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B. Traven - Die Troza (1936)
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DREIZEHNTES KAPITEL

1

Als die beiden Muchachos mit der ersten Troza ankamen, sahen sie, dass vor ihnen andere Boyeros hier gewesen waren und ihre Trozas am Rande des Grabens abgeladen hatten. An dieser Stelle vereinigten sich nun mehrere Boyeros, die aus den verschiedenen Richtungen Trozas heranschleppten.
Der fernere Weg bis zum Tumbo wurde so schwierig, dass alle Gespanne von hier aus gemeinsam arbeiten mussten. Nicht genug damit, es wurden vom Campo noch einige Ochsenpaare mehr hierher geschickt, wie El Gusano dem Andres am Morgen versprochen hatte.
Die beiden Muchachos trieben die Ochsen leer zurück, um die nächste Troza heranzuführen.
»Warum heißt denn der Graben Arroyo Ciego, Andres?« fragte Vicente. »Ein Graben kann doch nicht gut blind sein«, setzte er hinzu, lachend, nach der Art der Jungen, die sich nicht sicher fühlen, ob sie soeben von einem Älteren angelogen wurden oder ob es vielleicht in Wahrheit doch so sein könne, wie der Ältere und Erfahrenere gesagt hat.
»Dieser Arroyo«, erklärte Andres, während die beiden nebeneinanderher schlenderten und die vor ihnen marschierenden Ochsen vorwärts trieben, »dieser Graben hat eine recht niedliche Geschichte mit viel Humor. Es ist eine lustige Geschichte für den, dessen Geld es nicht kostete. Du hast vielleicht gesehen, dass der Graben in der Richtung zum Fluss abfällt. Wenn wir Regenzeit haben, dann strömt das Wasser in diesem Arroyo in den Fluss, und wenn wir dann hier die Trozas aufschichten und die Strömungen beginnen und der Graben voll Wasser ist, dann lässt sich von hier sehr gut schwemmen.
Als im vorigen Jahr hier geschlagen wurde, nur weiter oben an diesem selben Arroyo, da ging Don Remigio diesem Graben nach. Er ging aber nicht bis zum Ende, weil er ja sehen konnte, dass der Graben in den Fluss einmündete.
So wurden an diesem Graben, etwa fünf Kilometer weiter oben, ungefähr zweihundert Tonnen Caoba aufgeschichtet, fertig zum Abschwemmen. Die Regenzeit kam, das Hochwasser füllte den Arroyo, und die Muchachos schoben lustig und vergnügt die Trozas in den Arroyo. Die Trozas schwammen wunderschön von dannen, ohne viel Arbeit zu machen mit Klarschieben. Aber an der Hauptkontrollstelle des Stromes, an den Oficinas, wo die Trozas aufgefangen werden zur Buchung und Verrechnung, da fehlten die zweihundert Tonnen, von denen Don Remigio genau wusste, dass sie abgeschwemmt worden waren. Er hatte seine Marke in allen Trozas, und ihm fehlten zweihundert Tonnen.
Die Trozas mussten gesucht werden. Es war für Don Remigio und die Muchachos keine leichte Arbeit, den ganzen Graben entlangzuwandern. Jeder Schritt musste aus dem Dschungel herausgehauen werden, um den Graben genau verfolgen zu können. Und was denkst du dir, was geschehen war?«
»Das kann ich nicht erraten«, sagte Vicente.
»Sicher nicht, Nene. Die Trozas wurden alle in einem Sumpf gefunden. Der Arroyo machte auf seinem Wege eine Schwenkung, oder besser, er gabelte sich. Die Hauptfurche lief in den Sumpf, und eine Nebenfurche, die nicht tief genug war, dass Trozas in ihr schwemmen konnten, lief weiter und wahrscheinlich zum Fluss. Diese zweihundert Trozas aus dem Sumpf zu fischen, das hat Don Remigio genug Arbeit gekostet. Er musste Balsas, Flöße, bauen lassen, auf denen die Muchachos die Trozas im Sumpf erreichen und fischen konnten. Celso sagte mir, dass kaum hundert Tonnen gefischt werden konnten, die übrigen stecken noch drin und sind verloren. Der Graben ist blind, wie du siehst ich meine, er hat keine Abfahrt zum Fluss, obgleich er den Anschein erweckt, dass er richtig abläuft. Aber das ist nicht unsere Sorge. Unsere Sorge wirst du kennen lernen, wenn wir alle Trozas vor dem Blinden Graben haben und auf die andere Seite hinüberschleppen müssen, denn der Hauptgraben, der zum Fluss führt, ist noch eine halbe Legua weiter auf der anderen Seite des Blinden.«

 

2

Ein und eine halbe Stunde später hatten alle Boyeros ihre
Trozas am Blinden Graben. Es war nun ihre Aufgabe, die
Trozas auf die andere Seite zu schleppen. Sie machten sich sofort an die Arbeit.
Sie suchten die Stelle des Grabens, wo das beste Gefälle war. Hier stiegen einige Muchachos hinunter und hackten alles Gebüsch und Gesträuch weg, das den fallenden Trozas hätte hinderlich sein können. Der Arroyo hatte eine Tiefe von etwa zwanzig Metern. Die Wände fielen ziemlich steil ab.
Die Breite war vielleicht zwölf Meter.
Als die eine Wand von Gestrüpp gereinigt war, gingen die Burschen über die zweite Wand her.
Inzwischen waren andere tätig, die Ochsengespanne mit Ketten aneinanderzukoppeln. Es wurden zwölf Gespanne zu einem Zug zusammengekettet.
Auf dem Grunde des Grabens war das Gestrüpp am dichtesten. Eulalio, einer der Boyeros, stand bis über die Brust in diesem Gestrüpp und hackte rechts und links mit dem Machete, um den Graben zu säubern. Der Boden war angefüllt mit Steingeröll, das teils von oben heruntergefallen und teils im Laufe der Zeit angeschwemmt war. Andres arbeitete mit seinem Machete einige Meter höher an der gegenüberliegenden Wand und hackte hier das Gestrüpp weg Die Gananas, die jungen der Boyeros, schafften das abgehackte Gestrüpp zur Seite, um den Graben völlig rein zu haben. Andres richtete sich für einen Augenblick auf, um sich den Schweiß, der ihm in die Augen lief, abzuschütteln. Er rief Vicente an: »He, Nene, das Gestrüpp musst du schon einige Schritt weiterschleppen, sonst kommt es uns in den Weg, wenn wir die Trozas 'runtergleiten lassen.« Als er das sagte, folgte er mit den Augen Vicente, und dabei fiel sein Blick auf Eulalio, der im Grunde das Gebüsch hackte und gerade jetzt die Steine freigelegt hatte.
Er wollte sich soeben seiner eigenen Arbeit zuwenden, als er wie zufällig noch einmal auf das Steingeröll am Grunde blickte. Und gleichzeitig schrie er laut auf: »Una culebra, Eulalio!«
Eulalio hatte das drohende, merkwürdige Ratteln der Schlange wohl gehört, aber einige Sekunden lang nahm er dieses unzweideutige Geräusch in seinem Bewusstsein nicht ganz auf, weil er meinte, er irre sich und das Geräusch könnte vielleicht von den Muchachos herkommen, die mit den Ochsengespannen wirtschafteten und dort mit Ketten und Geschirren rasselten und rattelten. Als Andres jedoch schrie: »Una culebra!«, da sprang Eulalio instinktiv zurück. Aber er stolperte gegen einen Strunk, der von dem abgehackten Gestrüpp stehen geblieben war, und den letzten Halt, den er vielleicht noch hätte gewinnen können, verlor er, als er auf lose Steine trat, die nachgaben und ihn zu Fall brachten. Dadurch streckte er gegen seinen Willen den nackten Fuß der Schlange entgegen, die, durch das Zerstören ihres Heimes aufs höchste erbost, ihren Körper halb aufgerichtet und in der Sekunde, als Andres sie von seinem erhöhten Standplatz aus sah, angesetzt hatte, um, einem Peitschenhieb gleich, auf Eulalio loszuflitschen. Ihr weitgeöffneter Fang würde wahrscheinlich beim ersten Aushieb nur auf Eulahos hochgekrempelte Hose zugeschlagen haben, und da die Hose nahe den Hüften genügend wulstig war, würde wahrscheinlich der Fang nur die Hose aufgerissen haben, ohne den Körper zu verletzen, und Eulalio hätte genügend Raum gewinnen können, um weiter zurückzuspringen. Nun aber, da er gefallen war und der Schlange auch noch seinen Fuß so weit entgegenstreckte, dass er einen Viertelmeter vom Fang der Klapperschlange entfernt war, und diese, ihrem Instinkt folgend, den ausgestreckten Fuß als eine Waffe ansah, die gegen sie gerichtet war, schlug sie mit voller Wut und all ihrer Kraft ihren Fang gleich zweimal tief in das Bein des Eulalio, am unteren Teil der Wade, im zweiten
Schlag auch noch eine oder gar zwei Sekunden im Fleisch hängen bleibend. Nachdem die Schlange ihren Aushieb getan hatte, wendete sie sich und fuhr mit der Raschheit und der Sicherheit eines Pfeils in das geschlagene Gestrüpp am Boden des Grabens, in der Richtung, wo Vicente das Gestrüpp forträumte.
»Nene, una culebra!« schrie Andres, den Jungen warnend.
Vicente hatte aber den ersten Ruf gehört, den Andres Eulalio zuschreien konnte. Darum war Vicente bereits auf halber, Höhe der Grabenwand, als die Schlange dort anlangte, wo er beschäftigt gewesen war, das Gestrüpp beiseite zu schieben.
Die Burschen, die oben am Rande des Grabens mit den Ochsen wirtschafteten, hatten das Schreien des Andres ebenfalls vernommen und kamen nun mit den Machetes herbei, um die Schlange zu fangen. Es waren viele unter ihnen, die Schlangenfleisch als guten Leckerbissen willkommen hießen, um so mehr, als die Kost, die ihnen der Koch verabreichte, so dürftig war und so wenig abwechslungsreich, dass jede Zugabe, die Fleisch war oder als Fleisch betrachtet werden durfte, eine Bereicherung bedeutete. Als junge und unglaublich hart arbeitende Menschen waren sie immer hungrig, und irgend etwas, was ihre Mahlzeiten fetter machen konnte, war gleich einer unerwarteten Gabe des Himmels. Sie gingen so weit, getrieben von ihrem Hunger nach vollwertiger Nahrung, dass sie, wenn ihnen am Nachmittag Zeit blieb und sie während ihrer Arbeit die Entdeckung eines reichen Ameisenhaufens gemacht hatten, den Ameisenhaufen ausgruben, die Ameisen trockneten und dann, einige Tage darauf, in Fett rösteten, um sie, mit Chile reichlich gewürzt und in heiße Tortillas eingewickelt mit höchstem Genuss zu essen. Gelegentlich in Fett geröstete dicke Ameisen zu haben ist auf alle Fälle besser und zuträglicher, als tagaus, tagein und zu jeder Mahlzeit nur Tortillas und schwarze Bohnen mit grünen Pfefferschoten essen zu müssen.
So rasch aber auch die Burschen hinter der Schlange her waren, sie kannte ihre Umgebung besser.
Oben und außerhalb des Grabens wäre sie den Burschen nicht entwischt. Aber sie war schwer zu fangen in dem tiefen Arroyo, der dicht bewachsen war mit dornigem, tropischem Gebüsch, dessen Boden angefüllt war mit losem Steingeröll, in dessen Wänden nach allen Richtungen hin Löcher, Gänge und kleine Höhlen gegraben worden waren von allen möglichen Tieren, die in diesem Gestrüpp lebten. War die Schlange hier erst einmal entwischt, dann war es aussichtslos, sie weiter zu verfolgen.
»Verflucht«, rief Cirilo, »sie war ein mächtiges Luder, das muss ich schon sagen. Ich wette, sie hatte nahe zwei Meter, und sie war sicher so dick wie mein Arm. Schade, dass wir sie nicht kriegen konnten.
Was die heute Abend einen guten Braten gegeben hätte! Schlangensteaks. Es ist wirklich zum Weinen.«
»Ich würde nie auch nur einen Bissen von einer Schlange anrühren, auch wenn ich verhungern sollte«, sagte Sixto, sich schüttelnd. »Ich lasse mir einen guten Braten von einer großen Eidechse wohl gefallen, einer fetten Iguana. Das ist das Richtige. Fleisch, so zart und schmackhaft und noch besser als das eines jungen Zickleins. Aber eine Schlange essen? Ich sicher nicht.«
»Dann weißt du eben nicht, was gut schmeckt auf dieser Erde«, berichtigte ihn Cirilo. »Wie kann ein Christ denn eine Iguana essen? Iguanas sind giftig, weißt du das nicht?«
»Wir haben daheim genug gegessen, und niemand ist je daran gestorben, das kann ich dir nur sagen.«
Sie kehrten zurück zu ihrer Arbeit.
Eulalio war nach seinem Fall rasch aufgesprungen gleichfalls hinter der Schlange hergerannt. Auch er ging zurück und setzte seine Arbeit, den Graben von Gestrüpp zu lichten, fort. Andres stand am Rande des Grabens und rief Eulalio zu: »Ich glaubte, sie hätte dir eins ausgewischt, es sah ganz so aus.«
»Nichts zu machen, ich war ihr zu rasch fort mit dem Bein«, antwortete Eulalio.

 

3

Der Graben war gereinigt, und die Burschen stiegen die Trozas auf dieser Seite hinunter, bis alle im Graben aufgehäuft waren. Dann wurde die oberste Troza angehakt, und die Ochsen begannen, sie auf das gegenüberliegende Ufer hinaufzuziehen. Mit weniger als zehn Gespannen wäre sie kaum hochgekommen.
Während die Burschen hier noch arbeiteten, kamen weitere Gespanne, die gleichfalls Trozas bis hierher geschleppt hatten, zur Hilfe, und nun war das gesamte Campamento, das volle Arbeitskommando der Boyeros, versammelt. Jedes Gespann hatte seinen besonderen Jungen. Die erfahrenen Boyeros klebten an der steilen Grabenwand, die Troza hin und her hakend und schiebend, damit sie sich nicht zu tief in die weiche Wand bohren sollte, während sie hinaufgezogen wurde. Nach dem Transport einiger Trozas aber war die Wand völlig aufgerissen, und mit jeder weiteren Troza kostete es mehr Anstrengung, die Stämme hochzuzerren.
Es wurde versucht, sie quer zu nehmen und an jedem Ende gleichzeitig anzuhaken. Aber dann ergaben sich neue Schwierigkeiten. Der Stamm schleppte nun in der ganzen Breite über die aufgerissene weiche Grabenwand, und die Last wurde zu schwer, so dass die Ochsen sie nicht mehr zu ziehen vermochten. Die Burschen ketteten wieder los und zerrten die Troza wie gewöhnlich mit der Spitze voran hoch. Ein langer Ast wurde unter die Spitze geschoben, und an jeder Seite kletterten vier Burschen hoch, die den Ast gleichzeitig emporhoben, um die Spitze nicht in die Wand einrennen zu lassen. Bei jedem Anziehen der Gespanne jedoch verloren die Burschen ihren Halt an der Wand, fielen mit ihrem Ast hinunter auf den Boden und mussten aufs neue hinaufklettern, um mit dem nächsten Anziehen die Troza einen Meter weit hochzuschaffen.
Es war nach einem solchen Herunterfallen, als Eulalio zu Andres sagte: »Ich kriege keine Luft mehr, Andreucho. Der Graben ist so stickig.« Er kletterte auf allen vieren an der Wand hinauf und stellte sich oben gegen einen Baum, wo er mit weitgeöffnetem Mund nach Luft schnappte.
Nach einer Weile schien es ihm, als habe er sich erholt, und weil er die Burschen sich mit einer neuen Troza so abquälen sah, gedachte er wieder in den Graben hinunterzusteigen, um ihnen zu helfen. Aber als er das Bein bewegen wollte, fühlte er in der Wade ein Kribbeln, und dann war es ihm, als schliefen ihm die Zehen ein. Dieses Gefühl ging rasch vorüber. Er machte eine zweite Anstrengung, den Graben hinunterzuklettern, als er nun einen heftigen Schmerz in der Wade fühlte. Er empfand den Schmerz wie ein Stechen und gleichzeitig wie ein Zusammenpressen,   unterbrochen  von  einem  Rucken  und
Stoßen.
Wieder versuchte er aufzutreten, und abermals fühlte er, dass er keinen sicheren Stand auf seinem Fuße habe. Er setzte sich. auf den Boden und bemerkte, dass aus der Wade Blut quoll, das ihm sehr dunkel erschien. Er besah sich die Wunde und rief Andres an, der, oben am Rande des Grabens angekommen, mit seinem Haken die Troza, die heraufgeschleppt war, herumzuziehen versuchte, während die übrigen Burschen von unten aus die Troza nachschoben, um den Ochsen zu helfen, sie über den Rand zu zerren.
»Ich habe mich beim Fallen an einem Dorn gerissen« sagte Eulalio zu Andres. »Vielleicht war der Dorn giftig. Oder es war ein Splinter von einem Chechen. Oder eine Fliege hat mich gestochen. Und es scheint, sie war giftig. Hier fühlt es sich hart und geschwollen an.«
»Lass sehen, Lalio«, sagte Andres, bei ihm niederkniend. Er sah sich die Wunde genauer an. Dann ließ er Eulalios Bein zurückfallen. Sein Gesicht hatte einen erschrockenen Ausdruck.
»Du, Lalio, das ist, gottverflucht noch mal, sehr böse. Ich glaubte, sie hätte vorbeigeschlagen. Aber sie hat dich gekriegt. Und ordentlich. Hier sind die Fänge drin. Ganz deutlich zu sehen. Das sind keine Beißfliegen und auch keine Dornen.«
Die Muchachos standen oben am Grabenrand, um Atem zu schöpfen, während die Ochsenjungen den Zug der Gespanne wieder zurückzerrten, um die nächste Troza heraufzuziehen.

 

4

»He, Muchachos!« rief Andres. »Her mit euch! Ein Feuer angezündet. Das gottverfluchte Luder von einer Chingada Culebra hat den Lalio geschnappt. Vicente, lass mich mal deinen Rachen ansehen.«
Vicente kam willig herbei und sperrte seinen Mund weit auf. Andres besah sich die Lippen des Jungen und fragte dann: »Hat dich ein Mosco gestochen, oder hast du einen Riss im Maul?«
»No, Andres.«
»Gut, dann lege dich hier mal neben dem Bein des Eulalio hin, sauge ihm das Blut aus den Punkten. Aber mit aller Kraft.«
Ohne zu fragen und ohne zu denken, tat Vicente, wie ihm sein Maestro befahl.
Andres nahm seinen Machete und kratzte die Spitze an einem Stein scharf. »Spuck das aus, was du jetzt in deinem Munde hast, Nene. Du hast doch das ausgesaugte Blut nicht etwa hinuntergeschluckt?«
»So dumm bin ich doch nicht.« Vicente lachte. »Außerdem habe ich das schon zweimal auf unserer Finca getan, als Jungens von einer Cascabel gebissen wurden. Aber nur einer ist durchgekommen, der andere ist daran gestorben.« - Andres kniete neben Eulalio nieder und schnitt mit der Spitze seines Machete die Wade so weit auf, dass die sich gegenüberliegenden Punkte des Bisses in eine Wunde kamen. Dann kreuzte er noch mit einem heftigen Schnitt quer darüber hin, um die Wunde weit zu öffnen. Er rief einen anderen Jungen herbei, besah sich seinen Mund und hieß ihn, die nun sehr vergrößerte Wunde noch weiter auszusaugen. Inzwischen brannte ein Feuer, und die Muchachos, wissend, wie der Biss einer Culebra de Cascabel behandelt werden muss, hatten zwei Machetes im Feuer. Als die Machetes glühend waren, brannte sie Andres in die Wunde.
Dann schnitt er die Wunde noch weiter auf, glühte sie abermals aus, und darauf rieb er glühende Kohlenstückchen in das verschmorte Fleisch.
Während all dieser schmerzhaften Behandlungen verzog Eulalio keine Miene. Er rauchte ununterbrochen an einer sehr dicken Zigarre, die Cirilo für ihn gedreht hatte. Alles, was die Burschen taten oder rieten, ließ er geduldig mit sich geschehen, ohne zu widersprechen und ohne selbst etwas zu raten.
»Wenn wir nur eine Handvoll Schlangenkraut hier hätten oder eine tüchtige Prise Calomel, die er schlucken könnte, dann wäre ihm sicher geholfen, denke ich«, sagte Matias.
»Das alles hilft gar nichts«, mischte sich Fidel ein. »Nichts von dem hilft, was du da machst, Andres. Wir brauchen einen alten Indianer aus unserm Dorf, der weiß, wie man Schlangenbisse heilt.«
Santiago setzte sich dicht bei Eulalio hin, während er sich eine Zigarre drehte. »Kaue deinen Tabak mehr, als, du ihn rauchst, Lalio«, riet er. »Und wenn du ihn tüchtig gekaut hast, dann mische ihn mit heißer Asche und stopf das so tief in die Wunde, wie du kannst.«
»Gute Idee«, sagte Andres. »Ich wusste gar nicht, dass du so schlau bist. Aber das wollen wir einmal machen.« Nicht nur Eulalio, auch alle übrigen Muchachos, die jetzt Zigarren rauchten, begannen große Stücke ihrer Zigarren abzubeißen und sie zu kauen.

 

5

In diesem Augenblick kam El Gusano angeritten. Eine Weile blieb er auf dem Pferd sitzen. Er war bis dicht an den Rand des Grabens auf der gegenüberliegenden Seite gekommen, wo er zu überlegen schien, ob er auf dem Pferd sitzen bleibend die andere Seite des Grabens erreichen könnte oder ob er besser daran täte, abzusteigen und zu Fuß auf die andere Seite zu klettern.
Er kam zu der Überzeugung, dass das Pferd genug Schwierigkeiten hätte, ohne Reiter die eine Grabenwand hinunterzuklettern, und noch viel mehr Schwierigkeiten, die andere steile Wand wieder hinaufzusteigen. Es war für die Ochsen schwer genug gewesen, die an einer flacheren Stelle hinübergeführt worden waren. jetzt aber war der Boden der Wände so zerweicht und aufgerissen von den darübergezerrten Trozas, dass sein Pferd an dieser Stelle eingesunken wäre, hätte er versucht, den Graben zu überklettern. Und bis an den Hals vielleicht in die weiche Erde zu sinken und sich vor den Muchachos lächerlich zu machen behagte ihm in diesem Augenblick wenig.
Er blieb deshalb auf dem Pferde sitzen und schrie nur hinüber: »Ihr stinkigen Golfos und Faulenzer, was habt ihr euch denn nun schon wieder hinzusetzen und Zigarren zu rauchen, wo es nun gegen Mittag geht und die Trozas noch alle hier herumliegen. Fehlt noch eine halbe Legua bis zum Tumbo.«
»Den Eulalio hat eine Culebra gebissen«, rief Pedro, »und er kann nicht arbeiten.«
»Dann braucht doch ihr faules Gesindel ihm keine Gesellschaft zu leisten, wenn er nicht arbeiten kann.« Nun stieg er dennoch vom Pferde ab, ging den Graben einige zwanzig Meter weiter hinauf und kletterte dort hinüber. Er kam auf die Gruppe zu, besah sich die schwarzgeschmorte Wunde und sagte:
»Da hättet ihr Pulver hineinschmieren sollen.«
»Wo sollen wir denn hier Pulver hernehmen?« fragte Santiago.
»Oder gekauten Tabak«, sagte El Gusano.
»Da sind wir dabei, das zu tun«, erwiderte Andres.
»Nun, dann aber los! Und überhaupt ist der Biss jetzt genügend gedoktert. Alles 'rausgebrannt. Du kannst jetzt gut weiterarbeiten, Muchacho«, wandte er sich an Eulalio. »Nur nicht hier verweichlichen eines Culebrabisses wegen. Mich haben schon hundert Culebras gebissen, und ich lebe immer noch.«
»Das war aber eine Cascabel«, erklärte Pedro. »Wir haben sie gesehen. Sie war gut ausgewachsen, beinahe zwei Meter lang.«
»Warum denn nicht gleich fünf Meter, und warum denn nicht gleich noch ein Tiger obendrein?« höhnte El Gusano. »Und nun genug hier mit dem Herumsitzen. Die Trozas müssen zum Tumbo, oder ich lasse euch heute Nacht um elf alle antreten, wenn ihr sie jetzt nicht schafft. Wenn ich zurückkomme und ich treffe euch immer noch an, dass ihr nichts tut, dann gibt es was, aber was Gutes, das kann ich euch schwören.« Er kehrte um, kroch über den Graben an der Stelle, wo er herübergekommen war, setzte sich auf sein Pferd und ritt zu den Schlägern, um jene ordentlich in Gang zu bringen.
Die Burschen mischten nun den gekauten Tabak mit heißer Asche, machten daraus einen dicken Brei, schmierten ihn in die Wunde und banden einen dreckigen Lappen, den Andres aus seiner Hose gerissen hatte, fest darüber.
Eulalio stand auf, und alle Muchachos gingen wieder an ihre Arbeit.

 

6

Die letzten Trozas wurden aus dem Graben gezerrt, und dann begann das Abschleppen der am Grabenrand aufgeschichteten Stämme zum Tumbo.
»Nun mache deine Glotzen auf, Nene!« sagte Andres zu Vicente. »jetzt wirst du etwas kennen lernen. Bis jetzt hast du nicht gearbeitet, sondern bist nur mit den Ochsen spazierengegangen.
El Gusano weiß ganz gut, warum er sich gerade jetzt fortgemacht hat. Denn nun wird's lustig. Nun kommt der Weg, auf dem du bis über die Ohren weg in den Schlamm rutschen kannst; und wenn es niemand zur rechten Zeit sieht, bleibst du stecken, und die zehn oder zwölf Gespann Ochsen gehen mitsamt der Troza über dich hinweg und treten dich so tief in den Morast ein, dass dich nicht einmal Gott mehr finden kann am Jüngsten Tag. Geh nicht zu dicht an die Ochsen heran! Wenn sie anzuziehen beginnen, dann schlagen sie rechts und links aus und treten mit ihren Füßen, was ihnen in den Weg kommt.«
Die nächsten fünfhundert Meter waren Gefälle, es ging bergab. Die Boyeros machten sich das zunutze. Sie koppelten nun gleich drei oder vier Trozas zusammen und ließen sie mit einem Zug bis zur tiefsten Stelle des hier abfallenden Geländes fahren. So währte es nicht lange, und alle Trozas waren abermals aufgereiht.
Der Weg von da bis zum Schwemmgraben war eine sehr breite Erdfalte. Seit Tausenden von Jahren waren darin Bäume und Pflanzen vermodert, die eine weiche Erde bildeten. Es kam infolge der dichten Kronen der gewaltigen Dschungelriesen, kaum je ein Sonnenstrahl herunter, der den weichen Grund dieser Falte zuweilen hätte austrocknen können. Von beiden Seiten und auch noch von dem Gefälle her lief alle Feuchtigkeit in diese Falte, gleich, ob es Regen war oder der schwere Tau, der in den frühen Morgenstunden von Bäumen und Sträuchern abtropfte. So ergab es sich, dass diese Falte einen Morast bildete, den man gut einen Sumpf hätte nennen können. Nur hatte ein Sumpf gewöhnlich mehr Wasser. Dieser Morast war in vieler Hinsicht gefährlicher als ein Sumpf, wenn es galt da durchzuwaten, durchzureiten oder schwere Baumstämme hindurchzuzerren. Es war leichter, Trozas durch einen Sumpf zu ziehen als durch diese Art von Morästen, die in den Dschungeln so ungemein häufig sind, dass man den Eindruck gewinnt, der ganze Dschungel bestünde nur daraus. Mit genügend langen Ketten und einer guten Anzahl von Ochsengespannen war es, verglichen mit dem Schleppen durch diese Moräste, ein Vergnügen, Trozas zu fahren. In einem Sumpf, wenn er nicht gar zu verwachsen war, vermochte eine Troza zuweilen zu schwimmen. Aber die fette Erde des Morastes war so zäh, so zusammenhängend, so schwer lehmig, dass eine Troza, die hier durchgeschleppt wurde, von der klebrigen, leimigen und kalkigen Masse umklammert wurde wie von einem gewaltigen Monstrum, das eine Beute, die es erst einmal ergriffen hat, nicht mehr herzugeben gewillt ist. Eine Troza, die am Tumbo anlangte und auf ihrer letzten Strecke durch diesen Morast gefahren worden war, hatte den dreifachen Umfang ihrer natürlichen Dicke, weil der zähe Schlamm sich an der Troza festklammerte und sich mitziehen ließ. Dieser Schlamm war so zäh, dass er oft mit den Händen allein nicht von der Troza abgepellt werden konnte, sondern dass Machetes, Äxte und dicke Äste zu Hilfe genommen werden mussten, um den harten und zähen Schlamm abzuschälen.
Als Don Severo und El Picaro vor zwei Wochen mit Hilfe einiger Muchachos das zu eröffnende neue Arbeitscamp erforschten, um die Ausbeutungsregionen festzulegen und die Abschwemmgräben zu entdecken und zu bezeichnen, hatten sie wohl diese Erdfalte, über die alle Trozas, die in diesem Campo geschlagen wurden, geschleppt werden mussten, gesehen. Einen vollen Tag verwendeten sie darauf, eine andere und bessere Anfahrtsgasse für diesen Tumbo zu finden. Aber es stellte sich heraus, dass auf einer Breite von etwa fünf Kilometern alle Wege, die zu dem Hauptgraben führten, durch solche Erdfalten gingen. Und da alle diese Erdfalten Moräste gleicher Art waren, wurde entschieden, einfach den kürzesten Weg zu wählen, und das war der, vor dem die Boyeros jetzt die Stämme aufgereiht hatten.

 

7

Matias, Pedro und Fidel waren vorausgegangen, um sich den Weg in seiner ganzen Länge anzusehen. Als sie zurückkamen, sagte Matias: »Nun hört einmal zu, Muchachos! Jetzt setzen wir uns erst einmal alle hierher und drehen uns eine Zigarre und rauchen sie in Ruhe. Und wenn ihr etwas wissen wollt, können wir euch alles recht schön erzählen, was wir gesehen und erlebt haben. El Gusano glaubt, dass wir morgen Mittag alle Trozas am Tumbo haben werden. Und ich kann euch sagen, wenn wir alle Trozas in drei Tagen am Tumbo haben, dann können El Gusano und El Picaro froh sein. Was meint ihr, Pedro und Fidel? Habe ich vielleicht nicht recht?«
»Sicher«, sagte Pedro kurz.
»Es kann auch eine Woche dauern«, verbesserte Fidel.
Darauf sagte Sixto, während er seine frisch gewickelte Zigarre andächtig ableckte: »Dann können wir uns ja auch alle auf ein reichliches Henken freuen, wenn wir die Trozas nicht wenigstens in zwei Tagen drüben haben.«
»Und wenn uns der Hundesohn auch alle henkt und jeden acht Stunden lang in der Nacht henkt, es hilft ihm gar nichts, in weniger als drei Tagen kriegen wir die Trozas nicht hinüber.« Matias zündete sich seine Zigarre an. Nachdem er einen kräftigen Zug getan hatte, fügte er hinzu: »Und wenn wir alle richtige Muchachos wären und keinen Schitt in unseren Pantalones hätten, dann würden wir für jede Stunde, die uns die Hurenbengel henken, einen vollen Tag nicht arbeiten.«
»Dann fangen sie wieder mit den Fiestas an, mit dem Aufledern von fünfzig Hieben auf jeden«, sagte Cirilo. Matias lachte grimmig. Es war mehr ein Bellen als ein Lachen. Und er sagte: »Was können denn diese Cobardes, diese verhurten Hunde und Stinksöhne einer Puta, noch an mir oder an Fidel oder an dir, Sixto, abledern? Mein Rücken ist so hart geknüppelt von diesen Bestien, dass ich schon lange nicht mehr nur Hühneraugen auf dem Rücken habe und völlig verholzte Striemen, sondern bereits eine dicke Hornschwarte. Die können mir hundert aufledern, und ich rauche mir dabei meine Zigarre ebenso ruhig und zufrieden wie jetzt.«
Nun mischte sich Andres ein. »Sie wissen, dass uns das Knüppeln und Peitschen nicht eine Miene im Gesicht zucken lässt, und dass es nicht mehr hilft. Darum haben sie ja auch das wunderschöne Henken erfunden.«
»Gar nichts haben sie erfunden«, meinte Procoro, ein anderer der Boyeros. »Gar nichts. Die sind viel zu dumm, um etwas zu erfinden. Das haben die Montellanos erfunden. Damit haben sie alles Geld gemacht, mit dem sie die drei Monterias hier kaufen konnten. Fragt mal die Hacheros, wie die jetzt drei und vier Tonnen im Tag machen aus Furcht vor dem Henken. Und uns wird das auch noch zukommen. Das kann ich euch erzählen. Wenn die Schläger anstatt der üblichen zwei Toneladas jetzt drei und vier schaffen müssen, dann müssen wir natürlich jeden Tag das Doppelte abfahren, ob mit oder ohne Ochsen. Und wenn die Ochsen bocken und sich hinlegen, dann könnt ihr die Trozas auf eurem Rücken weiterschleppen.«
»Somos los indios colgados, wir sind die gehenkten Indianer«, sagte Fidel.
»Oder los indies ahorcados, die zu Tode gehenkten Indianer«, fügte Sixto hinzu.
»Das wäre besser als nur die Colgados.« Procoro puffte dicken Rauch aus seiner Zigarre. »Einmal ahorcado, richtig zu Tode gehenkt, ist viel besser. Dann ist man das ganze Elend hier los. Aber immer nur halb gehenkt werden und am nächsten Tage das Doppelte arbeiten müssen, um nicht am Abend wieder vier Stunden lang gehenkt zu werden, das ist die ewige Hölle. Wir müssten sie alle hier totschlagen, nicht nur El Picaro und El Gusano, sondern auch gleich alle anderen Capataces in allen
Campos und dann die drei gottverfluchten Montellanos noch obendrein.«
»Aber erst allen fünfhundert aufgeledert, dann kuriert und dann vier Wochen lang jeden Abend mit heißem Kaffee und Aguardiente voll gepumpt bis zum Platzen und dann sechs Stunden lang gehenkt.
Und wenn ihnen alle Glieder so lang ausgehenkt sind, dass sie aussehen wie Bindfäden, dann an einen Baum gebunden und an den Baum ein Feuer gelegt. Gottverflucht noch mal, wenn ich das eines Tages mit denen allen tun könnte, dann will ich doch gern dafür zehnmal in die Hölle gehen.« Matias stand auf, warf den Rest seiner Zigarre heftig auf den Boden, trat darauf und drehte den Fuß dabei kräftig hin und her, als wolle er den Zigarrenstumpf tief in die Erde bohren. »So, genau so«, sagte er wild, »genau so möchte ich den Kopf dieses Sohnes einer elenden Hündin, den höllisch verdammten Kopf des El Gusano hier in die Erde bohren.«
»Wer möchte das nicht?« sagte Andres. »Aber das hilft uns alles nichts, wir tun besser daran, unsere Trozas abzufahren.«

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