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Giovanni Germanetto - Genosse Kupferbart (1930)
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Ich begann sofort mit meiner Rede. Als der Gemeindevorsteher die Sache erfuhr, wurde er wütend und ließ alsbald die Carabinieri aus dem Nachbarort kommen. Alle verfügbaren Kräfte — fünf an der Zahl — rückten an. Als der Maresciallo mit seinen Leuten erschien und mich auf dem Platz des Priesters sah, schlug er entsetzt die Arme über dem Kopf zusammen. Aber was konnte der arme Maresciallo — noch dazu im Jahre 1919 — mit vier Carabinieri gegen einige Hundert Bauern ausrichten?
Er zog ab.
Die Sache erregte ungeheueres Aufsehen.
Die Kirche wurde von den kirchlichen Behörden für sechs Monate geschlossen, dann kam der Bischof persönlich, um sie von neuem zu weihen. Der Küster erhielt eine strenge Rüge und ich ein Strafmandat, weil ich an einem anderen Ort als dem in der Anmeldung angegebenen gesprochen
hatte.
Einmal war ich in einem Ort in der Turiner Ebene. Es waren viele begeisterte Sympathisierende da, zum größten Teil Kriegsteilnehmer. Sie empfingen mich in den ersten Häusern des Ortes mit Musik. Und mit was für einer Musik! Mit einer Posaune, zwei Mandolinen und einer Trommel! Auf diese Weise wollten die Bauern mir und den mich begleitenden Genossen ihre Freude bekunden. Ich dachte an die Musik mit den Benzinkanistern. Es fand ein Umzug und eine Versammlung statt, eine Genossenschaft wurde eingeweiht und eine sozialistische Ortsgruppe gegründet, und dann gab es ein Bankett. Schließlich wurden wir in das Haus eines alten Bauern eingeladen; er war der Vater des Sympathisierenden, der die Festlichkeit organisiert hatte und der zum Sekretär der an diesem Tage gegründeten Ortsgruppe gewählt
wurde.
Sie zeigten mir ihr Häuschen, den Garten und den Gemüsegarten und führten mich auch in den Stall. Im Gegensatz zu den meisten Bauern, die auf Hygiene nichts gaben, war der Stall Bartolomeos des „Dicken" ein Muster an Sauberkeit. Ich sagte es ihm. Der Alte strahlte.
„Das hier ist die Rosa", sagte er zu mir und legte einer Kuh die Hand auf den Hals, „sie gibt prachtvolle Milch."
„Dies hier ist der Blonde und der daMartino." Er wies auf zwei Ochsen mit glänzendem Fell. „Bei der Arbeit sind sie Gold wert."
Dann war da noch ein Kalb und im Hintergrund des Stalles ein riesiger Stier.
„Der da ist ...", begann der Bauer und stockte, „der ist der Stier."
„Wie heißt er denn?" fragte ich, weil ich sein Zögern bemerkt hatte.
Der Bauer wollte ablenken. „Sag es ihm doch!" sagte sein Sohn.
„Sie werden sich doch nicht beleidigt fühlen?" fragte der Bauer mich, noch immer verlegen.
„Warum sollte ich mich beleidigt fühlen?" „Nun, ich habe dem Stier ... Ihren Namen gegeben. Er heißt ... wie Sie."
Der Stier war rot wie ein gekochter Krebs ... Wir verbrachten einen Abend unter den Bauern und sprachen über die Ereignisse in Russland, über die russische Revolution, über Lenin.
Mir war die Ehre zugefallen, mich speziell der Propaganda in der Domäne Giolittis zu widmen, des Mannes der Römischen Bank, des Krieges in Tripolitanien, des Mannes, der die Mörder unter den Carabinieri dekoriert hatte und bald danach den ersten Faschisten die Waffen liefern und im Einvernehmen mit Leuten wie D'Aragona die Bewegung zur Besetzung der Betriebe zerschlagen sollte.
Die Provinz Cuneo — sie grenzt an die Provinzen Turin und Alessandria, an Ligurien und an Frankreich — ist sehr gebirgig und war praktisch seit etwa dreißig Jahren die Domäne Giolittis. Im gebirgigen Teil der Provinz aber war eine Gegend Giolitti ganz besonders ergeben, die Gegend von Dronero. Die Familie Giolitti stammt aus Dronero. Dronero ist die Stadt der Ritter und der Komture. Wenn man unterwegs einen Hirten oder einen Fuhrmann trifft und ihn mit „Ritter" anredet, irrt man sich selten. Ein kinderreicher Staatsbeamter soll sich einmal wegen einer Sonderunterstützung an Giolitti gewandt haben, und Giolitti, an ganz andere Gesuche gewöhnt, soll darauf geschrieben haben: „Er erhält das Ritterkreuz der Krone von Italien."
Die Täler in diesem Winkel der Provinz weisen alle Bequemlichkeiten auf: Eisenbahnen, Postkutschen, Autoverbindungen und Brücken.
Es ist also schwierig, in dieser Gegend zu arbeiten. Außerdem hatten wir nicht nur den Vorsitzenden des Ministerrates gegen uns, sondern auch drei Minister, die beiden Giolittianer Soleri und Peano sowie Bertone von der Volkspartei.
Ich brach mit einem Genossen auf, der in der Gegend zu Hause war. In der ersten Ortschaft, in die ich geriet, kam ich nicht zu Wort. Die üblichen Benzinkanister wurden hier nicht von Jungen, sondern von Männern mit handfesten Stöcken bearbeitet.
„Ein schlechter Anfang", sagte ich zu dem Genossen.
In dem zweiten Ort — die Genossen aus den Nachbarorten bereiteten die Versammlungen für uns vor — traf ich eine imposante Zuhörerschaft an. Ich stieg auf den Tisch. Niemand pfiff, keine Spur von Benzinkanistern ... und keine Spur von Beifall. Ich erläuterte in meiner Rede das Programm der Sozialistischen Partei. Ich wurde niemals unterbrochen, aber auch am Schluss gab es weder Pfiffe noch Beifall.
Als ich zu Ende gesprochen hatte, trat ein alter Mann mit sehr energischem Gesichtsausdruck an den Tisch, drückte mir die Hand und sagte:
„Ich spreche im Namen der hier versammelten Familienoberhäupter. Wir Gebirgsbewohner pflegen wenig zu reden, aber unsere Versprechen zu halten. Wir werden für die Sozialistische Partei stimmen. Das haben wir auf einer Versammlung beschlossen. Aber wenn ihr Sozialisten es macht wie die andern — er wies nach dem Fluss hin —, werfen wir euch dort hinein. Gestern hat Exzellenz Soleri, der Minister, über die Felder flüchten müssen, und dabei ist er es gewöhnt, im Auto zu reisen. Wir haben unsere besten Männer im Kriege verloren. Dies hier bleibt uns — er wies auf einen Stein mit einer langen Reihe von Namen —, wir haben genug davon ..."
Wir gingen mit ihnen in den Verein, in dem später die Ortsgruppe der Partei tagte.

Ich reiste mit den verschiedensten Beförderungsmitteln, im Wagen, mit dem Rad, zu Pferde, im Flachland auch mit den üblichen Verkehrsmitteln. In einem Ort weihte ich unter anderem einen Gedenkstein für die im Kriege Gefallenen ein. Die Feierlichkeiten spielten sich in den Hauptstraßen ab. Es existierte bereits ein Gedenkstein für die „Herren", wie die Kriegsteilnehmer ihn nannten.
„Den da", sagte ein stämmiger ehemaliger Gebirgsjäger zu mir, „haben die Reichen und die Reklamierten gestiftet, und eingeweiht haben ihn der Präfekt, der Pfarrer und die Reichen. Es steht da viel vom Vaterland und solchen Geschichten ... Unseren Stein soll nur das Volk einweihen ... Wir wollten das schon an dem Tage machen, als die ,Herren' ihren eingeweiht haben, aber um keinen Ärger zu bekommen, haben wir es verschoben. Unsere Gefallenen sollen geehrt und nicht beschimpft werden."
Keine patriotische Redensart stand auf dem Stein. Er war einfach, rau und massig wie die Berge und wie die Gefallenen.
Dann musste ich ein graues Eselchen besteigen und den Aufstieg nach der letzten Gemeinde des Bezirks beginnen. Dort oben erwarteten mich etwa hundert Veteranen. Mit dem Esel, der langsam und vorsichtig ging, brauchte ich mehr als vier Stunden für den Aufstieg. Oben fand ich Schneemassen vor und die Veteranen und auch unsere Zeitungen. Die Veteranen begrüßten uns wie alte Freunde.
„Ich kenne deinen Namen", sagte einer von ihnen zu mir. „Wir beziehen hier, oder vielmehr einer von uns bezieht die sozialistische Zeitung ,Lotte Nuove'. Sie ist immer rasch gelesen" — das war eine Anspielung auf die Zensur — „aber wir verstehen trotzdem alles. Ihr habt es nicht leicht."
„Sind schon Redner von anderen Parteien hier oben gewesen?" fragte ich.
„Nein, und sie werden auch nicht kommen, dessen bin ich sicher. Sie trauen sich nicht, auch wenn es Giolittianer sind."
Die Versammlung nahm einen sehr interessanten Verlauf. Das Echo der Kämpfe in Italien und in der Welt drang nur abgeschwächt hierher. Es wurden zahllose Fragen gestellt, und im Mittelpunkt stand auch hier die russische Revolution.
Bis tief in die Nacht hinein sprach ich mit den wackeren Genossen. Ich schlief in einer „Baita", einer halb in den Fels gegrabenen armseligen Behausung, die der Schuhmacher des Ortes, ein erbitterter Antiklerikaler, bewohnte. Er hatte den ganzen Raum mit Illustrationen aus dem „Asino" tapeziert und erzählte mir lachend, dass die Magd des Priesters, wenn sie ihm die Schuhe des Pfarrers brachte, um sie benageln zu lassen, sich immer bekreuzigte.
„Ü brigens", betonte er, „ist der Pfarrer kein schlechter Mensch. Er ist ein armer Teufel wie wir alle ... Ich weiß nicht, warum wir uns so an diese Felsen klammern. Ich bin in Amerika gewesen und habe dort immer nur an diese Zacken, Schluchten und Gletscher gedacht. Ich bin der einzige aus dem Ort, der nicht zurückgekommen ist, um in den Krieg zu ziehen."
Den Rückweg machte ich ebenfalls auf dem Eselchen. Wenn sich unterwegs eine Gelegenheit bot und ich auf den Märkten einem Redner begegnete, antwortete ich ihm. Manchmal musste ich gegen Pfarrer diskutieren. Selbstverständlich wimmelte es von Giolittianern und Würdenträgern.
Dann bereiste ich eine andere Talebene. Hier habe ich ein paar ergötzliche Geschichten erlebt, von denen ich eine erzählen will.
Ein Telegramm vom Verband unterrichtet mich, dass ich in einem nicht weit entfernten Ort erwartet wurde. Er war im Programm nicht vorgesehen. Ein klappriger Wagen, der von einem Maultier gezogen wurde, das dem Fahrzeug alle hundert Meter einen Fußtritt versetzte, brachte uns dorthin. Als wir ankamen, war die Demonstration schon im Gange. Eine Ortsgruppe der Partei gab es nicht. Mehrere Bauern kamen mir entgegen. Wir strebten der Spitze des Zuges zu.
Hochrufe, Hüteschwenken, Händeklatschen. Ich sah mir die Fahnen an. Sie waren alle mehr oder weniger rot. Die erste trug die Aufschrift „Brüderschaft der Heiligen Anna", auf einer anderen las ich „Erster Preis beim Wettrennen". Ich war verblüfft. Wohin war ich eigentlich geraten? Die Genossen, die mich begleiteten, sahen mich verständnislos an...
„Ich achte nicht auf die Inschriften der Fahnen", sagte plötzlich ein uns begleitender Bauer, „ich achte nur auf die Farbe. Wir haben keine Zeit gehabt, uns die Fahnen der Veteranen-Konsumgenossenschaft und des Bauernverbandes zu besorgen, und darum haben wir die genommen, die wir hatten. Ein so großartiges Fest ohne ein bisschen Rot wäre kein Fest gewesen."
Wir hatten die Spitze des Zuges erreicht. Vier Musikanten spielten die Arbeiterhymne so, dass Turati oder der Kommissar in meinem Ort sie bestimmt nicht erkannt hätten. Der Zug setzte sich in Bewegung.
Auf dem Gemeindeplatz fand die Versammlung statt. Der Ortsvorsteher — er spielte den Liberalen — stellte uns als Tribüne den kleinen Balkon des Gemeindehauses zur Verfügung. Begeisterung, Reden, Bankett. Die beiden Carabinieri, die für Ordnung sorgen sollten, wurden am Abend von allen Seiten zum Trinken aufgefordert und tanzten vergnügt mit schiefen Hüten und glänzenden Augen.
Als ich zum Provinzialverband nach Cuneo zurückkehrte, stellten die Genossen erstaunt fest, dass ich nicht einmal eine Beule aufzuweisen hatte. Und dabei hatte ich auch in Giolittis Hochburg Dronero im Theater gesprochen. Man hatte gepfiffen, ein Rechtsanwalt hatte gegen mich geredet, aber ich hatte sprechen können. Giolitti war natürlich nicht da, nicht etwa, weil er sich vom Wahlkampf fernhielt, sondern aus einem ganz anderen Grunde. Er war auf einer Rundreise durch die größeren Städte, wo er die von ihm selbst geschaffenen Ritter um sich versammelte, Händedrücke austeilte und trotz seines Alters wie ein Neger arbeitete. Er spürte, dass seine Stellung nicht so unerschütterlich war wie vor dem Kriege.

In den größeren Städten der Provinz war der Kampf auf dem Höhepunkt angelangt, und im übrigen Italien war es nicht anders. Der Vatikan unterstützte trotz seiner feindseligen Haltung gegenüber der italienischen Regierung (die für ihn der Usurpator Roms war) die Volkspartei und die konservativen Parteien. In der ganzen Provinz waren wir vielleicht zehn Genossen, die es in öffentlichen Diskussionen mit den Gegnern aufnehmen konnten, denen vier umherreisende Minister nebst den „Organisationen" der Ordensträger und der Pfarrer sowie Geld und Autos zur Verfügung standen. Unsere Beförderungsmittel waren Motorräder mit Beiwagen, Fahrräder, Postkutschen und Straßenbahnen.
Um mich als Gegenreferenten zu einer Versammlung zu bringen, beförderten die Straßenbahner mich einmal, da der letzte Wagen schon abgefahren war, mit einem Sonderwagen. So konnte ich gegen den Minister von der Volkspartei sprechen, einen der Kunden, denen ich in dem Laden, in dem meine Laufbahn als Friseur begonnen hatte, den Bart einseifte.
Einmal gelang es uns, eine Versammlung ausfindig zu machen, auf der Giolitti sprechen sollte. Es war in Savigliano, dem Zentrum der Metallindustrie in der Provinz. Mit einer Gruppe von Arbeitern begab ich mich an den Versammlungsort. Es war eine Schule. An der Tür stand ein Schwarm von Polizisten und Carabinieri.
„Es handelt sich um eine geschlossene Versammlung", erklärte mir der Kommissar der Sicherheitspolizei, der mich kannte. „Sie dürfen nicht hinein." Der Eintritt war nur mit einer Karte möglich, die wir nicht hatten. Daraufhin improvisierten wir eine Versammlung vor der Schule, aber der Mann der Römischen Bank und Held von Libyen kam nicht heraus, sondern sprach nur zu seinen Würdenträgern.
In Vinadio, hoch im Gebirge, bestand meine Zuhörerschaft aus Gebirgsjägern. Ich sprach vor der Kaserne. Die Soldaten beteiligten sich von innen — sie hatten Kasernenarrest — an der Kundgebung der Gebirgsbewohner...
Der Abgeordnete Cassin, ein giolittianischer Bankier, der den Veteranen in Entraque ein Essen gegeben hatte, um zu ihnen sprechen zu können, erlebte einen „glänzenden" Empfang. Die Veteranen erwiesen dem Essen alle Ehre, aber als der Bankier sprechen wollte, erhob sich einer von ihnen und sagte:
„Genossen! Draußen wird in wenigen Minuten ein sozialistischer Redner sprechen. Ich fordere alle auf, sich ihn anzuhören, auch den Abgeordneten Cassin. Dort kann er dann seine Rede halten, wenn er will."
Lauter Beifall brauste auf, und die Veteranen verließen die Schule in geschlossenem Zuge. Sie sangen „Bandiera rossa" und ließen den giolittianischen Bankier mit dem Pfarrer, dem Bürgermeister, dem Postenkommandanten, dem Notar und der ... Rechnung zurück. Sie marschierten auf den Platz. Der Abgeordnete Cassin kam natürlich nicht und fuhr schwer verärgert ab.
In Valdieri — damals hatte der König dort einen Sommersitz — glaubten wir, dass wir nur die „Königlichen Garden" zu sehen bekommen würden. Das kleine Dorf, in einem wundervollen Winkel der Alpen versteckt, war im Belagerungszustand! Aber die Veteranen erschienen trotzdem, während die Versammlung, die die Liberalen zur gleichen Stunde im Rathaus einberufen hatten, verlassen wurde. Im folgenden Jahr eroberten wir diese Gemeinde für die Sozialistische Partei. In einer der ersten Sitzungen des Gemeinderats wurde der Antrag angenommen, den König mit einer jährlichen Steuer von achttausend Lire für seine Villa zu belasten. Man kann sich den Skandal vorstellen.
Durch die Wahlen gelangten 156 sozialistische Abgeordnete bei einer Gesamtzahl von 508 Sitzen ins Parlament. Ich war als Kandidat aufgestellt, und viele meiner Kunden konnten es nicht fassen, dass ihr Friseur das „Risiko" auf sich nahm, Abgeordneter zu werden. Ich fiel aber durch, und nicht nur diesmal. Ich kann eine beträchtliche Zahl von Misserfolgen auf mein Konto buchen!
In unserer Provinz bekamen wir vier sozialistische Abgeordnete. Die Giolittianer gingen von zwölf auf drei zurück, die Volkspartei erhielt vier Sitze, und die Anhänger Nittis mussten sich mit einem Abgeordneten begnügen. Es war also ein großartiger Erfolg. Als aber die sozialistischen Abgeordneten in Rom eintrafen, wurden sie von den Faschisten überfallen und misshandelt.
Als meine Mutter das erfuhr, meinte sie:
„Welch ein Glück, dass du durchgefallen bist!"
Als ich, auch ohne Abgeordneter zu sein, misshandelt wurde, war sie völlig fassungslos.

Die Bewegung des „Ordine Nuovo" setzte sich besonders in Turin durch, und dies hatte sehr natürliche Gründe. Der riesenhafte industrielle Apparat der Fiat-Werke, die fast einen Staat im Staate darstellten, benötigte ungeheure Arbeitermassen. Diesem Apparat gegenüber hatte die alte Sozialdemokratie versagt. Es ergaben sich neue Forderungen der Volksmassen, neue Notwendigkeiten. Der „Ordine Nuovo" verlieh mit Hilfe seiner lebendigen politischen Erfahrungen ihren Ideen Ausdruck, wobei er sich an die Realitäten dieses stürmischen Umwandlungsprozesses hielt, und gewann die Arbeiter für sich. Gramsci, Togliatti und Terracini lebten in engem Kontakt mit den Massen in den Betrieben. Anfangs nahm der „Ordine Nuovo" eine unentschiedene Haltung ein. Dann wurde das zentrale Problem aufgeworfen: die Betriebsräte.
Gegen diese Richtung wandten sich natürlich die reformistische Gewerkschaftsbürokratie und der parlamentarische und genossenschaftliche Kleinbürgersozialismus. Trotz des Widerstandes der Reformisten und der konservativen Elemente aber ging der Kampf der Turiner Arbeiter um den „Ordine Nuovo" und in den Betrieben weiter.
Im März 1920 fanden in Turin große Demonstrationen statt. In Mailand demonstrierten hunderttausend Menschen zum Amphitheater. Auch die Lehrer traten den Gewerkschaften bei. In Biella wurde in den großen Wollfabriken gestreikt. In Parma und Neapel brach der Generalstreik aus. Vierzigtausend Arbeiter der öffentlichen Dienste waren im Ausstand. Vierzigtausend Landarbeiter streikten in der Provinz Brescia. In der Kammer sangen die Abgeordneten „Bandiera rossa".
Am 6. April riefen die Arbeiter der Papierfabriken den Generalstreik aus. Die Zeitungen waren fast ohne Papier. Die einzige Papierfabrik, die noch arbeitete, war die von Verzuolo in der Provinz Cuneo. Wir waren an Ort und Stelle und veranstalteten bei jedem Schichtwechsel (es wurde durchgehend in drei Schichten gearbeitet) eine Versammlung. Jedes Mal konnten wir eine beträchtliche Zahl von Arbeitern bewegen, dem Betrieb fernzubleiben. Der Ingenieur Burgo, ein ultrareaktionärer Großindustrieller, entschloss sich, die Arbeiter im Betrieb zu beköstigen und unterzubringen.
Seine Belegschaft war auf fünfzig Prozent zusammengeschmolzen. Viele wurden verhaftet und durch Carabinieri abtransportiert, darunter der Sekretär des Papierarbeiterverbandes. Der Allgemeine Gewerkschaftsbund ließ, wie üblich, auch bei diesem so bedeutsamen Streik nichts von sich hören.
Am 14. April brach in Turin der Generalstreik aus. Im Bezirk Lomellina streikten die Landarbeiter. Der Turiner „Avanti" veröffentlichte Bilder von bewaffneten Arbeitern, die vor den Fabriken Wache standen, und der Parteivorstand, der die Parteivertretung nach Turin einberufen hatte, verlegte die Sitzung nach Mailand, weil in Turin Generalstreik war! Die Eisenbahner, die Post- und Telegraphenarbeiter und die Kommunalbeamten von Oberitalien schlossen sich der Bewegung an. Ein Aktionsausschuss übernahm die Leitung.
In dieser gespannten Atmosphäre tagte die Parteivertretung der Sozialistischen Partei. Um nach Mailand zu gelangen, musste ich mich wieder einmal, wie üblich, mit dem Fahrrad auf den Weg machen. Diesmal musste ich 63 Kilometer bis Turin radeln, um dann mit anderen Genossen im Auto nach Mailand zu fahren. Der Zugverkehr war unterbrochen. In Mailand wimmelte es von Polizisten und Faschisten. Serrati wurde auf der Straße von einem Faschistenführer schwer am Kopf verletzt.
Die Turiner Vertreter beantragten die Ausdehnung der Bewegung. Der Antrag wurde beinahe als Irrsinn betrachtet. Turati, D'Aragona und viele andere sprachen dagegen. Man warf den Turiner Genossen vor, sie sähen nur ihre Bewegung, und was in Italien sonst geschehe, habe keine Bedeutung für sie. Auch Serrati war dagegen.
Inzwischen streikten in Mailand viele Gruppen der Arbeiterschaft, und die Gärung war sehr stark, aber schließlich lehnte die Parteivertretung die Anträge der Turiner Vertreter ab. Die Turiner Arbeiter waren enttäuscht darüber, dass die Tagung der Parteivertretung nicht in Turin stattgefunden hatte. Sie betrachteten das als eine Flucht.
In Turin erschienen die letzten Mitteilungen des Aktionsausschusses. Auch diese Bewegung erlosch, wie so viele andere Massenbewegungen.

Die Tagung der Parteivertretung der Sozialistischen Partei endete früher als der Generalstreik in Oberitalien. Die Eisenbahner waren im Ausstand, und wir mussten aufbrechen. Ich sollte den Vertreter der Kommunistischen Partei Frankreichs zu der Tagung begleiten, den Genossen Loriot, dem ich an der französischen Grenze bei Tenda als Dolmetscher beigestanden hatte. Wir mussten im Auto fahren. Trotz des Streiks der Kraftwagenführer standen der Partei genügend Wagen zur Verfügung. Durch Vermittlung des sozialistischen Bürgermeisters erhielten wir vom Polizeipräsidium die Ausreiseerlaubnis.
Wir brachen auf — Loriot, ein anderer Genosse, der uns in Pavia verließ, der Chauffeur, der auch Genosse war, und ich. Hinter Pavia kamen wir in das Gebiet, in dem der Streik der Landarbeiter schon mehr als fünfzig Tage andauerte. Bei der Einfahrt in ein Dorf — ich glaube, es war Mede Lomellina — wurden wir von einer Gruppe von Streikenden angehalten.
„Die Herren fahren also im Auto?" sagte einer von ihnen, der eine Armbinde trug. „Und wir sollen ein Auge zudrücken, damit die Reichen weiter Profite machen können!"
Die Stimme des Mannes klang sarkastisch und drohend.
„Wir sind Genossen", erwiderte ich.
„Heute sind alle Genossen! Was für Angst sie alle haben!" bemerkte er noch sarkastischer.
Die anderen Landarbeiter hatten den Wagen umringt. Loriot, der den lombardisch-piemontesischen Dialekt der Streikenden nicht verstand, sah sich den Auftritt mit an.
„Steigen Sie aus, der Wagen ist beschlagnahmt!" sagte der Arbeiter grob.
„Lieber Genosse", antwortete ich, „du hast, ehe du einen solchen Befehl gibst, unsere Papiere anzusehen."
Damit reichte ich ihm den Parteiausweis und den Ausweis der Parteivertretung.
Beim bloßen Anblick des Ausweises, noch ehe er ihn las, hatte sich das raue und von der Sonne gebräunte Gesicht des Mannes, auf dem tiefer Groll geschrieben stand, aufgehellt.
Er gab mir die Hand und sagte: „Entschuldige, Genosse, du hast recht." Dann fügte er, nachdem er sich über Loriot informiert hatte, mit lauter Stimme hinzu: „Es sind Genossen, der eine ist ein französischer Delegierter, der andere ist Mitglied der Parteivertretung unserer Partei."
Beifall und Hochrufe. Wir machten uns auf den Weg ins Dorf. Loriot strahlte.
„Wir streiken seit fünfzig Tagen. Niemand hilft uns. Seit vielen Tagen erwarten wir jeden Morgen, und immer vergeblich, einen Sekretär des Landarbeiterverbandes. Niemand kommt. Heute haben wir eine iVersammlung. Die Arbeiter sind müde und misstrauisch. Die Felder sind verlassen ... Die verfluchten Gutsherren! Sie bestellen sich Carabinieri und Sturmabteilungen ... Wir lieben diese Erde, die unsere Freude und unsere Qual ist, auf der wir unser elendes Dasein fristen."
Andere Landarbeiter schlossen sich uns an. Wir gingen schweigend:
„Aber", nahm der Genosse energisch wieder das Wort, „das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Wir haben gekämpft und werden weiter kämpfen. Du wirst heute auf der Versammlung sprechen. Auch der französische Genosse soll sprechen."
Auf dem Dorfplatz wimmelte es von Arbeitern. Nicht ein Carabinieri war zu sehen.
Ich hatte nicht den Mut, diesen Arbeitern zu sagen, dass die Partei den Generalstreik nicht wünschte. Schweigend umringten die Arbeiter die übliche Tribüne, einen Tisch. Als der Genosse mit der roten Binde uns vorgestellt hatte, brach die schweigende Menge der sonnenverbrannten Landarbeiter in tosenden Beifall aus und stimmte die „Internationale" an. Loriot wischte sich zwei dicke Tränen ab, die ihm langsam über das Gesicht liefen.
Zuerst sprach er, dann sprach ich, und dann brachen wir auf. Wir hatten noch einen langen Weg vor uns.
In dem ganzen Gebiet bis Asti, wo die Hügel und die Weinberge beginnen und nicht gestreikt wurde, wurden wir am Eingang jedes Ortes angehalten. Zunächst behandelte man uns als Feinde, dann wurden wir jubelnd begrüßt.
Loriot meinte: „Aber das ist doch die Revolution, man muss unverzüglich handeln!"

Um Mitternacht hielten die Zollbeamten von Cuneo uns zu der üblichen Durchsuchung an. Hundert Meter weiter wurden wir von einer Schar von Polizisten und Carabinieri umringt, die von einem Kommissar mit einer gewaltigen dreifarbigen Schärpe befehligt wurden, und aufs Polizeipräsidium gebracht.
Die ganze Aufmerksamkeit galt dem französischen Genossen. Ich war ja ein alter Bekannter.
„Wir haben erfahren, dass Sie Mailand heimlich verlassen haben ..."
„Heimlich?" erwiderte ich lachend. „Wir haben eine ausdrückliche schriftliche Erlaubnis vom Polizeipräsidenten Gasti" — später war er faschistischer Senator —, „also war es kein Kunststück, das festzustellen!"
„Schweigen Sie!" sagte der Kommissar. Dann wandte er sich an Loriot:
„Wie heißen Sie? Ihre Nationalität?"
Loriot, der kein Wort Italienisch verstand, wandte sich fragend an mich:
„Que dit ce monsieur?"
„Il demande ..."
„Schweigen Sie!" unterbrach uns der Kommissar. „Sie wollen Ihre Antworten verabreden. Ich bin doch nicht blöde."
Ich sagte nichts mehr. Der Kommissar verstand kein Wort Französisch. Nun stelle man sich die Polizisten vor! Es begann das drolligste Gespräch, das ich in meinem Leben je gehört habe. Der Kommissar fragte, und Loriot antwortete unentwegt: „Je comprends pas."
„Dieser Herr", meinte der Kommissar und deutete auf Loriot, „ist Russe, nicht wahr?"
„Als er von Mailand abfuhr, war er Franzose. Wenn Sie glauben, dass er jetzt Russe geworden ist, soll es mir recht sein."
„Machen Sie keine Witze! Ich sage Ihnen, er ist Russe. Vielleicht wissen Sie es nicht, aber ich weiß es."
„Warum fragen Sie mich dann?" erwiderte ich. „Er wird ja Papiere bei sich haben."
„Eure Papiere kennen wir!" entgegnete der Kommissar sarkastisch.
Schließlich kam ein Dolmetscher, und die Sache wurde geklärt. Es dauerte aber ziemlich lange, bis der Kommissar überzeugt war, dass Loriot französischer Staatsbürger war.
Man schickte uns nach Hause. Am nächsten Tage brach Loriot unter Bedeckung nach der Grenze auf. Er wünschte
sich nichts Besseres. In meinem Ort wurde ich mehrmals auf dem Kommissariat verhört. Man wollte wissen, wo ich den Russen gelassen hatte, der mit mir von Mailand abgefahren war.

Die Krämer in meinem Ort lebten in panischer Furcht. Immer wieder trafen Nachrichten über Plünderungen und Unruhen ein. Eines Tages erschien ein Geschäftsmann bei mir. Ich war gerade bei der Arbeit.
„Mein Herr", sagte er zu mir, „Sie sind der Gewerkschaftssekretär, und deshalb übergebe ich Ihnen die Schlüssel meines Geschäfts. Ich will keine Verantwortung mehr haben."
Verdutzt stand ich da mit dem erhobenen Rasiermesser, während mein Kunde den Mann ebenfalls überrascht betrachtete.
„Ich bin nicht der einzige, der so denkt. Verschiedene andere sind derselben Meinung ... So kann es nicht weitergehen! Nehmen Sie sich die Läden, gründen Sie Genossenschaften, wir wollen dann Angestellte sein, aber bringen Sie ein bisschen Ordnung hinein. So geht es nicht weiter ..."
„Hören Sie mal", sagte ich, „Sie haben Ihren Laden ausgeräumt, wir wissen, wo Sie die Ware versteckt haben." Ich wusste gar nichts. „Und dann kommen Sie hierher und bieten uns die Schlüssel an ..."
„Das ist nicht wahr!" stammelte der Mann erschrocken.
Ich hatte den Nagel auf den Kopf getroffen, es war wirklich so.
Unsere wenigen Sachen waren aus dem „Familienverein" fortgeschafft worden. Wir besaßen ein paar Bänke, eine kleine Registratur und viel Glauben, aber niemand wollte uns zwei Zimmer vermieten. Wir machten uns auf die Suche. Man bot uns einen Lagerraum an. Dort brachten wir unsere Sachen provisorisch unter. Der Raum lag zu ebener Erde. Es war eine alte Kirche, die Trümmer des Altars waren noch zu sehen. Das Gewölbe war nicht hoch, weil man ein Stockwerk für Wohnzwecke eingerichtet hatte, das von einem rohen Pfeiler gestützt wurde. Der Raum war aber groß genug. Als wir einzogen, ergriff ein Heer von Mäusen und Käfern die Flucht.
Zunächst waren wir unentschlossen, dann aber beschlossen wir, uns dort niederzulassen. Es hätte uns sowieso niemand sonst aufnehmen wollen. Nach zwei Wochen war aus dem Lagerraum ein prächtiger Saal geworden. Solche Wunder können nur Arbeiter vollbringen. Ohne Geld vollbrachten die Maurer, die Tapezierer und die Tischler von der Gewerkschaft das Wunder. Alle strahlten. Wir hatten wieder ein Dach über dem Kopf. Und einen langen Vertrag. Der Hausbesitzer erkannte seinen elenden Lagerraum nicht wieder und dachte schon daran, die Miete zu erhöhen.
Bald danach hatten wir auch unsere Parteiwochenschrift, den „Lavoro".
Bei den Kommunalwahlen, bei denen wir zum ersten Mal mit einem Klassenprogramm auftraten, brachten wir eine Minderheit von sieben Genossen in den Gemeinderat. Die Bürger aller Schattierungen hatten sich gewaltig anstrengen müssen, um zu verhindern, dass wir die Mehrheit errangen. Es war ihnen nur knapp gelungen.

Am 20. August 1920 begann die Besetzung aller größeren Betriebe Italiens.
Am 5. September wehte über den Turiner Metallfabriken die rote Fahne. Die Aktionen griffen auf viele Gegenden Italiens über. In vielen Orten besetzten die Bauern unter roten Fahnen die Ländereien.
Die Besetzung der Turiner Fabriken war erfolgt, nachdem die Unternehmer mit der Aussperrung gedroht hatten. In den ersten Tagen waren die Arbeiter noch unentschlossen, da auch ein großer Teil der Techniker und der Angestellten die Betriebe verlassen hatte. Aber das dauerte nicht lange. Bald trat der Betriebsrat in Funktion. Betriebsratsvorsitzender der Fiat-Werke, des größten Turiner Industriebetriebs, war der Metallarbeiter Giovanni Parodi, der einige Jahre in Russland war und jetzt in Portolongone eine Zuchthausstrafe von 21 Jahren verbüßt. Er war ein prächtiger Revolutionär. Seine erste Sorge galt der Produktion und der Leitung des Betriebs, dann widmete er sich den Verteidigungsmaßnahmen.
Die Unternehmer waren wütend auf die Regierung, weil diese nichts gegen die Betriebsbesetzungen unternahm. Giolitti, der alte Fuchs, ließ die Dinge treiben. Offenbar rechnete er auf Unterstützung seitens der Führer des Allgemeinen Gewerkschaftsbundes, die denn auch nicht ausblieb. D'Aragona hat sich mehrmals gerühmt, die Revolution in Italien verhindert zu haben. Gewaltsamer Widerstand gegen die Besetzungen, dachte der alte Fuchs von der Römischen Bank, hätte zu einer schweren Krise und zur Revolution in Italien geführt.
Hierzu erzählt man sich eine Anekdote. Man sagt, eine Kommission von erbosten Turiner Unternehmern habe sich nach Bardonecchia begeben, wo Giolitti seinen Urlaub zu verbringen pflegte. Sie fragten Giolitti, was er gegen die Besetzungen zu tun gedenke.
„Lassen Sie die Dinge laufen, nachher werden wir sehen!"
„Es muss verhindert werden, dass die Arbeiter sich in den Fabriken festsetzen. Sie müssen mit Gewalt vertrieben werden, dazu ist die Regierung verpflichtet", sagte einer der Unternehmer, „nötigenfalls mit Geschützen."
„Schon gut", soll der Ministerpräsident seelenruhig geantwortet haben, „geben Sie mir die Anschrift Ihres Betriebs, wir werden ihn zusammenschießen."
So erzählt man, und es scheint, die Unternehmer haben den Wink verstanden.

In meiner Provinz wurde nur eine Fabrik besetzt, die Maschinenfabrik in Savigliano. Die anderen waren nur klein. Die Besetzung ging im allgemeinen folgendermaßen vor sich. Eine bereits besetzte Fabrik brauchte bestimmte Rohstoffe und Fertigwaren für ihre Produktion. Daraufhin wurde die Fabrik besetzt, die diese Produkte liefern konnte. Das ging ohne besondere Schwierigkeiten vor sich, weil das Militär und die Polizei nicht eingriffen.
Während der Besetzung veranstaltete ich mehrere Versammlungen in dem Betrieb in Savigliano. Er beschäftigte 1200 Arbeiter. Sie waren begeistert. Viele Techniker und Angestellte — es waren die meisten — arbeiteten weiter. Während der Besichtigung des Betriebes, vor dem Beginn der Versammlung, die im Fabrikhof stattfinden sollte, sagte ein Ingenieur zu mir:
„Die Produktion ist normal, sie scheint sogar zu steigen. Niemals habe ich die Arbeiter so diszipliniert gesehen. Und dabei arbeiten sie mehr als früher ... Sie verstehen ..." Das war eine Anspielung auf die Verteidigungsvorbereitungen. „Dann stehen sie noch Wache. Ich halte es für meine Pflicht, im Betrieb zu bleiben und weiterzuarbeiten, und das tue ich."
Bei meiner ersten Besichtigung, während ich über einen der halb dunklen Höfe ging, wurde ich von jemand angerufen:
„Wer da? Stehen bleiben!"
Ich blieb stehen.
„Wer bist du? Wo willst du hin? Hast du einen Passierschein?"
Noch ehe ich antworten konnte, hatte der Arbeiter, der mit einer Blendlaterne versehen war, mich erkannt.
„Warum lässt du dich nicht begleiten? Sieh mal her!" Er trug eine sehr originelle Waffe. An einer Stange war eine einen halben Meter lange Stahlspitze befestigt. Damit konnte er einen Menschen wie einen Vogel aufspießen.
„Du hast Glück gehabt", meinte er lächelnd.
Als ich wiederkam, hatten die Wachen ein Gewehr umgehängt, und ihre Patronentaschen waren gut gefüllt.
Ü berall in Italien wehten rote Fahnen. Die Begeisterung der Arbeiter war groß. Man wartete ab und trieb inzwischen eifrige Vorbereitungen. Die Unternehmer waren sehr aktiv. Die führenden Funktionäre hatten sich in Erwartung einer Entscheidung über die Turiner Bewegung nach Mailand begeben. Dann machten sie Vorschläge, und die Regierung übernahm die feierliche Verpflichtung, die Arbeiterkontrolle in den Fabriken zu genehmigen.
D'Aragona, Colombino und ihre Freunde — heute sind die meisten zu den Faschisten übergegangen — erschienen auf dem Schauplatz, um Zweifel zu säen und die Versprechungen der Unternehmer und der Regierung anzupreisen.
In Turin, wo der linke Flügel der Sozialistischen Partei die Bewegung leitete, wo der „Ordine Nuovo" und der „Avanti" die Betriebsrätebewegung popularisiert hatten, war die Sache schwieriger. Aber der Zweifel, die Unentschlossenheit, die Müdigkeit vom ewigen Warten hatten ihr Werk schon getan. Die Bewegung erlosch. Im Turiner „Avanti" war das Leben im Betrieb das Hauptthema aller Diskussionen. « Gramsci war immer von diskutierenden Arbeitern umringt.
Die Rückgabe der Betriebe erfolgte bald danach.
Giolitti hatte nicht mit Unrecht auf die Mitarbeit der Reformisten gerechnet. Damals erzählte man sich, ein Unternehmer habe beim Anblick D'Aragonas einen Kollegen auf ihn aufmerksam gemacht mit den Worten: „Sieh mal, der dort hat Italien gerettet!"
Giolitti ließ alsbald einen Gesetzentwurf über die Einführung der Kontrolle in den Betrieben veröffentlichen. Während die Diskussion einsetzte und die Unternehmer ihre Betriebe wieder in Besitz nahmen, verstärkte und organisierte sich die Reaktion. Trotz der von den Reformisten gepriesenen Versprechungen der Regierung fanden zahlreiche Verhaftungen von Arbeitern, die in der Zeit der Fabrikbesetzungen besonders aktiv gewesen waren, statt.
Im Bewusstsein der üb erstandenen Gefahr rüsteten die Unternehmer energisch zum Angriff gegen die Arbeiterklasse, zu einem Angriff in großem Stil. Sie griffen tief in die Tasche, und überall tauchten die gut ausgerüsteten und bewaffneten Faschistenbanden auf. Es begann die Zeit des brutalen Angriff s gegen die Arbeiter- und Bauernorganisationen, und die Sache endete mit dem Machtantritt Benito Mussolinis, des Führers der Schwarzhemden.
Nicht alle Waffen, die die Arbeiter sich während der Fabrikbesetzungen beschafft hatten, konnten beschlagnahmt werden. Sie wurden an allen möglichen Orten in Sicherheit gebracht. Auch zu uns gelangten welche.
Die Reaktion stürzte sich auf die Gewerkschaften, die Zeitungen, die Genossenschaften und die Aktivisten der Revolution. Jeden Tag kam es zu Brandstiftungen und Morden, während die heldenhaften Arbeiter, die die Fabriken in der Hand gehabt hatten, und die Bauern, die die Güter besetzt hatten, ihr Urteil in den Zuchthäusern Italiens erwarteten.
Der „Avanti" wurde von faschistischen Banden überfallen, das Gewerkschaftshaus in Turin wurde in Brand gesteckt.
Der Allgemeine Gewerkschaftsbund diskutierte den Gesetzentwurf über die Betriebskontrolle, der als einer der größten Siege des italienischen Proletariats bezeichnet wurde. Heute, nach Jahren, erkennt man, was es mit der großen Errungenschaft auf sich hatte, die die italienischen „Bolschewisten" — so nannten die Reformisten den linken Flügel der Sozialistischen Partei — schon damals als Verrat bezeichnet hatten.

Nach dem Zwischenspiel der Fabrikbesetzungen wurde die Diskussion zwischen dem linken Flügel, dem Zentrum und dem rechten Flügel der Sozialistischen Partei noch lebhafter. Die Fabrikbesetzungen wurden von den Reformisten nicht nur als Beweis für die Unfähigkeit der „Bolschewisten" zur Leitung der Produktion ausgenutzt. Die Polemik war außerordentlich erbittert. In den letzten Tagen des Jahres griff Lenin polemisch in die Debatte mit Serrati ein.
Die Reformisten bestritten die Möglichkeit einer Aktion in Italien. Serrati bestritt sogar in der Polemik mit Lenin, dass die Vorfälle in Ancona (Revolten unter den für Albanien bestimmten Truppen), die Besetzung der Fabriken und der Ländereien, die Teuerungsunruhen und die Turiner Ereignisse Beweise für eine revolutionäre Situation seien, die die von den Reformisten beherrschte Partei nicht auszunützen verstanden und sich selbst überlassen habe. Lenin hatte kein Verständnis für den von Serrati (der später seinen Irrtum einsah) geführten italienischen Zentrismus und lehnte die weitere Mitarbeit im „Comunismo", dem theoretischen Organ der Sozialistischen Partei, ab.
In meiner Provinz war der Kampf sehr heftig. Der Sieg war uns fast sicher. Wir erhielten nicht sehr viel mehr Stimmen, aber doch die Mehrheit. Insgesamt wurden für die Kommunisten 1356, für die Maximalisten (Serrati) 958 und für die Reformisten 36 Stimmen abgegeben.
In Livorno war die Atmosphäre geladen. Auf den Straßen kam es häufig zu Zusammenstößen mit den Faschisten. Auch im Teatro Goldoni, wo die Sitzungen des Parteitages stattfanden, waren die Auseinandersetzungen sehr heftig. Der Genosse Kabaktschijeff, der als Vertreter der Kommunistischen Internationale sprach, wurde im Laufe seiner Rede immer wieder wütend unterbrochen. Die Reformisten machten sich in Ermangelung anderer Argumente sogar über den Namen des Vertreters der Kommunistischen Internationale und über seine äußere Erscheinung lustig. Die Mehrheit erhielten bekanntlich die Maximalisten (Serrati), aber der eigentliche Sieger war, wie sich später zeigte, Turati.
Zuweilen kam es auf dem Parteitag zu wilden Szenen. Die Maximalisten stimmten „Bandiera rossa" an, wir sangen die „Internationale", die Reformisten sangen die Arbeiterhymne. Dieses musikalische Zwischenspiel — wir sind doch wohl ein Volk von Musikern? — vermochte uns zwar nicht zu versöhnen, aber es erschöpfte uns wenigstens, so dass wieder verhältnismäßige Ruhe eintrat.
Als wir Kommunisten nach der Abstimmung unter dem Gesang der „Internationale" uns in geschlossenem Zuge in das San-Marco-Theater zum Gründungsparteitag der Kommunistischen Partei Italiens als Sektion der Kommunistischen Internationale begaben, war es, als ob die Seele des Parteitags mit uns ging.
Die Zurückgebliebenen waren schweigsam. Das Theater war nicht nur physisch leer.
Als ich als einer der letzten den Raum verließ, sah ich in einer Ecke Serrati, der uns totenbleich nachblickte. Ich erinnere mich noch an die Worte des Genossen Marabini kurz vor dem Auszug, am Schluss seiner Rede:
„Du bist ein Revolutionär, Serrati, du kommst noch zu uns zurück."
Anselmo Marabini war ein Prophet.

Nach dem Turiner Parteitag wurde der Kampf für die Kommunisten sehr schwer. Auf der einen Seite wurde die Reaktion immer stärker, auf der anderen kämpften wir gegen die Sozialisten, von denen wir uns getrennt hatten.
Auf dem I. Provinzialkongress der Kommunistischen Partei wurde ich zum Bezirkssekretär gewählt. Von den sieben Wochenschriften in der Provinz waren uns vier geblieben. Sie sollten zu einem Provinzorgan zusammengefasst werden. So entstand aus den vier Blättern — dem „Lavoro", der „Riscossa", dem „Sole dell'Avvenire" und der „Falce"— die„Ris-cossa" als Organ des Bezirksverbandes Cuneo. Es war ein erster Schritt. In der Sozialistischen Partei hatten wir dieses Problem niemals lösen können. Immer waren die Genossen dagegen gewesen, die auf ihre Zeitung nicht verzichten wollten. Mit den sieben kleinen Blättern im Provinzialverband der Sozialistischen Partei hatten wir sehr schlechte Musik gemacht ...
Ich erhielt den Auftrag, die vier Wochenschriften zu leiten und ihre Zusammenlegung vorzubereiten. Auf dem Provinzialkongress der Gewerkschaften erhielt die kommunistische Richtung gegenüber den Sozialisten die Mehrheit. Wenige Tage darauf erhielt ich einen von Bordiga unterzeichneten Brief des Exekutivkomitees der Partei, in dem mir der Posten des Gewerkschaftssekretärs angeboten wurde. Ich wies darauf hin, dass ich schon Bezirkssekretär war ... Man erwiderte mir, ich hätte zwischen meinem Friseurladen und der ... Partei zu wählen. Ich wählte sofort die Partei und wurde Berufsrevolutionär.
Es war im März 1921, in der Zeit, als der offene Kampf der Reaktion gegen die italienische Arbeiterbewegung begann. Ich sollte nach Cuneo übersiedeln. Einige Jahre vorher wäre das für die verschiedenen Reaktionäre des Städtchens eine gewisse Genugtuung gewesen. Jetzt hatten sie andere Dinge im Kopf, und außerdem besaßen wir eine starke kommunistisch gebliebene Ortsgruppe — abgesehen von zwei Leuten, die nicht einmal eine Gruppe der Sozialistischen Partei ins Leben zu rufen versuchten —, eine starke Gewerkschaftsgruppe, eine Gruppe im Gemeinderat und Betriebsgruppen.
Die Faschisten erwiesen unserem Gewerkschaftshaus die Ehre des ersten Überfalls in der Provinz. Zum zweiten Mal aber versuchten sie es erst nach dem Marsch auf Rom, das heißt, als sie — unsere Genossen waren eingekerkert — ungestört alles in Brand stecken konnten.
Warum kamen sie nach dem ersten Versuch nicht mehr wieder? Die Soldaten des 34. Infanterieregiments, die die Wache stellten, und zwar ohne Offiziere, weil man hoffte, sie würden sich zerstreuen, hatten das Haus mit der Waffe verteidigt. Es waren alles Rekruten aus Toscana, die die Greuel des Faschismus in ihren Dörfern mit eigenen Augen gesehen hatten, und es war allgemein bekannt, dass die Faschisten sich beim geringsten Widerstand aus dem Staube machten, um mit überlegenen Kräften zurückzukehren. Johlend zogen sie durch die Stadt und beschimpften, verprügelten und bespieen die wehrlosen Bürger. Als sie genug Heldentaten vollbracht zu haben glaubten, zogen sie mit zwei Lastkraftwagen ab, wie sie gekommen waren.
Nicht weit von dem Ort entfernt wurden sie von Gewehrfeuer empfangen. Als der Führer der Bande rief: „Faschisten zu uns!" antwortete niemand. Es war Nacht. Sie riefen den Chauffeuren zu, sie sollten schneller fahren, um die Verwundeten — es waren nicht wenige — ins Krankenhaus zu schaffen.
Am nächsten Tage wurden alle bekannten Kommunisten verhaftet. Ich war in meiner Eigenschaft als Gewerkschaftssekretär unterwegs. Auf die Nachricht hin kehrte ich sofort zurück, um festzustellen, worum es sich handelte. Ich begab mich auf das Kommissariat, um mich zu erkundigen. Ich wurde von dem Kommissar und von einem Carabinierileutnant empfangen, der zur Untersuchung erschienen war.
„Wir haben hier keine Rechtsanwälte", sagte ich, „ich bitte daher um Aufklärung, warum meine Genossen verhaftet worden sind."
Der Leutnant erwiderte sarkastisch:
„Sie haben den Mut, hier zu erscheinen, und besitzen die Frechheit, sich zu erkundigen, was den verhafteten Kommunisten vorgeworfen wird ... Sie wissen sehr gut, dass sie auf die Wagen der faschistischen Ausflügler geschossen haben."
„Es geht hier nicht um Frechheit oder Mut, es geht um das Recht."
„Sie als der Hauptverantwortliche", sagte der Leutnant, „müssten auch verhaftet sein."
„Warum verhaften Sie mich nicht?" fragte ich.
„Die Regierung möchte nicht durch eine Verhaftung in diesem Augenblick dazu beitragen, dass Sie zum Abgeordneten gewählt werden", sagte der Leutnant.
„Das alles geht mich nichts an. Ich bin hierher gekommen, um für die gesetzliche Verteidigung meiner verhafteten Genossen zu sorgen. Die andern machen die Überfälle, und die Kommunisten kommen ins Gefängnis. Ob ich schuldig bin oder nicht, jedenfalls bitte ich um präzise Angaben."
„Die verhafteten Kommunisten werden beschuldigt, auf zwei Lastwagen mit faschistischen Ausflüglern geschossen zu haben, die die Stadt besichtigen wollten. Sie haben etwa zehn Verwundete, darunter einen Schwerverwundeten. Es liegen ernste Verdachtsgründe gegen die Kommunisten vor", schloss er.
Ich hatte schon begriffen. Sie waren verhaftet, weil sie Kommunisten waren, aber Beweise gab es nicht. Es wurden alle möglichen Häuser von Nachbarn, Verwandten, Freunden, Verlobten der Verhafteten durchsucht, aber Gewehre wurden nicht gefunden. Trotzdem hatte man die Patronenhülsen eingesammelt, und die Verwundeten stöhnten im Krankenhaus. Die Genossen wurden wegen Mangels an Beweisen nach Ablauf der gesetzlichen Frist entlassen.
Deshalb also kamen die Faschisten nicht wieder, um — wie der Leutnant gesagt hatte — einen Ausflug zu machen und die Stadt zu besichtigen.
In Cuneo hielt ich mich nur ein paar Tage in der Woche auf. Ich war immer unterwegs, von einer Ortsgruppe zur anderen, auf Gewerkschaftsversammlungen und politischen Versammlungen, um unsere kommunistischen Genossen in den Gemeindeverwaltungen zu beraten. Die Zeitung machte ich unterwegs oder während des Wartens auf Anschluss. Das Handwerkszeug des perfekten Journalisten — Schere, Klebstoff, Papier und Schreibfedern — hatte ich immer bei mir.
Die Reaktion wurde stärker. Nach Cuneo, das nicht weit von der französischen Grenze entfernt liegt, kamen Hunderte von Flüchtlingen aus Toscana, Lomellina und Emilia, die sich vor den Faschisten und der Polizei im Ausland in Sicherheit bringen wollten und uns um Unterstützung baten. Jeden Tag erschienen sie im Gewerkschaftshaus, mussten dann aber Verabredungen an anderen Orten in der Stadt treffen, weil die Polizei wachsam war.
Eines Tages erschien bei mir einer, der wie ein Arbeiter aussah. „Guten Tag", sagte er, „bist du der Gewerkschaftssekretär?"
„Wer bist du denn?" fragte ich.
„Ich bin Genosse, der Gewerkschaftssekretär von Pavia schickt mich, um ..."
„Zeige mir deine Papiere!" unterbrach ich ihn.
Sein Gesicht gefiel mir nicht.
„Siehst du", erwiderte er, „sie haben mir keine Papiere gegeben, der Sekretär war nicht im Büro. Es liegt ein Haftbefehl gegen mich vor. Du musst mir sofort über die Grenze helfen."
„Gut", sägte ich, „komm heute abend um neun auf den Exerzierplatz, wo die Landstraße vorbeiführt."
Er ging. Auf einen Wink von mir folgte ihm ein Genosse. Der gute Mann ahnte nichts und ging schnurstracks zum Polizeipräsidium. Ich hatte mich nicht getäuscht.
Am Abend erschien er pünktlich zur Verabredung. Statt der Unterstützung für den Grenzübergang erhielt er eine Tracht Prügel.
Eines Tages wurde ich vor Gericht geladen.
„Es liegen schwere Beschuldigungen gegen Sie vor", sagte mir der Richter, „wegen Begünstigung der illegalen Auswanderung."
Er sah mich über seine Brille hinweg an. Ich wartete ab.
„Haben Sie nichts zu sagen?"
„Nichts, ich bin ganz Ohr", erwiderte ich.
„Sie schaffen viele Arbeiter an die Grenze, wir haben Beweise."
„Ich schaffe Arbeiter an die Grenze? Ich verstehe nicht..."
„Ja, wir haben mehrere Briefe von Ihnen an Arbeiter beschlagnahmt, die illegal über die Grenze gehen wollen, und es handelt sich fast immer um Personen, die von der Polizei gesucht werden."
„Was steht denn in meinen Briefen?"
„Es sind Empfehlungen, um Arbeit zu finden", antwortete der Richter.
„Das gehört zu meinem Beruf."
„Aber warum schicken Sie sie alle nach Tenda?" fragte er sarkastisch.
„Sagen Sie mir doch, wo in der Provinz sonst Arbeit zu finden ist ... In Tenda ist das Elektrizitätswerk und das Bergwerk, und dann sind dort die Ausschachtungsarbeiten für die Strecke Cuneo—Nizza ..."
Das stimmte. Andere Arbeitsmöglichkeiten gab es in der Provinz nicht. Man hatte aber viele Briefe an Arbeiter beschlagnahmt, in denen ich sie beim Bergarbeiterverband in Tenda empfahl. Jemand behauptete, diese Briefe bedeuteten, dass man sie nach Frankreich schaffen solle. Nochmals wurde ich unterbrochen. Man stellte mich einem Verhafteten gegenüber, aber es kam nichts dabei heraus. Der Richter sah sich gezwungen, entgegen seiner Absicht das Verfahren wegen Mangels an Beweisen einstellen zu lassen.

„Ordine Nuovo". Aus der theoretischen Zeitschrift war eine Tageszeitung geworden. Wir standen mitten im Kampf. Gramsci schrieb seine kurzen Artikel, die von der Masse gelesen und verstanden wurden, und seine ätzenden Glossen. Der Gegner war ins Herz getroffen. Die Schlagzeilen waren Schlachtrufe. Auch der Angriffsplan der faschistischen Banden wurde für die Massen studiert und analysiert. Der Angriff in Turin musste jeden Augenblick kommen. Die Bourgeoisie wollte die Revanche. Sie wollte das Proletariat vernichten.
Wenn ich einen freien Abend hatte, fuhr ich nach Turin. Um neun brach ich auf und war um Mitternacht beim „Ordine Nuovo". Halb fünf Uhr morgens fuhr ich wieder ab und war um acht in meinem Büro. Eine schlaflose Nacht in der Redaktion war meine Erholung. Mit Gramsci vergingen die Stunden im Nu.
Um zum „Ordine Nuovo" zu gelangen, musste man zwei Absperrungen passieren. Die erste bildete die Königliche Garde, die sich in der langen Zufahrtstraße zum Hof von der Via Arcivescovado aus, im Herzen von Turin, drängte, die zweite bildeten junge Rotgardisten. Es war nicht so einfach, durch die Absperrungslinie aus Stacheldraht und Verschanzungen hindurchzukommen, die in Erwartung der Faschisten angelegt worden war. Die Königlichen Garden machten keine Schwierigkeiten. Sie waren als Dekoration dort und vertraten würdig die Regierung. Dann wurde es schwieriger, denn nun kamen die Jungkommunisten. Manche von ihnen trugen ihre Arbeitskleidung. Sie waren unzugänglich, wenn jemand ihnen „neu" erschien, aber fröhlich und herzlich, wenn sie einen Genossen zu Gesicht bekamen.
Damals wagten es nur die alten Genossen, sich beim „Ordine Nuovo" sehen zu lassen. Man sprach von einem Überfall, den die Faschisten planten. Man wusste: Wenn die Faschisten mit ihren Vorbereitungen fertig waren, werden die Königlichen Garden und auch die Carabinieri verschwinden, die in der Straße patrouillierten.
Ich gehe hinein. Die Wachen kennen mich schon. Auf dem Hof steht ein junger Genosse auf Wache. Er geleitet mich durch das klug angelegte Netz von Hindernissen. Ich stoße auf andere Rotgardisten. Ich gehe hinauf. Überall wird eifrig gearbeitet. Da ist Amoretti — er sitzt jetzt im Zuchthaus — und stellt die Tagesnachrichten zusammen. Dieser Genosse muss wohl als Journalist geboren sein. Er ist noch sehr jung und gehört schon zu unseren alten Kämpfern. Da ist der immer satirische Togliatti. Da ist Pastore, heute Emigrant. Da ist Gramsci, das heißt ein unwahrscheinlicher Haufen von Zeitungen und eine Haarmähne wie Absalom. Beim Geräusch meiner Schritte hebt Gramsci den Kopf. Nun sind die Augen zu sehen und ein Stückchen Nase. Es sind sehr lebendige, gute und kluge Augen.
Auch er ist jetzt im Zuchthaus. Zwanzig Jahre soll er verbüßen in einer Strafanstalt im glühend heißen Apulien. Bis zum letzten Augenblick ist er auf dem Posten geblieben. Sie haben ihn verhaftet, während er seine Rede über die Ausnahmegesetze schrieb, auf Grund derer er eingekerkert wurde, noch ehe sie angenommen waren. Er ist in Sardinien geboren, lebt aber schon lange in Turin.
Piero Gobetti, ein liberaler Antifaschist, als Flüchtling gestorben, zeichnet in seiner Schilderung der Turiner Bewegung ein sehr interessantes Bild von Gramsci. Ich zitiere aus der „Rivoluzione liberale". Gobetti untersucht zunächst die Lage in Turin.
„Der Bildungsgang und die geistige Physiognomie Antonio Gramscis dagegen waren sehr verschieden von diesen Traditionen schon in den Jahren, als er an der Universität Turin studierte und der Sozialistischen Partei beigetreten war, wahrscheinlich aus humanitären Gründen, die aus dem Pessimismus des sich vereinsamt fühlenden sardischen Emigranten erwachsen waren.
Er scheint aus seiner ländlichen Heimat gekommen zu sein, um seine Traditionen zu vergessen, um das schlimme Erbe der sardischen Rückständigkeit durch ein stummes und unerbittliches Streben nach der Modernität des Städters zu ersetzen. In seiner äußeren Erscheinung prägt sich die Absage an das ländliche Leben aus und das fast gewaltsam erzwungene Übergewicht eines wohldurchdachten Programms, das seine Kraft aus der Verzweiflung gewinnt, aus der geistigen Not eines Menschen, der die angeborene Unschuld von sich gewiesen und verleugnet hat. Antonio Gramsci hat den Kopf eines Revolutionärs, sein Charakter scheint das Werk seines Willens zu sein, schicksalhaft geformt durch eine zwingende Notwendigkeit. Das Gehirn hat den Körper überwältigt.
Der die gebrechlichen Glieder beherrschende Kopf scheint nach den für einen sozialen Plan notwendigen logischen Beziehungen gebaut zu sein und wahrt angestrengt einen undurchdringlichen Ernst. Nur die beweglichen und naiven, aber durch die Bitterkeit in Schranken gehaltenen Blicke durchbrechen zuweilen mit der Güte des Pessimisten die Festigkeit seiner Rationalität. Die Stimme ist schneidend wie die auflösende Kritik, die Ironie wird zu giftigem Sarkasmus, die mit tyrannischer Logik vorgelebten Prinzipien schließen die Tröstungen des Humors aus."
Der Generalstaatsanwalt beim faschistischen Sondergericht schreibt zur Zurückverweisung des Urteils gegen die Mitglieder des ZK der Kommunistischen Partei Italiens an das Gericht über Gramsci:
„Bei der Prüfung der Verantwortlichkeit im einzelnen fällt sofort die Person Antonio Gramscis auf. Er ist es, der die Partei im Jahre 1926 mit sicherer Hand führt. Gramsci ist die Seele der ganzen Bewegung, und er weist der ganzen Partei den Weg. Er spielte eine hervorragende Rolle zur Zeit der Fabrikbesetzungen in Piemont. Er handelt wie ein echter Parteiführer."
Gramsci begrüßt mich.
„Hast du gesehen?" sagt er. „Arme Kerle! Sie arbeiten den ganzen Tag, und abends kommen sie hierher und arbeiten weiter ... Dann schlafen sie auf den Papierhaufen. Wie treu sie sind ... Heute abend haben wir eine Versammlung. Bleibst du hier?"
„Selbstverständlich!" erwidere ich.
„Was gibt es Neues in Cuneo?" Gramscis Stimme klingt ein wenig ironisch. Es machte ihm immer sehr viel Spaß, sich von mir die Schnurren über Cuneo erzählen zu lassen.
„Seit dem Überfall auf unsere Zweigstelle in Fossano nichts ... Man sagt, sie wollen das Rathaus in Bra überfallen."
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