, verschafften mir den Erlaubnisschein. Mit diesem bewaffnet, stieg ich wieder in den Wagen. Nach wenigen Sekunden war ich am Grenzposten meines „Vaterlandes".
Ich zeigte dem mürrischen Zollkommandanten mein Papier und sprach dabei französisch. Er stempelte es ab und bemerkte dazu: „Va bono."
Der Zollbeamte, ein Südländer, sah den Schein nicht einmal an. Was verstand er schon davon? Der Stempel war ja da...
Ich wollte gerade aufbrechen, als ein schwarzgekleideter Herr aus einem zweiten Zimmer des Grenzpostens herauskam.
„Wohin fahren Sie?" fragte er mich liebenswürdig in einem Französisch, das nur ich verstehen konnte.
„Ich fahre bis X." Dabei dachte ich sofort an Komplikationen, denn trotz seiner Liebenswürdigkeit erregten seine Kleidung und vor allem der Ort Verdacht.
„Ich bin der Grenzkommissar", fügte er hinzu, „und ich möchte Sie bitten, mich nach Y. zu bringen, wenn es Ihnen nichts ausmacht." Es fiel dem Herrn Kommissar sehr schwer, sich in der Sprache Victor Hugos auszudrücken.
„Aber ich bitte Sie, es ist mir ein Vergnügen, nehmen Sie Platz, Herr Kommissar."
Der Herr Kommissar nahm Platz. Ich holte die Schachtel mit den dicken Zigarren hervor und bedachte meine sonderbare Lage. Wir begannen ein Gespräch.
„Wissen Sie", sagte er, „ich spreche sehr schlecht französisch. Ich habe es als Junge gelernt, bin aber seit vielen Jahren aus der Übung."
„Aber nicht doch, Sie sprechen sehr gut, Ihnen fehlt nur Übung."
Zum Teufel auch! Die Sprache meines Herrn Kommissars war zu drei Vierteln kein Französisch, sondern ein südlicher Dialekt, der mit Wörtern aus dem römischen Dialekt und mit toscanischen Flüchen durchsetzt war. Ein richtiger Franzose hätte nichts verstanden. Im Knopfloch trug er das Faschisten abzeichen.
„Was für eine herrliche Gegend!" bemerkte ich von Zeit zu Zeit. Meine Begeisterung war echt. Die Gegend war wirklich bezaubernd schön. Der Herr Kommissar strahlte.
„Nachher wird es noch schöner."
Am Eingang eines größeren Dorfes war der Weg durch eine Menschenansammlung versperrt. Carabinieri und faschistische Miliz schleppten mit Gewalt drei oder vier Personen fort. Der Führer der Faschisten hob den Stock und gebot dem Chauffeur barsch, er solle anhalten und aussteigen. Als er aber bei einem Blick in den Wagen den Herrn Kommissar sah, änderte er sein Benehmen plötzlich, erwies uns den römischen Gruß und befahl, uns Platz zu machen.
Unter respektvollen Grüßen fuhren wir weiter.
Ü berall — es war an einem Sonntag — wurden wir von den Freunden des Herrn Kommissars von der Sicherheitspolizei begrüßt, der natürlich auch Gelegenheit nahm, sich über Mussolini und die Kommunisten zu äußern. Endlich kamen wir in Y. an. Beim Abschied fragte mich der Kommissar:
„Wann kommen Sie zurück?"
„Ich fahre bis X., frühstücke dort, mache einen Spaziergang, um mir ein bisschen die Beine zu vertreten und diesen wundervollen Winkel Ihres wundervollen Vaterlandes zu bewundern, und fahre dann wieder nach Hause. Gegen Abend komme ich hier wieder vorbei."
„Wenn Sie mich wieder an die Grenze bringen könnten", meinte er, „wäre ich Ihnen sehr dankbar."
„Aber bitte sehr, es wird mir eine Ehre sein."
Wir trafen eine Verabredung. Ich notierte mir das Restaurant, die Adresse und den Namen des Kommissars sowie die Stunde und verabschiedete mich von ihm.
„Merci, merci bien", erwiderte der Kommissar, während er mir den römischen Gruß erwies. „Ich erwarte Sie, wir nehmen dann den Aperitif. Merci, merci."
Ich habe nie erfahren, ob der Herr Kommissar von der Sicherheitspolizei in dem Restaurant in Y. lange auf meine Rückkehr gewartet hat. Zu meinem Glück habe ich ihn nicht wiedergesehen.

Ich musste meine Funktion im Kommunistischen Gewerkschaftskomitee antreten. Das war damals eine legale Tätigkeit, wie die des Journalisten und des Abgeordneten, während die Partei im übrigen bereits illegal arbeitete.
Die Zeit des Matteotti-Mordes, der eine ungeheure Welle der Empörung im Volke ausgelöst hatte, war vorüber. Der unter den Schwarzhemden entstandene Schrecken war überwunden.
Unmittelbar nach dem Morde verließen die Arbeiter die Betriebe, die Faschisten waren sichtlich verwirrt, man sah ringsum keine Abzeichen mehr. Dem Mobilisierungsbefehl des Generalstabs der faschistischen Miliz wurde vielfach nicht Folge geleistet. Die Kommunistische Partei hatte die Sozialisten und die Reformisten zur Ausrufung des Generalstreiks aufgefordert. Der Allgemeine Gewerkschaftsbund, sein Generalsekretär, D'Aragona, hatte die Arbeitermassen in einem Kommunique aufgefordert, Ruhe zu bewahren und sich vor Provokateuren (gemeint waren die Kommunisten) zu hüten. Die Reformisten, die Partei des ermordeten Matteotti, waren offen gegen den Generalstreik. Die Sozialisten schwankten. Die Aventinische Opposition — eine Koalition der Sozialisten, Reformisten, Republikaner und Volksparteiler, die mit den Kommunisten das Parlament verlassen hatten — traf ihre Vorkehrungen und wandte sich offen gegen die Kommunisten, die aufgefordert wurden, zwischen der demokratischen Methode und der direkten Aktion der Massen zu wählen. Die Kommunisten stellten in einer Erklärung fest, dass die Aventinische Opposition durch die Ablehnung der Aktion die Massen verraten hatte.
Die Arbeitermassen gerieten in Bewegung. Trotz der Maßnahmen der Aventinischen Opposition, aus der die Kommunisten ausgetreten waren, nahm die Erregung zu. Mussolini sah sich gezwungen, mehrere seiner Komplicen — darunter den Verwaltungssekretär der faschistischen Partei, Marinelli — verhaften zu lassen, um die Bevölkerung möglichst zu beruhigen. Das Exekutivkomitee der Kommunistischen Partei rief die Massen zu einer Kundgebung für Matteotti auf. Der Allgemeine Gewerkschaftsbund wandte sich gegen die „Unbedachten und Entarteten" (gemeint waren wieder die Kommunisten) und empfahl den Arbeitern, sich auf eine Arbeitseinstellung von zehn Minuten zu beschränken. Der Gipfel der Schande war es, dass sich der von D'Aragona veranlassten Kundgebung auch der Unternehmerverband und die faschistischen Korporationen anschlossen. Der 27. Juni, der Tag der Gedächtniskundgebung, wurde ein blutiger Tag. Es fanden Kavallerieattacken statt, es gab Tote und Verwundete und zahlreiche Verhaftungen.
Die Reformisten stellten, statt die Arbeitermassen, wie unsere Partei vorschlug, zum Kampf aufzurufen, die „moralische Frage". Eine moralische Frage? Kaum bemerkte Mussolini, der in diesen Tagen zitterte, seine Komplicen im Stich ließ und einkerkerte, dass die Frage moralisch gestellt wurde, als ihm wieder der Kamm schwoll. In den ersten Tagen nach dem Morde hatte er, der den Mord befohlen hatte, sich in der Kammer den Beileidskundgebungen angeschlossen. Kaum aber hatte der Sturm sich ein wenig gelegt, als er erklärte, er übernehme die Verantwortung für das Geschehene, und entfesselte einen neuen Angriff.
Die Kommunisten schlugen bei der Wiedereröffnung des Parlaments nochmals eine Aktion vor, wobei sie sich auf die noch immer unter den Massen herrschende Erregung stützten. Die Kommunistische Partei Italiens sah eine revolutionäre Situation heranreifen. Die Aventinische Opposition lehnte den Vorschlag unserer Genossen einmütig ab.
Daraufhin kehrten unsere Abgeordneten ins Parlament zurück. Einer unserer Abgeordneten — heute ist er deportiert — hielt eine flammende Anklagerede gegen den Faschismus, wütend unterbrochen von den Faschisten. So lagen die Dinge, als ich in mein „Vaterland" zurückkehrte.
Einige Monate konnte ich unerkannt arbeiten und sogar in den Räumlichkeiten des Gewerkschaftskomitees verkehren, die von der Polizei ständig beobachtet wurden. Unsere „legale" Arbeit, das heißt, wie schon gesagt, die organisatorische Arbeit sowie die Tätigkeit der Abgeordneten und der Journalisten, war jedoch sehr schwierig. Wir mussten in Verbindung bleiben mit den Massen und mit unseren illegal arbeitenden Genossen. Daher waren unsere Arbeitsstätte und unser Wohnsitz der Polizei bekannt, die uns ständig auf den Fersen war, um die anderen aufzuspüren.
Eines Tages wollte man mich auf besonders schlaue Weise fangen. In unserem Büro erschien ein Mann und fragte nach mir.
„Komm sofort nach der Piazza Missori, da ist jemand, der dir einen Pass aushändigen soll."
„Ich habe keinen Pass beantragt."
Er entfernte sich. Bald darauf kamen mehrere. Einer zeigte mir den Ausweis der Geheimpolizei. Er hielt mir den Revolver vor die Nase und befahl: „Hände hoch!" Dann durchsuchte er mich und fragte: „Wo ist Ihr Pass?"
„Ich habe keinen Pass."
„Kommen Sie mit!"
Man brachte mich nach San Fedele. Dort sollte ich den Pass abliefern, mit dessen Hilfe ich wieder ins Land gekommen sei.
„Sie waren doch in Russland. Wie sind Sie denn wieder nach Italien gekommen?"
„Ich bin ohne Pass hineingekommen", erwiderte ich.
„Von wo?"
„Von der Grenze", sagte ich und fügte hinzu: „Sparen Sie sich Ihre Bemühungen. Ich werde Ihnen niemals sagen, wie ich durchgekommen bin."
Ich musste eine schriftliche Erklärung abgeben und wurde dann entlassen.

Von diesem Tage an ließ man mich durch einen Agenten der politischen Polizei beschatten. Es war ein furchtbares Leben. Ständig war er hinter mir her. Wenn faschistische Feiertage bevorstanden oder der Duce — er hatte häufig „persönliche" Gründe dazu — beziehungsweise der König oder sein Sohn nach Mailand kommen sollten, musste ich zwei Tage vorher die Wohnung wechseln, um einer „Sistierung" zu entgehen. Ich nahm an Gewerkschaftsversammlungen teil, die schon seit 1925 auch in Mailand illegal stattfinden mussten, weil die Reformisten, die dort die Gewerkschaften in der Hand hatten, uns die Abhaltung von Fraktionssitzungen unmöglich machten. Mit einem Polizisten auf den Fersen war das nicht einfach.
Langsam näherten wir uns dem Augenblick, in dem auch der letzte Schein gewerkschaftlicher Freiheit beseitigt wurde. Die kommunistische Minderheit im Allgemeinen Gewerkschaftsbund hatte mehrmals vorgeschlagen, die organisatorische Basis des Bundes in die Betriebe zu verlegen. Dieser Vorschlag war von den Reformisten und den Maximalisten immer zurückgewiesen worden, weil sie Angst davor hatten.
Bewiesen wurde die Notwendigkeit dieser Maßnahme durch den Metallarbeiterstreik im März 1925. Die Faschisten hatten unter dem Druck der Massen einen Metallarbeiterstreik in Brescia ausgerufen. Der Metallarbeiterverband rief seine Mitglieder zum Streik auf. Der Streik erfasste die Lombardei, Piemont, Venezia Giulia und einen Teil von Ligurien, also die größeren Industriestädte Italiens. Die Faschisten waren erschrocken. Um die Arbeiter zu desorganisieren, ließ die Regierung das Gewerkschaftshaus und unser Komitee besetzen und verbot das Erscheinen des sozialistischen „Avanti", der kommunistischen „Unita" und der reformistischen „Giustizia". Wir wurden eifrig gesucht. Buozzi, der Sekretär des Metallarbeiterverbandes, verlor alle Verbindungen mit der Masse, wie übrigens auch das Exekutivkomitee im Gewerkschaftshaus. Bei uns war das anders. Wir hielten unsere Verbindungen aufrecht. Damals hatten wir Besprechungen mit den reformistischen Führern. Sie hatten völlig den Kopf verloren. In ihrer Isolierung wussten sie nicht einmal, wie sie ein Flugblatt mit einem Aufruf zum Kampf herstellen und verteilen sollten. Mit Hilfe unseres Apparates konnten die Reformisten einen Aufruf des Metallarbeiterverbandes an die Arbeiter drucken und verteilen. Als sich die Aktion aber fast zu einem Generalstreik auswuchs, verstanden es die Reformisten trotz ihres Mangels an Verbindungen, den Streik abzuwürgen. Ein Kommunique des Metallarbeiterverbandes, das die Wiederaufnahme der Arbeit befahl, wurde von sämtlichen faschistischen Zeitungen veröffentlicht. Allerdings gab das Kommunique zu, dass die Massen geschlossen reagiert und vorbildliche Disziplin bewiesen hatten.
Die Mitarbeiter, Redakteure und Drucker der Zeitung wurden häufig verhaftet, untersucht und misshandelt ...
Girolamo Li Causi, Redakteur der „Unita", der jetzt eine Zuchthausstrafe von zwanzig Jahren verbüßt, wurde zweimal blutiggeschlagen. Sirletti, dem Leiter der Setzerei, wurde ein Arm gebrochen. Die Räume der Redaktion wurden mehrmals demoliert. Alles natürlich unter den Augen der Sicherheitspolizei. Bibolotti, der jetzt im Zuchthaus sitzt, wurde mehrmals verwundet. Terracini wurde auf dem Domplatz verprügelt und dann ins Gefängnis geworfen.
In dem Gewerkschaftsbüro der Kommunistischen Partei nahmen die Haussuchungen, Verhaftungen und Demolierungen kein Ende. Ich wurde auf dem Gemüsemarkt von den Faschisten überfallen und verprügelt und entging dem Gefängnis nur, weil die Faschisten nur zu zweit waren und Passanten eingriffen. Ich konnte im Wagen entkommen. Der Genosse Roveda — jetzt sitzt er auch im Zuchthaus — war alle Augenblicke im Gefängnis. In einem einzigen Zimmer hausten Serrati, Caretto — jetzt ist er ebenfalls im Zuchthaus —, gelegentlich Terracini, die Maschinenschreiberin und ich mit Lupo, einem sibirischen Hund. Die Genossen Abgeordneten, Molinelli, Borin und Picelli, die jetzt alle im Zuchthaus sind, waren auf Reisen. Versammlungen waren in dem Büro nicht möglich. Die Genossen wagten nicht mehr zu kommen, weil ständig Verhaftungen stattfanden.
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