Mit der Roten Armee des Ruhrgebietes gegen Watter und Severing
  Ich lungerte am 13. März, es war noch sehr frühmorgens, auf der  Breiten Straße herum, als im Fenster des Tageblattes plötzlich, mit  Blauschrift geschrieben, ein Extrablatt erschien, das in meine  luderhafte Sorglosigkeit wie eine Handgranate schlug. Kapp hatte sich  in Berlin niedergelassen. 
    Im Laufschritt flitzte ich in die  Brüderstraße, wo sich die Büros der Gewerkschaften befanden. Nach  etlichen verwunderten Glossen kam der Apparat in Bewegung. Binnen  wenigen Stunden standen in Stendal sämtliche Betriebe still. In einer  bewegten, stark überfüllten Versammlung wurde ein Exekutivausschuss  gewählt, der sich paritätisch aus je drei Kommunisten, drei  Unabhängigen, drei Sozialdemokraten, drei Vertretern der Gewerkschaften  und drei bürgerlichen Beamtenvertretern, die der demokratischen Partei  nahe standen, zusammensetzte. Den Vorsitz dieses Fünfzehner-Ausschusses  übernahm der Sozialdemokrat Ernst Brandenburg. 
    Die ausgerissene Regierung erließ durch ihre sozialdemokratischen  Mitglieder einen Generalstreikerlass: „Proletarier streikt, rettet die  Situation!" Das war der Extrakt des Erlasses. Dass man von derselben  Seite kurze Zeit vorher durch die starke Linke des Herrn Noske bei  einem Streik der Eisenbahner unter Zuhilfenahme des Ausnahmezustandes  Streikenden mit Gefängnis bis zu einem Jahr gedroht hatte, war von den  sozialdemokratischen Verwandlungskünstlern vollkommen vergessen worden. 
    In Stendal war eine Garnison. Die Haltung derselben war äußerst  zweifelhaft. Um vor Überraschungen sicher zu sein, wurde in einer  Sitzung, der ersten nach der Konstituierung, die Bewaffnung der  Arbeiterschaft gefordert und durchgesetzt. Brandenburg, dem ich  natürlich nichts Gutes zutraute, musste sich der Entschließung fügen.  Er war übrigens schlau genug, sein Bremsen für eine günstigere Zeit  zurückzuhalten. Man konnte diesem alten Fuchs anmerken, wie er die  große Erregung der übrigen Mitglieder des Ausschusses, die nicht  befähigt waren, die Situation bis in ihre letzte Auswirkung zu  überschauen, nur künstlich teilte. Für ihn war die Lage klar und darum  lag das Ziel seiner Tätigkeit, wenn auch noch siebenfach verschleiert,  bereits in einer ganz anderen Richtung, als die Männer des Ausschusses  ahnten. Auch für uns drei Kommunisten, es waren die Genossen Georg  Burig, Robert Dittmann, der Bruder des bekannten Dittmann von der  Sozialdemokratie, und ich, war es kein Geheimnis, dass durch den  musterhaft geführten Generalstreik, der besonders in Berlin das gesamte  Wirtschaftsleben stilllegte, Kapp würde bald die Koffer packen müssen.  Also was blieb der Sozialdemokratie zu tun übrig als die Rolle, die sie  seit 1914 spielte, weiterzuspielen und die revolutionäre Energie der  Massen, die impulsiv nach der Niederwerfung Kapps weitergehen würde,  abzutöten. Die Tätigkeit des Sozialdemokraten Severing im Ruhrgebiet  als Reichs- und Staatskommissar beleuchtet diese Aufgabe der  sozialdemokratischen Führer am besten und eindringlichsten. 
    Langsam vollzog sich die Trennung der Geister im Ausschuss. Um seine  Intrigen durchsetzen zu können, musste Brandenburg immer offener die  Karten zeigen. Ich will hierbei bemerken, dass anlässlich einer Sitzung  mit dem Tangermünder Exekutivausschuss die sozialdemokratischen  Genossen aus Tangermünde in größter Wut vor Brandenburg ausspuckend mit  den Worten: „Pfui Deibel!" die Sitzung sprengten. In einer anderen  Sitzung kam ein Unteroffizier der Garnison, mit glaubhaften Ausweisen  versehen (er war Sozialdemokrat), und bot in seiner Eigenschaft als  Waffenmagazinverwalter dem Exekutivausschuss die Hand, den  Waffenbestand der Garnison in den Besitz der Arbeiter überzuleiten. Er  hatte dazu einen besonderen Plan entworfen, der mit Sicherheit die  Übernahme gestattete. Es konnte zum Zorn reizen, mit wie viel  verschlagenen Worten Brandenburg den Mann mit seinem Antrag abwies. Wir  sind dem Jongleur in stürmischen Debatten entgegengetreten. Durch die  drei Sitze der Gewerkschaften und die der Beamtenvertreter bekam seine  ganze Hinterlist eine Stimmenmehrheit, und wir Kommunisten mit den  Unabhängigen waren machtlos. 
    Natürlich verschafften wir uns andere Chancen. Bezeichnend ist, dass  wir im Suchen nach solchen außerparlamentarischen Mitteln die  Unterstützung der Tangermünder Sozialdemokraten fanden, die uns achtzig  Infanteriegewehre, ein schweres Maschinengewehr und entsprechende  Munition von ihrem Bestand abtraten. Mit einem Fuhrwerk holten wir das  Geschenk ab. 
    In einer Sitzung bekamen wir telephonischen Bescheid, dass sich in der  Villa des I. Staatsanwaltes vom Landgericht Stendal, die in der  Gardelegener Straße gelegen ist, neun von der Bevölkerung verfolgte,  bewaffnete Gymnasiasten geflüchtet hatten, deren Auslieferung der  Staatsanwalt verweigerte. Dem Staatsanwalt die Bude durchzuschnüffeln,  das war ein Spaß für mich. Darum bestand ich darauf, die Angelegenheit  zu klären. Mit drei bewaffneten Genossen zog ich in die Gardelegener  Straße. Niemand öffnete. Ich rief laut vom Hof der Villa hinauf: „Wenn  innerhalb von drei Minuten nicht geöffnet wird, zerschlagen wir die  Tür!" — Sofort wurde aufgemacht, und zwar vom Staatsanwalt selbst. Ich  zeigte meine Karte vom Aktionsausschuss und fragte nach den neun  Bengels, die sich in seinem Hause versteckt hielten. Er sagte, das sei  nur ein Gerücht, es sei niemand Fremdes in seinem Hause. Ich erklärte  ihm, einem Staatsanwalt könne man nichts glauben und darum müssten wir  eine Haussuchung vornehmen. Erregt meinte er, zur Haussuchung hätte ich  kein Recht. Ich sagte ihm lachend, dass ich zu bestimmen hätte, was  Recht und nicht Recht sei. Er solle sich gefälligst um sämtliche  Schlüssel seiner gesamten Türen bemühen, ich würde jetzt mit der  Haussuchung beginnen. 
    Mit mühsam verhaltener Wut kam er in Begleitung eines Dienstmädchens  zurück. Bald hatten wir die Lauselümmels auf dem Boden entdeckt. Sie  zitterten am ganzen Körper vor Angst. Widerstandslos brachten sie  Dolche und Pistolen (ohne Munition) zum Vorschein. Mit einem gehörigen  Anschnauzer und einer schrecklichen Drohung für den Fall, dass sie noch  einmal erwischt würden, jagte ich die Gesellschaft hinaus. Der  Staatsanwalt wird sich gewiss nicht gern an diesen Vorfall erinnern.  Von mir muss ich das Gegenteil behaupten. 
    Unsere Aufgabe lag vor allen Dingen darin, die immer noch nicht Farbe  bekennende Garnison mit Waffengewalt in Schach zu halten. Brandenburg  drängte im Ausschuss auf Verhandlungen mit der Garnisonsleitung. Der  Schlauberger kalkulierte: Kapp ist morgen, spätestens übermorgen  erledigt, die Garnison stellt sich dann auf die Seite der  „rechtmäßigen" Regierung, darum muss unbedingt verhindert werden, dass  die bewaffneten Arbeiter etwas in dieser Sache unternehmen. — Als eine  Abstimmung ergab, dass Verhandlungen mit der Garnison stattfinden  sollten, spielte Brandenburg den tapferen Mann und erklärte sich  (natürlich) bereit, mit in die Kaserne zu gehen, was er als etwas  Gefährliches hinzustellen versuchte. Meine Genossen und auch die  Unabhängigen wollten nicht hingehen, aber den Brandenburg allein zu  lassen, war nach meinem Dafürhalten ein großer taktischer Fehler.  Deshalb ging ich mit. Nach längerem Zureden gelang es uns auch, einen  Unabhängigen umzustimmen. Brandenburg hatte bestimmt gehofft, mit  seinen Absichten allein zu bleiben und war speziell von meiner  Mitwirkung nicht besonders erbaut. Er faselte, dass ich mit meinen  zweiundzwanzig Jahren zu jung sei und durch unüberlegte Worte nicht nur  die Verhandlungen in einem für, die Arbeiter günstigen Stand stören,  sondern die Delegation in eine recht verfängliche Situation  hineinreiten würde. Es sei nicht das erste Mal, dass Arbeiter von der  Reaktion bei solchen Gelegenheiten erledigt würden. Ich bestand  trotzdem auf meiner Teilnahme. 
    Der Kaserne etwas näher gekommen, ließen sich deutlich die Vorkehrungen  feststellen, die man gegen einen Sturm der bewaffneten Arbeiter  getroffen hatte. In die Dächer waren Löcher gemacht, durch die die  Läufe schwerer Maschinengewehre ragten, über die Mauer ragten ebenfalls  Maschinengewehrläufe. An den Toren standen starke Wachen, alles machte  den Eindruck einer Festung, die einer Belagerung entgegenging. 
    Am Tor, von wo aus man uns drei Mann schon lange erspäht hatte, wurden  wir barsch nach unserem Begehr gefragt. — „Den Major sprechen",  erklärten wir. Mehrere Mann begleiteten uns in die Wachtstube, wo man  uns nochmals ausfragte. Darauf geleitete man uns in ein Zimmer, wo wir  warten sollten. Wir warteten unverschämt lange. Endlich kam der Major  in Begleitung mehrerer Offiziere angerasselt. Brandenburg stellte sich  mit sämtlichen Titeln vor. Der Major hielt eine Vorstellung seinerseits  für überflüssig. Er fragte kurz, was ich für ein junger Mann sei. Ich  erwiderte beleidigt, dass ich als gewählter Vertreter der Stendaler  Arbeiterschaft zu erfahren wünschte, welchen Standpunkt die Garnison  bezüglich des Putsches der Kapp und Lüttwitz einzunehmen gedenke. Meine  Worte waren laut und schroff gewesen, so dass sich Brandenburg  veranlasst fühlte, mit ruhigen höflichen Worten die Aufmerksamkeit des  Majors auf sich zu lenken. Der wich der Kernfrage des Problems  geschickt aus und forderte plötzlich, die Arbeiter sollten die Waffen  abliefern. Das empörte mich dermaßen, dass ich, bevor sich jemand  äußern konnte, ein knallendes „Nein" dem Major ins Gesicht schrie und  gleich laut die Antwort gab: „Nein, das werden die Arbeiter nicht tun."  Verärgert über meine laute Antwort zog er sich in ein Vorzimmer zurück  zwecks Beratung mit seinen Offizieren. Erst nach langer Zeit kehrte er  zurück, und mit etlichen nichts sagenden Worten wurden wir entlassen. 
    In die Sitzung zurückgekehrt, saß Brandenburg so ziemlich auf dem  Trocknen. Draußen herrschte Leben. Auf einen telephonischen Anruf bei  den Tangermündern erklärten sie sich bereit, in zwei Stunden 500 Mann  mit Waffen nach Stendal in Marsch zu setzen. Auf dem Ünglinger Tor,  einem von der Kaserne etwa 700 Meter entfernten, 30 Meter hohen Turm,  wurden Maschinengewehre in Stellung gebracht. Handgranaten wurden  verteilt. Alles war zum Sturm bereit. 900 gut bewaffnete Arbeiter in  glänzender Kampfstimmung standen 400—500 Söldnern, die alle vor dem  Sturm die größte Angst hatten, gegenüber. Seit zwei Tagen die  Wasserleitung abgesperrt, ohne Licht, und was wichtiger war, ohne Brot  und Heizmaterial, war die Stimmung der Mannschaft keine gute. 
    Etliche Arbeiter holten mich mitten aus der Kolonne heraus; ich solle  mal nachsehen, was das für ein Vogel sei, der vor einer halben Stunde  im Hotel zum „Schwarzen Adler" abgestiegen sei, er trage die Uniform  eines Offiziers und sei mit einem Auto gekommen. Ich gab meinen  Karabiner einem Kameraden zur Aufbewahrung und ging, die Armeepistole  umgeschnallt, zum „Schwarzen Adler". Der Ober zeigte sich hochmütig, er  erklärte frech, er sei mir keine Antwort schuldig über die hier  abgestiegenen Gäste. Ich zeigte ihm meine Karte, wodurch ich mich als  Mitglied des Exekutivausschusses vorstellte und ihm eröffnete, dass er  unverzüglich verhaftet wäre, falls er sich weiter weigere, die  erwünschte Auskunft zu erteilen. Das verfehlte seine Wirkung nicht. Er  wusste plötzlich genau, dass ein höherer Offizier abgestiegen sei, nur  die Zimmernummer war ihm entfallen. Ich merkte deutlich, wie er mich  betreffs der Auffindung des Zimmers in den Gängen des Hotels verklapsen  wollte, um Zeit zu gewinnen. Er tat immer noch hochmütig und stolzierte  in seinem Frack von Zimmer zu Zimmer, ohne das richtige zu finden; —  dabei warf er ziemlich herablassende Blicke auf meine einfache  abgetragene Militärjacke. Mit einem plötzlichen kräftigen Tritt in  seinen befrackten Hintern bekundete ich ihm eindeutig, dass ich endlich  den fraglichen Offizier zu sprechen wünsche. Schnurstracks ging's jetzt  auf die Bude los. Ich fand den Kerl ziemlich erschrocken über mein  Eindringen vor. Ich fragte nach Herkunft und Zweck seiner Reise. Er gab  bereitwilligst Auskunft, und auf eine junge Frauensperson zeigend,  erklärte er, lediglich auf einer Vergnügungsreise mit seiner Frau  begriffen zu sein. Ohne Umstände sagte ich ihm, dass das nicht seine  Frau sei, er solle solchen Kohl jemand erzählen, der seine Hose mit der  Kneifzange anzieht, aber nicht mir. Die Vergnügungsreise erschien mir  in den bewegten Tagen ebenfalls eine allzu dumme Ausrede, kurzerhand  nahm ich meinen Revolver aus der Tasche und hieß die beiden  vorausgehen; ich hatte die Absicht, sie dem Ausschuss vorzuführen. Denn  die Möglichkeit, dass es ein Kappist sei, der Verbindung mit der  hiesigen Garnison suche, schien mir gegeben. Da erschien auf einmal wie  vom Himmel gefallen Brandenburg; wahrscheinlich hatte man ihn von der  Hoteldirektion telephonisch um Hilfe gebeten. Nach einer kurzen  scharfen Auseinandersetzung überließ ich dem Retter das Feld, in der  richtigen Meinung, dass es jetzt wichtigere Dinge zu tun gäbe als zu  streiten. 
    Durch diesen kleinen Zwischenfall war ich um einen interessanten Akt  gekommen: Die unblutige Eroberung der Kaserne und Inhaftierung der  Offiziere durch die teilweise Mithilfe der Soldaten selbst. Eine kleine  Gruppe Arbeiter unter Führung des Kommunisten Georg Burig war zur  Kaserne gegangen und von der Wache eingelassen worden in der Meinung,  dass es sich um eine Delegation handele. Genosse Burig hatte dann kurz  entschlossen einen Wagen erstiegen und eine zündende Rede an die  Soldaten gehalten, die von allen Seiten herbeiströmten. Ein  Bravourstückchen sondergleichen, dessen Ergebnis bei den ohnehin  unzufriedenen Soldaten eine offene Meuterei gegen die Offiziere war,  die bald darauf im Kittchen saßen. 
    Jetzt trat Brandenburg offen in Funktion. Er bewirkte: erstens, dass  die Offiziere, um deren Wohlergehen er sich sehr besorgte, von Stendal  nach Magdeburg transportiert wurden (wo man sie dann in Freiheit  setzte); zweitens: dass am anderen Tag das Rathaus, der Marktplatz und  die Marienkirche, die „City" von Stendal, von den Soldaten (auf jeden  zweiten Meter ein Mann) unter dem Kommando Brandenburgs besetzt wurde.  Mit entsichertem Karabiner stand das Militär gegen die gesamte  proletarische Bevölkerung, die zusammengelaufen war. Eine ungeheure  Verwirrung entstand. Die bewaffneten Arbeiter, die durch diese  Schurkerei Brandenburgs verärgert waren, kamen teilweise zu uns, um  ihre Waffen bei den Kommunisten abzuliefern; sie erklärten, dass sie  sich von Brandenburg nicht wieder verkackeiern ließen. Die Soldaten,  gegen die Brandenburg gestern noch das Proletariat in den Kampf  geschickt hätte, für den Fall, dass der Major seine Leute für einen  Kampf gegen die Arbeiter gebrauchen wollte, standen nun unter Führung  Brandenburgs gegen die Arbeiter. Die Empörung war grenzenlos. 
    Im Ruhrgebiet kämpfte das Proletariat gegen den General Watter. Wir  Kommunisten beschlossen, gleich am anderen Morgen mit dem Zug 6,03 Uhr  nach Dortmund zu fahren. Leider stand ich zur festgesetzten Zeit allein  auf dem Bahnhof. In Dortmund angekommen, hatte ich zuerst für einen  dort anwesenden Stendaler mit Namen Barfeld ein Paket abzugeben, das  seine Mutter mitschickte. Ich traf ihn zu Hause an. Er war begeistert  von meiner Absicht, in die Rote Armee eintreten zu wollen und ging mit  mir zur Werbestelle. Leider wurde er nicht angeworben, weil er kein  Kriegsfrontsoldat gewesen war. 
    Gerade ging ein Bataillon an die Front ab, ich meldete mich freiwillig  dazu und mein Landsmann begleitete mich bis zum Bahnhof. Revolutionäre  Lieder singend fuhren wir im Transportzug bis Mülheim. Dort wurde in  einer Kaserne eine bessere Bewaffnung durchgeführt; andere Formationen  kamen hinzu, und am Morgen bewegte sich ein großer roter Heerwurm in  Richtung Hamborn, wo Watter Widerstand leistete. Ein erhebender  Anblick. Rau und wuchtig klingt der Gesang der roten Bataillone durch  das Gebiet der Arbeit. Wie Feuer grüßen von den Fördertürmen die roten  Fahnen. Jubelnd schwenken Frauen und Kinder aus Fenstern ihre Tücher.  Obwohl die Not an den eigenen Vorräten zehrt, bringen sie uns  Butterbrote, Kaffee, Tee und anderes mehr. 50 000 Proletarier in  Waffen! Alles kriegsgeübte Männer, die darauf brennen, dem Freiherrn  von Watter den entscheidenden Schlag zu versetzen. Eine endlose Kolonne  Artillerie schließt sich bei Sterkrade an. Maschinengewehrwagen und  schwere Minenwerfer kommen hinzu. Immer wieder steigt brausend die  Internationale über die Schlote, über Hochöfen, Fördertürme, durch die  kalte Starre der Eisen- und Stahlwerke, über die der große Verbündete,  der Generalstreik, seinen riesenstarken Arm legt. 
    In Dinslaken, einem Städtchen in der Nähe von Hamborn, wird  übernachtet. Noch einen Tag Ruhe und am Abend geht unsere Formation in  Stellung. Die Chaussee von Dinslaken nach Wesel zeigt deutlich die  Spuren erbitterter Kämpfe. Auf einem Bahndamm steht vor uns ein  Panzerzug; seine Maschinengewehre hämmern in die Nacht. Aufheulend  zeigen Raketen die Stellung der Sipo. Dort steht der Feind. Um zehn Uhr  wird gestürmt. Noch vor 10 Uhr wälzt sich eine dunkle Linie gegen die  feuernde Sipo. Unregelmäßig aufspringend und niederwerfend, aber zähe  trotz größter Verluste kommen die Rotarmisten näher und näher. Wir  liegen 25 bis 30 Meter in einer Bodensenkung vor dem feindlichen  Graben. Durch das wilde Knattern der Sipo klingt hundertstimmig der  Ruf: „Handgranaten, Hand—gra—na—ten." Donnernd, als berste die Erde,  fallen sie in die Reihen der Sipo. Sturm, Sturm. Die Sipo verlässt den  Graben. Unsere Kugeln folgen nach. Sanitäter lesen Tote und Verwundete  auf. Milchkannen mit Essen werden durch den Graben gereicht. Fern,  irgendwo rechts, erklingt durch die Nacht Minenfeuer. Dazwischen auf  der Chaussee singen anmarschierende Rotgardisten: „Auf, auf, zum Kampf,  zum Kampf sind wir geboren"; Stroh wird verteilt, jeder Mann bekommt  ein Bund. Wachtposten lugen scharf aus. Nein, die Sipo kommt nicht  wieder. Bald schnarcht es unter den Decken im Stroh. Einzeln fallen  noch Schüsse, doch sonst bleibt es still. 
    Sonnig steigt der Morgen aus den Nebeln. Wieder gehen Milchkannen durch  den Graben, diesmal ist Kakao drin. Brot und Speck wird verteilt,  ebenso Zigaretten und Zigarren und echter holländischer Rauchtabak.  Unsere Truppe ist international. Von den Belgiern jenseits des Rheins,  die dort als Besatzung sitzen, kommen Soldaten zu uns herüber, bleiben  einen Tag und kehren dann zurück. Einer dieser Belgier ist verwundet.  Russen sind viele bei der Armee, es sind ehemalige Kriegsgefangene. Die  Belgier, d. h. die drüben unter dem Kommando ihrer Offiziere, leisten  sich ein Extravergnügen, sie schießen mit Artillerie über den Rhein,  einfach wahllos in die Gegend. Amerikanische Filmleute kommen mit  Rote-Kreuz-Binden in die Stellung und filmen. Befragen in schlechtem  Deutsch unsere Leute, für wen sie kämpfen. „Warlike airs have your  soldiers!" (Kriegerische Gesichter haben Ihre Soldaten); das stimmte  allerdings. Der bloße Anblick dieser Jungens mit den verwegenen Mienen  konnte den Bourgeois schon einen Schreck einjagen. An die Front wurden  vorwiegend nur jüngere Leute geschickt, die älteren Arbeiter der Armee  fanden Verwendung zum Ordnungsdienst in den Städten u. a. Noch eine  Nacht im Graben und wir werden abgelöst. 
    In der Märzsonne liegen, Pfeife rauchend, wenn man weiß, diese Nacht  geht's wieder los (ein Gehöft muss gestürmt werden), das ist ein  Vergnügen. Das Essen ist sehr gut und reichlich, mittags und abends in  Ruhe gibt's warmes Essen. Schokolade und Keks, alles aus Holland, ist  ebenfalls reichlich vorhanden. Unser Küchenbulle verschiebt eine halbe  Seite Speck, er wird von der Mannschaft krumm und lahm gehauen und  weggejagt. In Hemdärmeln muss er sich humpelnd und blutend auf die  Chaussee machen. Wieder geht es in Stellung, es ist ein Waldrand, an  dem wir liegen. Das Gehöft, das gestürmt werden soll, ist noch ein  Stück entfernt. Da man auf diesem Fleck nicht ein ganzes Bataillon  einsetzen kann, heißt es „Freiwillige vor". Die Hälfte und noch mehr  der sich Meldenden müssen zurückgewiesen werden. Erst sollte in der  Nacht gestürmt werden. Aus praktischen Gründen aber wird die erste  Morgendämmerung gewählt. 
    Frühzeitig lege ich mich schlafen. Es ist noch stockfinster, als ich  geweckt werde. Eine Kolonne von vielleicht fünfzig Mann zieht im  Gänsemarsch los. Fast geräuschlos geht's über Äcker und Wiesen. Nichts  ahnend passieren wir einen kleinen Busch, fast 100 Meter sind wir  bereits vorüber, als plötzlich ein Maschinengewehr aus dem Busch  herausfunkt. Da wir ja alle ehemalige Frontkämpfer sind und sich sofort  jeder platt auf den Bauch wirft, kommen wir ohne Verluste davon.  Langsam krochen wir auf den Busch wieder zu, das Maschinengewehr fanden  wir, aber die Bedienung war getürmt. Da sich die Geschichte in  ziemlicher Nähe des Gehöftes zugetragen hatte, waren wir also bereits  gemeldet. Das zeigte sich auch bald, denn die Sipo schoss sozusagen aus  sämtlichen Knopplöchern. Das Gelände ist dort flach, nach der Knallerei  zu urteilen steckten allerlei Grüne in dem Hause, also es war bestimmt  keine leichte Aufgabe, die wir uns da gestellt hatten. Ein Glück, dass  wir schon so früh aufgebrochen waren, denn noch zeigte sich keine Spur  vom neuen Tage. Wir umzingelten das Haus, und um eine größere Anzahl  Angreifer vorzutäuschen, wurde verabredet, nach jedem Schuss einige  Meter abwechselnd nach rechts und links zu laufen, um dort wieder zu  feuern. Etwa zehn Minuten knallten wir in diesem Sinne fort. Das Feuer  der Sipo lässt nach. Nun wird in Richtung Wesel ein Drittel der  Umzingelung scheinbar geöffnet, die verbleibenden zwei Drittel feuern  weiter. Wir hatten uns nicht verrechnet. Die Sipo, die den  Angriffsgeist der Rotgardisten zur Genüge schon kennen gelernt hatte,  traute sich offenbar nicht zu, die Festung bei einem Sturm halten zu  können und benutzte richtig die vermeintliche Lücke, um zu entkommen.  In dem Moment, als die ersten der türmenden Sipo auf die auf der Lauer  liegenden Rotgardisten stießen, stürmte die entgegengesetzte Seite von  uns. Alles, was noch drinnen war, stürzte schnellstens den ersten nach.  Der Tag zeigte sein erstes Licht. Wie beim Spießrutenlaufen musste die  Sipo an den Gewehren unserer Leute vorbei. Drei Tote und wenige  Verwundete kostete uns der Handstreich; die Sipo dagegen musste schwer  bezahlen. 
    Bei der Artillerie mangelte es an Richtkanonieren; — es wurde danach  gefragt. Ich war Richtkanonier und meldete mich. Die Stimmung bei  Noskes und der Sipo war mehr als mies, darum brauchte man künstliche  Mittel, sie wieder aufzufrischen. An einem warmen Nachmittag, an der  Front war es verhältnismäßig ruhig, vernahmen wir ganz in der Ferne  Blasmusik. Durch das Scherenfernrohr gewahrte ich vom Beobachtungsstand  aus, wie ein Trupp von etwa 200 Mann, voran eine Kapelle, aus Wesel  herausmarschiert. Der Weg ging in Richtung auf die Front. Man geleitete  also die Kolonne ein Stück des Weges mit Musik. Bald musste ein  Kreuzweg kommen, den ich auf der Karte schnell gefunden hatte. Unsere  Batterie stand hinter einem Bahndamm in der Nähe einer Unterführung.  Die Entfernung bis zum Kreuzweg war genau an Hand der Karte  festzustellen. Mit dem Richtkreis waren schnell alle drei Geschütze  gerichtet. Nur noch eine kurze Strecke und die Kapelle sollte durch uns  eine kleine Verstärkung erfahren. — „Die ganze Batterie, erste Salve —  Feuer!" — Obgleich die Salve nicht richtig gesessen hatte, vielleicht  dreißig bis vierzig Meter zu weit nach links ging, stob die  Gesellschaft auseinander, als ob ein Riese mit seinem Knüppel  dazwischen gehauen hätte. Gegen Abend wurden wir mit  Maschinengewehrfeuer beharkt. Eine telephonische Meldung nach vorn zur  Infanterie, und nach einer Stunde kam die Meldung zurück: „Feindliches  MG in unserer Hand". — Eine Minenwerferabteilung wurde zugedeckt.  Schwere Geschütze, vermutlich 21er Kaliber, wurden in Stellung  gebracht. Der endgültige Sieg der Roten Armee war auf der ganzen  fünfzig Kilometer langen Front so gut wie sicher, als sich ein neuer  Feind zeigte. Es war ein gefährlicher Feind: der Sozialdemokrat  Severing, der mit einem Aufruf in den Zeitungen, worin es hieß:  „Liefert den Behörden die Waffen ab! — Nur Polizei und Wehren haben das  Recht, Waffen zu tragen!" eine Ära des Verrates, der Unterminierung der  bisher einig und ohne Parteistreit geschlossen kämpfenden Roten Armee  einleitete und so gerade jetzt der in allerhöchster Not befindlichen  Armee des Freiherrn v. Watter die allerbeste Stütze bot. Als Reichs-  und Staatskommissar von der ausgerissenen Reichsregierung in das  Ruhrgebiet entsandt, stand er an der Seite des Generals v. Watter und  damit im schärfsten Widerspruch zu den Arbeitern. Watter fand sich, wie  alle diese Reaktionäre, erst sehr spät auf den Boden der alten  Regierung zurück, nachdem nämlich der Generalstreik Kapp in Berlin  endgültig das Genick gebrochen hatte und etliche Unterführer, wie in  Wetter a. d. Ruhr der Hauptmann Hasenklever, der zum Freikorps  Lichtschlag gehörte, in Herdecke der Hauptmann Lange, in Remscheid der  Major Lützow, in Mülheim der Major Schulz und andere mehr, sich bei  offenem Einsetzen ihrer Truppe für Kapp von den Arbeitern gehörige  Schlappen geholt hatten, die teilweise zur völligen Vernichtung ihrer  Formationen führten. 
    Selbst Sozialdemokraten forderten, wie eine Besprechung der Funktionäre  in Duisburg am Niederrhein ergab, die Erringung der politischen Macht  mit dem Endziel der Sozialisierung des Grund und Bodens, des Bergbaues  und der Schwerindustrie. Den sozialdemokratischen Arbeitern schien die  Zeit, angesichts der starken Roten Armee, die zum allergrößten Teil aus  Sozialdemokraten bestand, äußerst günstig für die Erreichung dieser  alten sozialdemokratischen Forderungen. Und in der Tat, nie vorher und  auch nicht später hat die Arbeiterschaft solche hervorragenden  Positionen innegehabt wie damals, jedoch dem Reichskommissar Severing  lag nichts am Sozialismus, sondern er war bei der Geburt der  Nationalversammlung, die ja allen „ehemaligen" Feinden der  Arbeiterschaft die Mitwirkung in Parlament und Regierung der Republik  gebracht hatte, beteiligt. Ein Sieg der Roten Armee in ganz Deutschland  hätte einen Sieg der Arbeiterschaft über das gesamte Bürgertum  bedeutet, über alle Generäle, Freiherren von, Hauptleute,  Deutschnationale, Volksparteiler, kurz: über alle die, die noch vor  zwei Jahren, 1918, den Krieg bis aufs Messer forderten und denen der  Krieg wie ein „Stahlbad" bekam, die unter diesen Parolen Millionen von  Proleten abgeschlachtet hatten. Man lasse alle theoretischen  Überlegungen fort und bedenke ganz einfach, dass diese Rote Armee mit  ihren 50 000 Mann Frontsoldaten, mit ihrer schweren und zahlreichen  leichten Artillerie, mit ihren Minenwerferabteilungen, mit den  Tausenden von Maschinengewehren, mit dem ungeheuren Kraftwagenpark, der  es ermöglichte, die ganze Armee in wenigen Tagen durch ganz Deutschland  zu transportieren, mit allem Kriegszeug einer modernen Armee überhaupt  ausgerüstet und von der begeisterten Kampfstimmung, der Sympathie der  gesamten deutschen Arbeiterschaft unterstützt, für die Gegner der  sozialistischen Weltanschauung eine ungeheuer riesenhafte Gefahr  darstellte, vor der man zitterte. Das Kabinett Ebert-Bauer (derselbe  Bauer, den man sieben Jahre später aus der sozialdemokratischen Partei  wegen umfangreicher Schiebungen, begangen gerade in den Jahren 1919—20,  mit den allergrößten Schiebern unserer Zeit, den Gebrüdern Barmat, als  der Korruption überführt entfernen wollte) hatte selbst die Hosen voll  vor dieser Roten Armee. Um nicht von der Arbeiterschaft fortgejagt zu  werden, war er um seiner selbst willen gezwungen, den „Dolchstoß von  hinten" bei der Roten Armee praktisch zu erproben. Ich glaube, heute,  wo diese Begebenheiten bereits historischen Charakter tragen, wird es  auch unter den sozialdemokratischen Arbeitern keinen ehrlichen Genossen  geben, der die schweren Fehler seiner Führer von damals ableugnen  wollte. 
    Die Sozialdemokratische Partei, Ortsgruppe Münster, war ebenfalls von  der unehrlichen Arbeit Severings überzeugt. Man hielt es für zwecklos,  eine Anklageschrift gegen den General Watter erst an den  Reichskommissar Severing zu richten; man schickte sie gleich nach  Stuttgart zur Regierung. In der Anklageschrift wurde die Entfernung  Watters gefordert; daraus kann man ersehen, wie vertrauensselig die  sozialdemokratischen Arbeiter noch an Ebert-Bauer glaubten. Auch auf  einer Konferenz in Bielefeld wurde die Abberufung "Watters gefordert.  Nichts wurde daraus. Severing pfiff auf alle Anträge und Beschwerden,  und Watter erklärte, Severing nicht entbehren zu können. (Hört! Hört!  Wer's nicht glaubt, lese Severings eigene Worte nach in „1919—20 im  Wetter- und Watterwinkel", Aufzeichnungen und Erinnerungen des  Staatsministers a. D. Karl Severing, ehemaliger Staatskommissar im  Befehlsreiche des VI. Armeekorps. Buchhandlung Volkswacht, Bielefeld  1927, auf Seite 139.) Generalleutnant Freiherr v. Watter kann den  Sozialdemokraten Severing im Kampfe gegen das Ruhrproletariat nicht  entbehren. 
    General Watter sind die überall gebildeten Arbeiterräte oder  Aktionsausschüsse ein Dorn im Auge, aber seine Macht reicht nicht aus,  die weitere Bildung solcher Räte zu verhindern oder die Tätigkeit der  schon gebildeten zu unterbinden. Die Arbeiter ohne Unterschied der  Partei kümmern sich in ihren Ausschüssen nicht um den General v.  Watter. Aber der Freiherr hat einen Helfer, er haut eine Verordnung  raus und lässt sie von seinem Helfer unterschreiben. Sie lautet: 
    „ Im Einverständnis mit dem Herrn Regierungskommissar Severing verordne  ich auf Grund der Verfügung des Reichspräsidenten vom 13. I. 1920 wie  folgt: Arbeiterräte oder Vollzugsausschüsse, die eine Mitwirkung bei  den Behörden bezwecken, bedürfen der Bestätigung des Wehrkreiskommandos  und des Regierungskommissars. Wo sich schon Arbeiterräte und  Vollzugsausschüsse gebildet haben, ist das durch die Räte selbst unter  Angabe der Namen und der politischen Parteizugehörigkeit der Mitglieder  dem Wehrkreiskommando, dem Regierungskommissar und dem Oberpräsidenten  zu melden.(Anm.: Es folgen noch drei saftige Abschnitte; einer ist  kurz, er lautet: „Die Tätigkeit der Räte ist ehrenamtlich.") 
    Der Reichskommissar: gez. Severing. 
    Der Befehlshaber des Wehrkreises VI: gez. Freiherr v. Watter,  Generalleutnant." 
    Also, meine Herren Arbeiter, falls Ihnen eine politische Situation, wie  zum Beispiel die von Kapp und Lüttwitz geschaffene (Behüt euch Gott, es  war so schön gewesen, behüt euch Gott, es hat nicht sollen sein), nicht  ganz nach Ihrem Geschmack geht, so wenden Sie sich bei der Bildung von  Arbeiterräten vertrauensvoll an mich. Ich, Generalleutnant v. Watter,  werde Ihnen in Ihren Wünschen entgegenkommen. Ehrenamtlich, von Watters  Gnaden, genehmigt durch den Reichs- und Staatskommissar Severing, mit  solchen hohen Protektoren können die deutschen Arbeiterräte bei der  Erfüllung ihrer schwierigen Aufgaben, die sie als Träger einer  revolutionären Epoche zu erfüllen haben, nicht versagen. 
    Nachdem man nun mit vereinten Kräften dermaßen Verwirrung unter die  Arbeiter getragen hatte und viele örtliche Institutionen bereits den  Parolen ihres „Genossen" Severing gefolgt waren, wurde fieberhaft daran  gearbeitet, der nunmehr geschwächten, aber immer noch gefürchteten  Roten Armee durch Heranziehung großer Truppenkörper aus allen Teilen  des Reiches, speziell aus dem reaktionären Bayern, ein militärisches  Übergewicht entgegenzusetzen. Darüber sagt Severing in seinem Buche auf  Seite 168: „Derweil waren der Befehlshaber und ich ständig bemüht,  Truppen heranzuziehen und sie für den Fall bereit zu machen, dass die  Wiederherstellung der Ordnung nur durch den Einmarsch überlegener  militärischer Kräfte möglich sein würde." 
    Bald fühlte man sich infolge dieser Vorarbeit stark genug, um durch die  Reichsregierung einen Aufruf loszulassen, worin in Absatz 4 die  Durchführung gewisser Bedingungen verlangt wurde: „Völlige Entwaffnung  der gesamten Bevölkerung einschließlich der Einwohnerwehren unter  Aufsicht der rechtmäßigen staatlichen Organe. — Die Art und Zeit der  Durchführung der Entwaffnung wird durch den Inhaber der vollziehenden  Gewalt näher bestimmt werden." Watter bestimmte näher folgendes: 
    „ Zusätze des Befehlshabers. 1. Waffen und Munition sind an die  Polizeiverwaltungen abzugeben und von diesen per Bahn dem  Wehrkreiskommando in Münster zuzuführen; die Polizeiverwaltungen haben  bis 30. III. elf Uhr vormittags dem Wehrkreiskommando die Zahl und Art  der zur Abgabe gelangten Waffen und Munition zu melden. Sind bis 31.  III. zwölf Uhr nachmittags nicht schon vier schwere Geschütze, 10  leichte Geschütze, 200 Maschinengewehre, 16 Minenwerfer, 20 000  Gewehre, 400 Schuss Artilleriemunition, 300 Schuss Minenwerfermunition  abgeliefert worden, so gilt die Bedingung der Waffenabgabe nicht als  erfüllt. Werden die geforderten Mengen abgeliefert, so wird weitere  Bestimmung über die restliche Waffenabgabe erfolgen... (Anm.: Es folgen  noch drei Abschnitte.) 
    Freiherr v. Watter, Generalleutnant." 
    Immer noch wagte man nicht gegen die Rote Armee im offenen Kampfe  vorzugehen. -Die leeren Reden des Generals Watter von der „Verhinderung  eines weiteren Blutvergießens" wird niemand ernst nehmen. Schlotternde  Angst vor der noch starken Roten Armee hielt ihn zurück, den Kampf zu  wagen; — erst sollten noch andere Einflüsse die Kampfkraft der Arbeiter  schwächen. Die Waffenabgabe war nur dort, wo die Reichswehr das Gebiet  besetzt hielt, von ihr mit Gewalt durchgeführt worden. Das  Ruhrproletariat antwortete auf die Frechheiten Watters mit erneutem  Generalstreik. Der Termin für die Waffenabgabe wurde verlängert. 
    Große Teile der Roten Armee waren durch die Zersplitterung und  Unterwühlungsarbeit der Severing und Genossen verärgert, der Spaltpilz  wucherte fort und fort, weniger organisationsfähige, politisch nicht  taktfeste Männer bemühten sich um die Kommandostellen mit dem Erfolg  weiterer Desorganisation der Armee. Endlich glaubten der tapfere Watter  und der noch tapferere Severing den Tag gekommen, um mit der ganzen  zusammengezogenen Truppenmacht losschlagen zu können. Das Übergewicht  der Reichswehr war ungeheuer. So wurde zum Beispiel, nachdem im  Frontabschnitt Dinslaken alle Formationen der Roten Armee abgerückt  waren, der Bahndamm, der links vom Bahnhof nach Wesel führt, auf einer  Strecke von 300 Meter von unserer Gruppe von 16 Mann gegen eine zehn  -bis zwanzigfache Übermacht eine volle Stunde gehalten. Die Feiglinge  vermuteten größere Kräfte hinter dem Bahndamm und wagten erst den  Sturm, als von uns 16 Genossen nur noch fünf unverwundet oder leicht  verwundet, die anderen tot oder schwerverwundet übrig geblieben waren.  Zwei der fünf Kameraden, mit denen ich durch Dinslaken zurückging,  wurden durch das Sperrfeuer, das die Ausgänge von Dinslaken in Richtung  Hamborn abriegelte, getötet. Wir drei Mann schritten über Wiesen und  Felder müde und abgekämpft dahin. Von Dinslaken her trommelte die  Reichswehr herüber, mörderischer als manchmal an der Front in  Frankreich. Wütend, wie wir waren, mussten wir doch lachen bei dem  Blick auf Dinslaken zurück und bei dem Gedanken: „Jetzt stürmt die  ganze Meute Dinslaken und kein einziger Rotgardist ist mehr drin." Was  werden sie mit den schwerverwundeten Kameraden machen? Schweigend,  allmählich in eine melancholische Stimmung verfallend, ziehen wir auf  einem Feldwege weiter. Mehrere Schüsse gleichzeitig reißen uns wach,  acht oder zehn Kavalleristen, eine Erkundungspatrouille jedenfalls,  stehen auf demselben Feldweg 500—600 Meter entfernt. Ohne Kommando,  aber fast gleichzeitig liegen wir im Dreck, und schon funken wir  hinüber. Lumpenpack verfluchtes! Pferde gehen hoch, werden wild  herumgerissen und stürzen davon; zwei bis vier Mann haben ihren  Denkzettel, die Feiglinge sind verschwunden. Doch in zehn Minuten  kommen zwanzig oder mehr im Exerziergalopp angejagt. Verdammt. Ein  Wäldchen liegt halblinks 300 Meter vor uns; mit langen Sätzen geht's  hinüber. Die Lumpen knallen und einer von uns, ein  zweiundzwanzigjähriger Bergmann, bekommt einen Schuss in die  Wirbelsäule. Er fällt wie ein Baum mit lautem Schrei, erhebt sich noch  zweimal und bricht zusammen. Die Feiglinge getrauen sich nicht, in den  Wald zu reiten. Schnell sind wir hindurch; — da steht wie bestellt eine  Straßenbahn vor uns; die Straßenbahner lassen sich nicht lange bitten  und fahren, was das Zeug hält, durch alle Haltestellen. Wir sind in  Sicherheit. Wir steigen aus und beschießen einen Noskeflieger. In einer  Kneipe trinken wir ein Glas Bier. 
    Ich schlafe in der weichen Sofaecke ein; zu groß war die Anstrengung  der letzten Tage. Mein Kamerad weckt mich, der Wirt hätte gesagt: Noske  sei im Anmarsch, wir sollten uns dünne machen, das fällt aber schwer;  wie mit einem Zentnergewicht auf dem Herzen erhebe ich mich. Eine  Knallerei an einer nicht sehr entfernten Stelle, wahrscheinlich wieder  gegen nichtanwesende Rotgardisten, besagt uns, dass wir verduften  müssen. Mein Kamerad rät zum Dauerlauf. Es geht nicht. Ohne die  Halunken direkt auf den Fersen zu haben, kann ich nicht laufen; ginge  es in der entgegengesetzten Richtung nach Wesel, ich könnte laufen bis  dahin. Mein Kamerad verlässt mich nicht, wir gehen, die Knarre im Arm,  langsam die Straßen hinunter. 
    Ich glaube, wir waren nun schon in Oberhausen, aber ich kann es nicht  behaupten. Begebenheiten, die an den Rückzug erinnern, sind mir infolge  des deprimierenden Eindruckes dieser Tage vielfach entfallen. An einem  Restaurant hielten mehrere Lastautos, schon besetzt mit Rotgardisten. —  „Wohin?" — „Nach Essen." Wir zwei krabbelten hinauf. In Essen wurde uns  ein begeisterter Empfang zuteil. Flugblätter in Massen, die zum  Weiterkämpfen aufforderten, wurden verteilt. Ich wusste besser, wie es  aussah. Warum jubelten die Kameraden in Essen auf den Lastautos so  laut, warum waren sie schon vor dem Angriff der „Noskes" getürmt? Warum  waren die Herausgeber dieser Flugblätter nicht mit der Armee an der  Front geblieben? Es war ein Strohfeuer der Begeisterung ohne untere  feste Nahrung. Durch alle Städte, besonders in Bochum, begleitete uns  der nicht endenwollende Jubel der Bevölkerung. — „Haut de Noskejungs."  — „Hoch de Rote Armee." 
    In Dortmund waren wir nur noch wenige. Wo jeder einzelne wohnte, war er  zwischen Oberhausen und Dortmund abgestiegen, um seine Angehörigen mit  seiner gesunden Heimkehr zu überraschen. — Noch ahnte niemand die  Schreckenstage, die beim Einmarsch der Wattertruppen, der Württemberger  und Bayern, in die Städte des Ruhrgebietes kamen. Mit schwarzweißroten  Fahnen, nicht mit schwarzrotgoldenen, mit der Fahne der Kapp und  Lüttwitz, nicht mit der Fahne der Republik, zogen die Henker ein.  Severing, — das war der dankbare Faustschlag deiner Freunde von  gestern! „Deutschland, Deutschland über alles", stieg immer wieder.  Erschossen wurde, was gerade vor die Flinte kam. Die Standgerichte  wüteten an allen Orten. Jeder Offizier fühlte sich wohl in der  Tätigkeit eines Standrichters; es begann der weiße Terror mit allen  seinen Scheußlichkeiten. Gefangene Arbeiter, ohne Parteiunterschied,  wurden gezwungen, patriotische Lieder zu singen, sie mussten dann ihr  Grab schaufeln und wurden erschossen. Arbeiter, die im offenen Kampfe  gegen Noske vor Tagen oder sogar Wochen verwundet wurden, holte man von  ihrer Familie fort; da sie infolge ihrer Verwundung sehr geschwächt  waren, setzte man sie auf einen Stuhl und schoss sie kaltblütig über  den Haufen. Fünfzig Mann oder noch mehr stellte man an eine Mauer und  knallte sie weg. In einem einzigen Grab in Pelkum bei Hamm liegen  neunzig Mann. Misshandlungen, die schwere körperliche Schädigungen  hinterließen, waren in Dutzenden von Fällen eine tägliche Erscheinung.  Die Bayern taten sich selbstverständlich besonders hervor. Der weiße  Terror ging bluttriefend und mordend durch das Land, über Berge von  wehrlos hingeschlachteten Arbeitern. In den Hirnen aller Proleten  flammte nur ein Gedanke, in allen Herzen brannte nur eine Sehnsucht:  „Oh, wäre noch die Rote Armee da, hätten wir nicht auf die Lügen gehört  von der verfassungstreuen Truppe, die nur die Herstellung von Ruhe und  Ordnung will." 
    In Unna wurde ich verhaftet. Vierzehn Mann saßen wir in einem Zimmer,  das streng bewacht wurde. Man beliebte, uns alle Stunden zu erzählen,  dass wir erschossen werden sollten. Am Abend gegen neun Uhr kommt ein  Offizier und erklärt nochmals ausdrücklich: „Morgen früh fünf Uhr wird  geweckt und um sechs Uhr erfolgt die standrechtliche Erschießung."  Unter den Leuten waren etliche, die mit der Roten Armee absolut nichts  zu tun hatten. Sie brachen in lautes Weinen aus und beteuerten ihre  Unschuld. In eine Ecke legte ich mich schlafen; ich war nicht davon  überzeugt, dass man uns alle vierzehn erschießen wollte. 
    Um vier Uhr morgens, es war noch finster, erwachte ich. In einem  Flaschenhals brannte eine Kerze. Leises Wimmern und Stöhnen bezeugte  den Kummer der Leute, die da vermeinten, unschuldig sterben zu müssen.  Beim Licht der Kerze sah ich meine Brieftasche durch. Darin war noch  der Ausweis des Aktionsausschusses Stendal. Ein Entwurf zum Sturm auf  die Stendaler Kaserne. Mein Mitgliedsausweis der Kommunistischen  Partei, ein Schriftstück von der Roten Armee u. a. Die verdächtigen  Papiere steckte ich gesondert ein. Dann schrieb ich eine  Ansichtspostkarte mit dem Dortmunder Bahnhof an meine Eltern: „Liebe  Eltern, ich bin schon wieder auf dem Wege zu euch. Hier bin ich gerade  in einer sehr schlimmen Zeit eingetroffen; wenn ich das vorher gewusst  hätte, wäre ich nicht hergefahren. Arbeit gibt es hier nicht. Es  grüßt... Ludwig." Jetzt trommelte ich an die Tür. Der Posten meldete  sich, erklärte aber auf meine Bitte, austreten zu dürfen, das sei nicht  mehr notwendig, es ginge gleich los. Ich trommelte weiter. Er öffnete,  mit vorgehaltenem Revolver führte er mich zum Abort. Die Tür des  Abortes blieb offen. Der Posten stand seitlich davor. Es gelang mir  trotzdem, die verdächtigen Papiere in den Abort zu drücken. 
    Noch keine halbe Stunde war ich wieder in der Zelle, als die Tür sich  öffnete und wir alle vierzehn Mann auf einem Flur antreten mussten. Ein  Offizier nahm eine gründliche Durchsuchung der Papiere aller Gefangenen  vor. Ich stand am linken Flügel, drei Mann hatten verdächtige Papiere,  der eine einen Mitgliedsschein der Roten Armee. Sie mussten rechts  heraustreten. Drei andere hatten überhaupt keine Papiere. Bei mir  angelangt, fragte er, zu welchem Zweck ich von Stendal nach Westfalen  gekommen sei. — „Um Arbeit zu finden." — „Sie mussten doch wissen, was  hier los ist." — „Ich hatte keine blasse Ahnung." — „Machen Sie doch  keinen Kohl, Sie sind extra nach Westfalen gekommen, um der Roten Armee  beizutreten." Laut lachte ich aus mir heraus, es musste ziemlich  natürlich geklungen haben. Der Leutnant sah mich scharf an, er erprobte  seine Menschenkenntnis an mir und erklärte: „Sie sind doch mit der  Waffe in der Hand getroffen worden." Das war nicht der Fall gewesen,  denn ich hatte mein Gewehr an der Post in Dortmund beim Einmarsch der  Truppen auf einer Steintreppe zerschlagen. Nochmals lachte ich laut und  sagte: „Seit meiner Verwundung am Chemin des Dames im Oktober 1918 habe  ich kein Gewehr mehr in der Hand gehalten." — „Wo sind Sie denn  verwundet worden?" — „Am linken Schienbein." — „Zeigen!" Jetzt hielt er  die Karte an meine Eltern in der Hand, er las sie durch. Ich durfte  links herausgehen. Die drei, welche rechts herausgetreten waren,  blieben zurück. Zu uns links gewandt: „Machen Sie, dass Sie schleunigst  hier aus Unna verschwinden; wen wir hier nochmals erwischen, der wird  ohne weiteres an die Wand gestellt." Sind die drei Mann erschossen  worden? Ich habe es nicht erfahren. 
    Mit dem Triebwagen fuhr ich nach Soest. Dort war Ruhe, aber sicher war  ich dort auch noch nicht, denn es liefen auch in Soest genügend Häscher  umher. Abends fuhr ich nach Hamm, da waren die „Noskes" noch mit der  Massakrierung der Arbeiter beschäftigt. Trotzdem man im Wartesaal des  Bahnhofes die Arbeiter nicht wenig belästigte, habe ich bei dreifacher  Kontrolle wirklich gut abgeschnitten. 
    Um zwei Uhr nachts fuhr ich im D-Zug nach Stendal. Eine interessante  Unterhaltung hatte ich im Zuge. Gleich kurz hinter Hamm konnte sich ein  Fatzke mit seinen kritischen Bemerkungen nicht zurückhalten, die auf  meine Person als einen ehemaligen Rotgardisten anspielten. Er verstieg  sich soweit, den Mitfahrenden des besetzten Abteils zu erklären, dass  man mir den Spartakisten doch an der Nasenspitze ablesen könne. Das war  für mich allerdings nur eine Ehre, aber ich wollte mich dem Pinsel  gegenüber nicht äußern, zumal der Zug noch in der Reichswehrzone fuhr.  Seine Sticheleien nahmen kein Ende. Fast alle Insassen nahmen in Worten  Partei gegen mich. Nun verspürte ich zwar nicht die geringste Angst vor  der wildgewordenen Meute, aber es war meine einzige Waffe, zu  schweigen, das tat ich so ausgiebig, als wüsste ich überhaupt nicht,  dass man über mich spektakelte. Der Fatzke rauchte eine Zigarette nach  der anderen, er wurde immer nervöser. Ich zündete meine Pfeife an und  dampfte in dicken Wolken. Ein Mann, der sich als einziger auffallend  neutral verhalten hatte, nahm ebenfalls seine Pfeife zur Hand, um sie  zu stopfen. Laut und deutlich sagte ich in holländischer Sprache  folgende Worte, die ich mir vorher mühsam zurechtlegte: Wilt U mischien  en betje Tabak van myn, Mynheer, het is heel goede hollandsche Tabak  (mein Herr, darf ich Ihnen von meinem guten holländischen Tabak  anbieten?). Damit reichte ich ihm eine Tabakpackung mit holländischer  Aufschrift, die noch von der Roten Armee stammte. Höflich dankend  reichte er mir, nachdem er seine Pfeife gestopft hatte, das Paket  zurück. Der Tabak war wirklich gut, behaglich zog er an seiner Pfeife.  Er wollte sich gern mit mir unterhalten, es ging aber nicht, ich war  Holländer und er sprach nur deutsch. Die Gesellschaft geriet über die  Verwandlung des Spartakisten in einen Holländer in ziemliche  Verlegenheit. 
    Der Zug rollte immer weiter heraus aus den Fangarmen der Henker. Ich  schlief ein. Als ich erwachte, stand der Zug bereits in Hannover. Dort  ging ich auf dem Bahnsteig spazieren, bis das „Einsteigen" des  Schaffners ertönte. Noch am Fenster im Gang stehend, wurde ich von  einem Mann angesprochen. Der reinste Typ des Kriminalen stand vor mir.  Die Mitreisenden, die mich als Holländer kennen gelernt hatten, waren  nicht vom Bahnsteig fortgewesen, hatten auch mit niemand gesprochen,  also war dieser Greifer von meiner neuen Nationalflagge noch nicht  unterrichtet. Es bestand immerhin die Gefahr, dass er mir, wenn ich  mich als Holländer vorstellte, meine Papiere abverlangte. Diese  Gedanken durchzuckten in Sekunden mein Gehirn. 
    Mit harmlosen Dingen, so als spräche er mehr für sich selbst, versucht  er, mich in ein Gespräch zu ziehen. — „Ist eigentlich für die  Jahreszeit noch recht frisch so am Fenster, wenn der Zug fährt. 
    Ich glaube, wir kriegen überhaupt noch Regen heute, der wird wohl dann  so ein paar Tage dauern." Ich erwidere mit demselben Phlegma: „Na, et  kann ooch ruhig mal wieder rejnen, war doch janz jut det Wetter die  letzten Dage." „Hier in Hannover war's nicht so hervorragend; aber Sie  kommen wohl schon weit her? Das Wetter ist ja nicht überall gleich."  Ihm zuvorkommend sage ich: „Aus 'n Ruhrjebiet, da is jetz wat los, det  müssen Se doch schon jehört ham." — „Na eben! Da geht's wohl drunter  und drüber?" Ich fürchtete, dass jemand aus meinem Abteil mich  beobachten und uns in der deutschen Unterhaltung überraschen könnte,  darum sagte ich: „Na und frachen Se nich wie, mir brummt der Schädel  jetz noch; ick habe schon in Hannover een Kognak jetrunken; aber ick  muss noch mal 'ne Flasche Selterwasser trinken." Langsam trolle ich zum  Speisewagen, den Greifer in der Unterhaltung mitziehend. „Wat meinen  Sie, wie da det Blut über die Straßen fließt." „Na nu, so schlimm?"  „Ick weeß nich, wie Sie politisch stehn, aber ick sache Ihn', dagegen  war die Spartakuswoche vorijet Jahr in'n Januar bei uns janischt."  „Ach, Sie sind wohl Berliner? Ich höre es schon an der Sprache." „Wat  mein'n Sie woll, wie viel Mann da mit Waffen rumjeloofen sind? Sind, —  jetz is et natürlich aus. Schade, ick war extra von Berlin hinjefahren,  um mitzukloppen." Ein leises zufriedenes Aufatmen bezeugte mir sehr  deutlich, dass ihm mein Geständnis sehr wohl tat. — „Es ist aber  manchmal wirklich auch zu stark, wie man mit den Arbeitern umspringt; —  verdenken kann man es den Leuten nicht, wenn sie sich mal aufraffen."  Im Speisewagen bei einer Flasche Seiter erzählte ich die ganze  Geschichte der Roten Armee, man merkte, wie er interessiert staunte.  Dass die Greifer sich in den Zügen aus dem Ruhrgebiet betätigen würden,  war mir klar. Zwischen Gardelegen und Stendal bestellte ich zwei  delikate Frühstücke, indem ich mit der letzten Löhnung von der Armee,  ganz neuen Fünfmarkscheinen, fürchterlich prahlte. 
    Wie feixte der Klapsmann innerlich, dass ich mein Inkognito so  ausgiebig lüftete. Er mag sich schon in Berlin auf dem Lehrter Bahnhof  gesehen haben, wie er mich dort hinter Schloss und Riegel setzen würde.  Das Frühstück war noch nicht halb verzehrt, als der Zug bremste.  Stendal, Stendal. „Hier hält a doch en Ojenblick, wat?" Ich springe ans  Fenster und rufe einen Vorübergehenden an: „Hallo, hält der Zug hier en  Monement? Kann man mal raus, wat?" Zum Greifer: „Ick hole mal schnell  ene Pulle Kognak, die werd'n wa nachher int Abteil valöten." Ihm ganz  dicht ins Ohr flüsternd: „Hier drin is er viel zu deuer, in'n Wartesaal  is er ville billjer." Damit verlasse ich den Speisewagen, gehe in mein  Abteil, hole mein Gepäck und meine Mütze und laufe dicht unter den  Fenstern des Zuges nach vorn etwa 300 Meter vor die Lokomotive, in den  Schienen entlang, so dass man mich auch jetzt vom Zug aus nicht sehen  kann. Mit meinem Jackett unter dem Arm, in Hemdsärmeln, vermutet man  einen Bahnarbeiter. Der D-Zug rattert vorbei. Mein Gönner guckt mit  langem Hals nach dem Bahnhof zurück. — „Hallo, hä, hier", rufe ich aus  vollem Halse, „bezahl einstweilen das Frühstück und dann grüß den  Polizeipräsidenten von mir, du Greifer, dämlicher, ick komm mit dem  nächsten Zug nach." Vorbei saust der Zug. Ob er das Frühstück bezahlt  hat? 
    Während ich in der Nacht im D-Zug saß, war auch mein lieber Freund, der  Sozialdemokrat Brandenburg, auf Reisen gegangen. Allerdings etwas  unfreiwillig. Das ist wohl anzunehmen, wenn jemand eine Autofahrt in  eine andere Stadt macht und dabei nur mit Unterhose und Hemd bekleidet  ist. Die Tangermünder Genossen wollten ihn dringend sprechen und hatten  ihn in der Nacht um drei Uhr im Auto aus seiner Wohnung in Stendal  abgeholt. Böse Zungen behaupten, sie wollten ihn in die Elbe schmeißen.  Die zehn Kilometer Autofahrt dauerte keine Viertelstunde, das genügte  dem Gast der Tangermünder Genossen nicht, um über sämtliche Sünden  nachzudenken. Um ihm aber eine Gelegenheit zum Nachdenken zu geben,  setzte man ihn noch ein paar Tage in einen Keller; ein Keller ist für  alte hartgesottene Sünder der beste Platz, um über vollbrachte  Großtaten kritisch nachzudenken. Um die Haut des geliebten Führers  möglichst teuer zu verkaufen, verhaftete man in Stendal mehrere  Kommunisten. Wenn ich nicht irre, verspürte man große Lust, auch mich  für die Sicherheit Brandenburgs in Fesseln zu legen, aber ich glaube,  diese Absicht wäre bei mir total ins Wasser gefallen. Ich hätte sie  vielleicht mit dem Karabiner verjagt, das wird die Gesellschaft wohl  herausgefühlt haben. 
    Ein Herr konnte sich die nächtliche Reise Brandenburgs ohne meine  Mitwirkung nicht vorstellen, und das war der Polizeikommissar Treptow.  Er bestellte mich aufs Büro. Es gibt keinen größeren Spaß, als einem  neugierigen Polizeimann gegenüberzusitzen. 
    — „Guten Tag, Herr Turek!" — „Guten Tag, Herr Treptow!" — „Herr Turek,  Sie wissen doch, was bei uns in Stendal heute nacht passiert ist? Die  dumme Geschichte mit Herrn Brandenburg!" — „Ich habe davon erfahren." —  „Was halten Sie von dieser Sache, Herr Turek? Das entspricht doch  hoffentlich nicht Ihrer ehrlichen politischen Gesinnung." — „Ich habe  mich ehrlich darüber gefreut." 
    — „Das ist mir immerhin etwas unverständlich; ich denke, eine derartige  Methode einem politischen Gegner gegenüber ist nicht gerade als eine  taktvolle zu bezeichnen." — „Eine Taktlosigkeit zieht die andere nach  sich, Herr Kommissar." — „Es wird natürlich allgemein angenommen, Herr  Turek, dass Sie bei der Geschichte die Hand mit im Spiele haben, ohne  dass ich damit etwas Bestimmtes gesagt haben will." — „Leider nein,  Herr Kommissar, ich bin gänzlich unbeteiligt, ich bin erst heute  vormittag von Westfalen gekommen. Sie werden sich denken können, in  welcher Mission ich dort tätig war; aber ich muss gleich bei der  Gelegenheit einen Eid ablegen, dass mein Verhalten dort bereits durch  die Regierungserklärung, wonach Straffreiheit dem zugesichert wird, der  die Waffe bis zu dem in der Erklärung festgesetzten Datum niedergelegt  hat, amnestiert ist." — „In dieser Angelegenheit habe ich Sie nicht  rufen lassen, ich will nun fragen, ob Sie gewillt sind, Ihren Einfluss  geltend zu machen, diesen bedauerlichen Zwischenfall abstellen zu  helfen, damit Herr Brandenburg unversehrt nach Stendal zurückkehrt." —  „Bedaure sehr, Herr Kommissar, ich habe bezüglich Herrn Brandenburg gar  keine Hand frei." — „So, — dann ist unsere Besprechung erledigt." 
    Die bösen Zungen, die Brandenburg schon in der Elbe schwimmen ließen,  sollten unrecht behalten. Wie so mancher Vater sein Kind nicht mehr  schlagen kann, wenn es alle Untaten bereut und heilig und teuer  verspricht, es nicht wieder zu tun, so waren auch die Tangermünder  Genossen nachsichtig geworden und hatten Milde walten lassen.  Brandenburg kehrte zurück, heil und unbeschädigt. Unkraut vergeht nicht. 
    Ich wollte meinen Handel nicht wieder beginnen; das Schachern lag mir  nicht. Eintönig flossen die Tage dahin. Meinen Unterhalt verdiente ich  bei meinem Vater in der Zigarrenfabrikation. Er war auf einen grünen  Zweig gekommen, wie man zu sagen pflegt, hatte aus der Zeit vor dem  Kriege einen Fabrikationsschein und daher die 
    Berechtigung zur Fabrikation während des Krieges. Rohtabak war damals  knapp; wer den Fabrikationsschein nicht hatte, ging pleite, die anderen  machten gute Geschäfte. Er hatte ein Grundstück gekauft, dazu gehörten  zwei Morgen Ackerland. Auch sein Werkzeug hatte er vermehrt, so dass er  Gesellen beschäftigen konnte. (Um dem Proleten die Illusion zu rauben,  ein gewöhnlicher Sterblicher könnte von seiner Hände Arbeit reich  werden, will ich an dieser Stelle anfügen, dass mein Vater heute arm  ist wie eine Kirchenmaus, alles hat die Steuer gefressen. Die Inflation  hat ihm sein Grundstück geraubt. Und weil er dem Staate 140,75 Mark  Banderolensteuer nicht bezahlen konnte, musste er vom 20. Juli bis 3.  August 1929 eine Haftstrafe abbüßen. Die namhaften großen  Zigarettenfabriken schulden dem Staate Hunderte Millionen Steuern. Noch  kein Direktor dieser Firmen hat brummen müssen. Ein 61jähriger ehrsamer  Handwerker, der nur mühsam sein Gewerbe aufrechterhält, muss, so  erfordert es in diesem Falle das Staatsinteresse, vierzehn Tage  eingesperrt werden wegen 140,75 Mark. Das nennt man Gerechtigkeit.) Als  nun etliche Wochen verflossen waren, hielt ich es in der Enge der  Werkstube nicht mehr aus. Es zog mich sehr nach dem Ruhrgebiet; die  gewaltigen Industrieanlagen, das wogende Heer der Proletarier, das ist  Leben, Bewegung. Mit einem Jugend- und Parteigenossen, namens Otto  Basel, fuhr ich Anfang Juni nach Dortmund. Wir hatten so wenig Geld,  dass wir ohne Arbeit keine drei Tage leben konnten. Wie fleißige Bienen  summten und brummten wir in der Stadt umher nach Arbeit. Überall  vergebens. Einen ganzen Tag, von morgens bis abends, immer abgewiesen,  an manchen Stellen wegen „Unbefugten Betretens der Werksanlagen" barsch  hinausgeworfen, angeschnauzt, vertröstet auf morgen, übermorgen,  nächste Woche. Alles, jede nur denkbare Möglichkeit zur Arbeit wird  untersucht, nachgefragt, vergebens. Todmüde wird noch ein Weg gemacht,  zum Eisen- und Stahlwerk Hösch. Der Portier verspricht uns, wenn wir  morgen sehr früh zur Stelle wären, könnten wir Glück haben, die  Abteilung Steinfabrik hat Leute angefordert, sehr schwere Arbeit, Quarz  abladen. Wir fragten, wann wir denn morgen erscheinen müssten. „So früh  wie möglich, sehr lange vor Arbeitsanfang." Wir sind wirklich lange vor  Arbeitsanfang dort und man stellt uns ein. Am anderen Tag können wir  anfangen. Halbtot infolge der durchwachten Nacht auf dem Bahnhof,  beginnt nun ein zweites Rennen, nicht leichter als das erste. Wenn auch  ein Misserfolg nicht so deprimierend wirkt, so kann er doch zum  Verhängnis werden, denn eine richtige Nachtruhe ist unbedingt  erforderlich, um auf die Dauer schwere Arbeit zu leisten. Straßenweise,  ohne einen sonstigen Anhalt, klopfen wir die Häuser ab. Unsere immer  wiederkehrende Frage lautet: „Wissen Sie vielleicht zufällig, ob hier  im Hause jemand vermietet?" Viele Hinweise bekommt man, doch letzten  Endes verläuft alles ins Nichts. Fünf bis sechs Stunden dauert das  Rennen, mein Genosse will den Kampf aufgeben. „Noch eine Stunde, Otto,  es hilft doch nichts, wir sind geplatzt ohne Bleibe." Da stehen wir in  der Enscheder Straße Nr. 5, aus einem anderen Hause hat man uns  hingewiesen: „Wischnowski", so lautet das Türschild, wo wir unser Glück  probieren wollen. Frau Wischnowski ist eine alte Polin mit sehr  schlechten deutschen Sprachkenntnissen. 
    Wer das Ruhrgebiet nicht aus eigener Anschauung kennt, wird vielleicht  noch nicht wissen, dass dort sehr viel Polen wohnen. Und zwar soviel,  dass mehrere polnische Zeitungen existieren können. Es gibt in allen  großen Städten des Ruhrgebietes ganze Straßen, wo vorwiegend Polen  wohnen. 
    Bei Tante Wischnowski zogen wir ein. Wie atmeten wir auf: Arbeit und  Wohnung! Gleich ging's zum Bahnhof, um die wenigen Habseligkeiten zu  holen. Aus zwei Räumen besteht die Wohnung der Frau Wischnowski, der  Küche mit einem Bett und einer Schlafstube mit drei Betten. Ein Enkel  von siebzehn Jahren, Stanislaus, schläft im dritten Bett. Den  Wandschmuck der Wohnung bilden achtzehn Heiligenbilder. Auf welche Wand  man auch blickt, überall hängt der gekreuzigte Jesus. Es ist nicht  übertrieben zu sagen, dass die alte Frau täglich von morgens bis abends  in der Kirche saß. Ein ewiger gehässiger Streit wurde zwischen ihr und  Stanislaus geführt. Die Alte versuchte, ihre katholische Lebensweise  auch dem Stach (Abkürzung für Stanislaus) aufzuzwingen, dieser jedoch  kämpfte mit Lug und Trug und Frechheit dagegen an. Die Formen, die  dieser Kampf manchmal annahm, steigerten sich bis zum Drama; mit dem  Beil drohte man sich gegenseitig. Jede, auch die kleinste Handlung des  Stach bedachte die Alte mit einer äußerst stachligen Kritik.  Frühmorgens lief sie schon in die Kirche, dann wieder nach dem  Frühstück bis kurz vor Mittag. Richtiges Essen zu kochen, hatte sie  keine Zeit. Mehlsuppe, Pellkartoffeln, Kartoffelsalat, oder vielfach  überhaupt nur grüner Salat bildeten die Hauptmahlzeiten. Des  Nachmittags ging sie wieder in die Kirche und abends noch mal. Ich habe  sie einmal gefragt, was sie dort mache? Da wurde sie hundsgemein. Sie  schickte uns einen Pfaffen auf den Hals, der sich einen gehörigen  Schnupfen bei uns holte, worüber sich der Stach unbändig freute, die  Alte sich aber grün und blau ärgerte. Sie hatte Stunden, wo sie sich  über uns gottlose Kerle fast selber verzehrte, vor Ärger. Nie habe ich  die Frau lachen sehen, nicht einmal lächeln, stets lief sie mit einer  griesgrämigen Miene einher. Die Pfaffen hatten ihr den Auftrag erteilt,  auf uns und insbesondere auf Stach im Sinne eines frommen Katholiken  einzuwirken, darum ihr fürchterlicher Zorn, dass sie auf diesem Gebiete  überhaupt keine Erfolge hatte. Es war nicht möglich, auch nur zehn  Worte an sie zu richten, ohne dabei als gottloser Mensch, Teufel oder  sonst irgendein unkatholisches Wesen hingestellt zu werden. Die Alte  gab Spaß. 
    Die Arbeit auf dem Stahlwerk war ungemein schwer. Aus Waggons wurde  Quarz auf große Halden geladen. Von den Waggons bis zum Stapelplatz  wurde eine schwere Bohle gelegt und darauf die Quarzblöcke  transportiert. Quarz kommt aus den Steinbrüchen in Stücken von zwei  Zentnern abwärts bis zur Pflastersteingröße. Als Rest eines leeren  Waggons bleibt noch kleiner Schutt übrig. Die Steine sind scharf und  eckig. Wenn man den ganzen Tag mit den schweren, kantigen Steinen auf  der Bohle herumgeturnt hat, weiß man am Abend, was man tagsüber gemacht  hat. 
    Das Eisen- und Stahlwerk Hösch ist eine gewaltige Industrieanlage. Etwa  dreißig große Schornsteine atmen ihren Rauch aus. Aus der Abteilung  „Martinswerk" speien Spezialschmelzöfen ihren Funkenregen zum Himmel.  In mehreren modernst eingerichteten Hochöfen, ich glaube, es sind  sieben, kocht das Eisen, mischt sich ein dicker Strom glühendflüssiger  Schlacke mit Wasser und dort brodelt's, zischt's, gurgelt's, dort  sprühen Dämpfe mit donnerartigem Getöse, dass der ängstliche Neuling,  dem es meistens zum Ausreißen zumute ist, nicht begreift, Woher die  Männer mit den schwarzen Augen, die nicht mehr von dieser Welt zu sein  scheinen, mit den klobigen, mit Sackleinen umwickelten Beinen, die  Kraft nehmen, in diesem dauernden Vulkanausbruch auszuhalten. Giftige  Dämpfe durchziehen das gigantische Werk. Vom Portier bis zu meiner  Arbeitsstelle habe ich fünfzehn Minuten über Schienen hinweg und unter  Drahtseilbahnen hindurch zu gehen, und das ist noch nicht die ganze  Länge des Werkes. Eine Kokerei mit Hunderten von Retorten liegt meinem  Arbeitsplatze gegenüber. Kommt der Wind von dort, müssen wir im Qualm  fast ersticken. Berge weißglühenden Kokses werden von halbnackten  Männern mit Wasser bespritzt. Du gehst in respektabler Entfernung  vorbei und wendest dein Gesicht ab, weil du das Gefühl hast, als  verschmore deine Haut. Wie ist es möglich, dass diese Menschen dort  unten nicht bei lebendigem Leibe verbrennen? 
    Drüben tanzt auf hohem eisernen Gerüst ein großes Rad, darauf führt ein  dünner Faden, der geht in einen schwarzen Schlund viele hundert Meter  tief in die Erde. Es ist die Förderanlage „Kaiserstuhl", zum Werk  gehörig. Kaiserstuhl, — schlechter Name. Zu jedem Schichtwechsel hängt  dort an diesem Faden das Leben der Kumpel. Einige Zeit später, 1921,  riss dieser Zwirnsfaden, zwanzig Mann sausten in die Tiefe, um unten  mit zerschmetterten Knochen zu landen. Tot! — „Seilbruch!" berichtet  die Direktion. 
    Dort am Schacht sah ich an einem Morgen eine Frau sitzen, ich weiß  heute noch nicht, in welcher Absicht sie dort saß. Als wollte sie  hinunter, dort, wo kalte Grabesluft herausströmte. Ihr Gesicht war der  Gram und Schmerz selber. Ich stand höchstens drei Meter von ihr  entfernt, sie musste mich bemerkt haben; unverwandt senkten sich ihre  Augen in den Schacht. Diese Frau, sitzend auf einem Holzklotz, strahlte  einen Heiligenschein von sich, denn niemand wagte sie anzusprechen. 
    Unsere Arbeit auf dem Platz war zu Ende, und wir wurden bei der  Röhrenfabrikation aller Kaliber beschäftigt. Wenn der Quarz gebrannt  ist, wird er gemahlen und mit Ton vermischt. Das gibt eine klebrige,  zähe Masse, die es gestattet, alle Steine, Röhren, Halbröhren usw.  daraus zu formen. An unserer Röhrenpresse hieß es arbeiten, dass der  Schweiß in Strömen floss. Wir wechselten ab, einmal legte der eine die  Masse in die Maschine, während ein anderer die Röhren abhob, die wie  bei einer Wurstmaschine herausgepresst wurden. Der dritte hatte den  schwersten Posten. Er legte die Röhre in die Form und hatte, ähnlich  einem Rammer bei den Straßenpflasterern, mit mehreren wuchtigen  Schlägen die halbfertige Röhre in die endgültige Form zu rammen. Mit  einer Mischung von Benzol und Öl schmierte man die Form aus, was sehr  häufig geschehen musste, da der Rammer sonst die Röhre aus der Form  wieder herauszog. Den beizenden Geruch von Benzol und Öl, das bei der  Temperatur, die im Ofenhaus meist über dreißig Grad betrug, sehr  schnell verdunstete, in Augen und Nase aushalten und mit dem schweren  Rammklotz in gebückter Haltung eine Stunde arbeiten, bis der  Röhrenabnehmer ablöst, das will etwas heißen. Hose und Hemd sind nass  wie ein Waschlappen, das Herz und die Lunge gehen wie ein  Zweitaktmotor. Ton- und Steinstaub machen die Luft fast undurchsichtig,  dabei ist der Steinstaub für die Lunge sehr gefährlich. 
    Die Abteilung „Steinfabrik" beschäftigte 350 Arbeiter. Über hundert  Arten Steine und Röhren wurden hergestellt. Wir arbeiteten nur für den  Bedarf des Werkes selbst. In den Ofenkammern setzte man die Steine oder  Röhren, nachdem sie vorher einige Zeit an der Luft getrocknet waren,  hoch geschichtet auf. Dann wurde Heizmaterial hineingeschafft,  entzündet und der Eingang zur Kammer zugemauert. Durch eine Röhre von  nur wenigen Zentimetern Durchmesser blickt man in den Ofen hinein,  gerade auf einen Porzellanstab. Erst wenn dieser Stab, der mit dem  Feuer nicht unmittelbar in Berührung kommt, abgeschmolzen ist, sind die  Steine oder Röhren richtig durchgebrannt. Der vermauerte Eingang wird  geöffnet und die Kammer glüht langsam aus. Dieser Vorgang dauert  mehrere Tage. Bei vierzig bis fünfzig Grad wird der Ofen geleert. Man  kommt sich dabei vor wie in einer Bratpfanne. Natürlich sind die  gebrannten Stücke noch so heiß, dass man sie nur mit Handschutz  anfassen kann. Heraus kommt man mit triefendnassem Körper, hämmernden  Schläfen, voller Verwünschungen und mordsmäßiger Flüche. Warum immer  wieder in diesen Backofen hineinkriechen? Mein Freund Bäsel ist in den  zwei Monaten schon fast fertig. Ich selber habe verdammt wenig Lust,  das Eisen- und Stahlwerk Hösch noch länger mit meinem Schweiß zu  tränken. 
    Wie sie sich hierin alle gleichen! Fragt alle Höschproleten, die den  wirklichen Produktionsprozess besorgen, ob sie Lust haben zur Arbeit,  ob sie nicht einen Wunsch verborgen tragen, der Erlösung ist, Erlösung  aus der unendlich schweren Fron!? — „Gottverdammte Scheiße" — jeden Tag  zwölfdutzendmal sagt Jupp diese zwei ehrlichgemeinten Worte zu seiner  Drehscheibe, die nicht funktioniert, wo der Steintransport die Kraft  eines Ochsen erfordert, um über diesen toten Punkt hinwegzukommen. —  „Hundemist, verfluchter!" — wettert Hannes, wenn sich beim Heben eines  großen Quarzblockes seine Sehnen bis zum Zerreißen spannen. Sie alle  fühlen das Unerträgliche ihres Proletendaseins, aber es ist  unabwendbar, solange sie sich nicht neben dem Schimpfen und Fluchen  eine wirksamere Art Kritik zulegen, eine revolutionäre Weltanschauung,  mit dem festen Willen zur Tat! In der höchsten Not und Bedrängnis, wenn  ihn der Senf packt und kein Ausweg mehr zu finden ist, haut der Prolet  „in den Sack". Das nützt nichts! 
    Tünnes und Jupp, de arbeiten beide bi Krupp. Bi Krupp, da war es  beschissen, Da gingen sie beide nach Thyssen. Bi Thyssen, da hörten se  upp Und gingen wieder nach Krupp! 
    Es gibt Schlaue, die versuchen es, mit Nebenbeschäftigung eine  bestimmte Summe Geld zusammenzukratzen, damit sie „etwas anfangen  können." Wo es gelingt, dient es Hunderten zum Ansporn, um  Bekanntschaft mit dem Pleitegeier zu machen. (In Gelsenkirchen kannte  ich einen Bergmann, der hatte durch Nebenbeschäftigung soviel  erschuftet, dass er sich ein Grundstück mit etwas Acker kaufen konnte.  Als er diesen Segen ein Jahr genossen hatte, starb er an Schwindsucht  als Folge von Überarbeitung. Seine Frau und Kinder gerieten in Not und  Schulden.) — Viele spielen Lotterie und „leben" von der Hoffnung. Mir  kommt das vor, als wenn ihnen der Wind das Geld vom Fenster geblasen  hat und sie warten, bis er es wiederbringt. Andere wetten auf  Pferderennen und gewinnen auch manchmal, d. h. nachdem sie genügend  verspielt haben. Andere wieder züchten Kanarienvögel, Brieftauben oder  Karnickel. Manche wieder vermieten an Kostgänger und lassen die Kinder  in der Küche schlafen. Geschäftstüchtige handeln nach Feierabend in  Kneipen und Bahnhöfen mit Heftpflaster, Schnürsenkeln, Kragenknöpfen  und wer weiß was noch. Talentierte, die sich berufen fühlen, den  Unterschied zwischen arm und reich auf ihre Art auszugleichen,  trainieren sich im Langefingermachen, doch meistens langt's nur für die  schwedische Gardinenspannerei. Ganz Verwegene trinken Helles und, wenn  „das" immer noch nicht hilft, Kognak oder Nordhäuser. 
     | 
  
    
    Hinweis:      Für die Korrektheit der Angaben in diesen Versionen und die Identität              der Texte mit dem angegebenen Original wird keine Verantwortung übernommen.              Eine Vervielfältigung der Dokumente zum Zwecke des Vertriebs ist              nicht gestattet. 
     
    |   |