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Willi Bredel - Rosenhofstraße (1931)
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Kapitel VIII.

Diese Tage der Hochschwangerschaft waren für Else eine Qual. Sie musste immer im Hause hocken, denn in ihrem Zustand mochte sie nur in der Dunkelheit auf die Straße gehen. Die ganze Last der Schwangerschaft hatte sie in der letzten Zeit fast zur Verzweiflung gebracht. Sie mochte nicht mehr lesen und sie konnte nicht mehr arbeiten. Die Füße waren ihr derart geschwollen, dass sie nur noch in den alten, ausgetretenen Hausschuhen laufen konnte. Sie war zänkisch und rechthaberisch, der geringste Anlass brachte sie in Erregung. Über die kleinste Unachtsamkeit ärgerte sie sich. Eine steigende Angst vor der Entbindung ließ sie innerlich nicht zur Ruhe kommen. Zwar hatten Bekannte und Verwandte immer wieder versichert, dass die Entbindungsanstalt in der Finkenau die vorbildlichste Anstalt ganz Deutschlands sei und dass dort nur ausgesuchtes, fachtüchtiges Ärzte und Helferinnenmaterial, mit fortschrittlicher Gesinnung, arbeite. Aber die innere Unruhe, die heimliche wuchernde Angst in sich wurde Else dadurch nicht los.
Wenn sie so am Tage stundenlang am Fenster saß, in die gegenüberliegenden Fenster oder zu den schwarzgeteerten Dächern hinaufsah, verschwand auch manchmal die Angst und sie horchte still in sich hinein und berauschte sich an dem Gefühl der neuen Menschwerdung.
Wohl hundertmal fragte sie sich: Was wird es sein? — Allen, die sie fragten, was sie sich wünsche, antwortete sie: Ein Mädel soll es werden! Aber sie sagte das nur so für alle Fälle und versuchte es sich sogar selbst einzureden, um kein Enttäuschungsgefühl in sich hochkommen zu lassen. Aber in Wahrheit wünschte sie sich inbrünstig einen Jungen, einen frechen, wilden, starken Jungen. Stundenlang konnte sie von den kleinen Patschhänden und den winzigen Füßchen träumen, und von den blanken, braunen Augen — Fritz' Augen —, die er haben müsste.
Eines Abends war bei Langfelds Zellensitzung. Als Fritz kam, aß er schnell, wusch sich und lief ins Parteibüro. Er war dringend bestellt worden. Er hatte keine Ahnung, was er dort sollte. Der Else war es nicht recht, dass sie nun die Genossen empfangen musste, aber Fritz hatte sie ausgelacht und sie eine unheilbare Spießerin genannt. „Als wenn die Genossen nicht längst wüssten, was los ist!' neckte er sie noch, als er ging. —
Der alte Langfeld kam. Er brummte vor sich hin, als er von der Sitzung hörte und verkroch sich ins Nebenzimmer. —
Pohl und Heuberger waren die ersten. Sie waren in ein Gespräch über den Dietz vertieft und kümmerten sich nicht weiter um Else. Der war es nur recht. —
„Na, der stutzte nicht schlecht, als ich ihn fragte!" lachte der Junge. „Warum willst Du es wissen, fragte er dann."
„Da kann doch immer mal was passieren!" wich ich aus, und dann kann es doch nicht schaden, wenn man weiß, wo Du eigentlich beschäftigt bist! ,Ach Unsinn', wehrte er ab. Aber ich ließ natürlich nicht locker. Schließlich sagte er mir's!"
„Na, und?" fragte der Schauermann.
„Wetzlar und Söhne heißt die Firma, Vorsetzen 34!"
„Glänzend! — Das hast Du gut gemacht, Walter!"
„Aber was willst Du nun unternehmen?" fragte etwas ängstlich Heuberger.
„Das überlass' nur mir! Du hast nichts damit zu tun!'*
Dann kam die Genossin Schenk und hinterher Römpter. Die Genossin setzte sich gleich zu Else in die Küche. Beide hatten sich ungeheuer viel zu erzählen.
Nach und nach kamen die anderen Genossen. Der Buchbinder, das Arbeiterratsmitglied aus der „Nazibude", Lorenzen, ein stiller, aber unermüdlicher Kleinarbeiter und Georg, der Jungkommunist aus der Zellengruppenleitung der Jugend. Sogar die Genossin Paulsen, die sich seit Jahr und Tag nicht mehr hatte sehen lassen, war gekommen.
Das kleine Zimmer war gedrängt voll. Die Zelle war gewachsen. Walter Heuberger und noch ein Arbeiter aus der Terrrase bei Römpter waren nach der Wahl der Partei beigetreten.
Es wurde diskutiert. Zwischenfälle während der Wahl wurden erzählt. Kombinationen über die wahrscheinliche Politik der kommenden Wochen aufgestellt. Jeder hatte Neuigkeiten, und die Meinungen über die Regierungsumgestaltung waren geteilt.
Der einzige, der an dieser politischen Unterhaltung uninteressiert schien, war der Schauermann. Er saß auf dem alten Sofa und starrte während des allgemeinen Gespräches vor sich hin, als wäre er allein im Zimmer.
Dann kam lärmend Fritz. Lachend stieß er die Tür auf und trug ein großes Paket herein. „Eine Riesenüberraschung!" Augenblicklich schwieg alles und sah auf Fritz.
„Oh, erst mal verschnaufen!" Damit setzte er sich und stellte das Paket vor sich hin.
Die Genossin Schenk war aber nicht einverstanden. „Also, nun red' schon!" „Sachte! Sachte!"
Die Genossen lachten. Auch Else, die neugierig im Türrahmen stand, musste lächeln.
„Also die Parteileitung hat der Straßenzelle Qu eine öffentliche Anerkennung für vorbildlich geleistete Parteiarbeit ausgesprochen!" „Ooooh!" ging es durch das Zimmer.
„Das wird sogar morgen in der Zeitung veröffentlicht werden!" Die Genossin Schenk strahlte übers ganze Gesicht.
„Zum weiteren Ansporn und als Zeichen der Anerkennung hat die Parteileitung unserer Zelle eine Anzahl Bücher für eine Zellenbibliothek gestiftet!"
„Mensch, das ist famos!" rief einer laut.
Kernatzki, der Buchbinder, stieß den Schauermann an: „Mal ein guter Einfall der BL.!"
Der Schauermann nickte.
„Und dabei haben wir selbst noch nie an eine Zellenbibliothek gedacht!" bekannte Fritz. „Ich war direkt verdattert!"
„Das macht unser Wahlerfolg!" meinte stolz der junge Heuberger.
„Also pack' endlich aus und zeige!" drängten einige.
Fritz packte ein Buch nach dem anderen aus dem Karton. Es war eine stattliche Anzahl. Sechs „Elementarbücher des Kommunismus". Friedrich Engels „Grundsätze des Kommunismus", Lenin „Staat und Revolution". Zwei Bände über „Historischen Materialismus" und anderes. Außerdem ein Buch von Lenz „Die zweite Internationale und ihr Erbe", „Des Kaisers Kulis" und „Anna", Roman einer Arbeiterin.
Die Genossen, ließen die Bücher einzeln von Hand zu Hand wandern.
„Auf diesen Grundstock aber wird eine Bibliothek aufgebaut, — so!" rief Fritz.
„Und heute noch wählen wir einen Bibliothekar!"
„Das kann doch der Literaturobmann mit erledigen!" meinte die Genossin Schenk.
„Nein, Genossen, ich bin in diesem Falle für Ressorttrennung. Wir werden uns am Schluss der Sitzung schon darüber einig werden."
Fritz gab dann einen Bericht über die Einnahmen und Ausgaben der Zellenkasse und referierte kurz über die Erfahrungen, die Erfolge und Mängel der Arbeit bei den zurückliegenden Wahlen, sowie über die kommenden Aufgaben.
Die Genossen hörten ihm aufmerksam zu.
Am Schluss seiner Ausführungen wies die Genossin Schenk darauf hin, dass die Parteileitung zu wenig die Arbeit der einzelnen Zellen kontrolliert und unterstützt habe. Jede Zelle war zu sehr auf sich selbst angewiesen. Nur so sei das jämmerliche Versagen einer ganzen Anzahl Zellen zu erklären!
Fritz antwortete darauf, dass sie sachlich recht habe. „Aber", sagte er, „was soll geschehen, wenn einmal die Partei verboten ist? Was nützte uns die Reorganisation des Zellensystems, wenn nicht die einzelnen Zellen selbständig zu arbeiten verstehen?"
„Na, aber es gibt schon genug, die, wenn sie auf sich selbst angewiesen sind, hilflos sind!" warf der Buchbinder ein.
„Gewiss, aber die können doch kein Vorbild sein. Jede Zelle soll in der Lage sein, absolut selbständig zu arbeiten, und zwar richtig zu arbeiten. Und je weniger sie Anleitungen und Hilfe von Partei- oder Stadtteilleitungen braucht, um so besser ist sie!"
Der Schauermann kritisierte dann, dass der Mieterstreik, der doch im gewissen Sinne sogar die Grundlage des Wahlerfolges war, nicht genügend im Wahlkampf ausgenutzt wurde. Fritz stimmte dem vorbehaltlos zu „Der Mieterstreik in der Rosenhofstraße, der unter unserer Führung stand und durch den ein Anschlag der Hausbesitzer abgeschlagen wurde, hätte vielmehr im Vordergrund unserer Propaganda stehen müssen! Karl hat durchaus recht!" bekräftigte er die Kritik des Schauermanns.
„Wir haben aber auch, denke ich, manches Positive geleistet!** meinte leise und etwas gekränkt die Genossin Schenk.
„Nun, wir wollen uns nicht gegenseitig die Backen streicheln. Uns müssen vornehmlich die Fehler, die uns trotz aller Erfolge immer noch unterlaufen, interessieren!"
Der Buchbinder, der dies sagte, warf verstohlen einen Blick auf die Zappelige, als erwarte er von dort eine polternde Antwort.
Dann wurde beschlossen, auch nach der Wahl erst einmal die Häuserblockzeitung weiterhin vierzehntägig erscheinen zu lassen und in der nächsten Woche eine öffentliche Einwohnerversammlung einzuberufen, sowie einen proletarischen Geselligkeitsabend vorzubereiten. Die Genossin Schenk schlug noch vor, auch einmal eine Frauenversammlung zu organisieren.
Anschließend berichtete sie, dass einige Zellenmitglieder in der vorigen Woche den Genossen Olfers im Krankenhaus besucht hatten. Olfers sei auf dem Wege der Besserung, aber doch noch für Wochen ans Bett gefesselt. Er habe sich nach der Arbeit der Zelle erkundigt und alle Genossen grüßen lassen.
„Wir müssten an einem Sonntag einmal gemeinsam hinziehen!" schlug Kernatzki vor.
„Dreimal musste ich ihm erzählen, wie wir den Mieterstreik gewannen, dass die Hausbesitzer klein beigaben und froh waren, überhaupt Miete zu bekommen!" lachte die Zappelige.
„Und seine Frau?" fragte einer.
„Die Rote Hilfe unterstützt sie, und... " Die Genossin Schenk sah zur Küche... „Else besucht sie öfter."
Dann gab Fritz bekannt, dass am kommenden Donnerstag die Nazis im Kolosseum in der Wiesenstraße eine große öffentliche Kundgebung mit einem auswärtigen Redner angekündigt hätten. „Großmäulig haben sie alle Parteien aufgefordert, einen Redner zu stellen. Freie Aussprache wird zugesichert."
„Was die Hunde freie Aussprache nennen!" fuhr die Genossin Schenk dazwischen.
„Die Stadtteilleitung beauftragt nun die Zelle, zehn bis zwanzig Genossen zur Unterstützung und zum eventuellen Schutz des Diskussionsredner der Partei in die Versammlung zu schicken."
Der Schauermann erhielt von der Zelle den Auftrag, die betreffenden Genossen zu bestimmen.
Der Buchbinder wurde zum Bibliothekar der Zelle gewählt. Es
wurde ausdrücklich beschlossen, die Bibliothek auszubauen und auch an Nichtmitglieder, an Sympathisierende Bücher auszuleihen.____—
Am Schluss der Sitzung, als sich die Genossen verabschiedeten, flüsterte der Schauermann Fritz zu:
„Ich habe Neuigkeiten von diesem Dietz!"
„Was für'n Dietz?" fragte Fritz, der nur halb hingehört hatte, leichthin.
„Heubergers Freund und Liebhaber der Merker!"
„Was ist denn mit dem?"
„Nichts!" antwortete brüsk Pohl, drehte sich um und ging.
Nachdem alle gegangen waren, dachte Fritz wieder an Pohl, Er konnte sich nicht erklären, wodurch er ihn verstimmt hatte.

Bei der Brothändlerin Kuhlmann war es seit einiger Zeit merkwürdig ruhig. Die Frauen klatschten nicht wie sonst, sondern verlangten ihre Ware, zahlten, sagten auf einige Verlegenheitsfragen Ja oder Nein und gingen wieder.
Die Brothändlerin war ganz unglücklich. Sie konnte sich das Verhalten ihrer Kunden nicht erklären. Sie konnte aber doch auch nicht fragen: Sagen Sie mal, Frau Soundso, warum drücken Sie sich jetzt immer so schweigsam aus dem Laden? — Oder: — Warum erzählen Sie mir nichts mehr von Frau M. und Frl. H.? Haben Sie denn nicht gesehen, dass Frl. G. mit einem Mann im Eingang. . . Nein, das ging nicht.
Als ihr Mann von einem Kohlentransport zurückkam, war ihr, als ginge ihr plötzlich ein Licht auf. Er musste der Anlass sein. Sein uninteressiertes, unfreundliches Benehmen zu den Kunden und seine gottlose Gesinnung waren Schuld. Selbstverständlich!— Vielleicht hatte er aus Schabernack sogar Kommunisten gewählt und die Frauen hatten davon Wind bekommen. Kein Zweifel, er entfremdete die Kundschaft, er beleidigte die Frauen, er ruinierte so das Geschäft.
„Leugne nicht!" schrie sie ihn an, als er, nachdem er die Kohlenkarre angekettet hatte, müde in den Laden trat.
„Leugne nicht, Du bist schuld!"
Kuhlmann sah sie, wie bedauernd, schweigend an und wollte in die Wohnräume gehen.
Sie aber stellte sich mit einem Satz entschlossen davor.
„Du hast Kommunisten gewählt!" schrie sie ihn an. „Drück' Dich nicht, antworte!"
Kuhlmann stutzte. Ob sie krank ist? dachte er. Schweigend ging er an ihr vorbei.
„Du Schuft!" stieß sie weinerlich hervor. „Du ruinierst das ganze Geschäft!"
Kuhlmann bebte jetzt innerlich vor Wut. Seine Schläfen röteten sich und dicke Adern traten hervor.
„Ich werde einen Arzt holen!" knirschte er.
Die Brothändlerin stöhnte verzweifelt.
Die kleine fette Frau Fritt kam.
„Guten Morgen, Frau Fritt!" begrüßte die Brothändlerin sie mit süßlicher Stimme.
'n Morgen!" brummelte die andere zurück.
Die Brothändlerin seufzte leise.
„Ein Angeschobenes und vier Rundstücke!“
„Gern, Frau Fritt!" dienerte die Kuhlmann und holte das Gewünschte.
„Sonst noch etwas, Frau Fritt?"
„Danke!" kam die kurze Antwort und die Fritt vermied es, die Brothändlerin dabei anzusehen. Sie zahlte und ging.
Die Brothändlerin sah ihr eine Weile stumm nach. Das war für sie wieder ein Beweis dafür, dass etwas nicht in Ordnung war.----------
Die Gemüsehändlerin trat ein.
„Guten Morgen, Frau Kafka!" Die Brothändlerin brachte es nur ganz matt und kränklich heraus.
„Guten Morgen, Frau Kunlmann! — Ein Schwarzbrot und für eine Mark Kuchen. Zehnpfennigstücke!"
„Gerne!"
„Was sagen Sie zu dem gewaltigen Wahlsieg?"
„Schrecklich!" stöhnte die Brothändlerin.
„Wa-as?" staunte die Kafka.
„Ist das nicht eine Schweinerei, hier in der Straße?"
„Da haben Sie allerdings recht!" erwiderte die Gemüsehändlerin.
„In unserer Straße hat der kommunistische Terror noch einmal triumphiert. Mein Arthur sagt... !"
„Mein Mann", flüsterte erregt die Kuhlmann. „Ich glaube, mein Mann hat sie auch gewählt!"
„Wen?"
„Die Kommunisten!"
„Aber das ist doch unmöglich! — Wie kommen Sie darauf? Hat er es ihnen erzählt?"
„Erzählt? Hah, der wird sich hüten. Aber die Kundschaft ist in den letzten Tagen so merkwürdig zurückhaltend!"
„Aber das ist doch kein Grund, anzunehmen, dass... !"
„Wir haben uns auch vor der Wahl gezankt!" fiel ihr die Brothändlerin ins Wort. „Er wollte Hitler nicht wählen!"
„Was Sie nicht sagen?! Er wollte Kommunisten wählen?"
„Nein, Wirtschaftspartei! Die haben wir bisher immer gewählt!"
„Na, und?" Die Gemüsehändlerin wurde noch nicht recht schlau.
„Aus Schabernack, Frau Kafka, aus purem Schabernack, denke ich, hat er Kommunisten gewählt. Die Männer sind ja unberechenbar!" Die Kuhlmann stöhnte wieder leise.
„Wer wird denn schon aus Schabernack Selbstmord begehen?!"
Wortlos ging Kuhlmann später wieder durch den Laden. Er hatte noch drei Fuhren vor sich und bis Mittag reichlich zu tun. Seine Frau folgte ihm mit durchbohrenden Blicken, schwieg aber. Er tat, als bemerke er sie gar nicht. —
„Na, was sagen Sie denn dazu?" Die jugendlich aussehende Frau Schleemann lachte über das ganze Gesicht, als sie die Brothändlerin mit der versauerten Miene hinterm Ladentisch stehen sah.
Die weiß es auch schon, dachte die Kuhlmann und sagte laut: „Was soll man dazu sagen?"
„Ja, diese Kommunisten!"
Also tatsächlich, Kommunisten, dachte die Brothändlerin.
„Was die alles beim Schopf packen und aufs Tapet bringen!"
„Wieso aufs Tapet bringen?" fragte die Kuhlmann. „Sie haben es doch gelesen, nicht wahr?" „Nichts habe ich gelesen, Frau Schleemann!"
„Ach! — In der Häuserblockzeitung, die die Kommunisten herausgeben, ist Ihr Geschäft erwähnt!"
„Mein Geschäft?"
„Ja! — Hier ist eine!" lächelte die Kundin und wies mit dem Finger auf die Überschrift: „Eine üble Klatschzentrale." Hastig las die Brothändlerin. „Eine Frau ins Zuchthaus gekommen ... Gerüchte... " Der Brothändlerin flimmerte die hektografierte Schrift vor den Augen. Erst wurde sie feuerrot im Gesicht, jetzt war sie kalkweiß und ihre Kiefer zitterten. Vor Aufregung konnte sie kaum ein Wort herausbringen. Dann nahm sie sich zusammen. Sie musste doch endlich erfahren, was ihre Existenz bedrohte. Darum fing sie noch einmal von vorne an zu lesen.
„Eine üble Klatschzentrale. — Es gibt Arbeiterfrauen, die auf den Straßen und in den Läden die widerwärtigsten Klatschereien betreiben. Jedes Stäubchen Dreck wird hervorgesucht und zu einem übel riechenden Dreckhaufen aufgebauscht. Bettgeschichten, wilde Gerüchte, leichtfertige Behauptungen wandern von Mund zu Mund und haben schon mehr als einmal Unheil angerichtet. Die Brothandlung Kuhlmann in der Rosenhofstraße ist so eine Klatschzentrale. Durch unverantwortliche Redereien schwatzsüchtiger Weiber ist erst vor einiger Zeit eine bisher unbescholtene Frau ins Zuchthaus gekommen. Sie soll eine Abtreibung vorgenommen haben. Weitet Werden dort allerlei arbeiterfeindliche Lügen in die Welt gesetzt und revolutionäre Arbeiterkunden hinausgegrault."
Die Kuhlmann hörte mit dem Lesen einen Augenblick auf. Wie erstarrt sah sie auf das Stückchen Papier.
„Wir halten ein solches Verhalten von einem Geschäftsmann in einer Arbeiterstraße für einen Skandal und für unverständlich, namentlich, wenn man weiß, dass er, wie der Brothändler Kuhlmann, schwer arbeiten muss. Ein solch' kleiner Geschäftsmann, der in aller Frühe der Bourgeoisiekundschaft die Rundstücke ins Haus tragen und tagsüber schwere Steinkohlenlasten schleppen muss, gehört ebenfalls zum großen Heer der Arbeiter und sollte sich nicht von arbeiterfeindlichen Kreisen missbrauchen lassen. Die Frauen aber, die den unverantwortlichen Klatsch in die Welt setzten, sind größtenteils Arbeiterfrauen. Sie haben mehr oder weniger alle den Schandparagraphen 218 am eigenen Leibe spüren müssen. Um so unverständlicher und schamloser ist es, wenn diese Arbeiterfrauen durch unüberlegte Schludereien der Klassenjustiz Helfersdienste leisten. Eine aufgeklärte, anständige und Klassenbewusste Arbeiterin gibt sich zu dergleichen niemals her!" —
Frau Kuhlmann hatte zu Ende gelesen und stand wie betäubt hinterm Ladentisch.
„Das also war es!" hauchte sie.
„Das ist für Kommunisten noch sehr wohlwollend geschrieben. Eine Art Warnung!" meinte die Schleemann,
„Wohlwollend?" wiederholte wie geistesabwesend die Brothändlerin.
„Sie müssen sich das nicht so zu Herzen nehmen!"
„Das sagen Sie so!"----------
Um die Mittagsstunde kam Kuhlmann zurück. Er war schweißig und dreckig von Arbeit und Kohlenstaub.
„Da, lies!" Damit reichte seine Frau ihm die kleine, quartgroße, hektografierte Zeitung hin.
Kuhlmann las. Er las die ersten Sätze noch einmal und machte Stielaugen. Dann verschlang er das Ganze. Und als er fertig war, fing er noch mal von vorn an.
Schließlich gab er ihr das Blatt zurück. „Hm!" machte er und ging durch den Laden in die Küche.
Sie schwieg und seufzte.
Als er sich, halbnackt, unterm Wasserhahn wusch, hätte er losprusten mögen vor Vergnügen. Was hatten die Kommunisten noch von ihm geschrieben? „Der Brothändler Kuhlmann muss schwer arbeiten, muss Rundstücke... muss Steinkohlen schleppen . ... "
Kuhlmann ließ sich das Wasser über den Kopf laufen.
Die Kommunisten fingen an, ihn zu interessieren.
Die Saaltüren des Collosseums in der Wiesenstraße waren lange vor Beginn der nationalsozialistischen Kundgebung von Menschen belagert. Kleine Angestellte, Geschäftsleute und Beamte, einige Gymnasiasten mit ihren ebenfalls noch schulpflichtigen Liebchen und etliche Arbeiter standen dichtgedrängt vor dem dunklen Bau. Man unterhielt sich leise. In der einen Ecke kicherten und lachten die Gymnasiasten albern mit ihren Mädeln. —
Als Pohl, Fritz, Heuberger und noch einige Genossen die Wiesenstraße hinunter gingen, sahen sie in einer kleinen Nebenstraße einen leeren Polizeiflitzer stehen. Von der Polizei selbst war nichts zu sehen.
„Wo dat Ding steit, sünd de Insassen ok nich wiet!" meinte der Schauermann.
„Am besten ist wohl, wir verteilen uns jetzt?" schlug Fritz vor.
„Gut!" stimmte Pohl bei „Einzeln gehen wir hinein und drinnen setzen wir uns unauffällig wieder zusammen. Nicht Stuhl an Stuhl, aber so, dass wir Fühlung mit einander behalten!" —
Kurz vor der Saalöffnung kamen zwei Gruppen SA.-Mannschaften anmarschiert. Auf ein militärisches Kommando hielten sie und gingen im Gänsemarsch durch eine Nebentür ins Innere des Etablissements.
„Der Saalschutz!" flüsterten einige.
Bald darauf wurde der Vorraum erleuchtet und die großen Flügeltüren geöffnet.
Die Menschen strömten hinein. Pohl sah, dass die meisten schon Eintrittskarten hatten. Er ging an eine der Kassen und zahlte. „Der ,Völkische Beobachter'. Das Zentrum im Schlepptau der Marxisten!" schrie einer,
„Für den Kampffonds der SA!" rief ein anderer mit einer Hakenkreuzarmbinde und klimperte mit den Geldstücken in der Blechkassette.
„De Dübel sall rinschieten!" brummte der Schauermann, als er an ihm vorbei in den Saal ging. —-------
,Das freie Deutschland der nationalen Kraft und Stärke erkämpft der Nationalsozialismus' — stand mit riesigen Lettern über dem Rednerpodium. Ein gutes Dutzend Hakenkreuzfahnen hingen von der Galerie. —
Eine wachsende Unruhe ging durch die Massen im Saal. Einige standen auf, reckten die Hälse und sahen nach dem Eingang. Immer mehr Leute erhoben sich. Rufe wurden laut. Endlich löste sich in einem vielfachen „Aaaaa—ah!" die Unruhe auf. Es wurde geklatscht. In militärischem Gleichschritt marschierten in zwei Gliedern die SA.-Mannschaften in den Saal. Ausgesuchte Kerle, junge, glattrasierte, blasierte Gesichter, teilweise mit Schmissen und dem unverkennbaren Stempel brutaler Rauflust im Gesicht. Sie nahmen mit der Front zur Versammlung vor der Bühne Aufstellung. Am Eingang stand ebenfalls eine Abteilung Spalier.
„Wir sind gut geschützt, was?" flüsterte Heuberger dem Schauermann zu, der vor ihm saß.
Der nickte leicht und sah sich nach allen Seiten um«
Durch zwei Personen von ihm getrennt saß in derselben Reihe Fritz, neben ihm Adolf, der Jungkommunist. Vor ihm saßen noch einige Genossen und eine Reihe hinter Heuberger erkannte er auch noch zwei. Dann entdeckte er auch den Seehundbärtigen, der erst später kam. Am Sammelpunkt war er nicht erschienen. Er saß ungefähr in der Mitte des Versammlungsraumes, zwischen zwei aufgedonnerten, fetten Frauen. Pohl musste darüber lachen, und als sich ihre Blicke trafen, kniff der alte Seebär fast unmerklich das eine Auge zu und grinste breit.-------
Am Vorstandstisch erhob sich nun jemand. Mit angestrengt lauter Stimme überschrie er sich im Offiziersjargon; „Ich eröffne die öffentliche Kundgebung der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei. Es spricht unser Parteigenosse Reichstagsabgeordneter Karl Kuhn. Vertreter aller Parteien sind eingeladen und erhalten von der Versammlungsleitung dreißig Minuten Redezeit garantiert. Wir verlangen jedoch, dass sich jeder Redner sachlich und zum Thema äußert. Das Thema heißt: ,Nationaler Wiederaufstieg Deutschlands oder Chaos?' — Herr Reichstagsabgeordneter Kuhn hat das Wort!"
Mit Händeklatschen und Heilrufen wurde ein junger, schlanker Mensch mit leicht rötlichem Haar begrüßt. Er trat ans Rednerpodium und strich sich mit der Hand über den Kopf. Mit leiser Stimme begann er dann seine Rede.
Pohl interessierte sich mehr für die Örtlichkeit als für den Landtagsabgeordneten. Achthundert bis tausend Menschen mochten im Saal sein. Nur ein Ein- und Ausgang war geöffnet. Etwa dreißig Nazis standen dort. Vor der Bühne standen gut ebenso viele. Pohl blickte suchend umher. Er und die Genossen saßen auf der linken Seite des Saales, ziemlich weit weg vom Eingang. Aber kaum zehn Schritte entfernt von ihm war seitlich eine kleine Tür. Wohin mochte die führen? War sie offen? War es gar nur die Toilette? — Als
plötzlich geklatscht wurde, horchte Pohl auf. „Die nationale Wiedergeburt, wie sie der Nationalsozialismus
erstrebt, bedingt eine seelische Läuterung unseres ganzen Volkes!" rief der Redner mit erhobener Stimme in den Saal. „Wir sind nationale Sozialisten und unser Ziel ist ein starkes, durch Blutsbande geeinigtes deutsches Volk. Wir sind Sozialisten, denn wir wollen die Klassengegensätze, die unser Volk trennen, beseitigen, und dem Arbeiter geben, was ihm zusteht. Wir sind Sozialisten, denn wir wollen die unheilvollen Auswüchse des Monopolkapitalismus ausmerzen und auch auf wirtschaftlichem Gebiet eine Renaissance auf sittlicher
Den Schauermann quälte die kleine Tür. Immer wieder blickte er dorthin. Schließlich fasste er einen Entschluss. Er stand auf und drängte sich, trotz der protestierenden Blicke der dadurch gestörten Versammlungsbesucher, durch die Reihe nach der Saalseite.
„Pass auf!" raunte er Fritz zu, als er sich an ihm vorbeiquetschte.
Schnurstracks ging er auf die Tür zu und fasste an. Sie war verschlossen. Er sah durch ein kleines, verdrecktes Fenster, das sich neben der Tür befand; konnte aber in der Dunkelheit nur erkennen, dass dort draußen ein Hof oder ein verwahrloster Garten sein musste. In dem Augenblick trat ein Nazi mit einer Armbinde an ihn heran.
„Was suchen Sie?"
„Die Herrentoilette!" antwortete seelenruhig Pohl.
„Die ist doch nicht hier!" erwiderte etwas ironisch der Nazi.
„Draußen im Vorraum!"
„Ach du lieber Gott!" stöhnte Pohl. „Da kann sich doch keiner hindurchschlängeln!-------Kann ich nicht hier mal raus?"
„Ist doch verschlossen!" brummte der Nazi.
Pohl packte den alten Türdrücker fest an und drückte gegen die Tür.
„Mensch, Sie drücken ja die Tür ein!" rief unterdrückt leise der Nazi. „Das geht nicht!"
Flüche murmelnd begab sich der Schauermann wieder an seinen Platz. —
Der Redner redete endlos und monoton. Hin und wieder schraubte er seine Stimme hinauf und versuchte so eine Steigerung herbeizuführen. Pohl langweilte sich schrecklich. Nur am Schlusse der Rede Horchte er noch einmal gespannt auf.
„Von bürgerlicher Seite wird uns immer wieder vorgeworfen", rief der Redner und schwenkte dabei seinen Arm in der Luft herum« „dass wir doch Sozialisten seien. Wir antworten diesen demagogischen Lügnern: Womit beweist ihr diese freche Behauptung? Der Nationalsozialismus hat nichts mit dem Sozialismus, wie wir ihn bisher kannten, gemein. Wir wollen niemanden berauben und denken zu realpolitisch, um Phantomen nachzujagen, oder an sozialistische Utopien zu glauben. Wir haben stets bekundet, dass wir das Eigentum respektieren und schützen werden. Feinde des neuen Deutschland werfen uns Sozialismus vor. Wir spüren doch alle den Bankrott des Sozialismus in Deutschland am eigenen Leibe und wir sehen, wohin die bolschewistische Abart dieses Treibens Russland hingebracht hat. Wir erklären kategorisch, dass wir mit dieser Art Sozialismus nichts gemein haben!"
Pohl starrte von seinem Platz wie entgeistert zu Fritz und dann wieder zu dem Redner. Es war tatsächlich noch derselbe, der am Anfang seiner Rede das Gegenteil von dem behauptet hatte. Dann wunderte sich Pohl, dass alles ruhig blieb, dass nicht ein schallendes Gelächter einsetzte.
Vollkommen verwirrt sah er wieder zu Fritz. Der lachte ihm voll ins Gesicht und nickte mit dem Kopf. Er dachte gewiss das Gleiche.-----------
Donnernde Heilrufe gingen dann durch den Saal. Der Redner trat vom Podium weg und setzte sich an den Vorstandstisch, wo ihm der Versammlungsleiter mit einer Verbeugung und einem Händedruck dankte.
„Wir machen jetzt eine Pause von zehn Minuten!" schnarrte der Versammlungsleiter. „Wir bitten eventuelle Diskussionsredner, sich in der Pause eintragen zu lassen. Spätere Wortmeldungen können nicht berücksichtigt werden!"-------
Fritz setzte sich neben den Schauermann.
„Das war gut, was? Was er am Anfang behauptet hat, wies er am Schluss entrüstet von sich!"
„Wenn etwas passiert!" antwortete flüsternd Pohl, „sofort die kleine Tür besetzen!"
„Meinst Du, dass sie es riskieren?"
„Sie fühlen sich mächtig stark, das sieht man!"
„Du! Dort sitzt Bassow, ein Funktionär aus der Korkfabrik in der Angerstraße. Ich werde hingehen und ihm mitteilen, wie wir im Notfalle zu handeln gedenken. Der wird nämlich sicher auch nicht allein hier sein!" Damit ging Fritz nach hinten.
Pohl flüsterte bald diesem, bald jenem Genossen von der kleinen Tür ins Ohr.
Zu nett von den Nazis, eine kleine Pause einzuschalten, dachte lächelnd der Schauermann.-----------
Unter lautloser Ruhe verkündete der Versammlungsleiter nach den abgelaufenen 10 Minuten: „Leider hat sich nur ein Parteivertreter zum Wort gemeldet. Wir bedauern dies, aber verstehen es, denn es lassen sich viel leichter in der Presse Lügen verbreiten, als in einer Versammlung Gegnern gegenüber zu treten. Der Herr, der sich gemeldet hat, ist der kommunistische Reichstagsabgeordnete August Helms. Bevor ich dem Herrn das Wort erteile, möchte ich auf folgendes hinweisen. Sollten von irgendeiner Seite Störungsversuche unternommen werden, wird die SA. rücksichtslos für Ruhe sorgen. Neugierige sind gewarnt!"
Einige Leute lachten.
„Und nun hat Herr Reichstagsabgeordneter Helms das Wort!"
Ein kleiner, untersetzter Mann sprang lächelnd auf die Bühne. Beifallklatschen der im Saale anwesenden Arbeiter begrüßte ihn. Die Nazis stutzten und reckten die Hälse.
„Verehrte Anwesende, mein Vorredner hat ihnen allerlei erzählt. Er hat von der Not des deutschen Volkes gesprochen, von den Sklavenverträgen, die uns die Entente diktierte und die die bürgerliche Demokratie gefressen hat. Er hat auch von den Zielen des Nationalsozialismus gesprochen, wenngleich ziemlich konfus. Aber eins hat er ihnen wohlweislich verschwiegen, nämlich, was sie, die Nationalsozialisten, bisher selber taten.
Wir sind ja beide gewissermaßen Parlamentskollegen!" Einige Arbeiter lachten hell heraus.
„Und er wird mir zugeben müssen, dass das, was ich Ihnen nun berichten werde, nichts Erdichtetes, sondern Tatsachen sind. Bevor ich also zu einer allgemeinen Charakterisierung der Nationalsozialistischen Arbeiterpartei komme, folgendes aus dem Reichstag, das Sie bestimmt interessieren wird!"
Absolute Ruhe herrschte in dem Riesensaal»Alle blickten erwartungsvoll auf den Redner. Sogar die SA.-Mannen hatten sich größten-! teils herumgedreht und sahen zu dem Kommunisten auf.
„Die kommunistische Fraktion hat im Reichstag einige Anträge eingebracht, die eine Hilfe für die Ärmsten der Armen und eine Besteuerung für die Reichsten der Reichen bezwecken sollten. Die wirtschaftliche Not des arbeitenden deutschen Volkes ist groß. Mehrere Millionen Arbeitslose, Lohnabbau, Verarmung des Mittelstandes, das sind die Zeichen unserer Zeit. Auf der anderen Seite, auf der Seite der herrschenden Klasse, zeigt sich aber gleichzeitig wahnsinnigste Akkumulation des Reichtums. Nach der letzten amtlichen Zählung gibt es in Deutschland außer den zirka vier Millionen unterstützungsbedürftigen erwerbslosen Männern und Frauen, 10,3 Millionen, die ein monatliches Einkommen unter 100 Mark, 7,4 Millionen, deren Einkommen unter 125 Mark und 4,1 Millionen, deren Einkommen unter 250 Mark betrug, also insgesamt 25,7 Millionen Menschen mit einem Verdienst unter dem amtlichen Lebensindex!"
Lautlos horchte die Versammlung dem Redner zu, der ruhig und klar die Zahlenbilder deutlich vor Augen führte.
„Auf der anderen Seite aber gibt es in diesem selben Deutschland 2335 Millionäre mit insgesamt 5000 Millionen Mark Vermögen und außerdem noch 4961 Millionäre, die ihr Geld in Aktiengesellschaften, GmbH.'s usw. stecken haben, also insgesamt 7296 Millionäre mit 28 Milliarden Vermögen, das ist ein Viertel des gesamten Volksvermögens Deutschlands, einschließlich der staatlichen und kommunalen. Wir Kommunisten besaßen nun die Unverfrorenheit, zu beantragen, durch besondere Steuern diese Millionenvermögen zur Sanierung des Etats und zur Entlastung der breiten werktätigen Massen Heranzuziehen!"
„Bravo!" riefen etliche aus der Versammlung.
„Darüber heult natürlich die gesamte kapitalistische Pressemeute und alle kapitalistischen Parteien liefen im Parlament dagegen Sturm. Unsere Anträge wurden restlos abgelehnt!"
„Pfui! Pfui!" schrie es erregt aus 'den Menschenreihen.
„Und, werte Anwesende, wie meinen Sie, haben sich die Nationalsozialisten verhalten?" fragte ironisch der Redner die Versammlung.
Keine Antwort wurde ihm entgegengerufen, aber eine gespannte Aufmerksamkeit lag über allen.
„Ich will es Ihnen sagen. Sie haben geschlossen dagegen gestimmt. Sie haben die Millionäre in Deutschland vor dieser Besteuerung gerettet!"
Tumultarisch wurde aus der Versammlung „Pfui!" — „Unerhört!"
und „Hört! Hört!" gerufen.
„Die Nationalsozialisten kämpfen angeblich gegen Korruption, Was aber ist ihr wahres Verhalten?"
„Korruption!" schrieen ihm die Arbeiter im Chorus zu.
„Ü belste und schamloseste Korruption!" bekräftigte der Redner,
„Aber ich will Ihnen weiter berichten... ."
Plötzlich ging jedes Licht aus und es war stockdunkel in der Riesenversammlung. Sofort setzte ein unbeschreiblicher Tumult ein« Ein Sprechchor brüllte: „SA. räumt den Saal!" Dazwischen Geschrei,
Rufen, Wimmern.
„Nach der Tür!" Der Schauermann bahnte sich mit Stößen und Schlägen den Weg. Stühle zerbrachen wie nichts. Die Menschen rasten und schrieen in der Dunkelheit wie toll.
Etwas Hartes flog dem Schauermann dicht vor die Füße. Er hob es auf; es war ein halber Stuhl. Mit einem Ruck riss er ein Stuhlbein ab. Angestrengt starrte er in die Finsternis. Dort wälzte sich eine Menschenmasse auf dem Boden. Pohl taxierte: das sind Nazis und der Genosse Abgeordnete. Er wühlte sich ran. Richtig! Dicht vor seinen Augen sah er die Hakenkreuze auf den Armbinden. Wie ein Berserker schlug Pohl mit seinem Stuhlbein um sich. Immer größer wurde der tobende Haufen. Ein langer Kerl tauchte plötzlich vor ihm auf. Pohl sprang instinktiv zur Seite. Der beabsichtigte Schlag war fehlgegangen. Er war mit solcher Wucht geführt worden, dass der Lange sich weit vornüber beugte. Der Schauermann schlug ihm mitten übers Kreuz und sah, wie die dunkle Menschenmasse plump zusammensackte. Undeutlich erkannte er jetzt, dass einige Menschen einen anderen aus dem Knäuel herausrissen. Pohl trat vorsichtig näher. Er stieß dabei auf den Seehundbärtigen.
„Hallo!" rief er nur, dann war er auch schon einige Schritte weiter, „Licht! Licht!" schrieen nun die Nazis vor der Bühne in den tobenden Versammlungssaal.
Pohl sprang mit einigen anderen auf die Rufer zu und säuberten die ganze Saalfront. Da blitzten, kurz krachend hintereinander Schüsse. Dann ertönten kurze, schrille Pfiffe.
„Los!" schrie Pohl und lief mit einigen Genossen nach der kleinen Seitentür. Sie stand offen. Fritz war es, der, als er den Schauermann sah, „Fertig!" rief und dann rannten sie durch das Gerümpel und über
weichen Erdboden in die Nacht.-----------
Kurz nach dem Ruf der Nazis nach Licht, wurde es auch tatsächlich wieder eingeschaltet. Eine ganze Anzahl Männer und Frauen hockten zusammengekauert, zitternd und wimmernd hinten im Saal«
An einigen Stellen sah es furchtbar aus. Alles war durcheinander
geworfen und einige Menschen lagen wie tot zwischen den zerbrochenen Stühlen. Andere standen abseits und wischten sich Blut aus dem
Gesicht oder hielten sich ihr Taschentuch auf die blutende Wunde.
Dann betrat Polizei den Saal. Die am Boden Liegenden wurden
sofort hinausgetragen und im Vorraum hingelegt. —
Am ärgsten war es den SA.-Leuten vor der Bühne ergangen. Sechs von ihnen lagen nebeneinander auf dem Boden vor dem Vortandstisch. Fast alle anderen sahen zerzaust und zerschlagen aus. Nur dem Führer der SA.-Abteilung sah man nichts von der Rauferei an. Er trat jetzt in militärischer Haltung an den Sipooffizier heran, grüßte und berichtete, dass die Kommunisten die Versammlungsbesucher überfallen hätten und nach dort hinaus geflohen seien. Der Offizier schickte sofort drei Mann seiner Bereitschaft den geflohenen
Kommunisten nach.
„Erst haben sie das Licht ausgeschaltet, dann... " rief einer
der Nazis eifrig und voreilig.
„Das stimmt nicht!" unterbrach ihn der Sipo-Offizier. „Der das Licht ausgeschaltet und die Sicherungen an sich genommen hat, ist bereits festgenommen und einer Ihrer Leute!" Er wandte sich bei den letzten Worten an den SA.-Führer,
Die Nazis schwiegen betreten.
Der Saal war geräumt. Im Vorraum arbeitete die Polizei. Einige Verhaftete wurden abgeführt. Die Verwundeten wurden notdürftig verbunden. Bald darauf kamen einige Krankenautos vorgefahren und die schwerer Verletzten wurden behutsam in das Innere der Wagen
geschoben. —
„Kameraden!" redete im Vorraum der Sturmführer der Nazis seine Leute an. „Für den heutigen ruchlosen Überfall werden wir uns Genugtuung verschaffen!"
„Rache!" brüllten die Nazis und hoben die Hand wie zum Schwur. Der Polizeioffizier trat in den Vorraum.
„Was soll das heißen?" krähte er mit ekelhaft heller Stimme. „Hier werden keine Reden mehr gehalten!"
Der Nazisturmführer trat militärisch stramm an den Offizier heran. Der beruhigte sich sofort und nun flüsterten die beiden miteinander. Dann nahmen beide wieder militärische Haltung ein und der Sturmführer trat zu seinen Leuten.
„Antreten!" kommandierte er. Die Nazis stellten sich im Glied auf. „Im Gleichschritt, marsch!"
Sie marschierten stumm aus dem Vorraum des Collosseums hinaus auf die Straße. Ihr schlecht durchdachter Plan war für sie recht kläglich und schimpflich verlaufen. Vor dem Gebäude und auf der Straße standen noch einige Menschen. Aber keiner rief ihnen „Heil!" zu oder bekundete Sympathien.
Bald darauf kehrten auch die drei Polizisten durch die kleine Seitenentür wieder zurück. Sie meldeten, dass sie nichts von fliehenden Kommunisten gesehen hätten.
An diesem Abend spürte Else Schmerzen. Es war erst wie ganz gewöhnliches Bauchweh. Aber der ziehende Schmerz kam in immer kürzer werdenden Zwischenräumen wieder. Else redete sich ein, das könne es noch nicht sein und versuchte zu schlafen. Doch es kam immer wieder, und schließlich trieb eine innere Unruhe sie hoch.
Wenn doch Fritz nur da wäre? Und der Alte war auch nicht im
Hause.-------Wieder kam dieser merkwürdig ziehende Schmerz. — —
-------Sie wusste schließlich in ihrer Angst keinen anderen Rat und
ging zur Nachbarin.
„Ach, Frau Endruleit, ich glaube, es ist mit mir so weit. Würden Sie mich zur Finkenau bringen?"
„Aber natürlich, Else!" rief die Alte, „Ich komme gleich!" Damit lief sie in ihre Wohnung zurück.-------
„Ich habe ja solche Angst vor dem Krankenhaus!" flüsterte Else der Nachbarin zu, als sie auf dem Perron der Straßenbahn standen.
„Ist gar nicht so schlimm, Kind!" antwortete diese.----------
Die ziehenden Leibschmerzen kamen wieder. Sie wurden aber? immer anhaltender und schmerzhafter. Else verbiss den Schmerz tapfer, aber ihr Gesicht verzog sich dabei. Wie beneidete sie die anderen Fahrgäste. Sie gingen gewiss ins Theater, oder in eine fröhliche Gesellschaft, zu Unterhaltung oder Tanz. Alle schienen ihr unbelastet, so sorglos, frei.
Else sehnte sich nach ihrem Bett. Schlafen können, immer schlafen, bis alles vorbei war. Ja, wer das könnte.-----------
„Willst Du nicht lieber in den Wagen?" fragte besorgt die Nachbarin.
„Nein, nein, Frau Endruleit, ich stehe lieber!" —-
„Oo—oh! Wieder dieser eigentümliche Schmerz!"
„Ist es schlimm, Kind?"
„Ach nein!" erwiderte Else leise. „Eigentlich habe ich es mir schlimmer vorgestellt!"
„Na, na, das wird wohl auch noch etwas schlimmer werden!"
Ekelhaft war dieser lästige, regelmäßig wiederkehrende Schmerz. Else dachte jetzt in keiner Sekunde an das sich herausarbeitende Kind, das sie sich so sehr gewünscht hatte. — — —
Jetzt standen sie vor einem großen, lang gestreckten Bau. Zögernd und innerlich widerstrebend trat Else an die Krankenhaustür,
Die Nachbarin läutete.
Eine Schwester kam und öffnete.

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