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Alexander Fadejew - Die Neunzehn (1925)
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XII. Wege und Pfade

Moroska war von klein auf daran gewöhnt, dass Menschen vom Schlage Metschiks ihre wahren Gefühle, ebenso einfach und unscheinbar wie die seinen, hinter großen, tönenden Worten verbergen und sich damit von jenen abgrenzen, denen es wie Moroska nicht gegeben ist, diese Gefühle in entsprechend schöne Hüllen zu kleiden. Es kam ihm nicht zum Bewusstsein, dass es in der Tat so und nicht anders war, und er hätte es mit eigenen
Worten auch nie zum Ausdruck bringen können, aber er fühlte zwischen sich und diesen Menschen ständig eine undurchdringliche Mauer, aufgetürmt aus allen jenen verlogenen, schön gefärbten Worten und Taten, die sie von irgendwoher schleppten.
Zum Beispiel hatte Metschik bei dem denkwürdigen Zusammenstoß zwischen Moroska und ihm versucht, zum Ausdruck zu bringen, dass er dem andern nur aus Dankbarkeit für die Rettung seines Lebens nachgebe. Der Gedanke, niedrige Triebe zu unterdrücken um eines Menschen willen, der dessen nicht einmal wert war, erfüllte sein Wesen mit angenehmer, geduldsamer Wehmut. Im tiefsten Innern aber zürnte er sich und Moroska, weil er ihm in Wirklichkeit alles Böse wünschte und es ihm nur aus Feigheit nicht selbst antun wollte, und auch deshalb, weil es viel schöner und angenehmer war, eine geduldsame Wehmut zu empfinden.
Moroska aber fühlte, dass Warja eben dieses ihm mangelnden Schönen wegen Metschik vorgezogen hatte, in dem Glauben, dieses Schöne sei nicht nur äußerlich, sondern echt und zutiefst mit der Seele Metschiks verbunden. Aus diesem Grunde war Moroska beim Wiedersehen mit Warja ungewollt in den alten Bannkreis der Gedanken geraten, über sie, über sich, über Metschik.
Er bemerkte, dass Warja sich die ganze Zeit irgendwo herumtrieb (»bestimmt mit Metschik!«) und konnte lange keinen Schlaf finden, obgleich er sich einzureden suchte, dass ihn das alles gar nicht berühre. Bei dem geringsten Rascheln hob er, ins Dunkel starrend, ängstlich den Kopf: ob nicht vielleicht zwei schuldbewusst schleichende Gestalten auftauchten?
Einmal schreckten ihn in der Nacht Geräusche auf. In einem Feuer knisterte feuchtes Reisig, und gigantische Schatten geisterten am Rand der Lichtung. Die Fenster der Baracke wurden abwechselnd hell und dunkel, irgendwer hantierte da mit Streichhölzern herum. Dann kam Chartschenko aus der Baracke, wechselte einige Worte mit einem im Dunkel unsichtbaren Menschen und schritt zwischen den Feuern hindurch, um jemanden zu suchen.
»Was willst du?« fragte heiser Moroska. »Was ist los?« Er hatte die Antwort nicht verstanden.
»Frolow ist gestorben«, sagte dumpf Chartschenko.
Moroska wickelte sich fester in seinen Mantel und schlief wieder ein.... Im Morgengrauen legten sie Frolow in die Erde, und Moroska schaufelte, zusammen mit anderen, gleichgültig das Grab zu.
Als die Pferde gesattelt wurden, entdeckte man, dass Pika verschwunden war. Sein kleiner Gaul, noch immer aufgezäumt und gesattelt, stand traurig dösend unter einem Baum. Er sah kläglich aus. ,Hat's nicht ausgehalten, ist ausgerückt, der Alte', überlegte Moroska.
»Na, schön, lasst ihn laufen«, sagte Lewinsohn, vor Seitenstechen, das ihn schon den ganzen Tag über quälte, die Stirne runzelnd. »Vergesst das Pferd nicht... nein, nein, lasst es unbepackt!... Wo ist der Wirtschaftsleiter? Alles bereit?... Aufgesessen?...« Er atmete tief, wieder die Stirne runzelnd, und hob sich schwerfällig, als trüge er in sich etwas Großes, Gewichtiges, das ihn selber schwer und gewichtig machte, in den Sattel.
Keinem tat es leid um Pika. Nur Metschik empfand schmerzlich den Verlust. Obschon der Greis in ihm zuletzt nur noch öde Erinnerungen und Sehnsucht wachgerufen hatte, schien es ihm doch, wie wenn mit Pika auch ein Teil seiner selbst entschwunden wäre.
Die Abteilung klomm einen steilen, von Ziegen abgegrasten Grat empor. Darüber wölbte sich hoch ein kalter, stahlgrauer Himmel. In der Tiefe schimmerten bläuliche Triften, und unter den Füßen hinweg rollte mit Getöse schweres Geröll auf sie hinab.
In erwartungsvoller, herbstlicher Stille umfing sie die goldbelaubte, von dürrem Gras überzogene Taiga. In gelbem Spitzengewebe verzweigter Farne äste ein graubärtiger Edelhirsch, rauschten kühle Quellen, glitzerte den ganzen Tag über durchsichtig klar der Tau, gelb wie die Gräser. Das Tier aber röhrte vom frühen Morgen an - beunruhigend, leidenschaftlich, unerträglich, und es war, als wehe durch das goldene Welken der Taiga der mächtige Atem eines gewaltigen, ewiglebenden Leibes.
Der erste, dem die Spannung zwischen Moroska und Warja auffiel, war die Ordonnanz Jefimka, der kurz vor der Mittagsrast zu Kubrak mit dem Befehl geschickt worden war: »den Schwanz nachzuziehen, damit ihn nicht jemand abbeiße«.
Jefimka hatte sich mit Mühe die Kolonne entlanggezwängt und war, nachdem er sich die Hosen an stachligen Sträuchern zerrissen, mit Kubrak aneinander geraten; der Zugführer riet ihm, sich nicht um fremde Schwänze zu kümmern, sondern lieber auf seine »eigene Nase« zu achten. Dabei bemerkte Jefimka, dass Moroska und Warja in weitem Abstand voneinander ritten, und dass man sie tags zuvor auch nicht zusammen gesehen hatte.
Auf dem Rückweg, an Moroskas Seite trabend, fragte er diesen:
»Scheinst dich ja vor deiner Frau zu drücken, war was zwischen euch?«
Moroska blickte verlegen und böse auf Jefimkas mageres, galliges Gesicht und sagte: »Was soll schon zwischen uns gewesen sein? Hab' sie laufen lassen...«
»La-aufen lassen?...« Jefimka schaute einige Minuten schweigend und mürrisch zur Seite, als überlege er, ob dieses Wort jetzt am Platze sei, da doch schon in den früheren Beziehungen zwischen Moroska und Warja keine festen Familienbande bestanden.
»Nun ja, das kann schon vorkommen«, sagte er endlich. »Wie's einen gerade trifft... Na, na, verdammte Stute!...« Er strich ihr eins mit der Gerte über, und Moroska, dessen Augen seinem Tuchkittel folgten, sah, wie er Lewinsohn etwas mitteilte und dann neben ihm weiterritt.
.Meiner Treu, das ist ein Leben!' dachte Moroska wie in taumelnder Verzweiflung, und es wurde ihm schwer ums Herz, weil er selber an etwas geschmiedet schien und sich nicht ebenso unbekümmert mit dem Nachbarn unterhalten oder die Kolonne entlangreiten konnte. ,Die haben's gut, die brauchen sich keine Sorgen zu machen', dachte er neidvoll. ,Und weshalb sollten die auch Trübsal blasen? Lewinsohn zum Beispiel?... Das ist ein Mensch, der was zu sagen hat, ein jeder begegnet ihm mit Achtung, der macht, was er will... So lässt sich's leben.' Und er ahnte nicht, dass Lewinsohn die Seite schmerzte, dass Lewinsohn in sich die Verantwortung für Frolows Tod trug, dass man auf seinen Kopf einen Preis gesetzt und dass dieser bei ihm lockerer auf den Schultern saß als bei andern. - Moroska dachte daran, was es auf der Welt doch für gesunde, ruhige und sorglose Menschen gäbe und wie er selber so gar kein Glück im Leben habe.
Alle jene verwickelten, lästigen Gedanken, die ihm zum ersten Male in den Sinn kamen, als er an einem heißen Julitag aus dem Lazarett zurückgeritten und die lockigen Schnitter ihm, entzückt über seine reiterhafte Haltung, mit den Blicken gefolgt waren, jene Gedanken, die ihn mit besonderer Kraft erfasst hatten, damals, nach dem Streit mit Metschik, als er über das verödete Feld trabte und die einsame Krähe stumm auf dem windschiefen Heuschober saß; alle diese Gedanken traten jetzt mit ungewöhnlicher schmerzlicher Schärfe und Deutlichkeit hervor. Moroska fühlte, dass er sein ganzes Leben lang betrogen worden war und dass ihn auch jetzt nichts als Lüge und Betrug umlauerten. Er zweifelte nicht mehr, dass sein Leben von der Wiege an, all die Arbeit und dieses wüste sinnlose Umhertreiben, all das Blut und der Schweiß, die er vergossen hatte, selbst seine ganze »unbekümmerte« Ausgelassenheit nichts Freudiges war, sondern lichtlose Zuchthausarbeit, die keiner zu würdigen wusste und auch keiner je würdigen werde.
Mit einer ihm fremden, wehmütigen, müden, fast greisenhaften Erbitterung dachte er daran, dass er ja schon siebenundzwanzig Jahre alt sei und dass keine Macht der Welt auch nur eine Minute des Vergangenen wiederbringen könne, um sie nochmals, anders, zu durchleben, und dass auch die Zukunft nichts Gutes verspreche, und er bald, vielleicht durch eine Kugel, sterben werde, von keinem vermisst, so wie Frolow starb, um den es niemand leid tat. Moroska schien es jetzt, als hätte er sein ganzes Leben lang aus aller Kraft danach gestrebt, sich auf jenen geraden, klaren Weg zu stellen, über den solche Menschen schritten wie Lewinsohn, Baklanow, Dubow (und auch Jefimka, schien ihm, ging nunmehr diesen Weg), aber irgendeiner habe ihn hartnäckig daran gehindert. Und da es ihm nie eingefallen wäre, dass dieser Feind in ihm selber sitze, war es für ihn ein schmerzlich-süßer Gedanke, zu glauben, die Niedertracht der Menschen - in erster Linie solcher wie Metschik - sei die Ursache seiner Leiden.
Nach dem Essen, als er den Hengst an der Quelle tränkte, pflanzte sich jener lebhafte, lockige Bursche, der ihm seinerzeit den Blechkrug gestohlen hatte, mit geheimnisvoller Miene vor ihm auf.
»Was ich dir sagen will...«, stotterte er hastig..., »dass sich
die Krätze, diese Warjka, bei Gott... ich hab' eine scharfe Nase für so was!...«
»Was... Wofür?...« fragte grob Moroska und hob den Kopf.
»Was die Weiber anbetrifft, versteh' ich mich gründlich auf
sie«, erläuterte ein wenig verlegen der Bursche. »Selbst wenn
bisher noch nichts passiert ist, mir kann man da nichts vormachen,
Freundchen... die Augen gafft sie sich nach ihm aus.«
»Und er?...« fragte errötend Moroska; er begriff, dass von Metschik die Rede war, und hatte vergessen, sich den Anschein zu geben, als wüsste er von nichts.
»Was soll er tun...«, erwiderte der Bursche mit unaufrichtiger, schleichender Stimme, als wäre das, wovon er sprach, letzten Endes unwichtig und von ihm nur vorgebracht, um seine alten Sünden vor Moroska zu verwischen.
»Hol sie der Kuckuck, was kümmert's mich?« prustete Moroska los. »Hast vielleicht auch mit ihr geschlafen, was weiß ich«, setzte er verächtlich und gekränkt hinzu.
»Da schlag einer lang hin!... aber ich bin doch...« »Scher dich zum Teufel!« schrie Moroska plötzlich gereizt. »Steck deine Nase wo anders 'rein, hau ab!...« und versetzte ihm einen kräftigen Tritt in den Hintern.
Mischka, erschreckt von der Heftigkeit der Bewegung, wich zur Seite und rutschte mit zusammengeknickten Hinterbeinen ins Wasser, erstarrt die Ohren spitzend.
»Du Hundesohn, du...«, stieß der Bursche überrascht und zornig hervor und warf sich plötzlich auf Moroska.
Sie gerieten wie zwei Kampfhähne aneinander. Mischka machte kehrt und lief in leichtem Trab, den Kopf verängstigt nach rückwärts gewandt, davon.
»Aas verfluchtes, ich werde dir zeigen, was es heißt, seine Nase in fremde Angelegenheiten stecken!... Ich werde dir...«, knurrte Moroska, ihm die Fäuste in die Seiten bohrend und wütend, dass er, da der Bursche ihn nicht losließ, nicht richtig zum Schlage ausholen konnte.
»Heda, Kinder!« rief eine erstaunte Stimme. »Was ist denn hier los?...«
Ruhig schoben sich zwei große, knotige Hände zwischen die Kämpfenden, fassten beide am Kragen und rissen sie auseinander.
Ohne verstanden zu haben, was eigentlich vorgefallen war, gingen die zwei wieder aufeinander los, erhielten diesmal aber beide einen derartig kräftigen Puff, dass Moroska mit dem Rücken gegen einen Baum flog, der Bursche jedoch über eine Wurzel stolperte und mit den Armen fuchtelnd, wie ein Klotz ins Wasser plumpste.
»Gib die Hand, helf dir 'raus...«, sagte Gontscharenko ohne jeglichen Spott. »Andere Sorgen habt ihr nicht?...«
»Soll ich mir das vielleicht gefallen lassen... Schweinehund... totschlagen müsste man ihn...«, brüllte Moroska und versuchte, sich wieder auf den trief enden, halbbetäubten Burschen zu stürzen. Sich mit der einen Hand an Gontscharenko klammernd und sich ausschließlich an ihn wendend, schlug sich dieser mit der anderen Hand heftig gegen die Brust.
»Nein, sag nur, sag nur«, schrie er ihm mit weinerlicher Stimme ins Gesicht. »Wer Lust hat, kann einem also Tritte in den Hintern geben, Tritte in den Hintern, ja?...« Und als er gewahrte, dass die Menschen zusammenliefen, kreischte er gellend: »Kann jemand was dafür, kann jemand was dafür, wenn die Frau, seine Frau...«
Gontscharenko, der einen Skandal befürchtete und mehr noch um Moroskas Schicksal besorgt war (falls Lewinsohn davon erfahren sollte), ließ den winselnden Burschen los, ergriff Moroska am Arm und zog ihn mit sich fort.
»Komm, komm«, sagte er streng zu dem sich sträubenden Moroska. »Man wird dich noch aus der Abteilung jagen, Hundesohn du...«
Moroska, der das Mitgefühl, das dieser starke und strenge Mensch für ihn empfand, endlich erkannte, gab den Widerstand auf.
»Was ist denn dort geschehen?« fragte ein blauäugiger Deutscher aus Metelizas Zug, der ihnen entgegengelaufen kam.
»Einen Bären haben sie gefangen«, sagte gelassen Gontscharenko.
»Einen Bä-ären?...« Der Deutsche blieb mit offenem Munde stehen und rannte dann hastig davon, als wollte er noch einen zweiten Bären fangen.
Zum ersten Mal betrachtete Moroska Gontscharenko mit Neugier und mußte lächeln.
»Donnerwetter, hast du aber Kräfte«, sagte er mit einer gewissen Befriedigung darüber, dass Gontscharenko so kraftstrotzend war.
»Weshalb hast du ihn verprügelt?« fragte Gontscharenko.
»Weshalb?... Ein solches Aas!...« begann Moroska sich von neuem zu ereifern. »Den müsste man doch...«
»Na, na«, unterbrach ihn beruhigend Gontscharenko, »hast deine Gründe gehabt?... Schon gut, schon gut...«
»Sammeln!...« ertönte, sich überschlagend, Baklanows helle Stimme.
Jetzt schob sich aus dem Gebüsch Mischkas zottiger Kopf. Das Tier schaute mit klugen, grünlichbraunen Augen die Menschen an und wieherte leise.
»Ach du!...« entfuhr es Moroska.
»Ein feines Pferdchen...«
»Sein Leben könnte man dafür lassen!« Moroska klopfte dem Hengst entzückt auf den Hals.
»Schmeiß nur mit deinem Leben nicht so herum, wirst's noch gebrauchen können...« Gontscharenko lächelte versteckt in' seinen lockigen Bart. »Muss meinen Gaul noch tränken, du kannst ja Spazierengehen«, und er entfernte sich mit festem, weit ausholendem Schritt.
Moroska sah ihm nach, abermals mit neugierigem Blick, und überlegte sich, weshalb er diesen prachtvollen Menschen nicht früher schon beachtet hatte.
Später, als die Züge sich ordneten, stellte er sich, ohne es selber zu merken, neben Gontscharenko auf und wich während des ganzen Wegs bis zum Chaunichedsa nicht von seiner Seite.
Warja, Staschinskij und Chartschenko, die Kubraks Zug zugeteilt waren, ritten fast ganz am Ende. An den Windungen des Bergrückens wurde fast die ganze Abteilung sichtbar, eine schmale, lang gestreckte Kette. Voran, in gebückter Haltung, ritt Lewinsohn; dahinter Baklanow, er hatte unbewusst dieselbe Pose eingenommen. Die ganze Zeit fühlte Warja irgendwo hinter sich Metschiks Gegenwart, und in ihr regte sich die Kränkung über sein gestriges Benehmen, jenes warme große Gefühl überschattend, das sie ständig für ihn empfand.
Seit Metschik das Lazarett verlassen hatte, konnte sie ihn keinen Augenblick lang vergessen, und ihr Leben war ganz von dem Gedanken an ein Wiedersehen erfüllt. Mit diesem Tage waren ihre tiefsten, geheimsten Träume verbunden, irdische, greifbare fast, über die sie mit niemandem sprechen konnte. Sie malte sich aus, wie er am Waldrand auftauchen werde - in seinem neuen Kittel, schön, schlank, blond, etwas schüchtern - sie spürte seinen Atem, fühlte seine weichen, lockigen Haare, hörte seine zärtlichen, verliebten Worte. Sie bemühte sich, die früheren Missverständnisse zwischen ihnen zu vergessen, es schien ihr aus irgendeinem Grunde, als könnte sich so etwas nie mehr wiederholen. Mit einem Wort, sie stellte sich die künftigen Beziehungen zu Metschik so vor, wie sie noch nie bestanden hatten, aber wie sie ihr angenehm gewesen wären, und suchte die Gedanken an das, was wirklich geschehen konnte, ihr aber Kummer bereiten würde, zu verscheuchen.
Ais sie Metschik begegnet war, begriff sie mit dem ihr eigenen Feingefühl für Menschen, dass er zu verstimmt und aufgeregt war, um sich Rechenschaft über seine Handlungen geben zu können, und dass die Ursachen seiner Verstimmung viel wichtiger waren als ihre persönlichen Kränkungen. Aber eben deswegen, weil sie sich früher dieses Wiedersehen so ganz anders ausgemalt hatte, kränkte und erschreckte sie die ungewollte Grobheit Metschiks.
Zum ersten Mal fühlte Warja, dass diese Grobheit keine zufällige und dass Metschik vielleicht nicht der sei, den sie lange Tage und Nächte erwartete, dass sie aber keinen anderen habe. Sie vermochte nicht den Mut aufzubringen, sich das sofort einzugestehen: es war nicht gerade leicht, all das von sich zu werfen, wovon sie lange Tage und Nächte gelebt, was sie gepeinigt und berauscht hatte, und in der Seele eine plötzliche, unausfüllbare Leere zu empfinden. Sie machte sich einfach glauben, dass nichts Besonderes geschehen wäre, dass nur der unglückselige Tod Frolows an allem schuld war und sich alles noch zum Guten wenden würde; doch statt dessen dachte sie vom frühen Morgen an nur daran, wie Metschik sie beleidigt und wie er kein Recht gehabt habe, das zu tun, als sie zu ihm kam mit ihren Träumen und ihrer Liebe.
Den ganzen Tag über empfand sie ein quälendes Verlangen, Metschik zu sehen und mit ihm zu sprechen, aber nicht ein einziges Mal sah sie sich nach ihm um, und selbst während der Mittagsrast ging sie nicht zu ihm. ,Was soll ich ihm nachlaufen wie ein Mädel?' dachte sie. ,Wenn er mich wirklich liebt, wie er sagt, mag er als erster zu mir kommen; ich werde ihm keine Vorwürfe machen. Aber wenn er nicht kommt, ist's auch gut, dann bleibe ich allein... da wird eben nichts daraus werden.'
Ü ber der Hauptkuppe verbreiterte sich der Fußpfad, und Tschish gesellte sich zu Warja. Gestern gelang es ihm nicht, sie abzufangen, aber er war in solchen Dingen hartnäckig und gab die Hoffnung nicht auf. Sie fühlte die Berührung seines Beins; er atmete ihr schamlose Worte ins Ohr, aber sie überhörte sie, in eigene Gedanken versunken.
»Nun, wie ist's denn, was meinen Sie?« wiederholte Tschish zudringlich (er sagte zu allen Personen weiblichen Geschlechts »Sie«, unabhängig von ihrem Alter, ihrem Stand und ihren Beziehungen zu ihm).
»Sind Sie einverstanden - wie?...«
,... Ich verstehe alles, was verlange ich denn groß von ihm?' dachte Warja. ,War es denn wirklich so arg schwer für ihn, gut zu mir zu sein?...Aber vielleicht leidet er jetzt selbst... denkt, ich bin böse. Soll ich mich mit ihm aussprechen?... Wie?.'... Ich?! Nachdem er mich weggejagt?... Nein, nein, da wird eben nichts draus werden
»Aber was ist denn mit Ihnen, sind Sie taub geworden, meine Beste? Ich frage, ob Sie einverstanden sind?«
»Womit einverstanden?« schreckte Warja auf. »Hol dich der...«
»Guten Morgen, gut geruht?...« Tschish zuckte gekränkt mit den Achseln. »Aber meine Beste, Sie tun ja so, als ob's das erste Mal wäre, als seien Sie noch eine Jungfrau.« Und von neuem begann er ihr aufdringlich ins Ohr zu tuscheln, überzeugt, sie verstehe und höre ihn und ziere sich nur, um sich nach Weiberart begehrenswerter zu machen.
Der Abend brach herein, in die Schluchten zog die Nacht ein, müde schnaubten die Pferde, über den Quellen ballte sich der Nebel und kroch langsam ins Tal... Metschik aber ritt noch immer nicht an Warja heran und schien auch keine Anstalten zu machen. Und je mehr sie sich davon überzeugte, dass er nicht zu ihr kommen werde, um so stärker empfand sie die vergebliche Sehnsucht und Bitternis ihrer früheren Träume und um so schwerer wurde es ihr, sich von ihnen zu trennen.
Die Abteilung stieg zum Nachtlager in die Schlucht hinab; in feuchtem, beängstigendem Dunkel wimmelte es von Menschen und Pferden.
»Sie vergessen es also nicht, meine Beste«, flüsterte mit widerlich-zärtlicher Hartnäckigkeit Tschish. »Ja, das Feuer werde ich etwas abseits anlegen... damit Sie's wissen...« Einige Augenblicke später hörte man ihn schreien: »Was heißt das »wohin kriechst du?' Und was hast du dich da breit gemacht?«
»Was hast du in einem fremden Zug zu suchen?«
»Was heißt da fremden? Sperr mal deine Augen auf!...«
Nach kurzem Schweigen, währenddessen beide wahrscheinlich ihre Augen aufgesperrt hatten, sagte der, welcher zuerst gefragt hatte, schuldbewusst mit kleinlauter Stimme:
»Donnerwetter noch mal, tatsächlich ,Kubraken'... Wo ist denn Meteliza?« Und als hätte er mit seiner reuigen Stimme den Irrtum wieder aus der Welt geschafft, begann er von neuem zu schreien: »Me-e-eteliza.«
Unten aber kreischte einer in derart ungeduldiger Erregung, dass es schien, er werde sich - sollte man seine Forderung nicht erfüllen - stehenden Fußes umbringen oder anderen den Garaus machen:
»Feu-er her!... Feu-e-er he-er!...«
Plötzlich zuckte am äußersten Ende der Schlucht lautlos die rötliche Glut flammenden Reisigs auf und riss aus dem Dunkel die zottigen Köpfe der Pferde, die müden Gesichter der Menschen im kalten Schimmer blinkender Patronentaschen und Karabiner.
Staschinskij, Warja und Chartschenko hatten etwas abseits von den anderen Halt gemacht und saßen ab.
»Na also, jetzt wollen wir uns ausruhen und ein Feuerchen machen«, sagte mit gezwungener und niemanden erheiternder Munterkeit Chartschenko. »Such doch einer etwas Reisig zusammen!...«
»... Immer dieselbe Leier, nie hält man zur Zeit, und dann hat man seine Not«, räsonierte er in dem gleichen, wenig überzeugenden Tone weiter, mit den Händen im nassen Gras umhertastend, und hatte wirklich seine Not, nicht minder geplagt von der Nässe, der Dunkelheit und der Furcht, von einer Schlange gebissen zu werden, als von dem mürrischen Schweigen Staschinskijs. »Kann mich entsinnen, kam damals auch von Sutschan -wäre schon längst Zeit gewesen zu lagern, war dunkel wie in einem Loch, aber wir...«
,Wozu erzählt er das bloß?' dachte Warja.,Sutschan... zogen irgendwohin... dunkel wie in einem Loch... wen interessiert denn das jetzt? Ist ja alles, alles schon zu Ende und wird auch nichts mehr sein.'
Sie hatte Hunger, und dieser Hunger verstärkte auch ein anderes Empfinden stummer und drückender Leere, die sie jetzt mit nichts auszufüllen vermochte. Fast wäre sie in Tränen ausgebrochen.
Nachdem sie jedoch gegessen und sich gewärmt hatten, wurden die drei auf einmal besserer Stimmung, und die dunkelblaue, fremde und kalte Welt, die sie umgab, erschien ihnen anheimelnd und vertraut.
»Ach du Mäntelchen, mein Mäntelchen«, sagte Chartschenko mit satter Stimme, während er seinen Mantel auseinanderrollte. »Brennst nicht im Feuer, ersäufst nicht im Wasser. Jetzt fehlt nur noch ein Frauenzimmer!...« Er zwinkerte mit den Augen und lachte auf, als wollte er sagen: ,Das ist natürlich ganz unmöglich, aber ihr müsst zugeben, dass das ganz angenehm wäre.' - »Möchtest du jetzt mit einer Frau schlafen, ah, Genosse Doktor?« fragte er Staschinskij und schnitt eine Grimasse.
»Schlafen möchte ich schon«, antwortete Staschinskij ganz ernst, die eigentliche Frage überhörend.
,Warum bin ich nur böse auf ihn?' dachte Warja, die fühlte, wie vom lustig flackernden Feuer, vom verzehrten Brei und durch die vertraulichen Reden Chartschenkos die ihr eigene Weichheit und Güte sich wieder einstellten. ,Ist doch in Wirklichkeit nichts vorgefallen, weshalb nur bin ich so verstimmt? Und der Junge sitzt und bläst Trübsal, weil ich so närrisch bin... aber ich brauche ja nur zu ihm zu gehen und alles würde wieder gut sein.'
Und ganz plötzlich überkam sie der Wunsch, das Kränkende, Böse von sich zu werfen und nicht mehr leiden zu müssen inmitten der anderen, denen so wohl und sorglos zumute war. Auch ihr könnte ja so wohl und sorglos zumute sein! So beschloss sie, auf der Stelle sich alle Gedanken aus dem Kopf zu schlagen und zu Metschik zu gehen. Und es lag für sie nichts Erniedrigendes mehr darin und nichts Schlechtes.
,Ich brauchte nichts, gar nichts', dachte sie in unvermittelter Heiterkeit. ,Wenn er mich nur haben will und lieb hat, wenn er nur bei mir wäre... ja, ich würde alles hingeben, wenn er nur immer neben mir reiten wollte, mit mir reden, mit mir schlafen möchte, so schön und jung wie er ist...'
Metschik und Tschish hatten sich abseits ein eigenes Feuer angefacht. Sie waren zu faul gewesen, sich Essen zu kochen, brieten über dem Feuer Speck, und da sie diesem mehr zusprachen als dem Brot, saßen sie, nachdem sie alles verzehrt hatten, beide mit knurrendem Magen da.
Metschik war immer noch benommen von Frolows Tod und dem Verschwinden Pikas. Den ganzen Tag schien er wie von dichtem Nebel umgeben, gewoben aus fremden und strengen Gedanken über Einsamkeit und Tod; Gedanken, die ihn von den anderen Menschen um ihn herum unterschieden. Gegen Abend fielen diese Nebelschleier, aber er mochte niemanden sehen und fürchtete sich vor allen.
Nur mit Mühe entdeckte Warja ihr Feuer. Die ganze Schlucht lebte in solchen Feuern und rauchigen Liedern.
»Hierher habt ihr euch verkrochen«, sagte sie, klopfenden Herzens aus den Büschen tretend, »guten Abend...«
Metschik zuckte auf und wandte sich, Warja mit fremdem, erschrockenem Blick streifend, zum Feuer.
»Aha!« ließ sich Tschish erfreut vernehmen. »Nur Sie haben uns noch gefehlt. Setzen Sie sich, setzen Sie sich, meine Beste...«
Er breitete geschäftig seinen Mantel aus und wies ihr einen Platz an seiner Seite. Aber sie setzte sich nicht zu ihm. Seine schlüpfrige Art, eine Eigenschaft, die sie sofort an ihm bemerkt hatte, obgleich sie ihr völlig unbekannt war, berührte sie jetzt besonders unangenehm.
»Wollte sehen, wie's dir geht, sonst vergisst du uns noch ganz«, begann sie mit singender, erregter Stimme, zu Metschik gewandt, ohne zu verhehlen, dass sie ausschließlich zu ihm gekommen war. »Auch Chartsdienko fragt schon, wie es mit deiner Gesundheit steht und weshalb du nichts von dir hören lässt, von mir will ich schon gar nicht erst reden...«
Metschik zuckte schweigend die Achseln.
»Glänzend geht's uns natürlich, was gibt's da überhaupt zu fragen!« rief Tschish, mit Vergnügen alles auf sich beziehend. »Aber setzen Sie sich doch zu mir, warum genieren Sie sich?«
»Ich gehe ja gleich«, sagte sie, »ich bin nur so auf einen Sprung vorbeigekommen...«; sie ärgerte sich plötzlich, Metschiks wegen gekommen zu sein, und dass dieser nur mit den Achseln zuckte. Sie fügte hinzu: »Habt wohl nichts gegessen? - Der Topf ist ja rein...«
»Was ist da schon viel zu essen? Würde man uns wenigstens gute Lebensmittel geben, aber so verteilen sie hier weiß der Teufel was!... « Tschish verzog angewidert das Gesicht. »Aber setzen Sie sich doch zu mir!« wiederholte er nochmals mit frecher Zudringlichkeit, packte sie bei der Hand und zog sie zu sich heran. »Setzen Sie sich doch!...«
Sie ließ sich neben ihm auf dem Mantel nieder.
»Erinnern Sie sich an unsere Verabredung?« Tschish zwinkerte ihr vertraulich zu.
»Was für eine Verabredung?« fragte sie erschreckt, sich dunkel auf etwas besinnend. ,Ach, wäre ich doch nur nicht hergekommen', dachte sie; etwas Großes, Beunruhigendes riss plötzlich in ihrer Brust.
»Wieso, was für eine? Einen Augenblick mal...« Tschish neigte sich schnell zu Metschik herüber. »Man soll zwar in Gesellschaft nicht flüstern«, sagte er, ihn um die Schultern fassend, zu Warja gewandt, »aber...«
»Was habt ihr da für Geheimnisse?...« sagte sie mit gekünsteltem Lächeln, hastig mit den Lidern klappernd, und begann mit ungelenken, zittrigen Fingern ihr Haar zu ordnen.
»Was zum Teufel sitzt du da wie ein Ölgötze?« zischte Tschish Metschik ins Ohr. »Ist schon alles verabredet. So ein Mädel -würde beide 'ranlassen und du...«
Metschik prallte zurück, warf einen raschen Blick zu Warja hinüber und errötete tief. ,Da hast du's. Siehst du nun, was entstanden ist?' schien vorwurfsvoll ihr schwimmender Blick zu sagen.
»Nein, nein, ich werde gehen... nein, nein«, murmelte sie, sobald sich Tschish wieder zu ihr gewandt hatte, als schlüge er ihr jetzt schon etwas Schändliches und Erniedrigendes vor. »Nein, nein, ich gehe...« Sie sprang auf und verschwand, den Kopf tief geneigt, mit kurzen, eiligen Schritten im Dunkeln.
»Wieder hast du die Sache verpatzt, du Schlafmütze!...« fauchte Tschish verächtlich und böse. Plötzlich schnellte er, von elementarer Kraft gepackt, in die Höhe und stürmte ihr, wie von -innen vorwärtsgetrieben, in großen Sätzen nach. Einige Meter weiter holte er sie ein, und sie fest mit einem Arm umklammernd und den anderen an ihre Brust gedrückt, zog er sie ins Gebüsch:
»Komm schon, komm schon, Schatz, komm...«
»Geh... lass mich... lass mich... ich werde schreien!...« wehrte sie ab, während sie schwächer wurde; aber dem Weinen nahe, fühlte sie, dass sie keine Kraft mehr habe, um um Hilfe zu rufen, und auch, dass es ohnedies sinnlos gewesen wäre: für wen denn bloß?
»Aber Schatz, nicht doch, nicht doch«, drang Tschish auf sie ein, presste ihr die Hand auf den Mund und entflammte sich immer mehr an seinen eigenen Zärtlichkeiten.
,Und in der Tat, wozu auch? Kein Hahn kräht danach', dachte sie müde. ,Aber das ist doch Tschish... ja, das ist doch Tschish... woher kommt er... warum er?... ach, ist's nicht einerlei?' Und es wurde ihr in der Tat alles gleichgültig.

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