DIE  KONSUMENTEN
  Gibt es  wirklich keine Brücke? 
    Es sollte keine geben,  beschließt Dickmann. Denn was ist das Leben? Alles zerrinnt einem unter  den Händen. Man hat keine Festpunkte mehr. Man hängt irgendwo im Raum  und kennt nicht oben und unten mehr. Alles fließt und schwankt: nur das  Gesetz bleibt. Das Gesetz, der Beruf... 
    Der Weg zu dieser trüben Erkenntnis ist lang und verworren, und will  Dickmann sich erklären, wie er zu ihr gelangte, dann findet er nichts  als Belanglosigkeiten, die aneinandergereiht doch Zweifel und  Erschütterung bedeuten. 
    Wie nebensächlich ist es, dass der Landgerichtsdirektor Doktor Mann  eines Tages zu Dickmann hinüberlächelt: „Sie bekommen eine neue  Kollegin. Eine jüdische Referendarin." 
    Wie kann es geschehen, dass Dickmanns Leben von diesem Tage an sich  verändert, an dem er vor einer schlanken jungen Dame steht und mit  korrekter Verbeugung seinen Namen murmelt? Genia Lazar heißt sie.  Jüdischer kann man nicht heißen. Was war sein Leben bis dahin?... Tage  voll Missmut, Müdigkeit und Langeweile, ohne Auftrieb und Freude.  Wollte er die Grenzen seines Selbst ausweiten und den Alltag mit dem  Glanz des Großartigen und Außergewöhnlichen aufhellen, dann musste er  trinken. Denn trinken hat er gelernt: im Regiment, im Corps... Es ist  fast das Einzige, was im Leben wirklich 
    Spaß macht. Man fühlt sich so leicht, man denkt so wunderbar rasch und  scharf und sieht plötzlich, dass das Dasein voller versteckter  heimlicher Freuden ist. Manchmal ist da auch noch etwas anderes.  Dickmann kommt vom Corpshaus der Holsatia. Ein Uhr nachts. Die  Gaslaternen haben einen komischen, milchigen Hof wie ein betrunkener  Mond. Der Asphalt federt wie ein Sofa. „Schatz, hast du mir nichts  mitgebracht, ein Spielzeug für die lange Nacht? Damit, wenn ich nicht  schlafen kann, so rechts und links kann spielen dran." Wenn man das  laut singt, geht es sich noch mal so schön. Man kann auch seinen  Spazierstock klappernd an dem Brückengeländer entlangstreichen, das  klingt sehr lustig. „Die längste Nacht im Nu vergeht, wenn an mein Bett  ein Spielzeug steht... " Eigentlich ein Hundeleben, was? Man arbeitet  bis nachmittags um vier, legt sich eine Stunde schlafen, döst vor sich  hin, geht aus, — und das soll vielleicht immer so weiter gehen, wie?  Dickmann bedankt sich dafür. Bestens! Wie merkwürdig sich die  Lichtreklame im Wasser spiegelt. Mal stehen bleiben, ansehen! Was  glotzt der Affe da so dämlich? „Lanzen auf die Lenden, — Eskadron  Galopp, Ma-Marsch! H-u-up." 
    „Na Bubi, bisschen mitkommen?" Richtig. Ein Mädchen. Das fehlte. Kann  man immer gebrauchen. Man los. Sieht nett aus die Kleine. Wie heißt  sie? Martha? Marthachen, Marthel, Karl Martell mit dem Beinamen der  Hammer. Is denn das fürne Gegend? Am Zirkus, Karlstraße, — ach so. 
    Schwindelnde  Treppen. Festhalten muss man sich. Vorsicht. 
    Ja doch, Dickmann ist ja schon leise. Auch nicht das Richtige: immer  dieselben Zimmer, dieselbe protzige und geschmacklose Kristallkrone.  Nippes in allen Ecken, Plüschmöbel. Und wie das mufft und mieft! 
    Wie  ekelhaft aufdringlich das Bett da mitten im Zimmer steht. 
    „Geld?" Natürlich soll sie ihr Geld haben. Dickmann lässt sich nichts  schenken. Oho! Dragonerregiment Kaiser! Markomannia Jena! Ob sie eine  Ahnung hat, was das heißt? Das Mädchen steht mit kritischem Gesicht  daneben, wie Dickmann mit flackernden Händen in seiner Brieftasche  herumklaubt. 
    Die alte Sau! Kann gar nicht abwarten, dass sie ihre paar lumpigen  Pfennige bekommt. Die Umarmungen klebrig wie Schweiß und Geld. „Die  Liebe, die Lie-iebe ist eine Himmelsmacht." Scheiße! Der Nachhauseweg.  Das Geld für ein Auto ist weg. Dreiviertel Stunden mit schwerem Kopf  und weichen Knieen durch die nächtliche Stadt. Morgens liegt man  grübelnd im Bett. Aus der Dämmerung des neuen Tages kommt eine riesige  Faust und legt sich einem würgend um den Hals. Man verliert den Halt,  man sinkt ins Bodenlose, man greift entsetzt um sich: Leere überall,  gähnende, höhnende, schreiende Leere! Man möchte weinen vor  Verlassenheit und Ratlosigkeit. Aber man sagt „Bisschen scharf jesoffen  gestern." 
    Das ist nun alles? Dieses Einerlei? Dieser Weg ins Nichts? Ist man denn  schon am Ende? Oho! Man steht am Anfang, man sagt laut und tröstend vor  sich hin „Alles wieder besser werden!" Aber die Leere bleibt... Alles  fließt und schwankt. Nur das Gesetz gibt Halt, das Gesetz, der Beruf...  „Guten Morgen, Herr Kollege!" 
    Dickmann sieht Genia Lazar traurig an. Sie ist schön. Sie ist klar und  einfach. Man müsste von solcher Frau geliebt werden, vielleicht gäbe es  dann keine Leere mehr. 
    Und plötzlich, wie Genia von ihrer Arbeit aufsieht, sagt Dickmann  langsam und deutlich: „Mir geht es nicht gut." Und es liegt ein Klang  in seinen Worten, dass das Mädchen verlegen wird, nach Worten sucht,  und endlich wie nebensächlich sagt: „Vielleicht gehen wir nachher ein  Stück zusammen?" „Ja gern," stößt Dickmann hervor... Aber dann ist  alles ganz anders. Dickmann versteht nicht mehr, was ihn zu seinem  merkwürdigen Bekenntnis am Morgen bestimmt hat. Jetzt geht eine hübsche  junge Dame neben ihm. Dickmann beugt sich zu ihr herab, sagt „Gnädiges  Fräulein", macht Konversation, erzählt Kasinogeschichten, renommiert  mit Kriegserlebnissen und Mensuren und merkt nicht, dass seine  Begleiterin immer stiller wird. 
    „Lesen Sie viel?" fragt sie einmal dazwischen. Liest Dickmann viel? Er  weiß es nicht. „Ja, ich glaube," antwortet er. „Das heißt, ich weiß  nicht recht..." Aber das ist ja auch nebensächlich. Die Hauptsache ist,  dieser jungen Dame zu imponieren, sie mit breiter, selbstverständlicher  Männlichkeit zu erdrücken, das Grauen, das er am Morgen vor sich selbst  empfunden hat, umzulügen in ein verliebtes Abenteuer. „Mir geht es  nicht gut." Hat er das je gesagt? „Hier wohne ich", sagt Genia  plötzlich. Und wie Dickmann ihr die Hand hinstreckt, sieht sie ihn groß  an und fragt: „Und das war alles?" Dickmann lacht albern. Was denn  sonst? „Sie sind ein vollendeter Trottel!" stößt das Mädchen da hervor,  und Dickmann sieht fassungslos in zwei zornfunkelnde Augen. Dann  verschwindet sie im Hausflur. Das hat man von seiner Gutmütigkeit.  Warum lässt man sich überhaupt mit solchen Gänsen ein. Eine Jüdin auch  noch. Dickmann geht wütend nach Hause und beschließt, von jetzt ab die  Referendarin Lazar wie Luft zu behandeln. Jeden Gedanken an sie wird er  einfach wegschieben ...  
    Aber am Abend ertappt er sich dabei, wie er vor dem Bücherschrank  seiner Schwester Edith steht und sie fragt: „Was liest du eigentlich  so?" Rilke, Hofmannsthal, Stefan George, — Dickmann hat die Namen  niemals gehört. Er liest, und manchmal fühlt er sich merkwürdig  ergriffen. Das hier, — das ist gut. So ist das Leben, das hat er auch  schon oft empfunden. Und er flüstert leise vor sich hin: „Und Kinder  wachsen auf mit müden Augen, die von nichts wissen, wachsen auf und  sterben, und reife Früchte werden aus den herben und fallen nachts wie  tote Vögel nieder..." Er bemerkt, dass er die Lippen leise bewegt,  schämt sich und ist wütend auf Genia, die ihn zu solchen Albernheiten  verleitet hat. Nie wieder wird er sich mit ihr einlassen. 
    Aber wie sie am nächsten Tage ihm freundlich die Hand hinstreckt und  ihm sagt: „Vielleicht habe ich Ihnen gestern Unrecht getan," da sind  alle seine Vorsätze und Entschlüsse dahin. Und aus der beabsichtigten  Feindseligkeit wird eine unwillige Zärtlichkeit. Es lässt sich nicht  leugnen: der Referendar Dickmann ist in eine kleine Jüdin verliebt! Die  Erkenntnis dieser peinlichen Tatsache ist sehr beunruhigend. Man wird  zu Klarheiten, zu Einsichten gezwungen. „Wozu leben Sie eigentlich?"  fragt ihn Genia. „Das Leben ist sinnlos," antwortet Dickmann schwer und  ärgert sich über diese Antwort. Ja, — wozu lebt er? „Und immer weht der  Wind, und immer wieder vernehmen wir und reden viele Worte." Der  Referendar und ehemalige Kavallerieoffizier rezitiert Hoffmannsthal und  fühlt unter dieser faden Resignation verwandte Saiten aufklingen.  „Quatsch!" sagt Genia sachlich. „Ist das Ihr Ernst?" Und Dickmann  beteuert wortreich und entschieden, er sei ein schwerer Melancholiker,  vom Unwert und der 
    Ziellosigkeit alles Daseins bis ins Tiefste durchdrungen. Alles fließt  und schwankt, man hat keine Festpunkte, man hängt irgendwo im Raum und  kennt nicht oben und unten mehr...  
    „Sie sind in Ihrer Art so etwas wie eine tragische Erscheinung", sagt  Genia nachdenklich. „Sie wissen nicht, wo Sie hingehören. Sie stecken  noch in den feudalistischen Begriffen der Beamtenhierarchie und sehen  nicht, dass der Feudalismus tot ist. Sie sagen noch ,Gott' und fühlen  dunkel und ungern, dass Sie eigentlich Privateigentum' sagen müssten." 
    Wie dieses Mädchen redet! Dickmann versteht kein Wort. Was geht ihn das  an? Er ist der Referendar Friedrich Wilhelm Dickmann, ein ernster,  zuverlässiger und etwas weicher junger Mann, der leider mit seiner  Stellung im Leben nicht recht fertig wird. Das ist alles. 
    „Ich kann das sehr gut verstehen," begütigt Genia. „Sie können aus  Ihrer klassenmäßigen Bindung nicht heraus, Sie klammern sich an  veraltete Ideologien, weil Sie nicht sehen wollen, dass das Recht nur  eine Funktion der Ökonomie ist." 
    „Unsinn!"  sagt Dickmann laut und grob. „Idee der Gerechtigkeit, objektives Recht ... " 
    „Haben  Sie schon einmal etwas vom historischen Materialismus gehört?" „Nein, was  ist das?" 
    Genia  zuckt die Achseln, schüttelt den Kopf: „Ein hoffnungsloser Fall!" 
    Ähnliche Gespräche kommen jetzt oft zwischen ihnen vor, und jedes Mal  fühlt Dickmann, dass er bei Genia an Boden verliert, und mit jedem Male  wächst sein wütendes Verlangen, sich selbst bestätigt zu sehen und von  diesem Mädchen ernst genommen zu werden. Manchmal erzählt er sich mit  Assessor Sturm unanständige Witze. 
    wenn Genia im Zimmer ist. Er muss es einfach tun und leidet doch  wahnsinnig, wenn er sieht, wie sie verächtlich lächelt. Er kann es  nicht lassen, sie immer wieder vom Gericht nach Hause zu bringen, mit  ihr zu sprechen und sie zu zwingen, sich mit ihm zu beschäftigen. Immer  mehr bröckelt von seiner starren Maske ab, und einmal sagt er wieder  ernst und entschlossen: „Mir geht es nicht gut, Fräulein Lazar." Dann  wird er weich und melancholisch und erreicht es schließlich, dass Genia  ihm sagt: „Ich glaube, im Grunde sind Sie ein anständiger Mensch,  Dickmann!" 
    Dickmann wird rot und schweigt. Stumm geht er neben ihr her, und wie er  sich von ihr verabschiedet, küsst er ihr die Hand und sagt leise: „Ich  danke Ihnen, Genia!" Mit keinem Gedanken macht er sich klar, wie  beschämend es für ihn ist, dass ihn die dürftige Anerkennung einer  kleinen Jüdin freut. Ihn, Leutnant a. D. des Dragonerregiments Kaiser! 
    Die erstbeste Gelegenheit ergreift er wild, um Genia seine  Ritterlichkeit zu beweisen: er kommt dazu, wie Assessor Sturm mit  hochrotem Kopf auf sie einschreit: „Sie haben hier zu lernen, meine  Gnädigste, weiter nichts! Ihre eigenartigen Rechtsauffassungen können  Sie später betätigen, wenn Ihnen Ihr Vater von seinem Geld mal 'ne  Anwaltspraxis gekooft hat. Hier gibt's so was nicht!" 
    Dickmann steht vor ihm: „Herr Assessor Sturm, ich darf wohl bitten zu  bedenken, dass Sie mit einer Dame sprechen!" Und sein Gesicht ist so  drohend und seine Haltung so entschlossen, dass der Assessor eine  ungeschickte Verbeugung macht, „Verzeihung" murmelt und aus dem Zimmer  geht... Einen Augenblick sieht es aus, als wolle Genia ihm die Hand  reichen, aber ihr Lächeln erstirbt plötzlich. Sie verzerrt ihren Mund  und sagt scharf: „Nun denken Sie vielleicht, ich wäre Ihnen unendlich  dankbar, dass Sie diesem Esel von Assessor über den Mund gefahren sind,  wie?" In der Tat hat Dickmann etwas Ähnliches gedacht. Aber so etwas  spricht man doch nicht aus! „Ich kann mir schon allein helfen, Herr  Dickmann!" Der lächelt trübe: „Das weiß ich. Verzeihen Sie, dass ich  mich in Ihre Angelegenheiten gemischt habe." „Und das sagen Sie in  einem Ton, der von Edelmut und Anmaßung trieft. Ich will es Ihnen  sagen, Dickmann: Sie sind mir unangenehm. Ich habe mit Ihnen nichts zu  tun. Ich hasse diese trägen Herzen und die stumpfen Hirne! Ich hasse  sie. So, nun wissen Sie es." „Hass ist mehr als Gleichgültigkeit." „Sie  sind ein genügsames Gemüt, Dickmann... " „Was bleibt mir übrig!" sagt  Dickmann achselzuckend und versinkt in einen Abgrund von Trübsinn und  schwelender Empörung. Was bleibt ihm übrig? Er brauchte Genia nicht zu  beachten. Es ist seiner unwürdig, hinter einer kleinen Jüdin  herzulaufen. Wohin soll das führen? Aber er ist ein armer Mensch, und  der Weg zu Genia ist der Weg zu Beruhigung und Bestätigung. Schön  müsste es sein, von einer solchen Frau geliebt zu werden...  
    Aber manchmal ist dann auf ihrer Stirn eine scharfe Falte, und Genia  sagt: „Politische Justiz". Dickmann möchte über die törichte, unwahre  und abgedroschene Phrase lachen, aber er lächelt nur nachsichtig:  „Warum belasten Sie sich mit solchen Dingen? Gäbe es in Deutschland  wirklich eine politische Justiz, Sie könnten es doch nicht ändern. Man  muss sich abfinden... " 
    Genia weint fast vor Empörung: „Halten Sie den Mund! Das ist ja  widerwärtig, diese Stumpfheit! Man darf doch nicht einfach aus lauter  Faulheit die Augen zumachen! Sie wollen Richter werden, Dickmann, Sie  führen die 
    Gerechtigkeit  im Munde, — schämen Sie sich denn nicht?" 
    Nein, Dickmann schämt sich keineswegs. Deutsche Richter sind nicht  ungerecht, können es nicht sein. Dass sie harte Urteile fällen, ist  notwendig: man muss den destruktiven Tendenzen dieser Zeit  entgegentreten... „Man muss den Geldsack des Bürgers schützen und sagen  ,Gerechtigkeit'!" 
    „Wenn das  Vaterland, die Kultur, die Moral in Gefahr ist, sind außerordentliche Mittel  von vornherein gerechtfertigt... " 
    „Und der Fall des Oberleutnants Marloh? Zweihundertneunzig Matrosen der  Volksmarinedivision kommen in Berlin zum Löhnungsappell. Sie sind der  Heeresleitung unbequem, weiter nichts, und ein junger Hund, ein blasser  Oberleutnant, zählt die Leute ab und erschießt jeden zehnten. Knallt  sie ab ohne Verfahren, ohne Urteil ... " 
    „Erlauben Sie, Sie sehen das falsch. Der Mann konnte nichts dafür. Er  hat einen Befehl seiner vorgesetzten Dienststelle missverstanden... " 
    „Und darum wurde er freigesprochen. Erschießt neunundzwanzig Menschen,  deren politische Richtung ihm nicht passt, und wird freigesprochen. Im  Namen des Volkes, im Namen der Gerechtigkeit!" „Befehl ist Befehl, und  der Mann war Soldat und musste gehorchen!" 
    „Und der Fall Oltwig von Hirschfeld? Macht einen Mordversuch an dem  Minister Erzberger, schießt auf ihn und wird wegen Körperverletzung zu  anderthalb Jahren Gefängnis verurteilt. Wissen Sie, wie man im  Ruhrgebiet mit den Arbeitern aus den läppischsten, durchsichtigsten  Vorwänden umgesprungen ist?" Dickmann weiß es: „Außerordentliche  Verhältnisse erfordern außerordentliche Gegenmaßnahmen ... " 
    „Und die  Gerechtigkeit?!" 
    Dickmann wehrt sich gegen diese Flut von Anklagen wie ein Ertrinkender.  Er wird grob und unanständig, spricht von böswilligen Entstellungen,  von gemeinen Lügen, von gewissenloser Hetze, ein deutsches Gericht kann  nicht ungerecht sein...  
    „Und der Fall Fechenbach! Ein Mensch wird wegen Landesverrats zu elf  Jahren Zuchthaus verurteilt. Zu elf Jahren Zuchthaus, weil er ein  Telegramm veröffentlicht hat, das längst bekannt war. Der Richter, der  ihn verurteilte, hieß Hass. Hass! Oberlandesgerichtsrat Hass aus  München und war in diesem Prozess Ermittlungsrichter,  Untersuchungsrichter und Verhandlungsleiter in einer Person... " 
    Dickmann fährt auf: „Das ist nicht wahr! Das ist unmöglich! Das  widerspricht ja der Strafprozessordnung!" „Das ist doch wahr!" Genia  schreit es fast. „Das ist geschehen am 3. Oktober 1922 in München! Es  ist noch viel mehr da geschehen: Sachverständigengutachten wurden  verfälscht... Ach, wozu rede ich!" Das alles sagt die Frau, die er zu  lieben glaubt. Er kann sich nicht einfach die Ohren zuhalten, kann  nicht einfach davonlaufen. 
    Dickmann  schüttelt müde den Kopf: „Sie sind grausam, Genia!" sagt er leise. 
    „Nein: Sie sind es! Sie sind grausam und feige dazu! Gehen Sie,  Dickmann! Ich habe keine Gemeinschaft mit Ihnen. Gehen Sie, sonst muss  ich Ihnen sagen, dass ich Sie verachte!" 
    Und  Dickmann geht, müde, stumpf, ausgebrannt, ratlos...  
    „Fehlt dir was, mein Fietichen?" Seine Mutter fragt es zärtlich, hebt  sich auf die Fußspitzen und küsst ihn schmatzend auf die Backe. 
    Mit gequältem Gesicht macht er sich von der Umarmung frei: „Nein, nein.  Bisschen viel Arbeit..." Soll er sagen: „Die Gerechtigkeit?" 
    Am nächsten Tag bittet er Genia um Literatur über die politische Justiz  Deutschlands. Sie sieht ihn überrascht an: „Ist das Ihr Ernst?" 
    Dickmann nickt schwer. Er erhält die Broschüren, in denen Journalisten  und Juristen ihrem Zorn über den Zustand der deutschen Justiz Luft  gemacht haben. Er verschließt die Hefte in seinem Schreibtisch, damit  niemand sie bei ihm sieht. In der gleichen Schublade liegen einige  pornographische Bücher. Es wäre gleich peinlich, fände man das eine  oder das andere. Einige Tage wagt er nicht, eine der Schriften zu  lesen. Endlich entschließt er sich dazu. Er verriegelt die Tür. „Der  Fall Wandt". 
    Dickmann kennt den Schriftsteller, der hat dieses üble Buch  geschrieben: „Etappe Gent". Förmlich gewühlt hat das Schwein in  Sexualitäten. Wollte man dem Mann glauben, dann hätte das ganze  deutsche Offizierskorps aus Leuten bestanden, die sich während des  Krieges hinter der Front in Bordellen herumgewälzt haben. So einem Mann  kann doch gar kein Unrecht geschehen. Trotzdem, — Dickmann will sich  zur Objektivität zwingen. 
    Ein  Schriftsteller wird vom fünften Strafsenat des Reichsgerichts wegen  Landesverrats zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt. 
    Er hat nach dem Kriege ein Dokument veröffentlicht, das die Beziehungen  der deutschen Besatzungsbehörden in Belgien zu gewissen flämischen  Kreisen aufzeigt. Das Außenministerium und der militärische  Sachverständige haben übereinstimmend erklärt, die Veröffentlichung  dieses Schriftstückes sei in keiner Weise geeignet, die Wohlfahrt des  deutschen Reiches zu schädigen. Trotzdem hat der Senat den Angeklagten  verurteilt. Zu sechs Jahren Zuchthaus. Wegen Landesverrats. 
    Dickmann nickt befriedigt: geschieht diesem Kerl ganz recht, der das  Ansehen der deutschen Armee durch seine Genter Erinnerungen so gemein  herabgezogen hat. Das heißt: genau genommen handelt es sich natürlich  nicht um die Persönlichkeit des Täters, sondern um seine Tat. Aber  immerhin ist es außerordentlich bezeichnend, zu sehen, was das für  Leute sind, denen die deutsche Justiz angeblich unrecht tut... Die  Erklärungen des Außenministers und des Sachverständigen? Ja du lieber  Gott, das ist doch ganz klar: nach der Strafprozessordnung hat das  Gericht das Recht, sich völlig frei über die Sachverständigengutachten  schlüssig zu werden. Hier ist es den Gutachten eben nicht gefolgt.  Dickmann liest: „Durch den Verrat des Schriftstücks wurden zugleich die  belgischen Persönlichkeiten verraten, mit denen die deutsche Regierung  während des Krieges in Verbindung stand. Sollte unsere Regierung noch  einmal in die Lage kommen, sich der Hilfe jener Männer von neuem zu  bedienen — was bei einer Veränderung der heutigen politischen Lage sehr  leicht eintreten kann —, so wäre ihr das durch den Verrat bedeutend  erschwert worden... " 
    Das ist Gerechtigkeit. Freilich, ein peinlicher Rest bleibt doch, —  aber ist das so wichtig? Der Schriftsteller Wandt hat die sechs Jahre  Zuchthaus reichlich verdient. So denkt Dickmann und fühlt doch, dass  dieser Rechtsfall ganz anders bewertet werden müsste, handelte es sich  nicht eben um den Verfasser der „Etappe Gent". Dass die Reichsrichter  sich vielleicht auch von dieser Erwägung leiten ließen, — wer will es  ihnen verdenken? Nennt man das politische Justiz? Er will nach dem  Dienst mit Genia darüber sprechen, aber ehe er ihr noch ein Wort sagen  kann, verabschiedet sie sich vor dem Gerichtsportal von ihm: „Ich habe  heute keine Zeit," sagt sie flüchtig. Und Dickmann sieht mit  Missbehagen und leisem Schmerz, wie sie auf einen vierschrötigen jungen  Menschen zugeht, der ihr formlos die Hand gibt. Nicht einmal einen Hut  hat der Mann auf. Sein struppiges Blondhaar steht wild um den kantigen  Proletenkopf. Kurze Hosen trägt er und einen Schillerkragen. Genia geht  neben ihm her, lächelt zu ihm hinauf, legt ihre Hand auf seinen Arm,  und Dickmann steht auf der Straße. 
    Was ist mit der politischen Justiz? Dickmann ist töricht, dass er sich  darüber überhaupt Gedanken macht. Genia hat ihn eines dämlichen  Proleten wegen stehen lassen. Ihn, Dickmann! Es gibt keine politische  Justiz in Deutschland. Genia hat Unrecht... Zusammennehmen!  Selbstbeherrschung! Innere Disziplin! 
    Dickmann wird dieser jüdischen Gans was pfeifen! Er denkt gar nicht  daran, sich mit ihr in weitere Unterhaltungen einzulassen. Gott sei  Dank, dass er stark bleibt, dass er mit höflichem Lächeln ihr die  Broschüren wiedergibt, jedem Gespräch ausweicht und vornehm und  zurückhaltend sagen kann: „Ich habe da andere Ansichten. Sie werden  mich nicht bekehren, Fräulein Lazar." 
    Sie zuckt die Achseln: „Ich habe nie daran gezweifelt." Dickmann sitzt  ein Würgen in der Kehle, aber er sagt nicht mehr: „Mir geht es nicht  gut", sondern er lächelt gehalten und scherzt: „Ich schlage Ihnen ein  gentlemen-agreement vor. Jeder lässt dem anderen seine Meinung, und wir  vertragen uns trotzdem." Die Referendarin Lazar nickt unbeteiligt:  „Bitte." Dickmann steht traurig wie ein Kind, dem ein Ball ins Wasser  gefallen ist, und sieht seiner entgleitenden Liebe nach. So soll das  enden? Er redet sich Mut zu, ruft sich 
    zur Ordnung und tröstet sich damit, dass die wenigen Tage, die er noch  mit Genia zusammen arbeiten muss, auch vorübergehen werden, ohne dass  er seine Haltung verliert. 
    Aber wie er sich von seiner bisherigen Kollegin schließlich  verabschiedet, weil er jetzt dem Rechtsanwalt Kursch zur weiteren  Ausbildung überwiesen ist, bittet er sie doch um ihre Telefonnummer.  Sie gibt sie ihm bereitwillig und lächelt nebensächlich: „Rufen Sie  doch mal an." 
    Dickmann schweigt, er seufzt tief auf und flüstert: „Ich hoffe, ich  werde es nie tun." Dann dreht er sich kurz um und geht. Aber den Zettel  mit ihrer Telefonnummer faltet er sauber zusammen und legt ihn  sorgfältig in die Brieftasche. Alles schwankt und fließt. Nur eins  bleibt: das Gesetz, der Beruf ...  
    Ein  blankes, schlichtes Messingschild: „Dr. Kursch, Rechtsanwalt und Notar",  Dickmanns Corpsbruder und jetziger Arbeitgeber. 
    Der Rechtsanwalt ist als Spezialist für Ehescheidungen berühmt. Groß  ist der Kreis der Rechtsuchenden freilich nicht, der seine Dienste in  Anspruch nehmen kann: Kursch arbeitet nicht billig. Es gibt zwar eine  Gebührenordnung für Rechtsanwälte, aber Dr. Kursch hat nicht nötig,  sich an sie zu halten. Dickmann errötet manchmal, wenn er hört, wie  Kursch einem Klienten eine horrende Summe als Honorarforderung für die  Übernahme eines Prozesses nennt. „Ich könnte das nicht," sagt er  beklommen. Dr. Kursch zuckt die Achseln: „Mein Lieber, der Anwaltsberuf  ist ein Geschäft wie tausend andere auch. Meinst du, das teure Büro  hier bezahlt sich von selbst? Ich bin kein Idealist. Ich kann mir  diesen Luxus leider nicht leisten. Bin nicht reich genug dazu. Ich  brauche mein Auto und brauche mein Haus in Zehlendorf. Ich kann nicht  anders leben. Und schließlich: die Leute haben es ja dazu." 
    Das ist allerdings richtig. Schon der pompöse Treppenaufgang schreckt  Menschen mit wenig Geld ab. Wer zu Dr. Kursch kommt, weiß, dass sich  sein Rechtsbeistand jede Minute Arbeit mit einer runden Summe bezahlen  lässt. Dr. Kursch ist ein vornehmer und liebenswürdiger Mann. Seine  Herrenabende genießen in den Kreisen, auf die es ankommt, einen  ausgezeichneten Ruf. Man weiß von ihm, dass er in der Rosenheimerstraße  eine sehr nette Vierzimmerwohnung unterhält, die in Abständen von  einigen Wochen oder Monaten immer von einer anderen Dame bewohnt wird.  Und die einzelnen Bewohnerinnen gleichen sich alle darin, dass sie  jung, schön und elegant sind... 
    Dickmanns Ausbildung in der Anwaltsarbeit leidet zweifellos unter einer  gewissen Gleichförmigkeit. Dickmann „nimmt Termine wahr", denn der  Anwalt selbst hat keine Zeit dazu, in Verhandlungen zu laufen, bei  denen seine Anwesenheit nicht unbedingt notwendig ist. Dickmann läuft  auf den Gerichten herum, Akten unter dem Arm. Er weiß oft nicht, was in  diesen Papieren steht. Das ist auch nicht nötig. 
    „Die Sache Wildmann gegen Wildmann." Drei Landgerichtsräte auf der  Richterbank. Ein Rechtsanwalt. „Es erscheint für den Beklagten  Rechtsanwalt Dr. Kursch, in Vertretung Referendar Dickmann." Dickmann  schlägt die Akten auf und schnarrt einen auswendig gelernten Satz: „...  und bitten um Vertagung." 
    „Die Sache wird vertagt. Nächster Termin steht noch nicht fest. Sie  werden Mitteilung erhalten." Die Sache ist für heute erledigt. Irgendwo  wartet ein Mensch sehnsüchtig darauf, dass sein Prozess endlich 
    entschieden wird. Das ist nebensächlich: die Sache wird vertagt.  Rechtsanwalt Dr. Kursch hat heute keine Zeit, und vor allen Dingen  liegt die Vertagung der Entscheidung im Interesse seines Mandanten.  Vielleicht wird die Gegenseite ungeduldig, hält es nicht mehr aus, ist  nach so und so vielen Terminen endlich zum Nachgeben bereit, macht es  billiger...  
    Dickmann denkt darüber nicht nach. Er steht inzwischen längst vor einer  anderen Kammer, murmelt wieder einige Worte, beantragt Vertagung oder  Beweisaufnahme oder Anberaumung eines Termins zur Eidesabiegung, und  alles das ist im letzten Grunde so unwichtig: die Richter bilden sich  ihr Urteil doch nur nach den vor ihnen liegenden Akten. Und die  Gerechtigkeit? 
    Dickmann fragt nicht mehr oft nach ihr. Der Kampf um das Recht ist ein  aufregendes und spannendes Spiel, man kann es verlieren oder kann es  gewinnen; der Ausgang ist stets ungewiss; selbst aus der  verzweifeltsten Situation führen immer noch geheime Schleichpfade  heraus. Man muss sie nur kennen. Die Spielregeln, an die die Partner  sich halten, sind streng, verworren und zahllos, und der Spieler, der  sie am besten beherrscht, wird und muss gewinnen. Das Spiel kann lange  dauern, Monate, Jahre. In den Registraturen der Anwaltsbüros schwellen  dicke Aktenbände an, verstauben und vergilben, Menschen werden  unterdessen müde und verbittert, aber das Spiel geht weiter. Nichts ist  sicher außer der Unsicherheit. 
    Welch prickelnder, spannender und quälender Reiz, zu sehen, dass der  Gegner gewinnen wird. Man kann es sich ausrechnen, es gibt kein  Entrinnen mehr, die endliche Niederlage ist gewiss, dass Spiel droht zu  Ende zu gehen. Da werden alle Kräfte noch einmal zusammengerafft, um  die sichere Niederlage hinauszuschieben, die Entscheidung des Gerichts  zu sabotieren. Pathos und Scharfsinn, beleidigtes Rechtsgefühl und  bauernschlaue Winkelzüge, Termine, Schriftsätze, Beschwerden,  Einsprüche, Formalrügen, — warum? Die Spielregeln sind verletzt worden.  Kommt es denn nur auf die Spielregeln an, oder ist die Gerechtigkeit,  um die gespielt wird, nicht viel, viel wichtiger? 
    Manchmal wacht Dickmann aus dem Rausch des zum Selbstzweck gewordenen  Spiels auf und stellt so törichte Fragen, dass Dr. Kursch hell auflacht  und ihm amüsiert auf die Schulter schlägt: „Kleener Idealist! Mach' man  so weiter, wirst verdammt weit kommen, mein Junge. Mensch, wo lebst du  denn? Wenn es auf die Gerechtigkeit der Sache ankäme, dann könnten wir  alle die Bude zumachen. Die Form, mein Lieber! Auf die Form kommt es  an. Deine hochgepriesene Gerechtigkeit ist eine Formsache, und das ist  gut: wäre sie es nicht, dann gäbe es weder Rechtswissenschaft noch  Rechtsanwälte." 
    Wenn  Kursch so spricht, dann schämt sich Dickmann darüber, dass er sich immer noch  nicht an den Betrieb gewöhnt hat. 
    „Kleener Idealist! Mach' man so weiter, mein Junge!" Der Rechtsanwalt  Dr. Walter Kursch ist kein eiskalter Zyniker, kein gewissenloser  Rechtsverdreher. Er ist einfach ein Mensch, der gewisse  Grundbedingungen des Lebens in der modernen Gesellschaft erkannt hat,  und der ein vollendeter Trottel wäre, wollte er von diesen  Erkenntnissen keinen Gebrauch machen. Gelegentliche peinliche  Überlegungen — er stellt sie seltener und seltener an — erschlägt er  mit der Wucht erprobter Binsenwahrheiten, wie etwa der: „Wer Geld hat,  kann alle Puppen tanzen lassen!" Oder: „Eine Ehescheidung ist kein  Fünfuhrtee." 
    Der  Referendar   Dickmann  gibt  sich  alle  Mühe, diese goldenen  Lebensregeln zu erfassen. Nur an seiner jammervollen Lebensfremdheit  liegt es, wenn er sich nicht hinter die Denkergebnisse des urgesunden  Menschenverstands zurückzieht, sondern auf die Heiligkeit der Ehe  beruft, deren Lösung der Gesetzgeber unter allen Umständen erschweren  muss, um die Grundlage der Kultur zu sichern. 
    Aber in der Sache „Berninger gegen Berninger", deren Akten in vielen  dicken Bänden in der Registratur Dr. Kurschs verstauben, ist mit der  Heiligkeit der Ehe nicht viel anzufangen. Dieser Prozess hat dem alten  Berninger schon viel Geld gekostet, und sein Rechtsanwalt, Dr. Walter  Kursch, kann ihm die betrübliche Eröffnung nicht ersparen, dass er ihn  noch viel mehr Geld kosten wird. Denn der Prozess ist ein „verzwickter  Fall", der Kurschs virtuoses Können und seine souveräne Beherrschung  der juristischen Spielregeln zu prachtvoller Geltung bringt...  
    Aus kleinen Verhältnissen hat sich der Schlossermeister Berninger im  Laufe von dreißig Jahren zum Besitzer großer Fabriken emporgearbeitet;  er spielt in der deutschen Eisenindustrie eine maßgebende Rolle. Mit  jedem geschäftlichen Erfolg ist er in seinen neuen Lebensstil mehr  hineingewachsen. Aber seine Frau blieb immer die Tochter des kleinen  Kolonialwarenhändlers Turm, deren bescheidene Mitgift dem strebsamen  Fabrikanten den Aufstieg ermöglichte. 
    Der Fabrikbesitzer Berninger schickt seine Frau zur Erholung auf ein  kleines pommersches Gut, das er in der Inflation billig erworben hat.  Er selbst macht eine Geschäftsreise ins Ausland. Sechs Monate sehen  sich die Eheleute nicht. Wochen und Monate bleiben die Briefe der Frau  an ihren Mann unbeantwortet. Endlich entschließt sie sich, eigenmächtig  zurückzureisen. Sie klingelt an der Tür ihrer Villa, ein Dienstmädchen  starrt sie entgeistert an, schweigt und läuft ins Haus zurück. Es  erscheint eine schöne, elegante junge Dame und teilt der Wartenden  höflich und entschieden mit, Herr Berninger wünsche sie nicht mehr zu  empfangen, sie habe in diesem Hause nichts mehr zu suchen, sie möge  wieder nach Pommern zurückfahren, hier sei das Reisegeld. Herr  Berninger entlässt die Gefährtin seiner dreißig Ehejahre wie einen  ungetreuen Buchhalter... Geschrei, Weinen, Flüche: „Der Lump! Der  Ausbeuter! Schmeißt mich weg wie einen verfaulten Apfel... " Frau  Berninger klagt im Armenrecht auf Scheidung. Die Gegenseite beauftragt  den Rechtsanwalt Kursch mit der Wahrnehmung ihrer Interessen, und  Dickmann hat daher Gelegenheit, aus dicken Aktenbänden sich über die  Heiligkeit der Ehe in der modernen Gesellschaft zu informieren. „Wer  Geld hat, kann alle Puppen tanzen lassen, und eine Ehescheidung ist  kein Fünfuhrtee... " 
    Aus bestempelten Papieren und verschnörkelten Sätzen taucht die  Tragödie der alternden Kleinbürgerin auf, die ihrem reichgewordenen  Mann nicht mehr fein genug ist. Er kann sie nicht mehr gebrauchen. Herr  Berninger weigert sich, seiner Frau den „standesgemäßen Unterhalt" zu  zahlen, zu dem er verpflichtet ist. Zweitausend Mark im Monat sind dem  Millionär zu viel für eine Frau, für die er keine Verwendung mehr hat.  Hundert Mark monatlich will er allenfalls zahlen, damit kann seine Frau  ganz gut auskommen. Frau Berninger klagt im Armenrecht auf  standesgemäßen Unterhalt. 
    Wie? Hat sich Frau Berninger nicht einer schweren Verletzung ihrer  ehelichen Pflichten schuldig gemacht, als sie vor einem fassungslosen  Dienstmädchen Beschimpfungen gegen ihren Gatten ausstieß? Kann man  angesichts solcher Tat Herrn Berninger die Fortführung der Ehe zumuten?  Man kann es keineswegs, behauptet der Rechtsanwalt Kursch in einem  umfangreichen Schriftsatz. Herr Berninger klagt auf Scheidung, und der  Anwalt der Frau kann nichts weiter tun, als die Achseln zucken und  seiner Mandantin raten, unter solchen Umständen ihre Alimentenklage  zurückzuziehen: kein deutsches Gericht wird den Anspruch auf  „standesgemäßen Unterhalt" anerkennen. Nein, nein, es bleibt bei den  hundert Mark, und der Rechtsanwalt Kursch findet auch, die Frau eines  mehrfachen Millionärs könne davon ausgezeichnet leben. Die  Scheidungsklage Berningers wird abgewiesen; die Ehe wird aus alleinigem  Verschulden des Mannes geschieden, der verurteilt wird, seiner  geschiedenen Frau monatlich zweitausend Mark Unterhalt zu zahlen ...  Rechtsanwalt Kursch legt Berufung gegen dieses Urteil ein. Er gibt  keine Ruhe, ein Termin jagt den anderen, neue Zeugen müssen vernommen  werden, einer wohnt in Chikago, der andere in Melbourne, Monate gehen  hin, ein Jahr, zwei Jahre, drei Jahre... „Na, was sagst du zu dem  Fall?" will Kursch von Dickmann wissen. 
    Der  schüttelt den Kopf: „Ich verstehe wohl nicht viel davon", sagt er  vorsichtig. 
    „In zwei  Wochen ist Termin. Meinst du, dass wir durchkommen werden?" 
    Dickmann  macht ein gequältes Gesicht: „Ich finde das alles so schmutzig." 
    „Ehescheidungen sind kein Fünfuhrtee," bemerkt Dr. Kursch kühl. „Und  außerdem kommt es wenig darauf an, ob man das sauber oder nicht sauber  findet. Der Mann will schuldlos geschieden werden und will seiner  geschiedenen Frau nicht noch Monat für Monat zweitausend Mark  nachwerfen. Immerhin ein sehr begreiflicher Wunsch. Meinst du nicht  auch?" 
    „Aber wenn er doch im Unrecht ist?" „Unrecht!   Unrecht!"   Dr. Kursch  geht mit großen Schritten im Zimmer auf und ab. „Du bist ein richtiges  Kind, Dickmann. Ein tumber Tor. Unrecht! Unrecht!" Kursch reißt eine  Schreibtischschublade auf, hält Dickmann ein Blatt Papier entgegen:    „Da, zehntausend Mark im Erfolgsfalle. Was, willst du vielleicht noch  andere Argumente? Hast du schon einmal zehntausend Mark in deinem Leben  verdient?   Mal zehntausend Mark auf einem Haufen gesehen?" Dickmanns  Kopf wird heiß. Das da ist sein Corpsbruder Dr. Kursch, der berühmte  Anwalt, Diener des Rechts... „Na also," sagt Kursch befriedigt, weil er  sich Dickmanns Schweigen als Zustimmung auslegt. „Wenn ich die Sache  nicht mache, macht sie ein anderer, und dann verdient ein anderer eben  das schöne Geld. Geliefert ist die Frau doch auf alle Fälle. Berninger  hat soviel Geld, dass er alle Puppen tanzen lassen kann. Seine Frau  klagt im Armenrecht. Hundert Mark bekommt ihr Anwalt. Denkst du, der  wird sich für die paar Pfennige ein Bein ausreißen?" 
    Die  Heiligkeit der Ehe, Erschwerung der Ehescheidung, religiöse Grundlage des  Eherechts, und Geld, Geld, Geld...  
    Die Gerechtigkeit und das Bürgerliche Gesetzbuch erfordern, dass eine  Ehe bei Ehebruch, böswilligem Verlassen, bei Bigamie, widernatürlicher  Unzucht des Mannes, bei ehewidrigem Verhalten und bei Verweigerung der  ehelichen Pflichten geschieden werden kann. Nur in diesen Fällen darf  an der Grundlage des Staates, an der Ehe, gerüttelt werden. Und weil  das alles so ist, darum sitzt der Rechtsanwalt Dr. Walter Kursch in  einem elegant eingerichteten Büro am Kurfürstendamm und verdient viel  Geld. Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich, und wer kein Geld hat,  hat unrecht...  
    Es sind  keine sehr erfreulichen Gedanken, die Dickmann sich macht. 
    Aber jetzt ist der Tag da, der trübe, verworrene, seltsame Tag, an dem  Dr. Kursch seinem jungen Corpsbruder auf die Schulter schlägt und  lärmend lacht: „Zieh dir heut Abend den Smoking an, ich will einen  ausgeben!" Dickmann wagt nicht, nach der Ursache dieser aufdringlichen  Fröhlichkeit zu fragen. Hat nicht heute Morgen vorm Kammergericht die  Berufungsverhandlung in Sachen Berninger contra Berninger  stattgefunden? Ach was...  
    Er wartet, bis ihn Kursch mit seinem Auto abholt. Sie fahren ins  Esplanade, essen, trinken, rauchen. Schöne Frauen gehen durch die  Halle, elegante Männer. Blumen, Zigarettenduft, Parfüm. Der Burgunder  ist weich und schwer. Irgendwann in der Nacht ein Bartisch. Famosen  Flip brauen die Leute hier. Das Leben ist großartig. Das elegante  Lokal, der teure Alkohol, — bloß Geld muss man haben, dann ist alles  gut. Geld, — da ist es wieder. Dickmann macht eine scheuchende  Handbewegung und lacht grundlos. Der Rechtsanwalt schaukelt waghalsig  mit seinem Barstuhl: „Tja, — was ich noch sagen wollte... Also die  Sache ist in Ordnung. Den alten Berninger hab' ich nun glücklich doch  durchgekriegt. War hell entzückt, der Seege, dass ich die Sache so fein  gedeichselt habe. Tja . . ." Dr. Kursch wird langsam betrunken. Er  plaudert aus der Schule. Der zurückhaltende Gentleman hält Lobreden auf  sich selbst. Das darf er, denn er hat sich auch wirklich redliche Mühe  gegeben. „War gar nicht so leicht, mein Lieber. Aber die Frau Berninger  wurde langsam ungeduldig. Ihr ging die Puste aus. Kann man ja  verstehen: die ewige Unruhe, die Aufregung, der Ärger. So was muss man  eben merken, ehe es zu spät ist. Tja... " 
    Tüchtiger  Kerl, der Kursch. Verdient nicht umsonst seine zehntausend Mark...  „Und die  Gerechtigkeit?" 
    Der Rechtsanwalt stiert Dickmann einen Augenblick an. Dann lacht er  unmäßig: „Kleener Schäker! Kannst so bleiben, mein Junge. Und die  Gerechtigkeit! Großartig! Prost, mein Lieber!" 
    Am frühen Morgen sind sie in der Rosenheimer Straße. Sie trinken  Kaffee. Eine junge Dame in wildem Kimono geht ab und zu. Dickmann sieht  ihr verlangend nach. 
    Kursch pufft ihn mit der Faust in die Seite: „Möchste wohl, was?" Dann  langt er mit schwerfälligem Griff nach der Frau: „Komm her, Ilonachen,  kleene Toppsau . . ." Seine Augen fallen zu: „Ilonachen... " Ilona  wehrt sich, sie spitzt vornehm ihre Lippen: „Aber Dickerchen, nu sei  doch ein bisschen anständig, wo wir doch so feinen Besuch haben!" 
    Berninger contra Berninger. Was der Mensch scheiden, — falsch: was Gott  zusammengefügt, das soll der Mensch nicht scheiden. Die Ehe ist die  Grundlage der abendländischen Kultur. Deutsche Frauen, Deutsche Treue.  Das religiöse Moment im deutschen Eherecht. Wo kämen wir denn da hin,  wenn jedes Ehepaar auseinanderlaufen könnte wie die Hunde. Wo wir da  hinkämen, will Dickmann wissen. Na also, geht schon in Ordnung. 
    „Sehnse, jetzt pennt er schon!" Ilona wirft einen giftigen Seitenblick  auf den schlafenden Rechtsanwalt. Dann jammert sie: „Wenn der bloß det  Saufen lassen wollte! Morgen früh hat er dann wieder 'n dicken Kopp.  Kann Ihnen sagen: det Theater! Franzbranntwein ins Badewasser, eiskalte  Brause, Flasche Eau de Cologne ins Genick, frottieren... " Dickmann  erhebt sich schwindelnd. 
    Ilona streicht mit wiegenden Hüften an ihn heran: „Schon gehen?"  flüstert sie lockend. Halt, — nur einen ganz kurzen Augenblick dauert  dieses zögernde Schwanken. Dickmann ist ein anständiger Mensch. Kursch  bezahlt die Sache, nein: die Frau. Ist ja alles egal. Aber das gibt's  nicht: „Darf ich bitten, mich hinunterzulassen?" 
    Unten an der Haustür küsst er Ilona die Hand. Küsst sie lange und  ernst. Das Mädchen lacht kurz und verwirrt auf, und Dickmann geht nach  Hause im Bewusstsein, eine gute Tat getan zu haben. Dass er die Frau  nicht angerührt hat, — eigentlich verdammt anständig von ihm...  
    Anständig?  Was war gestern? Bar, Ilona, Berninger...  
    Richtig, man hat sich amüsiert. Hat gut gegessen und getrunken, war  vergnügt oder tat so. Und das alles deswegen, weil Herr Berninger  seiner geschiedenen Frau nicht zweitausend, sondern nur hundert Mark im  Monat Unterstützung zahlen muss. Irgendwo sitzt jetzt eine vergrämte  alternde Frau. Frau Julie Berninger, geborene Turm. Tja, so ist das.  Dickmann hat einen vergnügten Abend gehabt, weil die alte Frau mit  hundert Mark im Monat auskommen muss. Und Kursch hat zehntausend Mark  verdient. Der Anwalt des Rechts. Die Würde des deutschen Anwaltstandes,  Richter und Rechtsanwalt Arm in Arm als Diener am Recht, schlichte,  treue, ehrenwerte Diener der Gerechtigkeit...  
    Das hört nicht auf. Das kommt immer wieder. Was hat Dickmann getan,  dass Gott ihn so straft? Warum kann er nicht ruhig und unbeirrt seinen  Weg gehen wie tausend und tausend andere? Warum? Wenn er wenigstens  einen Menschen hätte, mit dem er reden, der ihn stärken, trösten,  beruhigen 
    könnte! Aber er hat niemand. Die Menschen seiner Umgebung würden  erstaunt den Kopf schütteln, wenn sie von den Zweifeln und Bedrückungen  Dickmanns hörten. Keinen Menschen hat er. Keinen? Genia, — man  müsste... Kurz entschlossen klingelt er sie an. Sein Herz schlägt im  Halse, wie er ihre Stimme hört. Er verspricht sich einige Male, so  erregt ist er. Sie verabreden sich, Dickmann legt leer lächelnd den  Hörer in die Gabel und streichelt gedankenlos den Apparat: Genia...  
    Sie scheint erfreut, ihn zu sehen. Sie drückt ihm kräftig die Hand.  Dickmann stottert vor Glück, wenn er sprechen will. Schließlich  schweigt er, und Genia wird verlegen. 
    „Fehlt Ihnen etwas?" fragt sie schüchtern, und Dickmann nickt  krampfhaft. „Kann man Ihnen helfen?" „Ich weiß es nicht." Und dann  erzählt er, erzählt vom Fall Berninger contra Berninger, vom  aufregenden Spiel um das Recht, vom Geld, vom Recht, das so ungerecht  ist, von allem, was ihn bewegt und schmerzt, und freut sich wie ein  Kind, wie Genia ihm sagt: „Vielleicht sind Sie auf dem rechten Wege.  Vielleicht kann doch noch etwas aus Ihnen werden." „Helfen Sie mir  dabei, ja?" fragt er bittend und schämt sich gar nicht, dass er bei  einer Frau Halt und Stärke sucht. 
    Sie treffen sich jetzt öfter, gehen zusammen durch den Tiergarten nach  Hause, und immer hat Dickmann einen neuen Fall aus der  Ehescheidungspraxis des Rechtsanwalts Dr. Kursch zu berichten, mit dem  er nicht fertig wird. Wie kann er das auch, wenn er den Fabrikbesitzer  Rudolf reden hört, der mit verzweifeltem Gesicht in Kurschs  Sprechzimmer sitzt und sich vor lauter Aufregung fortwährend die Stirn  mit einem Taschentuch wischt...  
    „Vor allen Dingen Ruhe, verehrter Herr!" doziert Dr. Kursch. „Da habe  ich schon ganz andere Sachen fertig bekommen. Zum Beispiel der alte  Berninger, kennen Sie ja wohl, wie?" 
    „Lassen Sie mich mit Berninger zufrieden, Herr Doktor!" stöhnt der  Klient. „Helfen Sie mir!" Kursch zündet sich umständlich eine Zigarre  an. Dann sieht er nachdenklich zur Zimmerdecke und spricht schneidend  sachlich: „Also Sie leben mit einer Dame in gemeinsamem Haushalt, die  Sie in London geheiratet haben. Diese Ehe ist für nichtig erklärt  worden auf Betreiben Ihrer geschiedenen Frau, nicht wahr?" „Ich Esel!  Ich Esel!" Rudolf hämmert sich mit der Faust vor die Stirn. „Aus lauter  Gutmütigkeit habe ich im Scheidungstermin die Schuld auf mich genommen.  Habe völlig grundlos gesagt, ich hätte mit meiner jetzigen Frau  Ehebruch getrieben!" „In Ehescheidungssachen soll man nicht gutmütig  sein", bemerkt der Rechtsanwalt kühl. „Jedenfalls liegt die Sache so,  dass Ihre Ehe für nichtig erklärt ist, und der Polizeipräsident von  Köln Ihnen das Zusammenleben mit dieser Dame verboten hat. Sein gutes  Recht... " 
    „Aber ich  bitte Sie... " 
    „Sein gutes Recht, sage ich! Sie leben mit einer Dame in wilder Ehe und  erregen damit Ärgernis. Das Ärgernis liegt nicht so sehr in der Führung  eines gemeinsamen Haushalts als vielmehr darin, dass die Nachbarn vom  Nichtbestehen der Ehe wissen und darüber reden. Nichts gegen zu machen.  Heiraten können Sie die Dame nicht. Das haben Sie durch die  Nichtigkeitserklärung Ihrer Ehe gemerkt. Das Gesetz verbietet generell  die spätere Ehe zwischen dem Ehebrecher und der Ehebrecherin. Möglich  ist eine solche Heirat nur, wenn das Landgericht einen Ehedispens  erteilt. Diese Erlaubnis ist aber abhängig von der Einwilligung des  geschiedenen Gatten, in diesem Fall also Ihrer ersten Frau." „Und die  wird diese Erlaubnis niemals geben! Sie erpresst mich... " 
    „Bleiben wir sachlich," gähnte der Anwalt. „Ihre Frau macht die  Erteilung ihrer Einwilligung zum Ehedispens von der Zahlung einer  Geldsumme abhängig...  
    „Aber das ist doch Erpressung!" schreit der Fabrikant. „Das ist das  geltende deutsche Eherecht, dagegen ist nichts zu machen. Zahlen Sie,  oder lassen Sie das Heiraten bleiben." 
    Der Fabrikbesitzer Rudolf ist ein Mann in den besten Jahren, ein  erfolgreicher Unternehmer, ein großer, eleganter Herr. Aber jetzt legt  er den Kopf auf die Tischplatte und schluchzt wie ein Kind: „Ich kann  nicht mehr, ich kann nicht mehr!" 
    Dickmann sitzt an einem Nebentisch und zwingt sich, ruhig zu bleiben.  Die Heiligkeit der Ehe, Erpressung, Ehebruch, Erregung öffentlichen  Ärgernisses durch Zusammenleben mit einer nichtverheirateten Frau...  „So ist das nun mal," sagt der Rechtsanwalt achselzuckend. 
    „Ich kann nicht mehr! Dieses Weib verfolgt mich, wohin ich mit meiner  Frau auch ziehe. Überall, in jeder neuen Stadt neue Denunziationen,  neue Verhöre, Vorladungen, neuer Dreck. Meine Frau ist schon ganz krank  vor lauter Aufregung. Sie sitzt zu Hause und weint in einem fort.  Helfen Sie mir! Um Gotteswillen helfen Sie mir!" 
    Der Fabrikant springt auf und rast im Zimmer umher: „Das ist doch  ungeheuerlich! Meine erste Frau hat mich betrogen, wo sie konnte! Aus  Gutmütigkeit habe ich die Schuld auf mich genommen, um ihre  Zukunftsaussichten nicht zu verderben. Und nun dies! Ich bin am Ende!  Ich kann nicht mehr zahlen! Ich habe mein Vermögen in diesem ewigen Hin  und Her eingebüßt! Meine Arbeitskraft, meine bürgerliche Reputation...  " „Wenn Sie nicht zahlen können oder nicht zahlen wollen... " 
    Der Fabrikbesitzer Rudolf ist plötzlich unheimlich ruhig. Er steht auf  und fragt fest: „Eine andere Möglichkeit, zu meinem Recht zu kommen,  gibt es nicht?" Kursch zieht den Kopf in die Schultern: „Ich sehe  keine." 
    „Ich danke Ihnen, Herr Rechtsanwalt." Der Fabrikant geht mit festen  Schritten aus dem Zimmer. Dickmann beschäftigt sich eingehend mit einem  gleichgültigen Aktenstück. 
    Der  Rechtsanwalt kramt umständlich auf seinem Schreibtisch herum. „Sagst ja gar  nichts?" fragt er Dickmann plötzlich. 
    „Für Geld kann man alles," hört Dickmann sich sagen. „Vor dem Gesetz  sind alle Menschen gleich, und wer kein Geld hat, hat unrecht... " 
    „Blödsinn!" Dr. Kursch schlägt mit der Faust auf den Tisch, seine Augen  funkeln. „Blödsinn! Bist du verrückt? Was sind das für Töne, wie?"  Dickmann schließt die Augen und denkt „Genia". Dann sagt er kalt: „Das  ist die Wahrheit. Du kannst dem Rudolf nicht helfen, weil er kein Geld  mehr hat, um die Erpressungen seiner Frau zu befriedigen. Das ist  alles, was ich feststellte." 
    Der Rechtsanwalt spreizt ärgerlich die Hände: „Deine Sorgen möchte ich  haben! Die Frau ist in ihrem Recht. Das Gesetz gibt ihr die  Möglichkeit, sich ihre Einwilligung abkaufen zu lassen, und aus lauter  Edelmut soll sie darauf verzichten, ja?" „Dann ist das Gesetz  grundschlecht... " „Kann ich was dafür? Gesetz ist Gesetz, und ob ein  Gesetz gut oder schlecht ist, das ist mir scheißegal, verstehst du?  Scheiß—e—gal!" 
    Das ist der Rechtsanwalt Dr. Walter Kursch, Alter Herr des Corps  Markomannia Jena, ein vornehmer Mann, königstreu und gesetzeskundig,  ein Diener am Recht. Die Gerechtigkeit führt er weniger häufig im Munde  als das Geld. Dickmann sieht Kursch aufmerksam an und erschrickt:  grenzt seine Aufmerksamkeit nicht an Verachtung? 
    Tags darauf findet er auf seinem Schreibtisch ein Zeitungsblatt. Der  Anwalt hat es ihm auf seinen Platz legen lassen. Eine Notiz ist rot  angestrichen: „In einem Hotel in der Friedrichstadt erschoss heute  Nacht der Fabrikbesitzer Rudolf seine Freundin, die unverehelichte... ,  jagte sich dann selbst eine Kugel... Das Motiv der Tat dürfte in  Liebeskummer zu suchen sein... " 
    Und die Familie ist die Grundlage des Staates... Am Abend dieses Tages  legt Genia Lazar ihre Arme um den Hals des Referendars Friedrich  Wilhelm Dickmann und küsst ihn ernsthaft und schweigend auf den Mund.  Dickmann weicht vor diesem fast feierlichen Kuss zurück, mit  weitoffenen Augen, in denen die Angst steht, die Angst vor den  Rätselhaftigkeiten seines Lebens, mit dem er nicht fertig werden  kann... Dickmann kann sich seine Niederlage nicht verzeihen. Schon Tags  darauf will er sie gutmachen. Aber wie er sich Genia mit täppischen  Liebesbezeigungen nähert, schiebt sie ihn beiseite: „Es war eine  Dummheit." Da erst weiß Dickmann, Avas diese Frau ihm bedeutet. Er  klammert sich an sie, dringt mit demütiger Beharrlichkeit in ihr Leben  ein und zwingt sie durch seine stille Verzweiflung und Ratlosigkeit,  Anteil an ihm zu nehmen. 
    Genia geht darüber hinweg. Sie bleibt kollegial, so kollegial, dass es  nicht wie ein Versprechen klingt, wie sie eines Tages zu ihm sagt:  „Besuch' mich doch mal!" Und Dickmann wird sehr verlegen und murmelt  etwas von „Besuch machen". Genia lacht laut: „Du bist verrückt!" 
    Dickmann hat bisher nicht daran gedacht, dass Genia Lazar ein Zuhause  hat. Die Welt, die jenseits der Paragraphen liegt, jenseits der  Gesellschaftskreise, die er als die seinen ansehen muss, ist verwirrend  und seltsam. Dass man eine junge Dame von dreiundzwanzig Jahren  besuchen kann, ohne vorher bei ihren Eltern Besuch gemacht zu haben,  scheint ihm ein Ding der Unmöglichkeit. Oder etwas Schlimmeres:  vielleicht ist Genias Familie nicht gut? Wenn man da so einfach kommen  und gehen kann...  
    Helle Gardinen. Bücher und Blumen überall. Auf der breiten Chaiselongue  da wird sie schlafen. Das Mädchen schiebt den Teewagen ins Zimmer.  Liköre, Zigaretten. Dickmann sitzt in korrekter Haltung auf einem  niedrigen Sessel und spricht wohlgesetzte Worte mit sonorer,  gleichmütiger Stimme, wie sie die Kasinoerziehung hervorbringt. Dann  stockt er und bemerkt Genias unglückliches und missmutiges Gesicht. Er  benimmt sich also nicht richtig. Genia ist ärgerlich auf ihn. Was will  sie von ihm, was soll er tun? Er schweigt trostlos. Genia versucht zu  retten, was zu retten ist. Aber das Schweigen wird immer lastender und  quälender. Dickmann nimmt ihre Hand und streichelt sie. Plötzlich fällt  er über sie her, reißt sie an sich und küsst sie wild und verzehrend.  Ihre Abwehr wird schwächer, ihre Arme fallen kraftlos an ihrem Körper  herab... Da reißt er sich los, steht vor ihr, keuchend, mit wildem  Blick, — und die Gier fällt von ihm ab. Er stößt gepresst hervor: „Ich  muss gehen... " Dann läuft er stundenlang durch die Straßen und ist  sehr unglücklich: unverantwortlich hat er sich benommen. So etwas tut  man nicht. Genia ist doch eine Dame! Man missbraucht die Teeinladung  einer Dame nicht zu sexuellen Attacken. Wohin soll das führen? Jetzt  ist alles vorbei. Die Situation ist unendlich kompliziert, eine Dame zu  küssen und in sie verliebt zu sein, das ist für Dickmann, der gewohnt  ist, mit Straßenmädchen schlafen zu gehen, ein rätselvoller und  unheimlicher Zustand, der unbekannte Gefahren in sich birgt. Neulich  hat er auf der Holsteinerkneipe eine erbitterte Diskussion gehabt: ein  Corpsbruder hat keinen Hehl daraus gemacht, dass er mit seiner  Verlobten schon vor der Hochzeit... Man suchte nach einem passenden  Ausdruck und einigte sich dann auf die etwas umständliche Umschreibung  „intim verkehrt" habe. Man war sich darüber einig, dass dieser  Corpsbruder unrecht gehandelt habe. Man stellte fest, er habe seine  Braut — eine Dame! — in den Schmutz gezogen, sie gewissermaßen mit  einer Hure auf eine Stufe gestellt. Man zieht keine Dame in den  Schmutz. Man kann und darf sich ein Straßenmädchen kaufen, — ein  lächerlicher Spießer, der daran Anstoß nimmt. Man kann und darf ein  Kleinbürgermädel zur Freundin haben. Aber mit einer jungen Dame  „unserer Kreise" tut man so etwas nicht. Und Genia ist doch zweifellos  eine Dame. Eine Jüdin zwar, aber doch immerhin aus guter, wohlhabender  Familie. Dickmann könnte sich ohrfeigen! Zu Hause schreibt er einen  etwas steifen Brief, in dem er sein Benehmen entschuldigt: „... ich  weiß, dass Du mich nicht lieben kannst. Ich verlange das auch nicht.  Aber ich kann auf Deine Nähe nicht verzichten, und ich verspreche Dir,  dass ich nie wieder... " Genia liest den Brief und zuckt die Achseln.  Es ist alles so schwierig und unerfreulich. Diese Anhänglichkeit ist  rührend, und sie ist verächtlich. Genia sagt „Trottel" und sagt „Ein  guter Junge". Und hinter ihrer ablehnenden Stärke steht die Schwachheit  dieses Widerspruchs: sie will seine Liebe nicht, aber dass er sie  liebt, freut sie. 
    So muss denn einmal jener Abend kommen, an dem die Beiden in einem  kleinen Weinlokal sitzen. Im Nebenzimmer eine Geige, die Sonate von  Toselli. Manchmal geht der Kellner an ihrem Tisch vorüber und bemüht  sich, so auszusehen, als bemerke er sie gar nicht. Dickmann zerdrückt  die Zigarette, die er eben erst angezündet hat. Genia spielt zerstreut  mit den künstlichen Blumen, die auf dem Tisch stehen. Dickmanns Augen  weiten sich bittend und klagend, langsam schiebt er seine Hand über das  fleckige Tischtuch. Genia streichelt sie mit spitzem Finger. Streichelt  diese Hand, die ein wenig zu fleischig, zu breit und zu rot ist. Dann  redet er. Unzusammenhängend, stockend: „Du musst bei mir bleiben,  Genia, ich kann ohne dich nicht leben. Ich weiß, du willst nichts von  mir wissen. Aber bleib bei mir. Lass mir Zeit. Ich werde mich ändern.  ich werde ein Mensch werden, um den es sich lohnt. Du bist klüger als  ich, besser. Du weißt soviel und hast ein starkes Herz. Das habe ich  nicht, Genia. Ich bin schlapp, aber ich werde stark werden. Nur musst  du bei mir bleiben... " Genias Augen schwimmen. 
    Plötzlich mischt sich in dies drängende Fordern und Bitten ein  jammervoller Ton: „Was habe ich denn schon von meinem Leben gehabt!  Schulbank, Krieg, Revolution, — ich habe ja noch gar nicht angefangen  zu leben. Was weiß ich denn vom Leben! Du musst es mir zeigen, du musst  mir helfen. Ich habe immer nur die wenigen Menschen meiner Umgebung  gesehen, immer dasselbe... Was du von der Gerechtigkeit sagst, — ich  habe es ja nur nicht gewusst, ich muss mich erst an diese Gedanken  gewöhnen. Lass mir Zeit, Genia. Ich bin nicht schlechter als du... " 
    Dickmann redet wie im Fieber und ist doch kalt genug, zu bemerken, dass  Genia weich wird unter dieser Flut von Beteuerungen und Bestürmungen.  Die Musik spielt einen Tango. Dickmann stürzt ein Glas Wein hinunter.  Genias Mund glänzt feucht. Sie flüstert etwas, das er nicht versteht...  
    Dann ist er mit einem Male entsetzlich nüchtern. Er friert. Jetzt muss  etwas geschehen. Jetzt oder nie. Diese Stunde muss ausgepresst werden  bis zum Letzten. Vorsicht! Seine Blicke gleiten an ihrer Gestalt herab.  Es muss etwas...  
    Dickmann entfernt sich einen Augenblick. Im Waschraum zählt er sein  Geld und zieht für eine Mark drei Präservativs aus dem Automaten. Er  zahlt. Sie stehen auf der Straße. Dickmann ist es schwindlig. Er  flüstert tonlos: „Wollen wir heute Nacht zusammenbleiben?" Und Genia  nickt stumm. Ein Auto. Dickmann weiß hier in der Nähe ein Hotel, in dem  man es mit dem Anmeldezettel nicht so genau nimmt. Ein schmierig  lächelnder Hausdiener. Wie grell der Schlüssel im Schloss knirscht.  Genia ist blass.  Und an ihrer fröstelnden Schwäche richtet sich  Dickmann auf.   Wir stark er ist!   Er reißt sie an sich, wirft sich  über sie, drängt, keucht, stöhnt... 
    Und sieht nicht das Erbarmen, das in ihren Augen steht, groß und  dunkel. Sein Mund stammelt Liebesworte, aber es sind Lügen, denn sein  Körper weiß nichts von ihnen. Der nimmt Rache für die erlittenen  Demütigungen. Politische Justiz? Das Recht eine Funktion der Ökonomie?!  Dumme Gans! Wochenlang ist er ihr nachgelaufen. Jetzt liegt sie vor  ihm, zerquält, zerwühlt, zerstört... Seine Muskeln dehnen sich in Kraft 
    und  höhnischem Triumph, und seine Liebkosungen sind wie eine Misshandlung. 
    Dann ist sie auf einmal wieder so fern wie nie zuvor. Kalt ist es im  Zimmer und still, man hört nur den stoßweisen Atem des Mädchens.  Dickmann geht im Zimmer umher und gähnt. 
    Dann rülpst er leicht: der Wein war vorhin doch etwas zu süß, er hat es  ja gleich gesagt. Genia sitzt auf dem Bettrand. Verwühlte Wäsche hängt  an ihr herum. Ihre Schultern heben und senken sich unter schnellem  Keuchen. Die Luft im Zimmer steht stinkend und dick wie eine Mauer.  „Ehret die Frauen, sie flechten und weben himmlische Rosen ins irdische  Leben, knüpfen der Liebe beglückendes Band ... " Dickmann lacht durch  die Nase. Widerwärtig. Tierisch. Auch dies muss geschehen, auch dies  ist nichts als ein totes Gewicht mehr in der endlosen Kette der müden  und leeren Tage. Dickmann gähnt und angelt nach seinen Hosenträgern.  Aus einem Augenwinkel betrachtet er Genia fremd und haßvoll wie ein  seltsames Tier. Was will sie noch von ihm? Warum schweigt sie so?  Dickmann tut ungeheuer lustig. Er pfeift laut und falsch, geht wiegend  auf Genia zu und fasst sie mit der Hand unter das Kinn. 
    Sie will nach Hause fahren. Soll sie! Im Auto schweigen beide vor sich  hin. Aus Höflichkeit schlingt er noch einmal den Arm um sie. Ihr Körper  ist steif und wie leblos. Sie kann ihm nicht in die Augen sehen.  Dickmann lächelt dumm: immer so bei Frauen, erst ganz groß und dann so  klein. Omne animal post coitum triste. 
    Wenn der Referendar in den nächsten Tagen bei Genia Lazar anruft, ist  sie nicht zu Hause, gerade im Badezimmer, schläft schon oder hat sonst  eine dringende Abhaltung, die es ihr unmöglich macht, an das Telefon zu  kommen. Er ärgert sich zuerst über dies Verhalten, dann versucht er, es  lächerlich zu finden, schließlich aber hat er sich daran gewöhnt, wie  er sich an die Gerechtigkeit  gewöhnt  hat,  an  die  politische Justiz  Deutschlands und an die juristische Tatsache, dass ein uneheliches Kind  mit seinem Vater in vermögensrechtlicher Beziehung nicht verwandt ist.  Ist doch alles ganz klar. Und wichtiger als das Mädchen, ohne das er  sich sein Leben nicht mehr vorstellen konnte, ist das Assessorexamen,  das Dickmann ohne sonderliche   Schwierigkeiten  und  ohne  sonderliche  Auszeichnung besteht. Abends gibt es zu Hause wieder eine kleine Feier,  und das Jenseits ist versunken.      | 
  
    
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