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Alexander Fadejew - Die Neunzehn (1925)
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XIII. Die Last

»Mag sie nicht leiden, die Bauern, mag sie nicht«, sagte Moroska, sich gleichmäßig im Sattel wiegend, und schlug, wenn Mischka den rechten Vorderhuf nach vorn setzte, mit der Gerte nach den knallgelben Blättern der Birken. »War mal beim Großvater. Hab' zwei Onkels dort, die den Boden ackern. Nein, mag sie nicht! Ist nicht das, nicht das, haben anderes Blut: sind knauserig, hinterhältig, durch die Bank... so ist's.« Moroska hatte eine Birke ausgelassen und hieb, um nicht aus dem Takt zu geraten, mit der Gerte gegen den Stiefelschaft. »Und weshalb, zum Kukkuck, sind sie so hinterhältig, so knauserig?« fragte er, den Kopf erhebend. »Haben ja selber nichts zu beißen...«, und er lachte ein fremdes, kindliches, mitleidiges Lachen.
Gontscharenko lauschte, den Blick zwischen die Ohren des Pferdes gerichtet; in seinen grauen Augen flackerte ein kluger, männlicher Ausdruck, wie er Leuten eigen ist, die die Gabe besitzen, anderen zuzuhören, und die es noch besser verstehen, über das Gehörte nachzudenken.
»Und ich bin der Meinung«, sagte er plötzlich, »nimm irgendeinen von uns unter die Lupe, irgendeinen von uns«, betonte er und schaute dabei auf Moroska, »mich zum Beispiel oder dich oder meinetwegen Dubow, in jedem von uns wird man ein Stück Bauer finden... in jedem von uns«, wiederholte er überzeugt, »mit allem, was so dazu gehört, höchstens vielleicht ohne Bastschuhe...«
»Wovon redet ihr da?« Dubow wandte sich im Sattel um.
»Und vielleicht auch mit Bastschuhen... Wir reden hier von Bauern... in jedem von uns, sag' ich, steckt ein Stück Bauer...«
»Na-a...«, bezweifelte Dubow.
»Das glaubst du nicht?... Moroska zum Beispiel hat einen Großvater, zwei Onkel im Dorfe sitzen, du...«
»Ich, Freundchen, hab' niemanden«, unterbrach ihn Dubow, »und Gott sei Dank. Kann offen gestanden diese Brut nicht leiden... Nehmen wir mal Kubrak: Kubrak bleibt Kubrak (schließlich kann man ja nicht von jedem Menschen Verstand verlangen!), aber was für einen Zug hat er da zusammengestellt? Lauter Deserteure, einer wie der andere, so eine Gesellschaft ist das!« Und Dubow spie verächtlich aus.
Dieses Gespräch entspann sich am fünften Tage nach dem Aufbruch, als die Abteilung zu den Quellen des Chaunichedsa hinabgestiegen war. Sie zog über den mit weichem, verdorrendem Queckengras bedeckten Winterweg. Obgleich keiner auch nur eine Krume mehr von den Lebensmitteln besaß, den der Gehilfe des Wirtschaftsleiters seinerzeit im Lazarett aufgestapelt hatte, befanden sich alle in gehobener Stimmung; das Gefühl, sich bewohnten Gegenden zu nähern, und die Aussicht auf Ruhe erfüllte sie mit Heiterkeit.
»Sieh einer an«, zwinkerte Moroska. »Unser Dubow, der Alte, was sagt ihr dazu?« Und er lachte, verwundert und erfreut darüber, dass der Zugführer seine und nicht Gontscharenkos Ansicht teilte.
»Meinetwegen«, sagte der Mineur, keineswegs entmutigt, »zugegeben, dass du keinen hast, aber nicht darum handelt es sich, ich hab' jetzt auch niemanden. Nehmen wir eure Grube... gewiss, du bist schon in Russland herumgekommen, aber Moroska? Der hat außer seiner Grube noch kaum was gesehen...«
»Was heißt da ,kaum was gesehen'?« warf dieser gekränkt dazwischen. »Und an der Front...« »Lass ihn doch, lass ihn doch«, fiel Dubow ihm ins Wort, »schön, hat nichts gesehen, und...?«
»Aber eure Grube, das ist doch ein Dorf«, sagte ruhig Gontscharenko. »Ein jeder hat seinen Gemüsegarten. Die Hälfte kommt zum Winter und geht im Sommer wieder ins Dorf zurück... ja, und die Hirsche röhren fast wie das Vieh in den Ställen!... Ich kenne eure Grube.«
»Ein Dorf?« verwunderte sich Dubow, der Gontscharenko nicht zu folgen vermochte.
»Was denn sonst? Eure Weiber schuften auf den Feldern, ringsherum nichts als Bauernvolk, hat das etwa keinen Einfluss?... Natürlich hat das Einfluss!« Und der Mineur durchschnitt mit gewohnter Geste die Luft mit der flachen Hand.
»Hat Einfluss... gewiss...«, sagte unsicher Dubow, in Gedanken, ob darin nicht etwas Schimpfliches für das »Geschlecht der Kumpels« liege.
»Na also... nehmen wir jetzt die Stadt: wie groß sind sie denn, unsere Städte, und wie viele haben wir überhaupt? An den Fingern kann man sie abzählen... Tausende von Werst - alles ein Dorf... hat das keinen Einfluss, frag' ich?«
»Wart mal, wart mal«, fuhr der Zugführer verwirrt dazwischen, »auf Tausende von Werst alles ein Dorf?... Gewiss, ein Dorf... Hat das etwa keinen Einfluss?...«
»Ergibt sich also, dass in jedem von uns ein Stück Bauer steckt«, sagte Gontscharenko, zum Ausgangspunkt zurückkehrend und damit gleichsam alles widerlegend, worüber Dubow gesprochen hatte.
»Fein in die Falle gelockt!« entzückte sich Moroska, den der Streit von dem Augenblick, da Dubow sich eingemischt hatte, nur als Erscheinung menschlicher Gewandtheit interessierte. »Hat dich glatt an die Wand gedrückt, Alter, dass dir die Puste wegbleibt!«
»Damit will ich nur sagen«, erläuterte Gontscharenko, ohne Dubow Zeit zur Besinnung zu geben, »dass wir keinen Grund haben, uns vor den Bauern aufs hohe Ross zu setzen, auch Moroska nicht, ohne Bauern sind wir...«, er schüttelte den Kopf und schwieg, und es war offenbar, dass alles, was Dubow nachträglich noch vorbrachte, ihn nicht von seiner Meinung abzubringen vermochte.
,Ein kluger Teufel', dachte Moroska, Gontscharenko von der Seite betrachtend, und empfand zugleich eine immer größere Achtung vor ihm. ,Hat den Alten festgenagelt, dass er nicht ein noch aus weiß.' Moroska wusste sehr wohl, dass Gontscharenko sich irren und im Unrecht sein konnte wie alle Menschen. Moroska fühlte in sich keineswegs jene bäuerliche Last, von der Gontscharenko mit solcher Sicherheit sprach, und doch schenkte er dem Mineur mehr Glauben als sonst wem. Gontscharenko war »einer vom Bau'. Er .konnte verstehen', er ,sah ein', und zu allem war er kein Schwätzer, kein Müßiggänger. Seine großen knotigen Hände gierten nach Arbeit, meisterten sie auf den ersten Blick vielleicht langsam, in Wirklichkeit aber schnell. Jede seiner Bewegungen war wohlüberlegt und präzise.
Und die Beziehungen zwischen Moroska und Gontscharenko erreichten jene erste, zur Freundschaft unerlässliche Stufe, von der es bei den Partisanen heißt: »Sie schlafen unter einem Mantel«, »sie essen aus einem Topf«.
Dank dem täglichen Umgang mit ihm, begann Moroska zu glauben, dass auch er selber ein untadeliger Partisane sei: sein Pferd war in Ordnung, das Gewehr blitzblank und sauber wie ein Spiegel; er war der erste im Kampf, tapfer und zuverlässig, weshalb ihn die Kameraden liebten und achteten... Und indem er so dachte, passte er sich unwillkürlich jenem sinnvollen gesunden Leben an, das Gontscharenko scheinbar immer lebte, das heißt einem Leben, in dem es keinen Platz gab für unnütze und müßige Gedanken...
»Ho-i... halt!...« schrie man vorn. Der Ruf pflanzte sich die Kette entlang fort, und während die Spitze des Zuges schon stehen geblieben war, drängten die Hinteren immer noch nach. Die Kette hatte sich ineinander geschoben.
»Hallo... Meteliza soll kommen...«, rief es von neuem die Kette entlang. Einige Sekunden später jagte Meteliza, einem Stoßfalken gleich, vorbei, und die Augen der ganzen Abteilung verfolgten mit unbewusstem Stolz seine von keinen Reitervorschriften beschwerte Haltung eines Hirten.
»Muss doch auch einmal nachsehen, was dort los ist«, sagte Dubow.
Kurz darauf kehrte er erregt zurück, war jedoch bemüht, seine Erregung vor den anderen zu verbergen.
»Meteliza geht auf Patrouille, werden hier übernachten«, sagte er beherrscht, in seiner Stimme aber, vernehmlich für alle, erzitterten böse, hungrige Untertöne.
»Wie, mit leeren Magen?! Was denken sie sich dort?!« erscholl es ringsherum.
»Das nennt sich also ausruhen!«
»Verdammte Schweinerei!« pflichtete Moroska bei.
Die Vorderen waren schon abgesessen.... Lewinsohn hatte beschlossen, in der Taiga zu nächtigen, weil er nicht mit Sicherheit wusste, ob der Unterlauf des Chaunichedsa vom Feinde frei war. Ungeachtet dessen hoffte er, auch in diesem Fall auf dem von der Patrouille abgetasteten Wege Tudo-Waki, das mit Brot und Pferden gesegnete Tal, zu erreichen.
Den ganzen weiten Weg quälte ihn das unerträgliche, mit jedem Tag sich steigernde Seitenstechen, und er wusste schon, dass dieser Schmerz - eine Folge von Übermüdung und Blutarmut - nur in vielen Wochen geruhsamen und satten Lebens geheilt werden könne. Da er aber ebenso gut wusste, es werde für ihn noch lange kein geruhsames und sattes Leben geben, suchte er sich während des langen Weges dem neuen Zustand anzupassen, indem er sich einredete, dass er immer schon an dieser »ganz nichtigen Krankheit« gelitten habe und sie ihn daher keinesfalls hindern könne, jene Sache zu Ende zu führen, die zu Ende zu führen er für seine Pflicht hielt.
»Und ich bin der Meinung, wir müssen weitergehen...«, wiederholte, ohne auf Lewinsohn zu hören und den Blick auf dessen Stiefel gerichtet, zum vierten Male Kubrak mit der stupiden Hartnäckigkeit eines Menschen, der nichts anderes kennt als seinen Hunger.
»Von mir aus, geh allein, wenn du's nicht erwarten kannst... geh allein...lass einen Stellvertreter zurück und geh los. Aber die ganze Abteilung in Gefahr zu bringen, das heißt eine falsche Rechnung aufmachen...«
Lewinsohn sagte das in so einem Ton, als sei Kubrak dabei, solch eine falsche Rechnung aufzumachen.
»'s ist besser, Freundchen, du stellst die Wachen aus«, fügte er hinzu, eine neue Bemerkung des Zugführers geflissentlich überhörend. Als er aber sah, dass jener hartnäckig blieb, runzelte er plötzlich die Brauen und fragte streng: »Was?...«
Kubrak hob den Kopf und begann zu zwinkern.
»Vorn auf den Weg schickst du eine berittene Patrouille«, fuhr Lewinsohn mit dem früheren, kaum merklichen Hohn in der Stimme fort, »und hinten, so eine halbe Werst weiter, lässt du eine Fußwache antreten; am besten wohl an jener Quelle, durch die wir geritten sind. Verstanden?«
»Verstanden«, brummte Kubrak, darüber erstaunt, dass er etwas anderes sagte, als was er in Wirklichkeit hatte sagen wollen. ,Ein zähes Aas', dachte er über Lewinsohn, mit unbewusstem, von Achtung verdecktem Hass gegen ihn und voller Mitleid mit sich selbst.
Nachts, plötzlich aufwachend, wie es in der letzten Zeit öfters der Fall war, erinnerte Lewinsohn sich an das Gespräch mit Kubrak und ging, nachdem er sich eine Zigarette angesteckt hatte, die Posten kontrollieren.
Behutsam schlich er, bemüht, nicht auf die Mäntel der Schlafenden zu treten, zwischen den glimmenden Feuern hindurch. Das äußerste zur Rechten brannte heller als die anderen, dicht daran hockte ein Wachtposten und wärmte sich die Hände. Er schien gar nicht mehr ans Wachen zu denken, die schwarze Schaffellmütze war ihm ins Genick gerutscht, die verträumten Augen weit offen; er lächelte ein gutmütiges, kindhaftes Lächeln. ,Sieh mal an...', dachte Lewinsohn, der mit diesen Worten jenem unklaren Gefühl eines leisen, etwas unheimlichen Entzückens Ausdruck gab, das ihn unvermittelt beim Anblick dieser blauen, glimmenden Feuer, des lächelnden Wachtpostens und alles dessen, was ihn dunkel in dieser Nacht erwartete, gefangen nahm.
Und er setzte seinen Weg noch leiser und behutsamer fort, nicht um unbemerkt zu bleiben, sondern nur, um das Lächeln des Postens nicht zu verscheuchen. Der aber verharrte weiter in seiner Stellung und lächelte beim Feuerschein. Sicherlich erinnerte ihn dieses Feuer und die aus der Taiga kommenden trockenen, knirschenden Laute der kauenden Pferde an die nächtliche Hut der Pferde in seiner Jugend: die betaute, vom Mondlicht überflutete Wiese, der ferne Ruf der Hähne im Dorf, die stille Herde der Gäule mit ihren klirrenden Spannketten, die lustigen, tanzenden Flammen des Feuers vor dem kindlichen, verträumten Blick... jenes Feuer war erloschen und erschien dem Wachtposten daher heller und wärmer als das heutige.
Kaum hatte Lewinsohn sich vom Lager entfernt, umfing ihn feuchte, modrige Finsternis, die Füße versanken im schlickrigen Boden, es roch nach Schwämmen und faulendem Holz. ,Wie unheimlich!' dachte er und sah sich um. Hinter ihm nicht ein goldiger Schimmer mehr - als wäre das Lager mitsamt dem lächelnden Posten vom Abgrund verschlungen worden. Lewinsohn seufzte tief und schritt in gemacht fröhlichem Gang über den Pfad in die Tiefe.
Bald darauf vernahm er das sanfte Plätschern einer Quelle, blieb einige Augenblicke stehen, horchte ins Dunkel, vor sich hinlächelnd, und beschleunigte seine Schritte noch mehr, bemüht, stärker zu rascheln, damit man ihn höre.
»Wer da?... Wer ist dort?...« erscholl schrill aus dem Dunkel eine Stimme.
Lewinsohn erkannte Metschik und ging, ohne sich zu melden, auf ihn zu. In der gepressten Stille knackte ein Schloss, blieb stecken und quietschte kläglich auf. Es war zu hören, wie die Hand beim Einlegen der Patrone nervös erzitterte.
»Man muss es öfter fetten«, bemerkte Lewinsohn spöttisch.
»Ach, Sie sind's?...« atmete Metschik erleichtert auf. »Schmier' es doch regelmäßig... weiß nicht, was da passiert ist...« Er schaute verlegen den Kommandeur an und ließ, das offene Schloss vergessend, das Gewehr sinken.
Metschik hatte um Mitternacht als dritte Ablösung die Wache übernommen. Kaum eine halbe Stunde war vergangen, seit sich die gewöhnlichen Schritte des Postenführers raschelnd im Grase entfernt hatten, aber Metschik kam es vor, als stünde er schon eine Ewigkeit da. Er war allein mit seinen Gedanken inmitten einer großen, feindseligen Welt, in der alles sich bewegte, in der alles ein fremdes, wachsames und räuberisches Leben dahinlebte.
Es war im Grunde genommen immer nur derselbe Gedanke, über dem er immer wieder brütete, ob er dies oder jenes dachte, und der in ihm entstanden war, unbekannt wann und wie. Er wusste, dass er von diesem Gedanken zu niemandem sprechen würde, er wusste, dass dieser Gedanke etwas Schlechtes an sich habe, etwas Beschämendes, aber er wusste auch, dass er jetzt nicht mehr von ihm loskommen und alle Kräfte anspannen würde, um ihn zu verwirklichen, dass er das Letzte und Einzige war, was ihm übrig blieb.
Der Gedanke lief darauf hinaus, dass er so oder anders, aber auf schnellstem Wege die Abteilung verlassen müsse.
Und das einstige Leben in der Stadt, das ihm früher so freudlos und langweilig vorgekommen war, sah jetzt, wo er daran dachte, wieder dorthin zurückkehren zu können, unendlich freudig und sorglos aus und schien ihm das einzig Mögliche zu sein.
Metschik geriet, als er Lewinsohn gewahrte, in Verwirrung, aber nicht so sehr, weil sein Gewehr nicht in Ordnung war, als deshalb, weil er bei solchen Gedanken überrascht worden war.
»Das ist mir ein Krieger!« sagte Lewinsohn gutmütig. Er mochte nicht schimpfen nach dem Anblick des lächelnden Postens. »Unheimlich so zu stehen, was?«
»Aber nein... warum denn?« entgegnete Metschik etwas verwirrt. »Bin's schon gewöhnt.«
»Und ich kann mich gar nicht daran gewöhnen«, lächelte Lewinsohn. »Wie lange gehe und reite ich schon allein, bei allen Tages- und Nachtzeiten, und immer ist's mir unheimlich dabei... Nun, was gibt's hier, alles ruhig?«
»Ja«, sagte Metschik, ihn erstaunt und mit einer gewissen Schüchternheit betrachtend.
»Bald werdet ihr's leichter haben«, ließ sich Lewinsohn vernehmen, als beantwortete er nicht Metschiks Worte, sondern das, was dahinter versteckt lag. »Wenn wir erst mal in Tudo-Waki sind, wird's besser werden... Rauchst du? Nein?«
»Nein, ich rauche nicht... höchstens zum Spaß mal«, fügte Metschik eilig hinzu, da ihm plötzlich Warjas Tabaksbeutel in den Sinn kam, von dessen Existenz Lewinsohn allerdings erfahren haben konnte.
»Ist's denn nicht langweilig, so ohne zu rauchen?... ,Übler Tabak', hätte Kanunnikow gesagt. Gab mal so einen braven Partisanen bei uns. Weiß nicht, ob er sich in die Stadt durchgeschlagen hat...«
»Und weshalb ist er dorthin gegangen?« fragte Metschik, während ein unklarer Gedanke sein Herz höher schlagen ließ.
»Hab' ihn mit einem Rapport weggeschickt, aber die Zeiten sind sehr unruhig, und er hatte unseren ganzen Bericht mit.«
»Man könnte ja noch einen schicken«, sagte Metschik mit fremder Stimme, bemüht, sich den Anschein zu geben, als läge nichts Besonderes in seinen Warten. »Haben Sie nicht die Absicht, einen zweiten abzukommandieren?«
»Wieso?« horchte Lewinsohn auf.
»Ganz einfach... wenn Sie die Absicht haben, könnt' ich's ja besorgen ... Mir ist dort alles gut bekannt...«
Metschik kam es vor, als sei er zu eilfertig gewesen und als habe Lewinsohn nun alles durchschaut.
»Nein, hab' nicht die Absicht...«, gab Lewinsohn bedächtig überlegend zur Antwort. »Haben Sie Verwandte dort?«
»Nein, ich habe dort überhaupt gearbeitet... das heißt, Verwandtschaft ist wohl auch da, aber nicht aus diesem Grunde... Nein, Sie können sich auf mich verlassen: als ich in der Stadt tätig war, da hatte ich oft genug Gelegenheit, Geheimpost zu befördern.«
»Mit wem haben Sie denn gearbeitet?«
»Mit den Maximalisten, aber damals dachte ich, dass es einerlei ist...«
»Was heißt das, einerlei?«
»Na ja, mit wem man auch arbeitet...«
»Und jetzt?«
»Jetzt hat man mich etwas konfus gemacht«, erwiderte Metschik leise, ohne zu wissen, was man von ihm letzten Endes verlange.
»Soo«, sagte Lewinsohn gedehnt, als wäre es eben das gewesen, was man von ihm verlangte. »Nein, nein, habe nicht die Absicht... habe nicht die Absicht, was zu schicken«, wiederholte er von neuem.
»Wissen Sie, weshalb ich auch noch davon angefangen habe?...« begann Metschik mit einer plötzlichen nervösen Entschlossenheit, und seine Stimme zitterte. »Denken Sie nicht etwa schlecht von mir und glauben Sie nicht, dass ich Ihnen etwas verheimliche. Ich werde ganz offen mit Ihnen sprechen...«
,Gleich werde ich ihm alles sagen', dachte er und spürte, dass er ihm tatsächlich gleich alles sagen werde, ohne zu wissen, ob dies gut oder schlecht sei.
»Ich bin auch noch aus dem Grunde darauf gekommen, weil ich glaube, dass ich ein ganz untauglicher und unnützer Partisane bin und es besser sein wird, wenn Sie mich wegschicken... Nein, glauben Sie ja nicht, dass ich mich fürchte oder Ihnen etwas verheimliche, aber ich verstehe doch in der Tat nicht das mindeste... Ich kann mich ja hier niemandem anschließen, begegne von keiner Seite auch nur der geringsten Hilfe, und ist das etwa meine Schuld? Ich bin offenen Herzens an alle herangetreten, mir aber begegnete man stets grob, machte sich lustig über mich, verhöhnte mich., obschon ich gleich den anderen an allen Kämpfen teilgenommen habe und schwer verwundet war. Sie wissen das... Jetzt traue ich keinem mehr, ich weiß, wäre ich stark, man würde auf mich hören und mich fürchten, weil hier ein jeder sich nur danach richtet, ein jeder nur darauf bedacht ist, sich seinen Wanst zu füllen, und müsste er selbst seinen Kameraden bestehlen; alles andere jedoch kümmert sie nicht... Oft habe ich sogar den Eindruck, sollte der Zufall sie morgen zu Koltschak führen, dass sie diesem ebenso dienen würden und ebenso zügellos grausam mit allen verfahren würden, aber ich kann das nicht, kann das einfach nicht!...«
Metschik fühlte, wie mit jedem Wort sich irgendein trüber Nebel in ihm zerteilte. Die Worte schossen erstaunlich unbeschwert aus dem wachsenden Loch, und ihm selber wurde leichter davon ums Herz. Er wollte immer weiterreden, und es war ihm schon ganz gleichgültig, was Lewinsohn dazu sagen würde.
,Da haben wir's!... Ein schöner Kohl das', dachte Lewinsohn, der mit steigender Neugier den Sinn verfolgte, der sich hinter Metschiks nervösen Worten verbarg.
»Halt mal«, sagte er schließlich, während er seinen Ärmel berührte, und Metschik spürte stärker als je zuvor seine großen, dunklen Augen auf sich ruhen. »Schwätzt da ein Zeug zusammen, dass man sich schon gar nicht mehr auskennt.'... Bleiben wir einstweilen dabei. Greifen wir das Wichtigste heraus... Du sagst, ein jeder hier ist nur darauf bedacht, sich den Wanst zu füllen...«
»Aber nicht doch!« rief Metschik aus; ihm schien, nicht dies sei das Wichtigste in seinen Worten gewesen, sondern jenes, wie schlecht es ihm hier gehe, wie alle ihn ungerecht behandeln und wie gut er daran tue, offen davon zu sprechen. »Ich wollte sagen...«
»Nein, warte, jetzt lass mich reden«, unterbrach Lewinsohn ihn sanft. »Du hast gesagt, ein jeder schaue nur darauf, sich seinen Wanst zu füllen, und wären wir zu Koltschak geraten...«
»Von Ihnen persönlich habe ich nicht gesprochen!... ich...«
»Das ist ganz gleich... Wären sie also zu Koltschak geraten, so würden sie ebenso grausam und sinnlos alles das ausführen, was er für nötig hielte. Aber das stimmt doch überhaupt nicht!...« Und Lewinsohn begann mit gewohnten Worten zu erklären, weshalb das ihm falsch zu sein schien.
Aber je mehr er sprach, um so deutlicher empfand er, dass er in den Wind redete. An den zusammenhanglosen Einwürfen, die Metschik machte, erkannte er, dass er von etwas anderem sprechen müsste, von etwas Grundlegenderem, Ursprünglicherem, das er sich selbst einst nicht ohne Mühe angeeignet hatte und das ihm nun schon im Fleisch und Blut saß. Aber jetzt war nicht die Zeit, davon zu reden, denn jede Minute forderte von den Leuten schon bewusstes und entschlossenes Handeln.
»Was soll man mit dir anfangen«, sagte er endlich mit ernstem, gutmütigem Bedauern, »bist selbst an allem schuld. Und dass du weggehst ist Unsinn. Man wird dich totschlagen, sonst nichts... Lass dir lieber alles richtig durch den Kopf gehen, besonders das, was ich dir gesagt habe. Es kann nicht schaden, darüber nachzudenken...«
»Ich denke ja sonst auch an nichts anderes«, sagte Metschik dumpf, und die frühere nervöse Kraft, die ihn gezwungen hatte, so viel und so kühn zu sprechen, verließ ihn plötzlich.
»Und das Wichtigste, halte deine Kameraden nicht für schlechter als dich selbst. Sie sind nicht schlechter, nein...« Lewinsohn holte seinen Tabaksbeutel hervor und begann langsam eine Zigarette zu drehen.
Mit welker Wehmut verfolgte Metschik seine Bewegungen.
»Den Verschluß kannst du trotzdem schließen«, sagte Lewinsohn plötzlich, und man sah, dass er während ihres ganzen Gesprächs an das offene Schloss gedacht hatte. »Wäre an der Zeit, sich so etwas zu merken. Hängst hier nicht an Mutters Schürzenzipfel.« Er entzündete ein Streichholz, und aus dem Dunkel traten für einen kurzen Augenblick seine halbgeschlossenen Lider und die langen Wimpern, seine dünnen Nasenflügeln, sein rotbrauner, Ruhe atmender Bart. »Ja, wie steht's eigentlich mit deiner Stute? Reitest noch immer auf ihr?«
»Noch immer . ,.«
Lewinsohn überlegte.
»Also höre: morgen werde ich dir die ,Niwka' geben, kennst sie doch? Pika hat sie geritten... und die ,Sütschicha' gibst dem Wirtschaftsleiter ab. Bist einverstanden?«
»Einverstanden«, antwortete Metschik traurig,
,Ein toller Wirrkopf', dachte Lewinsohn später, als er weich und behutsam seine Füße ins dunkle Gras setzte, hastig an der Zigarette ziehend. Er war etwas erregt von diesem Gespräch. Er dachte daran, wie schwach, faul und energielos doch letzten Endes dieser Metschik ist, und wie bar jeder Freude in Wahrheit jenes Land sein muss, das solche Menschen im Überfluss hervorbringt, solche elenden und nutzlosen Wesen. ,Eben bei uns, auf unserm Boden', überlegte er, seine Schritte beschleunigend und immer hastiger paffend, ,wo Millionen Menschen seit undenklichen Zeiten unter einer langsamen, trägen Sonne leben, in Schmutz und Armut, mit vorsintflutlichem Holzpflug die Furche ziehen, an einen bösen und dummen Gott glauben; eben nur auf solchem Boden konnten diese faulen, willenlosen Menschen, diese tauben Blüten wachsen... '
Und Lewinsohn war erfüllt von Unruhe, weil all das, was er dachte, das Tiefste und Wichtigste war, worüber er nachdenken konnte; denn in der Überwindung dieser Dürftigkeit und Armut lag der eigentliche Urzweck seines Daseins, und Lewinsohn wäre nicht er, sondern ein ganz anderer gewesen, lebte in ihm nicht jene gewaltige, mit keinem andern Wunsche zu vergleichende Sucht nach einem neuen, schönen, starken und guten Menschen. Aber wie konnte man von einem neuen, schönen Menschen sprechen, solange zahllose Millionen gezwungen waren, ein derart vorsintflutliches und armseliges, unausdenklich karges Leben zu fristen.
,War wirklich auch ich einmal so oder ähnlich?' dachte Lewinsohn, dessen Gedanken wieder zu Metschik zurückkehrten. Und er versuchte sich so zu sehen, wie er in der Kindheit gewesen war, in der frühen Jugend, aber nur mit Mühe gelang ihm dies: zu hart und hoch hatten sich die für ihn so bedeutenden folgenden Jahre über ihn geschichtet, als er schon jener Lewinsohn war, den alle gerade als Lewinsohn kannten - ein Mensch, der immer an der Spitze schritt.
Er konnte sich nur noch eines alten Familienbildes entsinnen, auf dem der schmächtige jüdische Junge - in schwarzer Joppe und mit großen naiven Augen - mit erstaunlich unkindlicher Beharrlichkeit auf jene Stelle schaute, aus der, wie man ihm damals sagte, ein buntschillerndes Vögelchen hervorschwirren mußte. Kein Vögelchen kam, und Lewinsohn erinnerte sich noch, dass er beinahe in Tränen ausgebrochen wäre vor Enttäuschung. Wie vieler solcher Enttäuschungen aber hatte es noch bedurft, bis er sich endgültig davon überzeugte, dass »es so was nicht gäbe!«
Und als er sich dessen wirklich bewusst war, begriff er, welch unermesslichen Schaden diese verlogene Mär von buntschillernden Vöglein unter den Menschen stiftet - von den Vöglein, die von irgendwo herausschwirren sollen und auf die so mancher sein Leben lang vergeblich wartet... Nein, er brauchte sie nicht mehr! Erbarmungslos hatte er in sich die tatenlose, süße Sehnsucht nach ihnen erstickt - alles, was als Erbe entrechteter Geschlechter geblieben war, die mit dieser verlogenen Mär vom buntschillernden Vögelchen aufwuchsen!... »Alles so sehen, wie es ist, um zu ändern, was ist, um das näher zu bringen, was im Entstehen begriffen ist und sein soll', das war die Weisheit, die einfachste und schwierigste zugleich, zu der Lewinsohn sich durchgerungen hatte.
,... Nein, immerhin, ich war ein starker Junge, viel stärker als er', dachte Lewinsohn jetzt, voll eines unerklärlichen, freudigen Triumphgefühls, das keiner verstanden oder gar bei ihm vermutet hätte. ,Ich habe nicht nur manches gewollt, ich habe auch manches gekonnt, das ist der ganze Unterschied...' Er schritt aus, ohne auf den Weg zu achten, und die kalten, betauten Zweige kühlten sein Gesicht; er empfand die Flut ungewöhnlicher Kräfte, die ihn über sich selbst erhoben (zu jenem neuen Menschen etwa, den er mit allen Fibern seines Herzens ersehnte?), und von dieser umspannenden, irdischen, menschlichen Höhe gebot er über seine Schwächen und die Gebresten seines Leibes...
...Als Lewinsohn das Lager erreichte, waren die Feuer schon fast niedergebrannt, und der Wachtposten lächelte nicht mehr; man hörte, wie er sich, mit gedämpfter Stimme fluchend, an seinem Pferd zu schaffen machte. Lewinsohn erreichte sein leise glimmendes Feuer; dicht daneben schlief, in seinen Mantel gehüllt, Baklanow einen tiefen, gesunden Schlaf. Lewinsohn legte trockenes Gras und Reisig auf und blies in die Glut. Von der heftigen Anstrengung begann ihm zu schwindeln. Baklanow empfand die plötzlich aufsteigende Wärme, begann sich zu bewegen und schmatzte laut und behaglich im Traum. Sein Gesicht war unbedeckt, die Lippen hatte er wie ein Kind nach vorn geschoben, die Mütze fest an die Schläfe gepresst. So gemahnte er an einen satten und gutmütigen jungen Hund. ,Sieh einer an', dachte Lewinsohn liebevoll und lächelte; nach dem Gespräch mit Metschik war ihm, er wusste selber nicht weshalb, der Anblick Baklanows besonders angenehm.
Dann legte er sich ächzend neben ihn und hatte kaum die Augen geschlossen - als er, ohne den Körper zu fühlen, zu schwanken und zu taumeln begann, bis er plötzlich in eine endlos tiefe, schwarze Grube sauste.

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