| LI SCHU LINKernemann klingelte, und Se Din Tschen kam herein.  "Ich brauche einen zuverlässigen Lokomotivführer", sagte Kernemann.Se Din Tschen wusste es schon. "Li Schu  Lin", sagte er. "Ist der Mann wirklich zuverlässig?" fragte  Kernemann und sah Se Din Tschen an.
 Tschen: "Wenn nicht zuverlässig, dann  mürbe." "Mürbe?" Kernemann verstand das nicht.
 "Li Schu Lin war zwei Jahre arbeitslos und hat  sieben Kinder. Er ist erst seit einem Monat wieder im Dienst." "Kennt  er die Strecke?"
 "Er ist sie schon achtmal gefahren. Außerdem war  es vor zwei Jahren seine Hauptstrecke."
 Kernemann war aber noch immer misstrauisch. "Ist  er in der Nähe?" fragte er.
 Tschen: "Er ist hinten im Schuppen bei den  anderen. Ich werde ihn rufen lassen."
 Se Din Tschen ging und kam nach drei Minuten mit Li  Schu Lin zurück. Er schob ihn vor.
 Kernemann sah ihn an. Es war ein Chinese wie tausend  Chinesen. Nicht sehr groß. Die Hände in dem langen, grauen Überrock vergraben.  Zwei kleine Augen. Im Gesicht viele Falten. Die Füße in großen, schweren  Holzschuhen.
 "Wie alt?" fragte Kernemann.
 "Einundvierzig, Herr."
 "Der Kuomintang ergeben?"
 "Ja, Herr."
 "In der Gewerkschaft?"
 "Nein, Herr."
 Kernemann sah ihn wieder an. Li Schu Lin sah auf. Ihre  Augen
    trafen sich. "Na, gib ihm die Maschine",  sagte Kernemann. "Aber stell zwei Posten neben ihn und nimm auch einen  zuverlässigen Heizer. Es kann nie schaden."
 Li Schu Lin ging hinaus. Was wollte der weiße  Offizier? Warum hatte er ihn rufen lassen? Li Schu Lin ging wieder in den  Schuppen, ließ sich Tee geben, setzte sich und trank. Se Din Tschen kam ihm nach einer Weile nach. "Lin", sagte er,  "pünktlich um vier. Es ist ein Zug, der nach Hang-Tschou geht. Eine  Lokomotive und sechzehn Wagen. Der Zug kommt von Nanking. Gleis drei."
 Li Schu Lin setzte sich wieder. Also ein Zug, der von  Nanking kam. Er sah nach der Uhr. Er hatte noch zwei Stunden Zeit. Er trank  seinen Tee und ließ sich noch eine Schale mit Reis geben, dann schob er sich  ein Stück Holz unter den Kopf, verschränkte die Arme über der Brust und  versuchte zu schlafen.
 Zehn Minuten vor vier ging er hinüber zu Gleis drei.  Der Zug war schon da. Er war voll junger Offiziere. Vierhundert Mann. Sie kamen  aus der Nankinger Kriegsschule.
 Li Schu Lin sah sie an. Es waren lange, aufgeschossene  Kerle. Sie trugen neue, graugelbe Uniformen. Über ihren Rücken liefen breite  Lederriemen, auch um den Leib. An den Koppeln hingen große Revolvertaschen. Mao  ging vorüber. "Fährst du den Zug?" fragte Mao. Li Schu Lin nickte.
 "Es sind Offiziere der Kuomintang. Sie gehen nach  Hang-Tschou. Dann über Kin-Hoa nach Fu-Tschou!" "An die Front?"  "An die Front!"
 "Gegen..." Li Schu Lin stockte einen  Augenblick. "Gegen die Kommunisten!"sagte Mao. "Vierhundert  Mann?" "Vierhundert Mann!"
 Mao sah ihn an. Li Schu Lin sah zurück. Was wollte  Mao? Aber Mao ging schon weiter. Auch Li Schu Lin machte sich auf den Weg. Die  Lokomotive, die er führen sollte, stand noch hinten im Schuppen.
 Es war eine der großen Lokomotiven, die aus England  gekommen waren. Er kannte sie schon. Sie nahmen die größten Steigungen mit  vierzig bis fünfzig Kilometern. In der Ebene konnte man mit ihnen wie der Blitz  fahren.
 Kernemann war selber auf den Bahnsteig gekommen. Er  gehörte zu den deutschen Instruktionsoffizieren Tschang Kai Scheks und hatte  die Bahntransporte zu überwachen.
 Li Schu Lin kam mit seiner Maschine heran.
 "Sind zwei Leute für die Lokomotive  abkommandiert?" Kernemann sah Se Din Tschen an.
 "Nein", sagte Tschen. "Ich hole  sie."
 Se Din Tschen sprach mit dem Leiter des Transportes,  einem dicken, wabbligen General. Der General sagte: "Nehmen Sie Chu und  Lü." Er rief die beiden. Chu gehörte zu den Ordonnanzoffizieren des  Generals.
 Kernemann instruierte sie. "Sorgt vor allen  Dingen dafür, dass der Kerl keine Dummheiten macht."
 Die beiden Offiziere zeigten ihre Zähne, lachten und  schlugen dabei auf ihre Revolvertaschen.
 Li Schu Lin hatte ein paar Worte Kernemanns gehört.  Was sollten die Offiziere? Auf ihn Aufpassen? Hatte er schon einmal einen  falschen Handgriff getan? War seine Maschine nicht immer die beste gewesen? Er  wollte etwas sagen, aber dann beruhigte er sich wieder. Sie würden ja sehen,  was für ein Kerl er war.
 Tschen zeigte den beiden ihren Platz. Sie sprangen auf  die Maschine und stellten sich hinter Li Schu Lin. Dann trat Tschen zurück. Die  Maschine war angekoppelt. Er hob die Hand vor die Augen und sah nach der  Weichenbrücke. Auch die Gleise waren frei. Er hob die Hand. Li Schu Lin ließ  Dampf in die Zylinder. Langsam fuhr der Zug an.
 "Kohlen!" sagte Li Schu Lin zu dem Heizer.  Der Heizer griff nach der Schaufel. Sie fuhren aus der großen Halle heraus.
 Als sie an der ersten Weiche nach links bogen, sah  sich Li Schu Lin noch einmal um. Da stand ja Mao wieder. Er stand genau so  still und schweigend am großen Wasserreservoir, wie er vorhin in der Halle  gestanden hatte. Wollte er etwas von ihm? Li Schu Lin hätte den Zug gern noch  einmal angehalten, um ihn zu fragen, aber die Lokomotive rollte schon über die  zweite Weiche, und hinter ihm standen groß und mit ihren leichtgeröteten  Gesichtern die beiden Offiziere.
 Sie fuhren aus Schanghai hinaus. Immer weiter. Rechts  waren Hütten, Gerümpel, kleine Wasserarme. Links waren die ersten  Maulbeerbäume, Maisstauden, Reisfelder. Dann kamen Dämme, hohe, breite Dämme,  dahinter der Fluss, weit, dunstig. Man konnte die andere Seite nicht sehen.
 Der Zug war signalisiert worden. Sie passierten alle  Bahnhöfe und Blockstellen ohne Aufenthalt. Li Schu Lin hatte die Hand am  Geschwindigkeitsmesser. 60, 70, 80 Kilometer. Der Zug sauste immer schneller  durch die Ebene.
 Li Schu sah geradeaus. Was hatte dieser Mao wohl  gewollt? Er sah ihn wieder vor sich. Er hörte auch seine Worte.  "Vierhundert Offiziere. Sie gehen an die Front! An die Front gegen die  Kommunisten!"
 Li Schu Lin war ein Kommunist. Er war ein alter,  braver Arbeiter mit einer Frau und sieben Kindern. Zwei lange Jahre hatte man  ihn an keine Maschine gelassen. Die Kinder waren beinahe verhungert, und Kue,  sein Weib, war welk wie ein Blatt geworden. Es waren zwei schwere Jahre, wie Berge  so schwer. Sie hatten Li Schu Lin tief in die Erde gedrückt.
 Plötzlich tauchten dahinter die Jahre vor dieser Zeit  auf. Li Schu Lin hatte gelogen. Er hatte nicht sieben Kinder, er hatte neun. Da  waren noch Tang und Hong.
 Tang wäre jetzt zweiundzwanzig. Er war Buchdrucker und  Agitator der Buchdruckergewerkschaft gewesen. Er hatte da nichts Schlimmes  gemacht. Im Auftrag der Kuomintang und der Gewerkschaften die Buchdrucker und  Setzer von Schanghai organisiert.
 Es war eine große Gewerkschaft. Tang verstand das  Organisieren. Und es war die Zeit, in der die Söhne die Väter belehrten. Tang  wollte, dass sich sein Vater Li Schu Lin auch organisierte. Aber Li Schu Lin  wollte nicht. Er hatte Tang gesagt: "Ich habe noch acht Kinder außer dir,  und die Organisation kostet Geld. Für das Geld kann ich für die Kleinsten Reis  kaufen.
 Tang hatte gelacht. Ja, die Welt stand Kopf, die Söhne  lachten über die Väter. "Wenn du jetzt die paar Taels zahlst, Vater,  kannst du später zu deinen acht Kindern nochmals acht ernähren." Aber Li  Schu Lin war nicht in die Gewerkschaft gegangen.
 Dann kam der April 1927, und die Kuomintang bekämpfte  auf einmal die Gewerkschaften, obwohl diese erst vor ein paar Tagen Tschang Kai  Schek durch ihren Generalstreik die Tore von Schanghai geöffnet hatten. Es war  eine schlimme Zeit. Hunderte der verhafteten Gewerkschaftsführer wurden von  Tschang Kai Scheck und seinen Henkern geköpft, erschlagen, gehängt und in die  großen Feueröfen des Schanghaier Elektrizitätswerks geworfen.
 Auch Tang. Ja, auch Tang.
 Da trat Hong an die Stelle von Tang.  "Vater", sagte er zu Li Schu Lin, "wir müssen kämpfen. Tschang  Kai Scheck hat uns an die Kapitalisten und die Ausländer verraten. Es sind  schon Tausende, die sich bewaffnet haben. Wir müssen die Verräter erschlagen  und die Toten rächen!"
 Li Schu Lin hatte seinen Sohn Hong lange angesehen.  "Befehlen jetzt die Söhne sogar ihren Vätern? Sagen die Söhne den Vätern,  was die Väter tun sollen?" Li Schu Lin hatte nicht zu den Waffen  gegriffen. Auch Hong sollte nicht kämpfen. Tang war schon für die Sache der  Arbeiter gestorben, Hong sollte am Leben bleiben und nicht in den Feuerofen  geworfen werden.
 Aber Hong gehorchte seinem Vater nicht. Hong kämpfte.  Als die Aufständischen aus Schanghai vertrieben wurden, ging er nach Kanton.  Als die Aufständischen aus Kanton vertrieben wurden, ging er in die Provinz  Wuhan. Er war immer noch bei den Kommunisten, in der Dritten Roten Armee. Er  war erst zwanzig Jahre, aber er führte schon ein Regiment. Li Schu Lin hatte es  gehört. Noch einige in Schanghai wussten es. Auch Mao. Li Schu Lin neigte  seinen Kopf nach vorn. Deswegen hatte ihn Mao sicher auch so angesehen.
 Li Schu Lin wandte seinen Kopf einen Augenblick nach  rechts. Der Fluss wurde enger. Ganz weit, etwas verdämmert, sah er jetzt das  andere Ufer. Ein Schiff fuhr nach Hankau. Es heulte auf. Auch Li Schu Lin zog  an der Klappe zur Pfeife. Huuuuu! Die beiden Offiziere knickten in die Knie,  und Li Schu Lin und der Heizer lächelten.
 Li Schu Lin dachte schon weiter. Hong war jetzt an der  Front bei Fu-Tschou. Die Kommunisten kämpften schon seit zwei Monaten um die  Stadt. Es war ein hartnäckiger Kampf. Tschang Kai Schek schickte Regiment auf  Regiment nach Fu-Tschou. Fiel Fu-Tschou, dann konnte die Rote Armee bis zum  Meer vorstoßen. Stieß sie bis ans Meer vor, so konnte sie sich noch besser mit  Waffen und Munition versorgen. Das bedeutete für Tschang Kai Schek neue  Niederlagen und neue Verluste, und Li Schu Lin konnte verstehen, warum die  Kuomintang Regiment auf Regiment nach Fu-Tschou warf.
 Deswegen, Li Schu Lin hörte einen Augenblick seinen  Herzschlag, schickte Tschang Kai Schek auch diese vierhundert Offiziere an die  Front von Fu-Tschou. Mao hatte es gesagt, und auch die Offiziere machten kein  Hehl daraus, dass sie über Hang-Tschou in die Provinz Fu-Tschou fuhren.  Vierhundert Offiziere aus der Offiziersschule von Nanking. Große, starke Kerle.  Die besten Leute, die Tschang Kai Scheck zur Zeit hatte.
 Und in der Provinz Fu-Tschou stand sein Sohn Hong. Mao  wusste sicher auch das, und Mao wollte... Ja, was wollte Mao? Li Schu
 Lin bereute es, dass er nicht doch mit Mao gesprochen  hatte. Wollte er, dass er Li Schu Lin, zur Zeit Lokomotivführer auf der Strecke  Schanghai - Hang-Tschou, verhinderte, dass die vierhundert Offiziere über Hang-Tschou  an die Front fuhren?
 Li Schu Lin lächelte. Wenn es das war, was Mao von ihm  wollte, so verlangte er etwas Unmögliches. Er fuhr mit diesen Offizieren in  einem festgebauten Zug, auf den festesten Gleisen in China und mit der besten  Maschine, die je zwischen Schanghai und Hang-Tschou gefahren war. Die Offiziere  saßen in den stählernen Wagen wie hinter Festungsmauern, keine Kugel konnte sie  treffen, kein Sturm konnte sie über die Abhänge stürzen. Ja, sie waren in  diesen Wagen sicherer als in Nanking in ihrer Kaserne.
 Es konnte ihnen auch sonst nichts geschehen. An jeder  Weiche stand ein Doppelposten. An jeder Brücke, an der kleinsten Unterführung  war ein Maschinengewehr eingebaut. Der Zug glitt durch alle Stationen, als wäre  er das Wichtigste und Kostbarste, was Nanking je an die Front gegen die  Kommunisten geschickt hatte. Überall waren die entgegenkommenden Züge auf die  Nebengleise geschoben. Auf allen Bahnhöfen standen die dicken Stationsvorsteher  wie Säulen und salutierten. Vierhundert ein ganzes Jahr für die Front erzogene  Offiziere, das war schon etwas, für das sich das Salutieren und die Bewachung  lohnte.
 Was sollte Li Schu Lin gegen das alles tun? Hinter ihm  standen außerdem zwei Offiziere, die Hand am Revolver. Neben ihm stand der  kleine, glucksende Lu, der Heizer, den ihm Se Din Tschen noch kurz vor der  Abfahrt an Stelle seines alten Heizers gebracht hatte und der sicher auch ein  Aufpasser war. Ja, was sollte Li Schu Lin tun?
 Er sah auf den Geschwindigkeitsmesser: 72 Kilometer.  "Wirf Kohle auf", sagte er zu Lu. Lu nahm die Schaufel und warf die  Kohlen in den roten Rachen der Lokomotive.
 75 Kilometer. 80, 85, 90. Der Zug schnellte immer  eiliger durch die Reisfelder. Sie waren vom Fluss abgebogen und jagten nach
 Süden. Rechts waren kleine, ärmliche Bauernhöfe, ein  paar Bauern zogen mühsam mit ihren Karren durch den aufgeweichten Boden, andere  pflügten, einige Frauen schleppten sich mit Säcken, und eine ganze Schar trug  schwere Holz- und Reisigbündel.
 Aber Li Schu Lin konnte hinsehen, wo er hinsehen wollte,  überall tauchte wieder das Gesicht von Mao auf. Jeder Bauer trug es. Der dicke  Stationsvorsteher, der wie ein aufgefüllter Sack vor dem gelben Haus stand.  Sogar Lu, der Heizer trug es, und es hatte noch immer nichts von diesem so  stillen und beinahe anklagenden Ausdruck verloren.
 Li Schu Lin sah in das Gesicht hinein. Ja, was konnte  er tun. Er konnte noch schneller fahren. Er konnte zu Lu sagen: "Wirf mehr  Kohlen ins Feuer!" Aber Lu wusste sicher, dass die Maschine 90 Kilometer, dass  sie ohne Gefahr auch 95 Kilometer fahren konnte. Wenn Li Schu Lin aber noch  schneller fuhr, würde es Lu merken und den Offizieren sagen. Die Offiziere  würden ihn zwingen, das Tempo zu mäßigen, und wenn er es nicht tat, ihn in  Fesseln legen oder zusammenschießen, und Lu riss dann den Geschwindigkeitsmesser  herum und fuhr die Offiziere nach Hang-Tschou.
 Er konnte auch den Kessel überheizen und die Maschine  zur Explosion bringen. Er konnte plötzlich alle Bremsen ziehen, damit der Zug  ins Gleiten kam und aus den Gleisen sprang. Aber auch das konnte Lu verhindern,  und es musste nicht einmal zu einer Katastrophe führen. Vielleicht fiel die  Maschine beim Bremsen nur auf die Seite. Vielleicht riss sie nur die beiden  Packwagen um, und dann kam ein Hilfszug aus Schanghai oder aus Hang-Tschou, und  die Offiziere fuhren mit dem Hilfszug weiter.
 Li Schu Lin konnte sich also überlegen, was er wollte,  da war keine Möglichkeit, Maos Verlangen zu erfüllen, selbst wenn er sein  eigenes Leben dabei aufs Spiel setzte.
 Da sah Li Schu Lin das Gesicht von Mao zum dritten  Male. Er war erstaunt, er hatte gedacht, Mao würde ihn wieder finster und  abweisend ansehen, aber Mao sah ihn im Gegenteil an, als freue er
 sich über das, was Li Schu Lin eben zu Ende gedacht  hatte, und erinnerte ihn dann an etwas. Gleich hinter Schumen bogen die Gleise  in einer scharfen Kurve über eine Brücke. Kurz vor der Kurve verminderte Li  Schu Lin deswegen die Geschwindigkeit bis auf 15 Kilometer. Li Schu Lin wusste  auch bereits, warum ihn Mao an diese Brücke erinnerte. Er hatte nicht recht mit  dem, was er eben zu Ende gedacht hatte. Es gab eine Möglichkeit, Maos Verlangen  zu erfüllen. Wenn Li Schu Lin die Bremsen nicht vor der Biegung anzog, stürzte  der Zug mit allein, was darin war, über die Brücke in den Sumpf. Mao sah Li Schu  Lin an, nickte kurz und lächelte, und Li Schu Lin spürte im gleichen  Augenblick, wie ihm Mao sonderbar näher kam und ihn beinahe berührte.
 Li Schu Lin spürte aber auch, dass ihn diese Nähe  schwach machte, und er schüttelte Mao wieder von sich ab. Wenn ihm Mao auch  einen Weg gezeigt hatte, so bedeutete das nicht, dass ihn Li Schu Lin gehen musste.  War es überhaupt richtig, die vierhundert Offiziere in den Tod zu fahren? War  damit alles zu Ende? Tschang Kai Schek schickte sicher ein paar Wochen später  neue Offiziere, und der Kampf ging weiter. Und wog die Sache Maos, Tangs und  Hongs überhaupt so schwer, dass es sich lohnte, das Leben dafür zu opfern? Er  blieb sicher nicht einmal das einzige Opfer. Kernemann griff, wenn er von so  einer Tat erfuhr, sofort zu Kue und den Kindern. Se Din Tschen würde sie  verhaften. Kue und die beiden Ältesten würde man köpfen, und die anderen, auch  seine Tochter In, würden dann verhungern.
 Nein, wenn Mao auch weiter lächelte, Li Schu Lin ging  den Weg Maos nicht. Wenigstens nicht, bevor er alles noch einmal abgewogen  hatte. Mensch um Mensch, Sache um Sache. Aber selbst, wenn die Sache der  Arbeiterschaft dann schwerer wog als das Leben der Offiziere, hatte er noch  kein Recht, sich für die Sache Maos zu entscheiden, denn er konnte wohl sich  dafür opfern, aber nicht Kue und die Kinder. Er konnte einfach das tun, was er  immer getan hatte, kurz hinter Schumen bremsen, und wie um Mao und seine
 Nähe ganz von sich abzustreifen, drückte Li Schu Lin  plötzlich beide Hände gegen Brust und Herz und schob sie, fest an seinen Körper  gepresst, langsam nach unten.
 Aber Mao ließ sich nicht so leicht abschütteln. Als Li  Schu Lin, der einen Augenblick die Augen geschlossen hatte, die Augen wieder  öffnete, stand Mao noch immer vor ihm. Li Schu Lin wollte die Sache der  Arbeiterklasse mit der Sache Tschang Kai Scheks und der Offiziere abwägen. Mao  war auch dazu bereit. Er hatte schon eine Waage in der Hand, und er stellte die  Waage vor Li Schu Lin auf.
 Die Waage hatte zwei tiefe Schalen. Mao griff nach  rechts und füllte die rechte Schale mit dem General, der mit den Offizieren  war, und mit Kernemann. Li Schu Lin sah genau hin. Es war das Gesicht des  Generals, wie er es in Schanghai vor der Abfahrt des Zuges gesehen hatte, ein  rundlicher Kopf über einem rundlichen Bauch, und um den Bauch hingen der Degen  und die Revolvertasche. Es war das Gesicht Kernemanns, wie er es aus vielen  Begegnungen kannte. Es war schmal und hoch, böse und lauernd, und über den bleichen  Backen saßen hell und stechend die Augen.
 Mao griff nach links und füllte die linke Schale mit  Tang und Hong. Es war das Gesicht seines Sohnes Tang, wie ihn die Genossen  zuletzt in sein Haus gebracht hatten. Das Gesicht war gelb und verglast, der  Leib wie mit glühenden Zangen auseinandergerissen. Die Henker der Kuomintang  hatten ihn viele Stunden gepeinigt, bevor sie ihn totgeschlagen hatten. Hinter  Tang sah Li Schu Lin das Gesicht von Hong. Es war der gleiche Hong, der vor  fünf Jahren mit den Aufständischen nach Kanton gezogen war, dünn, mager, der  große Kopf baumelte auf dem dünnen Hals wie ein überreifer Apfel.
 Die Schalen der Waage stiegen auf und ab, und Li Schu  Lin sah, dass die Leiber von Kernemann und dem General leichter waren als die  Leiber von Tang und Hong.
 Mao füllte die Schalen weiter. In die rechte füllte er  jetzt die Offiziere, und sie wurde schwerer und schwerer, und zuletzt tat Mao  noch Se Din Tschen hinein, und Se Din Tschen hatte einen
 gelben Zettel in der Hand. Auch den Zettel erkannte Li  Schu Lin. Auf ihm stand, dass Li Schu Lin wieder Lokomotivführer zwischen  Achanghai und Hang-Tschou werden sollte, dass er viele Taels dafür bekäme und  nun wieder in Wohlstand und Frieden leben könne.
 In die linke tat Mao als erstes einen Boten. Auch den  Boten erkannte Li Schu Lin. Hong hatte ihn vor einem Jahr mit einem Zettel an  seinen Vater Li Schu Lin geschickt, und auf dem Zettel stand: "Lieber  Vater, denke immer daran, was Du auch über uns alle und Deinen Sohn Hong hörst,  wir tun alles, was wir tun, auch für Dich!" Und nach dem Boten schüttelte  Mao in die linke Schale Männer und Frauen, die Li Schu Lin auch kannte. Er  waren Arbeitskameraden und  -kameradinnen  aus dem Schuppen, Heizer und Streckenarbeiter, alles Leute, die trotz des  Terrors Tschan Kai Tschecks noch der Gewerkschaft der Eisenbahner angehörten  und die in Schanghai genau so tapfer für ihre Sache kämpften, wie Hong an der  Front kämpfte und wie Hong geschrieben hatte: "Nicht nur für uns, sondern  auch für Dich, Li Schu Lin!"
 Aber wie Mao sich auch mühte und die Schale zu füllen  versuchte, sogar Wu, den alten Heizer von Li Schu Lin legte er hinein, es waren  zu wenige. Die rechte Schale, die unter der Last der Offiziere tief nach unten  gesunken war, blieb unten. Li Schu Lin lächelte sogar einen Augenblick, denn  Mao hatte noch nicht einmal Kue und die Kinder zu den Offizieren getan.
 Da brachte sie Mao. Zuerst die Zwillinge, seine Söhne  Ling und Ching. Mao tat sie, wie Li Schu Lin es wollte, in die rechte Schale zu  den Offizieren. Aber Ling und Ching sprangen wieder aus der Schale heraus und  gingen hinüber in die andere. Li Schu Lin verzog einen Augenblick die Stirn.  Aber er wusste es ja, die beiden gingen nachts heimlich in die Versammlungen  und waren bereits geachtete Genossen. Die Stirn Li Schu Lins glättete sich  wieder, und er hatte sich nicht opfern wollen, damit Ling und Ching leben  konnten. Dabei waren sie bereit, sich jeden Tag selber zu opfern, und sie  hätten
 bestimmt keinen Augenblick gezögert, sich mit ihm in  den Sumpf zu stürzen, wenn ihr Tod den Tod von vierhundert Offizieren bedeutet  hätte.
 Dann brachte Mao Li Schu Lins Weib und seine anderen  Kinder. Mao wollte sie wieder in die rechte Schale legen. Aber Li Schu Lins  Weib nahm Mao die Kinder aus der Hand und legte sie zu Ling und Ching. Li Schu  Lin stockte einen Augenblick das Herz, Kue nahm seine Tochter In, presste sie  fest an ihre Brust und sprang selber in die linke Schale. Li Schu Lin erinnerte  sich jetzt, Kue war aus der Familie der Den. Die Familie der Den hatte bei dem  Gemetzel in Schanghai den alten Den. den Vater von Kue verloren, und auch die  Dens waren bereit, sich für die Sache hinzugeben, für die der alte Den ermordet  worden war. Ja, Li Schu Lin sah es: sein Weib Kue war noch tapferer als ihre  Brüder, sie war sogar bereit, ihre Kinder für die Arbeiterklasse zu opfern.
 Li Schu Lin sah noch, dass sein Weib Kue schwer wog.  Die Schale die bei jedem seiner Söhne schon tiefer gesunken war, sank durch das  Gewicht von Kue bis zur Mitte, und es bedurfte nur noch eines winzigen Druckes,  damit die linke Schale über die Mitte, noch tiefer sank und die rechte dafür in  die Höhe schnellte. Aber wer sprang nach Kue darauf? Er musste übrigens schnell  springen. Der Zug hatte gerade Schumen durcheilt, und es waren nur noch  einundzwanzig Kilometer bis zur Brücke.
 Da sah Li Schu Lin, dass Mao ihm winkte. Er sollte auf  die Schale springen. Li Schu Lin presste seine Hand auf das klopfende Herz.  Sein Leben hatte gerade wieder begonnen! Er konnte mittags und abends wieder  seinen Reis essen, seinen Tee trinken, konnte eine Pfeife rauchen, den Kindern  eine Melone und Kue und In ein paar Glasperlen bringen. Sollte er es wirklich  tun? Er sah auf den Geschwindigkeitsmesser. 94, 95 Kilometer, und bis zur Kurve  waren es noch zehn Kilometer. Li Schu Lin hörte wieder sein Herz. Es schlug so  laut und donnernd, dass es sogar das Donnern des Zuges übertönte, aber es  schlug einmal "Ja" und einmal "Nein",
 und Li Schu Lin wusste noch immer nicht, ob er auf die  Schale
    springen sollte.
 Da sah er hinter Mao plötzlich die Stadt Fu-Tschou,  und um die Stadt lagen die Soldaten der Roten Armee. Sie lagen in kleinen  Gräbern, und er sah seinen Sohn Hong, diesmal in einer Uniform und mit drei  Sternen auf den Achselklappen. Und er sah, wie die Soldaten Tschang Kai Scheks  vor seinem Sohn Hong und den roten Soldaten davonliefen. Auf einmal stand Li  Schu Lin aber nicht mehr auf seiner Lokomotive. Sie war ein großer eiserner  Tank geworden. Der Tank raste in die Rote Armee hinein, und die vierhundert  Schießscharten, und die rote Fahne fiel, und sein Sohn Hong fiel, und es fielen  noch tausend andere. Li Schu Lin hörte auch noch, dass ihn jeder, der fiel,  einen Verräter und einen Mörder nannte. Auch s ein Sohn Hong.
 Unter diesen Anklagen schlug Li Schu Lins Herz wie ein  Hammer gegen die Brust. Es zersprengte die Brust beinahe, und er freute sich,  als er die Augen aufschlug: der Zug mit den vierhundert Offizieren fuhr noch  immer durch die Ebene Hang-Tschou. Noch waren sie kurz hinter Schumen, und die  Brücke über die Sümpfe war noch vor ihnen. Er sah auf die weiße Scheibe. Der  große Zeiger stieg gerade von 96 auf 98, und bis zur Kurve waren es im besten  Falle noch sechs Kilometer.
 Auch Lu wurde aufmerksam. Er sah auf den Zeiger und  dann auf Li Schu Lin. Li Schu Lin sah auf die Seite. Lu stieß ihn an und tippte  mit dem Finger auf den Zeiger.
 Li Schu Lin sagte: "Kümmre dich um die  Kohlen." Er stieß den
 Finger nach unten.
 Lu kümmerte sich nicht um die Kohlen. Er wandte sich  an die Offiziere. Der eine fasste Li Schu Lin an der Schulter und zeigte ihm 
    seinen Revolver.
 Es war aber schon zu spät. Mao hatte gesiegt. Nein, Li  Schu Lin 
    war kein Verräter, auch kein Mörder, Li Schu Lin war  bereits auf 
    die Schale gesprungen, und er spürte, wie die Schale  durch sein
    Gewicht die Mitte überschritt und die andere steil in  die Höhe schnellte.
 100 Kilometer, 102 Kilometer. Die Kurve begann. Der  Zug legte sich wie ein Pfeil in den Bogen. Die ersten hundert Meter blieb die  Maschine noch auf den Schienen, aber dann stemmte sie sich ab. Jetzt spürten  auch die beiden Offiziere die Gefahr. Ihre Gesichter wurden gelb und ganz  schmal. Sie bogen die Knie und hielten den Atem an, und der, der seine Hand an  Li Schu Lins Schulter hatte, ließ seine Hand nach unten fallen, und auch sein  Revolver fiel auf die Kohlen.
 Die Maschine raste bereits neben den Schienen. Sie  hatte die Brücke erreicht, stieß mit einem leichten "Knack!" gegen  das Geländer, das Geländer brach auseinander und der abgeschossene Pfeil  schnellte in die Tiefe.
 Es war ein furchtbarer Sturz. Den ersten und den  zweiten Wagen riss die Maschine hinter sich her. Der dritte und vierte schoss  kopfüber über die beiden hinweg. Die letzten überschlugen sich einige Male, bis  sie den Sumpf und das Wasser erreichten. Klatschend schlug das Wasser und der  Schlamm über Menschen und Wagen zusammen und zog alles in seine unergründliche  Tiefe.
 Die kleinen Zeitungsjungen von Schanghai, Kanton,  Nanking und Peking schrien am nächsten Morgen durch die Straßen: "Ein  Militärzug mit 400 Offizieren hinter Schumen verunglückt! 372 Tote, 18  Schwerverletzte, 10 Leichtverletzte!"
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