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Wassili Iljenkow - Die Triebachse (1931)
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ZWEITES BUCH


1

Vom Fabrikhof herauf drang das Dröhnen des Eisens und das Keuchen des Krans, dessen nervöse, durchdringende Schreie den allgemeinen Lärm der Fabrik übertönten. Sein Keuchen wurde immer hastiger und ging in drohendes Knurren über — er hob eine Last empor, die er mit seinem langen, dünnen Hals dicht am Fenster vorbeischleppte, so dass es Wartanjan schien, als wolle irgend jemand zu ihm hereinschauen.
Wartanjan stand vom Tisch auf und trat ans Fenster. Unten auf dem Fabrikhof, an der Mauer, wühlte der Kran in Bergen verrosteten Eisens herum. Aus dem Haufen von Metallteilen und Eisenstücken, die dem verwitterten Knochengerüst eines riesigen Tieres ähnelten, sprossen hier und da Büschel unverwüstlichen Frühlingsgrüns.
Die Grasbüschel erinnerten Wartanjan an seine Datsche bei Moskau, an Kiefernwälder, Wiesen und Blumen, und er sah seinen kleinen Laso vor sich, wie er einem weißen Schmetterling nachjagte. Laso wird ihn sicherlich fangen — er ist geschickt wie ein kleiner Affe —, und dann wird er sich unter irgendeine Kiefer hinhocken und stundenlang die emsige Arbeit der Ameisen beobachten, das Lockenköpfchen nachdenklich zur Seite geneigt.
Ja — er musste Laso einen Brief schreiben... Er hatte ihm in dieser ganzen Zeit erst ein einziges Mal geschrieben. Schnell legte er einen Briefbogen zurecht und vertiefte sich in seine Gedanken.
Es war Januar... Er erinnert sich an die starkbesuchte Versammlung des Parteiaktivs des Samoskworezker Bezirks (Anm.: Stadtbezirk in Moskau). Er steht am Rednerpult, spricht leidenschaftlich und feurig; aber sonderbar: im Saal herrscht eine verdächtige Stille, eine Ruhe wie vor dem Sturm; harte, feindselige Blicke greifen ihn an. Er kommt in seiner Rede zur innerparteilichen Lage. Die Wachsamkeit des Auditoriums weicht höchster Aufregung. Er fällt wütend über die alten Kommunisten her, die sich durch ihre langjährige Parteizugehörigkeit in Ruhe einwiegen lassen, und bezweifelt ihre Bereitschaft zu revolutionären Kämpfen. Er appelliert an die Aktivität der Jugend, die selbständig, aus eigener Kraft die Wahrheit erkennt, die an allem zweifelt... Seine Rede wird unterbrochen von vereinzelten Beifallsäußerungen und zornigen Rufen „Nieder mit ihm!" Unter dem Lärm der empörten Versammlung verlässt er die Tribüne.
Fünf Monate sind seit diesem Tage vergangen, aber es ist, als ob das alles gestern erst war: so schwer drücken diese Ereignisse ihn nieder. Schon längst hat er ein langes Schreiben, in dem er alle seine Fehler zugibt, nach Moskau gesandt, aber es scheint, dass Moskau nicht an die Aufrichtigkeit seiner Reue glaubt. Ja — dieses Misstrauen ist berechtigt. Mit Worten ist dieser Schandfleck nicht abzuwaschen. Es heißt arbeiten. Diese alte Fabrik wieder hochbringen!...
Die Fabrik... In zahllosen schwarzen Gebäuden zieht sie sich dort vor den Fenstern hin. Mit allen ihren Missständen und wunden Punkten umschließt sie ihn wie ein fester Ring. Sie wartet. Wartanjan fühlt, dass sein ganzes Leben, seine Gedanken und Gefühle nun mit dem Leben aller dieser Bauten unlöslich verbunden sind — die durchdringenden Schreie des Krans erfüllen sein ganzes Wesen mit Erregung und Unruhe.
Die Fabrik, die mitten in den grenzenlosen Wäldern und Sümpfen im Westen der Republik liegt, war ebenso morsch wie die Epoche, die sie hervorgebracht hatte.
Mehr als einmal hatte sie den Besitzer gewechselt, war von einer Aktiengesellschaft zur andern gewandert. Und jeder neue Besitzer richtete die Produktion nach seinem Geschmack ein, fügte neue Fabrikgebäude zu den alten hinzu, projektierte so, wie es für ihn am vorteilhaftesten war, von der Schienenfabrikation, die in den achtziger Jahren riesige Profite abwarf, ging man zum Maschinenbau über; das Wachstum der Städte hatte den Anbau einer mechanisierten Ziegelfabrik und einen großen Aufschwung der Draht- und Nägelproduktion zur Folge; die starke Entwicklung der großen Güter mit ihrer maschinellen Produktion und der Großbauernwirtschaft forderte den Bau spezieller Abteilungen für die Erzeugung von Landmaschinen — Mähmaschinen, Pflügen usw. Im Weltkrieg trat die Produktion von menschlichen Leichen, Krüppeln und Kranken an erste Stelle, und die Fabrikbesitzer stellten die Maschinenproduktion ein und fabrizierten Geschütze und Bomben in niegeahnten Mengen. Die Drehbänke knarrten unter der Hand ungeübter Frauen, die an Stelle der im Felde stehenden Männer Granaten und Geschützteile drehten. Zug auf Zug fuhr nach dem Westen, beladen mit Kriegsmaterial — der Tod war der zuverlässigste und vorteilhafteste Auftraggeber.
Dann umtobten Klassenkämpfe die Fabrik, der Rauch des Bürgerkriegs hüllte ihre Mauern ein, und sie alterte noch mehr. Man meinte damals, dass kein Zauberer je imstande sein würde, diese rostbedeckten Maschinen, die hungrige Menschen zum Teil auseinandergenommen hatten, um sich die Teile anzueignen, die sie brauchten, zu neuem Leben und neuer Arbeit zu erwecken. Diese Maschinen hatten wohl ausgedient und die äußersten Grenzen ihrer Arbeitsfähigkeit erreicht; diese Fabrik, die elementar aus Wäldern und Sümpfen hervorgewachsen war, musste nun wohl wieder unter Rost und Schlamm verschwinden, von Tannen überwachsen werden. Von allen Seiten zogen sie heran: Rost, Schlamm und Wald, und machten sich daran, die in diesen Maschinen, in Stahl und Eisen verborgene Menschenarbeit zu überwuchern. Und die Fabrik, über die Kirchhofsstille hereingebrochen war, sah stumm die Leichen der Dreher und Gießer an, die an den Telegrafenstangen im Winde hin und her schaukelten. An ihren Mauern hauchte die blutige Epoche, die den Waffenrock der Denikinschen Banden übergezogen hatte, ihren letzten heiseren Seufzer aus und ließ den neuen Herren Rost, Verwesung und Blut als Erbe zurück.
An die verrosteten Drehbänke traten die vom Kampf ermatteten Metallarbeiter. Mit abgemagerten Fingern begannen sie den Rost von den Gewinden, Walzen, Maschinen zu feilen, die nun ihre eigenen waren. Der erste Direktor begann seine Arbeit so: er zog den Uniformrock aus, band eine Schürze vor und fing an, eine widerstrebende Hobelmaschine auseinander zunehmen: man musste Kuppelstangen für die Lokomotiven hobeln — das Land begann seinen großen Aufbau. Unermüdliche Tage rastloser Menschenarbeit brachten die Wiedergeburt der Fabrik zustande. Und diese heroischen Tage besingt einer der zahlreichen Dichter des Landes — Gregor Andrjuschetschkin.
Das grandiose Ausmaß der Fabrik und die Kompliziertheit ihres inneren Lebens setzten Wartanjan gleich bei seinem ersten Rundgang in Erstaunen — er konnte sich am Abend durchaus nicht mehr auf die Benennung und Bestimmung der vielen verschiedenen Abteilungen besinnen, und am nächsten Tage irrte er lange auf dem Fabrikterrain herum, verloren im Donnern und Krachen des Metalls.
Wartanjan staunte über die Vielfalt der Fabrik: neben Schnellzugslokomotiven und Eisenbahnwagen wurden Pflüge, und Nägel, Krane und Sensen, Draht und Röhren hergestellt. Auf dem Fabrikhof verrosteten Teile von Fordson-Traktoren — die Überreste einer misslungenen Traktorenproduktion.
Wartanjan traf gerade in dem Moment in der Fabrik ein, als eine Arbeiterkonferenz tagte, die sich mit dem Produktionsprogramm befasste. Mit lautem Beifall nahmen die Arbeiter die Mitteilung des Trustvorsitzenden über die Erhöhung der Zahl der zu erzeugenden Wagen bis auf 2000 Stück auf; sie schwiegen, als der Redner erklärte, dass man die Draht- und Nägelproduktion einer anderen Fabrik überlassen und sich mit der Herstellung von Einrichtungen für den Dnjeprostroi befassen müsse. Sowie aber die Zahl der Lokomotiven bekannt wurde, tobte ein Orkan durch den Saal — die Menschen gerieten in eine unbeschreibliche Aufregung: sie schrieen, schimpften, scharrten mit den Füßen — nur mit größter Mühe gelang es, die Ordnung wiederherzustellen. Im allgemeinen Tumult sprang Titytsch auf die Rednertribüne:
„Ich möchte eine Frage an den Referenten richten: kann der Mensch ohne Herz leben?" fragte er höflich, und unter gespanntester, schweigender Aufmerksamkeit der Versammelten bestätigte der Vorsitzende des Trusts lächelnd: „Nein, das kann er nicht."
Da rief Titytsch, dem Referenten demonstrativ den Rücken zuwendend, in den Saal hinein:
„Genossen! Ebenso wie der Mensch ohne Herz nicht leben kann, gibt es auch für uns kein Leben ohne Lokomotiven! Wir sind bei Lokomotiven geboren und sind neben ihnen aufgewachsen! Ich habe gesprochen!"
Und wieder summte der Saal wie ein in Erregung geratener Bienenstock. Man ließ den Vorsitzenden des Trusts nicht zu Worte kommen, und er war gezwungen, nach telefonischer Rücksprache mit Moskau das Lokomotivproduktionsprogramm zu ändern. Wartanjan merkte, wie stark die Arbeiter an der Lokomotive hingen; sie standen da, die Lokomotiven zu verteidigen wie eine Löwin ihre Jungen: wild und leidenschaftlich und bereit, sich selbst zu opfern.
Wartanjan liebte es, mitunter das steile, abschüssige Ufer des Flusses zu erklimmen und von dieser Höhe aus hinüberzuschauen auf die blauen Wogen der Nadelwälder, die sich bis zum Horizont hinzogen, auf die Schlangenlinien des Flusslaufs, auf dem träge Flöße dahinkrochen, und auf die dünne Rauchsäule einer in der Ferne verschwindenden Lokomotive, und dann schien es ihm, als hämmere die zu seinen Füßen liegende Fabrik wie das eiserne Herz dieses in Wäldern erstickenden Gebiets. Hunderte von Kilometern im Umkreis erstreckten sich die dichten Wälder und endlosen Felder, voneinander getrennt durch schmale Streifen magerer Weiden, durch Gehöfte und Grenzraine, und durch den Drang des Bauern, sich eifersüchtig abzusondern, und fern im Westen stieß alles das auf den schmalen Streif der Grenze — der schweigenden, drohenden Grenze. Und Wartanjan erkannte: diese Fabrik, in Jahrzehnten von Rauch und Ruß geschwärzt, ist dazu bestimmt, die große Last der Epoche auf ihren alten Schultern mit zu tragen...
Wartanjan betrachtete die Karte des Landes und fühlte sich von jenem erregenden Gefühl ergriffen, das er zum ersten Mal auf einer Reise nach Sibirien verspürt hatte — dem Gefühl des Raums.
Es saß im transsibirischen Express, Wälder und Äcker sausten an den Fenstern vorüber, Dörfer und Städte, Berge und Steppen, und von neuem wurde der Zug von dichten Wäldern umschlossen, die in die tiefe, schweigende Taiga übergingen; Stunden schwanden, der Tag starb, die Nacht zog herauf, und wieder dämmerte der Morgen, und die Sonne stieg aus den salzigen Barabiner Seen empor; ein hagerer Amerikaner stellte täglich die Zeiger seiner dicken, goldenen Uhr, denn der Expresszug raste zusammen mit der unermüdlichen Erdkugel nach Osten, der Sonne entgegen, und überschritt die Grenzen der Zeitzonen. Und wieder Steppen, Flüsse, Wälder. So geht es einen Tag, zwei Tage, drei Tage lang... Und der Zug rast donnernd weiter, und frisst sich in die weite, grenzenlose Ferne hinein: der Amerikaner aber zieht wieder seine Uhr und misst die Größe dieses sonderbar weiten und fruchtbaren Landes...
Wartanjan spreizte die zitternden Finger wie einen Zirkel und maß auf der Karte dieselbe Entfernung von Moskau nach der entgegengesetzten Richtung — nach Westen zu.
Ja, das war in Nowosibirsk... Und wenn er mit seinen Fingern denselben Raum in der anderen Richtung überspannte, so griff er über Polen, über Deutschland, über Frankreich hinweg und tippte mit der Spitze seines Zeigefingers auf Spanien, auf die Küste des Atlantischen Ozeans.
Er stand, erstaunt und erregt, vor der Karte im Gang des Waggons, und der Zirkel seiner Finger bebte über den roten Punkten der vier Hauptstädte. „Oho!"
Wartanjan schaute sich um und sah den Amerikaner hinter sich stehen. Und es war ihm nicht klar: beneidete er Wartanjan, oder beobachtete er besorgt die Bewegung von Wartanjans Finger in westlicher Richtung, oder aber wollte er seine Bewunderung ausdrücken?...
Und als Wartanjan jetzt die Karte des Landes betrachtete, spürte er in seinen nervösen Fingern wiederum ein leises Zittern. Jawohl, die Linie nach Westen hin, die er damals im Gang des sibirischen Expresszugs gezogen hatte, ging hier vorbei, durchschnitt seine Fabrik, durchschnitt diese dunklen Kiefernwälder, ging über seinen Kopf weg — dorthin, nach der drohend schweigenden Grenze. Und Wartanjan begriff: wenn die ersten Schüsse fallen, wird hier die Front sein.
Die Tatsache, dass die Fabrik in diesen Wäldern vergraben liegt, dass die Linie über die Fabrikschlote wegführt, dass sie sich über die Felder hinzieht, auf denen sich hier und da noch Einzelgehöfte erheben, lenkt seine Gedanken wieder auf die Fabrik zurück, und er spürt die ganze Schwere der Verantwortung, die auf seinen Schultern lastet. Unruhe lässt sein Herz schneller schlagen. Und dieselbe Unruhe hört er aus den heiseren Schreien des Krans heraus, aus dem klatschenden Aufschlagen eines eisernen Balkens, der herabstürzt, dieselbe Unruhe lauert auch zwischen den Zeilen eines kleinen Zeitungsausschnittes :
„Missstände in der Fabrik ,Krassny Proletari (Anm.: Roter Proletarier) behindern genau wie früher die Erzeugung der Lokomotiven, die das Land so dringend braucht. Nach wie vor gehen Klagen über die schlechte Qualität der Lokomotiven ein... "
Ein Ausschnitt aus der „Prawda"(Anm.: „Die Wahrheit") — ein gewöhnliches, raschelndes Stück Zeitungspapier — und dieser Papierfetzen zittert und bebt unter dem heißen Atem Wartanjans. Seine Augen bleiben an einer Stelle haften: mit fetten, schwarzen Buchstaben steht es drohend da: „nach wie vor". „Jedenfalls — so folgert Wartanjan — äußert sich in diesen fettgedruckten Buchstaben nicht nur die gewöhnliche, beliebte Manier der Zeitungsschreiber, irgendein Wort hervorzuheben — das ist vielmehr ein Wink, der sich an meine Adresse richtet: da sitzt dieser Samoskworezker Redner nun schon ein halbes Jahr in der Fabrik, und alles ist noch genau so wie früher. Also..." Der unbeendete Brief an Laso versank in dem schwarzen Rachen der Aktentasche. Zum wievielten Male schon?
„Ja, Laso, mein kleines Äffchen! Fang' du fürs erste nur deine Kohlweißlinge!" „Bitte den Direktor..."
Im Hörer krachte etwas, er konnte nur schlecht verstehen. „Kortschenko?! Wie stehen die Dinge in der letzten Dekade? Und mit den Großgüterwagen?" Er nahm einen Bleistift zur Hand. „Siebzig? Zusammen mit denen auf den Montageböcken? Drücke dich bitte nicht um die Antwort herum! Ich verlange eine klare Auskunft, Kortschenko! Ein Bolschewik muss geradeheraus antworten! Was machst du da für Ausflüchte?!" Die schwarzen Augen Wartanjans funkelten erregt, der Kopierstift flog über den Tisch, in eine Untertasse mit Teeüberresten hinein, und ließ violette Tränen herabkollern. Das Knacken im Hörer wurde stärker, die Stimme Kortschenkos war nur mit Mühe zu verstehen.
„Gib mir gefälligst eine klare Antwort, eine bolschewistische Antwort... Nun also... Das hört sich schon anders an... 50 Wagen. Keine Räder da? Wieder auf Böcken?
Und die Lokomotiven? Wir werden also den Auftrag nicht bis zur festgesetzten Frist ausführen? Werden ihn ausführen?? Ich verstehe überhaupt nichts mehr, Kortschenko! Drücke dich doch nicht schon wieder um eine eindeutige Antwort herum! ,Beruhige dich'! Wie soll ich mich da beruhigen! Warum hast du dem Büro nichts gemeldet?"
Die Stimme Wartanjans stieg immer höher und höher, er sprudelte hastig die Worte hervor, die am Draht entlang sausten und wie ein Sturmwind in Kortschenkos Ohr einbrachen.
„Komm sofort ins Raikom (Anm.: Bezirkskomitee der Partei) herauf, hörst du? Sofort!" Wartanjan warf den Hörer hin und trat wieder ans Fenster.
Krachend sausten die Drucklufthämmer nieder; aus der Kesselschmiede klang dumpfes Heulen, am Martinofen drüben sang der Kran.
Ü ber die Schienen der Fabrikbahn rannte stolpernd ein Arbeiter, die Hand krampfhaft aufs Herz gedrückt.
„Ein Kranker... ", dachte Wartanjan, aber gleich darauf besann er sich, dass ja das Ambulatorium am entgegengesetzten Ende der Fabrik lag — also etwas anderes. Er sah noch, wie der Arbeiter dem Torweg betrat, aber der Wächter versperrte ihm mit dem Arm, wie mit einem Schlagbaum, den Ausgang. „Da bin ich, Wartanjan."
Kortschenko ließ sich schwer auf einen Stuhl fallen und machte langsam seine Aktentasche auf. Trübe graue Augen schauten Wartanjan gerade ins Gesicht, sie waren wie immer kalt und ruhig.
„Sprich... " Auch Wartanjan setzte sich. Kortschenko wandte keinen Blick von dem pechschwarzen Haar Wartanjans und schwieg immer noch.
„Sprich, bitte!" wiederholte Wartanjan ungeduldig und herrisch.
Da holte Kortschenko ein Papier hervor und tippte mit dem Finger auf eine rotumrandete Ziffer.
„Wir werden die Frist einhalten. Den Auftrag vom Volkskommissariat für Verkehrswesen schaffen wir voll. Beruhige dich."
„Wieder dein ewiges ,beruhige dich'!..." Wartanjan vertiefte sich in den Zettel, fand die Rubrik „Lokomotiven", und seine Augen funkelten:
„Woher nimmst du das: ,wir werden die Frist einhalten'? Sieh mal her, Kortschenko!"
Der Direktor saß in unerschütterlicher Ruhe da, als ob ihn das alles nichts anginge. Er holte ruhig eine Zigarette hervor, strich ein Streichholz an und wartete umständlich, bis es lichterloh brannte.
„Kontrollierst du die Aufstellungen?" „Das ist erst das Konzept. Ungenauigkeiten sind möglich." „Das ist unerhört! Zum Teufel! Gib mir etwas Genaues! Die Partei darfst du nicht betrügen! Was willst du dich da herauslügen, Kortschenko? Sieh mal, wie hoch der Prozentsatz von Ausschuß bei den Lokomotivteilen ist!"
Wartanjan war aufgesprungen und lief im Zimmer auf und ab. Seine Absätze klopften auf dem Parkettboden den Takt zu seinen hastigen, kurzen Schritten.
„Hast du das da gelesen?" Er wies mit einer schroffen Geste auf den Zeitungsausschnitt.
Von der Stille, die eingetreten war, hob sich scharf das laute Aufkreischen des Metalls ab, sein Stöhnen, sein Ächzen und Wimmern unter den Hämmern, den Sägen und Pressen.
Kortschenko überflog die Zeilen mit den Augen und schob den Zeitungsausschnitt ruhig beiseite.
„Kritisieren, Wartanjan, das ist natürlich leicht. Aber versuch' mal, in diesem Ungeheuer von dreißig Abteilungen einen gründlichen Umschwung herbeizuführen ... Und steht vielleicht unsere Belegschaft da wie ein Mann? Warum haben wir denn keine Radsätze? Warum sind wir denn mit der Fertigstellung der Lokomotiven im Rückstand? Weil wir 15 Prozent Ausschuß haben. In der Gießerei arbeiten lauter Neue. Einzelteile sind nicht da, und der Ausschuß überschwemmt die ganze Abteilung... Das ist keine Gießerei mehr, sondern eine Bauernuniversität!"
Wartanjan drehte sich heftig auf seinen Absätzen herum: „Meinst du vielleicht, die Fabrik soll keine Bauernuniversität sein? Sie soll es sein! In zwei, drei Jahren werden die Bauern in Millionenmassen in unsere Fabriken eintreten, und diejenigen, die heute an den Maschinen stehen, werden in der neuen Arbeiterklasse nur eine ganz dünne Schicht darstellen. Den Arbeiterstamm werden diese Bauern bilden. Müssen ihn bilden. Wir müssen es nur verstehen, sie möglichst schnell und gut auszubilden."
Kortschenko stieß heftige Rauchwolken aus seiner Zigarette: „Das hängt von den Ingenieuren und Werkmeistern ab. Man muss verstehen, sie zu interessieren... materiell natürlich... Das ist das Wesentliche... Das andre kommt ganz von allein. Du, ich hatte mit dem Technischen Direktor eine interessante Unterredung unter vier Augen, und der hat mir ganz offen gesagt: ,Interessieren Sie uns, und alles wird gemacht werden'. Der Rubel, Wartanjan, der Rubel hat große Macht..."
„Na, sieh also zu, das musst du besser wissen. Bloß vergiss eins nicht: bald haben wir dem Plenum des Okruschkom (Anm.: Distriktskomitee der Partei) unseren Rechenschaftsbericht vorzulegen... Eile tut Not, Kortschenko! Unser wundester Punkt ist die Martinabteilung. Auf die müssen wir das Feuer konzentrieren: Die Martinabteilung muss durch Spezialisten Verstärkung erhalten. Heute morgen war Platow bei mir, das Zentralkomitee schickt ihn. Ein interessanter Mensch. Jugend und Leidenschaftlichkeit strömen von ihm aus. Wollen wir ihn zum Gehilfen Kraiskis ernennen? Vielleicht bringt er die Abteilung hoch?" Kortschenko lächelte skeptisch:
„Jung? Leidenschaftlich? Pass auf, Wartanjan, diesmal musst du's besser wissen. Wenn's nur nicht schief geht... es wäre nicht das erste Mal..." und damit segelte er zur Tür hinaus.
Wartanjan öffnete seine Aktentasche, aber in demselben Augenblick heulte die Sirene; er packte seine Mütze und rannte hinaus — in der Mittagspause wollte er in der Martinabteilung sprechen...
Ü ber die Stahlstücke hinwegstolpernd, die in den Gängen herumlagen, bahnte sich Wartanjan einen Weg durch die Abteilung. Zu unordentlichen Haufen aufgeschichtet, lagen die Räder da, die eben erst aus den Formkästen herausgenommen worden waren. Die Kästen waren von Formsand bedeckt und standen unordentlich und unansehnlich herum.
Die Arbeiter hatten sich in der „Roten Ecke" der Martinabteilung versammelt. Sie aßen zu Mittag und gossen sich aus dickbäuchigen kupfernen Kesseln Tee ein. Die breiten Blätter der künstlichen Palmen über ihren Köpfen zitterten unter dem frischen Luftstrom, den der Ventilator hereinführte. Aus der schwarzen Kehle des Lautsprechers klang die „Eroica" Beethovens auf sie herab. Die Strahlen der Mittagssonne, die sich ihren Weg durch das gläserne Dach bahnten, wühlten in den zottigen, verschwitzten Haaren der Former.
Titytsch schlürfte voller Wohlbehagen seinen Tee aus einem Riesenbecher — er verspürte den Wunsch, recht lange so dazusitzen, ohne sich zu rühren, und zu fühlen, wie der Körper nach und nach frische Kraft sammelte. Kaum zu glauben, dass all dies — die Palmen, die Sonnenstrahlen und die erhabenen Klänge der Musik — nur zwei Schritte von der schwülen, staubigen und verrußten Martinabbeilung entfernt war, in der er ein halbes Menschenleben zugebracht hatte. Titytsch waren diese Minuten, die er hier ausruhte, sehr teuer, und eifersüchtig wachte er über die feiertägliche Reinlichkeit der „Roten Ecke' ; denn er entsann sich noch sehr gut einer anderen Pause — eines in irgendeinen Fetzen gehüllten kargen Frühstücks, das auf einem Haufen schmutzigen Formsands ausgebreitet und hastig verschlungen wurde. Er hatte gerade Wekschin zurechtgewiesen, der einen Zigarettenstummel in einen Blumentopf geworfen hatte, aber kaum wandte er sich wieder seinem Tee zu, als sich ein schmutziger Fetzen Zeitungspapier auf den Blättern einer Palme schaukelte.
Mit ärgerlich zusammengezogenen Brauen betrachtete Titytsch einen kahlköpfigen, dicken Arbeiter, der seinen Speck direkt auf der Wachstuchdecke schnitt. „Wird noch ein Loch hineinschneiden, der Idiot..." dachte Titytsch und wollte ihn gerade anrufen, als plötzlich aus der Ecke, in der ein hölzernes Modell vom Lenin-Mausoleum stand, eine bekannte Stimme ertönte:
„Genossen!"
Wartanjan wartete, bis Ruhe eingetreten war. Aufmerksam forschte er in den Gesichtern der Arbeiter, als wollte er in ihnen lesen, was der Tag Neues gebracht hatte.
„Als ich eben durch die Abteilung ging, hörte ich Arbeiter sich unzufrieden über die Schlangen vor den Brotläden äußern. Die Unzufriedenheit ist berechtigt. Aber wie hängt das alles zusammen? Es kommt daher, dass die bäuerliche Kleinwirtschaft nicht imstande ist, mit der Industrie Schritt zu halten — wie eine Schildkröte, die nicht imstande ist, eine Lokomotive einzuholen. Und manche von euch, Genossen — wozu sollen wir das leugnen? — verlangen, dass die Lokomotive auf die Schildkröte warten soll... Gestern sind fünfhundert Mann nicht zur Arbeit gekommen! Warum nicht? Sie haben Kartoffeln gelegt, sie hatten keine Zeit, Lokomotiven zu bauen. Und dabei haben wir selber eine Erhöhung des Lokomotivbauprogramms verlangt. Haben selbst Krach geschlagen. Soll das nun so weiter gehen wie jetzt? Das ist unmöglich, Genossen! Es ist eine Schande!" Wartanjan ließ seine strengen Augen über die Arbeitermassen schweifen.
Sergej hörte unruhig auf die Worte Wartanjans, — verfolgten ihn nicht die durchdringenden Augen dieses Menschen? Er wandte sich ab, aber wieder trafen sich ihre Blicke. Aus irgendeinem Grunde erfasste ihn eine finstere Wut, er presste die dünnen Lippen fest aufeinander.
„Es arbeiten viele neue Arbeiter in unserer Fabrik. Sie kommen aus dem Dorfe, aus einem kleinbürgerlichen Milieu... Sie sind noch nicht vom Geiste der Fabrik durchdrungen. Die Fabrik ist für sie nicht ein Mittel zum Zweck, sondern ein notwendiges Übel..."
Wartanjans Augen fielen auf eine Flasche Milch.
„Die Kuh und nicht die Fabrik ist für sie die Hauptsache... Aber schleppt vielleicht die Kuh das Getreide aus Sibirien, aus der Ukraine heran? Kann man die Hebung der Fabrik mit der Kuh bewerkstelligen?"
„Natürlich nicht — sie wird krepieren...", erklärte der dicke Kahlkopf und schob ein halbes Ei in den Mund.
„Ha-ha-ha! Sehr gut gegeben!" rief Wekschin entzückt.
„Und warum gibt's keinen Lohn? Heute ist ja wohl der Erste!"
Alle verstummten in Erwartung der Antwort.
Wartanjan schwieg. Die Arbeiter beobachteten ihn gespannt. Der Minutenzeiger näherte sich der Zwölf, gleich musste die Sirene ertönen.
„Weil kein Geld da ist. Und es ist keins da, weil wir den Auftrag des Volkskommissariats für Verkehrswesen nicht rechtzeitig ausgeführt haben. Darum gibt's heute keinen Lohn!"
Da schnellte Wekschin in die Höhe:
„Das ist keine Antwort, Genosse! Wir haben gearbeitet, und ihr müsst bezahlen", schrie er, und sein Gesicht war blass vor Erregung. „Ihr habt ja euer Gehalt sicherlich schon weg, nicht wahr? Aber wir Arbeiter können drauf warten, was?"
„Was geht das uns an?"
„Gebt den Lohn her!"
„Den L—oh—n!"
Aber da sah Sergej Wekschin plötzlich den kugelrunden Kopf Andrjuschetschkins vor sich.
„Wer hat hier ein großes Maul und schreit, dass er arbeitet?... Du??... Du bist der letzte, der sich beschweren darf, du Faulenzer, du Bummelant! So ein Trunkenbold! Und dabei noch einer mit Bildung! Halt's Maul, Sergej!"
Erregt standen sich beide gegenüber, bereit, sich aufeinander zu stürzen. Wartanjan sah die zitternden Lippen Wekschins und das böse Funkeln seiner Augen.
Der Lärm wurde immer größer.
„Weshalb wollt ihr nun uns die Schuld aufbürden?"
„Was spielst du dich so auf? Ich habe vielleicht mehr als du geschafft, aber ich schweige", ließ sich der Glatzkopf vernehmen.
„Du hast mehr geschafft?" Titytsch wandte sich an die Menge: „Genossen, der Grjasnow hat mehr Ausschuß geschafft als wir, das stimmt!"
„Hast du vielleicht weniger Ausschuß?" krächzte der Dicke.
„Du red' nur lieber von dir selber!"
„Werde ich schon tun... "
„Brot her! Bro—o—o—t!"
„Lo—oh—n her!"
Da löste sich Borezki aus der Menge. Ohne sich zu beeilen, ging er in die Mitte, an dem roten Schal zerrend, der seine Kehle zu würgen schien.
„Das Maul aufreißen — darin sind wir alle Meister... " Und dabei ließ er seine Augen über alle hinwegschweifen, über Wartanjan, Andrjuschetschkin, Wekschin — über alle, so dass keinem klar war, wen er verurteilen wollte. „Das Brot, das wir essen, ist bitter, das ist richtig. Ich arbeite vierzig Jahre lang in der Fabrik und esse jahraus, jahrein bitteres Brot. Und bitter ist es aus dem Grunde, weil unser Schweiß dran klebt. Das ist eben das Schicksal der Arbeiter... Wozu das große Maulwerk?"
Borezki sprach ruhig, ja schleppend, seine Worte tropften wie Öl in die Hirne der Menschen und brachten den Aufruhr zur Ruhe. Wartanjan, der mit dem Resultat seiner Rede zufrieden war, nickte zustimmend mit dem Kopf. Titytsch zog finster die Brauen zusammen, bemüht, den Sinn der nebelhaften Gedanken Borezkis zu verstehen. Er schob sich nach vorn, an das Mausoleum heran, trat Borezki gegenüber und sagte langsam, jedes Wort abwägend:
„Du sagst nicht das Richtige! Das Leben ist jetzt anders geworden. Und dein Brot ist immer noch bitter? Du hast eine krumme Linie, Antonytsch! Bist auf falscher Fährte!" Und wieder erhob sich Lärm in der „Roten Ecke". Das Geschrei und das Scharren der zurückgeschobenen Bänke und Stühle vereinten sich zu einem Mordsspektakel. Rote, schweißglänzende Gesichter wandten sich aufgeregt hin und her. Hände, von Formsand geschwärzt, fuchtelten in der Luft herum... Und erst die Sirene, die zu den offenen Fenstern hereinheulte, beschwichtigte und löschte das Geschrei und zog die Arbeiter in die Abteilung hinein.
Langsam ging Wartanjan durch die Werkhalle, die Menschen aufmerksam beobachtend.
„Hallo, Genosse!" Mit breitem, schwerem Schritt ging ein bärtiger Arbeiter, der einen graublauen Block auf den Schultern trug, an Wartanjan vorüber und versetzte ihm einen heftigen Stoß. Wartanjan sprang schnell zur Seite, als plötzlich dicht an seinem Ohr jemand rief: „Ach—hing!"
Ü ber Wartanjans Kopf hing ein Klumpen Räder, die eine glühende Hitze ausstrahlen. Schaukelnd ließen sie sich sanft neben Wartanjan auf die Erde nieder. Er tat eilig einen Schritt nach links und wäre beinahe mit dem Fuß in einen Formkasten geraten. Von unten, von dem Kasten her, blickten ihn die grauen Augen Titytschs streng an:
„Wer nicht daran gewöhnt ist, der kann sich hier die Beine brechen, Genosse Wartanjan", — er spielte lachend mit dem Stichel und war gleich darauf wieder bei seinem Formkasten. „Irgend etwas ist bei uns in der Martinabteilung nicht in Ordnung!" Titytsch sprang wieder auf und sagte, zu Wartanjan geneigt, mit leiser Stimme: „Ich fühle es, es wird einen Sturm geben, ganz unbedingt: das ist kein Zufall, dass dir der Antonytsch sein bitteres Brot vorgeworfen hat — das ist ein schlauer Teufel."
Titytsch ließ sich auf die Knie nieder und begann eine Form auszuschmieren: ihre helle Farbe verwandelte sich in ein schmutziges Blau gleich seinen verwaschenen Augen.
„Sieh mal dort hin, Wartanjan, soll das etwa arbeiten heißen?" Titytsch wies mit der Hand auf einen bärtigen Arbeiter, der auf einem Formkasten hockte und faul im Sand herumstocherte.
Titytsch winkte mit der Hand.
„Stepan", rief er. „Stampfe mal ein bisschen munterer zu, sonst..."
Der bärtige Arbeiter stampfte drauf los, und wiederholt schlug der Stampfer klingend gegen den Formkasten.
Die Schreie der Menschen, das Dröhnen der Metallstücke und das Krachen der Kräne verschmolzen zu einem ohrenbetäubenden Lärm. Irgend jemand schrie gellend:
„He, he! Rechts, — zurück!..."
Metall, Staub und Hitze drückten auf das Gehirn und verwirrten die Gedanken. Titytsch wurde von dumpfer Wut auf alle diese Formkästen und mit Formsand bedeckten Gussformen ergriffen. Er dachte an stille, dämmrige Roggenfelder und an den Ruf satter Wachteln. Er nahm einen Spaten zur Hand und ging zu der Sandkiste, wobei er in seinen Bastschuhen über die eisernen Haken wegbalancierte, die am Boden herumlagen.
Wartanjan stand auf der Brücke am Ofen Nr. 2 und blickte hinunter, betäubt von dem dumpfen Getöse der Ölbrenner, aus denen Flammen hervorschossen. Die zum Guss vorbereiteten Einläufe der Formen glänzten weißlich. Menschen wirtschafteten im Sand herum und gaben ihm die Form von Lokomotivteilen. Die Druckluftstampfer stampften donnernd die Erde fest. Von der Stahlgießerei stieg blauer Rauch auf, der sich unter dem Dach zu dicken Wolken ballte.
Der zu einem Haken gekrümmte Finger des elektrischen Krans ergriff ein Lokomotivrad, hob es hoch empor und trug es vorsichtig in die Putzerei. Von dort aus klang das Krachen des Druckluftmeißels herüber, knatternd wie Gewehrfeuer.
Das Rad schwamm, in eisernen Ketten schaukelnd, über der Abteilung in der Luft. Die Sirene des Laufkrans warnte durchdringend und unaufhörlich die Menschen, die an den Form kästen arbeiteten. Ein rothaariger, ungeschickter Bursche, den der Lärm der Fabrik taub gemacht hatte, ging, einen Spaten in der Hand, langsam durch die Gießerei. Er ging um die Formkästen herum und kletterte auf einen Sandhaufen, in den er mit seinen Bastschuhen tief einsank, gerade in dem Augenblick, als das Rad erzitternd seinen Kopf berührte. Er wollte erschrocken zur Seite springen, aber es war schon zu spät, das Rad hatte ihn ergriffen, und er flog durch den Raum, auf die scharfen Kanten der Formkästen aufschlagend. Wartanjan sah, wie das Blut spritzte, und schrie auf. Die Arbeiter liefen zu dem Verunglückten und entzogen ihn Wartanjans Blicken.
„Bauernuniversität" — der Ausdruck Kortschenkos kam Wartanjan in den Sinn. „Ja — dachte er — es stimmt! Und wir sollen das Reifeexamen bestehen, zusammen mit diesen Bauern, die da im Formsand herumwühlen. Und wir Kommunisten müssen dieses Examen bestehen. ,Der Rubel hat große Macht!' " Auch dieser Ausspruch des Direktors kam ihm in den Sinn, und er schien ihm plötzlich kindlich naiv, so dass er lachte und laut vor sich hinsagte:
„Was für eine Dummheit!"
„Mit der Dummheit lässt sich's leichter leben. Klugheit macht mehr Sorgen. Der Dumme ist auch mit wenigem zufrieden, aber der Kluge will mehr. Und ehe du mehr kriegst, musst du dir erst die Fresse zerschlagen... "
Irgend jemand hinter ihm brummte wütend vor sich hin.
Wartanjan wandte sich um und sah einen kleinen verhutzelten Menschen mit einem grünlichen, zottigen Bart vor sich.
„Wer bist du?"
„Ich? Der ,Chef'. Und du?"
„Ich?... Der Sekretär..." erwiderte Wartanjan und musterte den sonderbaren Alten mit verwunderten Blicken.
„Der Parteisekretär? Für sekrete Dinge?" Der Alte setzte seine Brille auf und kam ganz dicht heran, die brennenden Augen auf den erstaunten Wartanjan gerichtet. „Du hast flinke, kluge Augen. Nun, sieh mal hierher, mein Täubchen!" und er wies mit der zitternden Greisenhand über die Abteilung. „Unter diesem Dach habe ich schon gearbeitet, als ich noch jung war, so jung wie du — es sind wohl fünfzig Jahre her, da hab' ich Lokomotivteile gegossen. Unsere Lokomotiven waren die allerbesten im ganzen Mütterchen Russland. Und heute? Heute werden hier Särge gemacht...", und die Stimme des Alten zitterte.
„Was für Särge? Was faselst du da, Alter?" Wartanjan trat misstrauisch einen Schritt zurück.
„Der wird Ihnen wirklich was vorfaseln, Genosse Wartanjan, hören Sie ihm nur nicht zu!" Benjamin Pawlowitsch stand ganz plötzlich neben ihnen, und die feuchte, weiche Handfläche hebend, flüsterte er Wartanjan ins Ohr: „Er hat den Verstand verloren. Ist verrückt, sozusagen schon eine wandelnde Leiche. Lassen wir ihn in Ruhe... Du solltest dich lieber schlafen legen, Kusmitsch. — Ich habe eine sehr eilige Angelegenheit, Genosse Wartanjan. Können Sie mich ein paar Minuten anhören?"
Er fasste Wartanjan fest unter dem Arm und zog ihn dem Ausgang zu. Der Alte blieb starr, wie ein schwarzes, verdorrtes Krummholz stehen und sah ihnen mit verschleierten Augen nach.
Dann betrachtete er die von Rauch und Dampf umwogten Menschen, die die Lokomotivteile formten, und sein ganzes, von Elend und Widerwärtigkeiten verbittertes Leben, ein Leben, das so schwarz war wie diese Werkstatt, stand vor ihm auf.
Tausende von Lokomotivrädern waren durch seine Hände gegangen und über die Schienen dieses waldbedeckten Landes nach allen Seiten davongerollt. Er hasste diese Räder, die er geschaffen, mit soviel Liebe geformt und gegossen hatte: sie waren ihm fremd geworden, waren seinen Blicken entschwunden; manchmal aber kehrten sie wieder, rollten drohend heran. Das war mehr als einmal so... Sie führten wild johlende Kosaken heran, Knuten, die über den Köpfen pfiffen, und führten Gießer, Schlosser und Dreher weg, führten sie fort in Waggons, die sie selbst fest vergittert hatten. Tausende von Kilometern weit transportierten sie Schätze, die für Kusmitsch unerreichbar waren; in weichen Sammetpolstern reisten die Herren des Landes. Und dann ein Tag — da führten sie den letzten Besitz des Alten hinweg: seine beiden Söhne... Wenn er mit Sand die Lokomotivräder formte, mit dem Stichel vorsichtig den Formsand bearbeitete, dann verfluchte er das Schaffen seiner sehnigen Hände, und oft fühlte er den Wunsch, irgendeinen verhängnisvollen Lunker in der Radnabe oder in den Speichen zu vertuschen, um seine verfluchte Arbeit mit dem Donnern einer Entgleisung zu rächen. Aber seine Hände wollten sich kein einziges Mal fügen, um seinen Rachedurst zu stillen — eine in seinem Herzen brennende Macht widersetzte sich der Vernichtung der von ihm geschaffenen Dinge. Im Geheimen war er stolz auf sich selber, freute sich der Vollkommenheit der Maschine, die aus den von ihm gegossenen Teilen gebaut wurde, und in solchen Augenblicken vergaß er, was sie morgen mit sich führen konnte. Sein Hass und seine Liebe zu der Maschine, zu der funkelnden Lokomotive vereinigten sich zu einem einzigen, zitternden Erwarten der Tage, die freudige Arbeit verhießen.
Und diese Tage kamen: sie stürmen wie ein Gebirgsfluss im Frühling daher und spülen den Ruß der Jahrhunderte von den Menschen und erfüllen sie mit der Freude, die das Arbeiten für sich selbst verleiht. Kusmitsch konnte nicht mehr im Sand wühlen — seine Finger waren vom Rheumatismus gekrümmt; aber er fuhr fort zu arbeiten und seine Lokomotiven und die Menschenarbeit zu schützen. Und hierher, zu den alten, Erz schmelzenden Öfen war er mit einem vor Erregung brennenden Herzen gekommen. Das, was er heute früh bei Sonnenaufgang unter der alten verkrüppelten Weide beobachtet hatte, versetzte sein ganzes Wesen in Aufruhr. Er suchte einen Menschen, der seine Unruhe und Aufregung verstehen könnte. Als er Wartanjans ansichtig geworden war, hatte er sich gefreut, denn er hatte in dessen Gesicht die gleichen Gefühle erkannt.
Doch nein, er hatte sich geirrt. Auch dieser Mensch mit den flinken Augen hielt ihn für einen verrückt gewordenen Greis...
Den Kopf gesenkt stand er da, umweht von der glühenden Hitze des Martinofens, umtost vom zischenden Kochen der Ölbrenner.
Und plötzlich rannte der Alte laut polternd die Eisenstufen hinunter und rief mit ärgerlicher Stimme:
„Jegor—ka! Schütte die Kästen aus! Ach, du Esel du!"


2

Die fragend hochgezogenen Brauen Saizews senkten sich nicht einmal beim Anblick des gewohnten häuslichen Bildes: da saß seine Frau Nastja, einen Berg zerrissener Strümpfe vor sich, und stopfte. Das elektrische Licht entzündete in ihren weißblonden Haaren sprühende Funken. Verschlafen blickte sie ihren Mann an und gähnte.
„Leg dich schlafen, Nastja... Du bist müde, geh, leg dich... Ich werde noch eine Weile herumkramen."
Er nahm eine zusammengebundene Papierrolle vom Schrank, band sie vorsichtig auf und breitete die Pläne vor sich auf dem Tisch aus.
„Da holt er wirklich wieder seinen Unsinn vor!" Nastja lachte verächtlich auf und ging hinüber in die andere, durch einen Verschlag abgeteilte Zimmerhälfte, im Gehen zog sie schon den Rock aus.
Saizew spitzte die Bleistifte und überlegte. Er war aus dem Zirkel sehr unruhig heimgekehrt. Eigentlich hätte doch der Leiter jeden Augenblick auf das zu sprechen kommen müssen, was ihn, Saizew, bedrückte und beunruhigte; mitunter war es ihm vorgekommen, als ginge ein Fädchen von ihm zu dem Zirkelleiter, und an diesem Fädchen müsste, wie an einem Draht entlang, Hilfe kommen. Aber die Antwort Jusows, die sonderbar mit den Worten Kraiskis übereinstimmte, zerriss diesen Faden und verwirrte Saizew, und jetzt, wo die Blätter mit den Ziffern und Zeichnungen vor ihm lagen, überkamen ihn Erbitterung und Zorn. Kraiski hatte sein Projekt abgelehnt. Nun gut — mag er... Er wird sein Projekt noch einmal einreichen und wird schließlich doch ans Ziel gelangen. Ein paar Nächte schon hatte er über seinen Plänen zugebracht. Heute muss die Arbeit fertig werden Und sie wird fertig. Und er wird sein Ziel erreichen.
Gestern, auf der Sitzung der KSI, war er nicht imstande gewesen, die entstandenen Zweifel gleich mit der nötigen Klarheit zu zerstreuen, und am liebsten hätte er Kraiski den Bleistift, mit dem ihm dieser seine Berechnungen und Pläne durchgestrichen hatte, aus der Hand gerissen und zerbrochen.
Seufzend über diese neue Erniedrigung, ging Saizew im Zimmer auf und ab.
Die Dielenbretter knarrten unter seinen Füßen, auf dem Tisch tanzte klirrend ein Glas auf der Untertasse hin und her.
„Leg dich schlafen, Mitja... Es ist schon spät", ließ sich die mitleidige Stimme Nastjas vernehmen. „Das Grübeln wird dich noch krank machen. Leg dich hin, sonst verschläfst du morgen die Zeit..."
Saizew blickte schweigend auf den Haufen eng beschriebener Blätter und fühlte, wie Energie und Festigkeit in ihm wuchsen. Die Hand, die den Bleistift fest umklammert hielt, legte sich auf das Papier und zeichnete eine neue Linie, die die alte Zeichnung durchquerte. Erregt, mit verhaltenem Atem, vertiefte er sich von neuem in die Zeichnung und bemerkte plötzlich, dass die feste und energische Linie, die die Arbeit vieler Tage vernichtete, gleichzeitig etwas Neues und ganz Unerwartetes in den Entwurf hineinbrachte.
Noch einmal fuhr der Bleistift über das Papier. Saizews Augenbrauen zogen noch höhere Bogen. Er traute seinen Augen nicht und prüfte die Zeichnung wohl ein dutzendmal. Nein, kein Zweifel war möglich: er hatte die Lösung gefunden.
Er seufzte erleichtert auf. Zufrieden erhob er sich vom Stuhl und reckte den schweren, ein klein wenig gebückten Körper.
„Nun schlafen... Das andere morgen... Nun wollen wir mal sehen, Genosse Kraiski!"
Als er im Bett lag, besann er sich auf Nastja; die Wärme ihres Körpers verspürend, umarmte er sie, während seine Gedanken weiter um die Zeichnung kreisten...
Laut heulend verscheucht die dreistimmige Sirene den Schlaf und treibt die Menschen aus den Betten an die Arbeit, mahnt sie zur Eile.
Nastja bindet sorgfältig Brot und Speck in ein rotes Tüchlein. Aus Saizews Tasche ragt eine Flasche Milch. Er bindet die Rolle beschriebener Blätter fest mit einem Bindfaden zusammen und steckt sie in den Gürtel. Bald füllt ein dichter Menschenstrom die Straßen. Die Erde dröhnt unter den Schritten der tausendköpfigen Morgenschicht.
„Olga!" schreit Saizew nach oben in das* eiserne Dachgebinde hinauf. Als Antwort stöhnt der Kran, der gerade einen Radsatz heranschleppt. Saizew nickt Olga scherzend zu, und sie lacht auf, klirrt mit den Ketten. Er bringt die Lokomotivachse auf der Drehbank in die richtige Lage, stellt den Support ein und reißt den Hebel herum. Nachdem er sich davon überzeugt hat, dass der Drehstahl gut arbeitet, hört Saizew freudig auf das gleichmäßige Surren der Maschine und beobachtet, wie die Stahlspäne unaufhörlich in Spiralen hinunterrinnen... „Semjonytsch!"
Saizew blickte sich um. Mochow sah ihn über die Brille hinweg an und lachte. Er schien irgend etwas Interessantes zu wissen, und Saizew trat einen Schritt näher an ihn heran, von dem spöttischen Lächeln des Nachbarn angezogen.
„Hast du schon gelesen? Hier, lies mal, Semjonytsch." Und der Dreher steckte ihm eine Zeitung in die Hand und machte sich dann mit seinem Schraubenschlüssel zu schaffen.
Es lag irgend etwas Besonderes in seinem schlauen Lächeln.
„Was steht denn da?"
Mochow wischte sich die öligen Finger an einem Bündel Werg ab und schaute ihn immer mit demselben geheimnisvollen Spott an.
„Na, was hast du denn? Heraus mit der Sprache, wenn du schon mal angefangen hast, Mochow!"
„Auf der dritten Seite ganz unten — lies selbst...", sagte er gedehnt, und während Saizew die Zeitung auseinanderfaltete, ließ er seine prüfenden Blicke nicht von dessen Gesicht.
Saizew überflog die Zeilen:
„Das Land, das den Sozialismus aufbaut, braucht Lokomotiven, wir aber haben nur 75 Prozent unseres Programms erfüllt...
... Der Prozentsatz des Ausschusses wächst beängstigend...
... Und ich frage: wo sind eure Versprechungen in bezug auf Teewasser?"
sagte der Arbeiterkorrespondent „Dyschlo" zornig... „Aha, hier!"
„Morgen findet eine Sitzung der KSI statt... Ingenieur Kraiski wird über eine von ihm erfundene Vorrichtung zum Schutz des Supports gegen Verschmutzung berichten. Durch die Anwendung dieser Erfindung wird die Fabrik jährlich Ersparnisse von..."
Die Zahl verschwamm vor Saizews Augen, er rieb sie mit der Hand, aber seine Maschine und überhaupt die ganze Abteilung
drehten sich in einem Nebel um ihn herum. Durch den Nebel sah er das grinsende Gesicht Mochows, der seine alten, schwarz gewordenen Zähne fletschte.
Da fielen Saizews Blicke auf die Drehbank. Mit vor Wut und Schrecken entstelltem Gesicht warf er den Hebel herum, die Maschine erbebte und stand still. Ohne genau nachzusehen, wusste er, dass er den Radsatz verdorben hatte.
Einige Sekunden lang stand er wie erstarrt da und blickte die verdorbene Lokomotivachse an, dann raffte er sich auf und rannte aus der Werkstatt.
Mochow trat an die Maschine Saizews, betrachtete den Radsatz, schüttelte den Kopf und spuckte aus. Dann bückte er sich, nahm die Zeitung von der Erde auf, strich sie glatt und steckte sie sorgfältig in die Seitentasche seiner Arbeitsbluse.
Die Dreherei arbeitete ununterbrochen fort: Drehstähle und Fräser nagten ruhig den Stahl, das Seifenwasser, das ihre heiß gewordenen Zähne kühlte, rieselte langsam weiter, die klatschenden Riemen jagten die Scheiben schleifend.
An der Schranktür bei Saizews Maschine hängt seine Jacke. Aus der weiten Tasche schaut die Milchflasche hervor; oben am Nagel hängt das rote Bündel, die Enden wie Kaninchenohren in die Höhe gereckt.
Olga steckt den Kopf zur Kabine des Krans heraus, schaut hinunter und mustert erstaunt die schweigende Drehbank.
Saizew legte den anderthalb Kilometer langen Weg von der Fabrik nach Hause laufend zurück und taumelte, im Zimmer angelangt, aufs Bett.
Das schweißnasse Hemd war eiskalt, aber Saizew, der unbeweglich und mit geschlossenen Augen dalag, merkte es nicht. Nastja kam herein, und als sie ihren Mann zu dieser ungewohnten Zeit auf dem Bett liegen sah, erschrak sie:
„Was ist passiert, Mitja? Bist du krank?"
Saizew antwortete nicht, sondern presste die weißgewordenen Lippen noch fester aufeinander. Nastja neigte sich über ihn
— war er etwa betrunken? Saizew trank gern, aber in diesem Augenblick roch er nicht nach Wodka, und Nastja schämte sich ihres Verdachts.
„Warum antwortest du denn nicht, Mitja? Soll ich vielleicht den Doktor holen? Ich werde gleich gehen..."
„Nicht nötig", brachte Saizew mit Anstrengung hervor.
So lag er bis zum Mittagessen; er aß aber nichts, rauchte nur ununterbrochen und trank Wasser, als wollte er den Brand löschen, der in seinem Herzen loderte.
So kam der Abend. Von der Straße her tönte Lachen und lautes Gespräch. Im Hause gegenüber schrie das Radio. Eine vorwurfsvolle Frauenstimme zeterte vor dem Fenster:
„Du alter Pfropfen du! Es ist eine wahre Qual mit dir!... Geh doch endlich nach Hause, schlaf dich aus! Wie du bloß aussiehst! Mach, dass du nach Hause kommst, du alter Pfropfen du!"
Als Antwort erklang ein Brummen, als ob irgendein gutmütiger Hund vor dem Fenster säße und knurrte.
„Lüge nicht... Was für ein Pfropfen? Ich weiß es ganz genau... Ich bin der Dreher Mochow, siebente Tarifstufe, und ich habe einen Sohn... Saschka... Und ich sitze hier... weil hier im Hause ein kranker Genosse liegt... Man muss Mitgefühl mit ihm haben... Eine Schraube soll dir aus dem Mund wachsen!... Und du... du hast einen alten Pfropfen gefunden und stößt ihn mir auf die Nase!"
Saizew lag mit offenen Augen in der Dunkelheit. Er fühlte im ganzen Körper eine unüberwindliche Schwere; nur mühsam konnte er den Hals bewegen, seine Beine waren geschwollen und sein ganzer Körper mit einer Gänsehaut überzogen, die ihn kitzelte. Sein Gehirn arbeitete angestrengt. Saizew suchte einen Ausweg: er musste seine Erfindung verteidigen. Er war fest überzeugt von der Richtigkeit seiner Berechnungen — nicht umsonst hatte er die Nächte hindurch dagesessen, den Bleistift in der Hand, von Arbeitsfreude hingerissen. Oft stand er dem Gewebe seiner Gedanken selbst ratlos gegenüber, dann blätterte er in dem Physik- und Trigonometrielehrbuch seines Sohns, der Student war; aber die kurzen, gedrängten Formeln waren ihm unverständlich und sagten ihm nichts. Dann warf er die Bücher ungeduldig in die Ecke und grübelte stundenlang weiter.
Schließlich schien er gesiegt zu haben. Die Unwiderlegbarkeit seiner Berechnungen wurde durch die festen, sicheren Linien seiner Zeichnungen und durch die Zahlenreihe bewiesen, die all die Erfahrungen in sich schloss, die er im Laufe einer langjährigen Praxis gesammelt hatte. Gestern hatte er, an Nastja gedrückt, fest und traumlos geschlafen, wie ein Kind. Und heute — war er besiegt, schändlich, tödlich besiegt...
Als er heute die Werkstatt verlassen hatte, war er zuerst in das Büro des Betriebsrats hineingestürmt. Der Vorsitzende des Betriebsrats, Teleshkin, der über einen Haufen Papiere gebeugt dasaß, hatte mit gerunzelten Brauen gefragt:
„Was gibt's?"
„Ich will den Betriebsrat bitten, sich meiner Sache anzunehmen. Der Ingenieur Kraiski hat sich widerrechtlich meine Erfindung angeeignet."
Teleshkin riss die Augen von seinen Papieren los und blickte Saizew verwundert an.
„Drück' dich ein wenig vorsichtiger aus, Genosse. Wir kennen Kraiski... er leistet viel gesellschaftliche Arbeit, hält Vorträge in den Gewerkschaftskursen."
„Er ist ein Dieb!" Saizews Stimme zitterte vor Hass und Entrüstung. „Und ihr deckt solche Betrüger noch!?"
Teleshkin stand auf. Mit einer Stimme, die sich vor Aufregung überschlug, schrie er:
„Wer deckt Betrüger? Der Betriebsrat?! Wie kannst du es wagen, solche Sachen zu behaupten?"
Einige Arbeiter betraten das Zimmer, und Teleshkin mäßigte seine Stimme.
„Wir werden die Sache untersuchen ,. . Wie heißt du? Und aus welcher Abteilung?"
„Das ist Saizew. Aus der Dreherei", sagte einer der Hinzugekommenen diensteifrig.
„Saizew... aus der Räderwerkstatt? Sie haben angerufen von dort. Du bist das also? Du hast soeben einen Radsatz verdorben und hast mitten in der Arbeitszeit alles stehen und liegen lassen?"
Saizew schwieg mit zuckenden Lippen.
„Du beschuldigst hier andere, bist aber, wie man sieht, selbst ein lockerer Vogel... Was willst du für ein Erfindet sein, zum Donnerwetter, wenn du dich so benimmst, dass man dich aus der Fabrik wegjagen müsste? Und wer soll deine Erfindung gestohlen haben? Was phantasierst du da? Was hattest du für ,Schürzen' vorgeschlagen? Blechschürzen! Und die taugen nichts! Kraiski aber bringt ganz andre in Vorschlag, aus Zeltstoff, mit Leisten."
„Ich habe aber doch zuerst die Idee von den Schürzen ausgesprochen?!"
„Ausgesprochen... Und der Ingenieur hat's gemacht", schloss Teleshkin die Unterredung.
Gedrückt, mit dem Gefühl einer großen Leere im Kopf, lief Saizew nach Hause. Seine ganze Arbeit, alle seine Bemühungen brauchte also die Fabrik nicht? Es gibt also Leute, die stärker sind als er, und Hindernisse, die schwieriger sind als die Formeln im Lehrbuch für Trigonometrie! Nun gut — seine Schürzen waren noch nicht ganz richtig, aber die Idee — die Idee war doch von ihm, Saizew! Kraiski hatte doch früher überhaupt nicht daran gedacht!
Er fühlte sich schwach und wie ausgepumpt; er hatte nicht den Wunsch, irgend wohin zu gehen, mit irgend jemand zu sprechen. Wo sollte er auch hingehen?
Saizew stellte sich vor, wie er in die Zelle kommt, um sich über Kraiski zu beklagen, und der Sekretär holt eine Schürze aus Zeltstoff mit Leisten hervor und zeigt sie ihm:
„Ist das deine? Hast du sie gemacht??"
„Nein."
„Also, was willst du denn eigentlich?"
Saizew fühlte, dass er in eine Sackgasse geraten war, aus der es keinen Ausweg gab; aber bei diesem Gedanken schlug sein Herz nur noch rascher vor ohnmächtiger Wut. Kraiski hatte seine Idee gestohlen... Wie aber sollte er, Saizew, den anderen beweisen, dass es seine Idee war, seine ganz allein? Wenn er seine Blechschürze vorzeigen würde, so würde er damit nur beweisen, dass er nicht imstande war, seinen Gedanken auszuführen, und alle würden zu der Überzeugung gelangen, dass die „Schutzvorrichtung zur Vermeidung der Verschmutzung des Supports" allein von Kraiski herrühre und von sonst niemand. Ja — den Beweis dafür, dass die Idee sein Eigentum war, konnte er nicht erbringen. Also musste er so handeln, dass die Leute fühlten, dass er im Recht war...
Und er empfand nur den einen Wunsch: so liegen zu bleiben, unbeweglich Tage und Nächte hindurch, damit er nichts hören und sehen brauchte, was ihn an seine Niederlage erinnerte.
„... Du alter Propfen du... Ist das ein Weib, eine Schraube soll dir aus dem Mund wachsen... Du verstehst aber gar nichts... Da ist der Saschka, mein Saschka anders! Den muss ich loben! Ein Schlaukopf ist er, der Lausejunge... Bloß eins sage ich dir, Saschka... gehorche, sonst schlag' ich dich tot!"
Die Worte kamen immer leiser, undeutlicher und abgerissen, man merkte, dass Mochow allmählich vom Schlaf überwältigt wurde.
„Pa—a—p, Papa... komm nach Hause, sonst wirst du morgen die Zeit verschlafen und kommst zu spät zur Arbeit."
„Sascha... du bist's, mein Söhnchen? Du hast recht, ich werde die Zeit verschlafen... Aber das darf ich nicht, mein Junge..."
Die Stimmen klangen immer ferner, wurden immer leiser und verhallten schließlich ganz. Eine quälende Stille trat ein.
Saizew schloss erschöpft die Augen, sofort sah er einen dicken, kurzbeinigen Menschen vor sich. Der sah ihn lächelnd an und raschelte mit bläulichem Zeichenpapier, und sein Lächeln war so unerträglich und furchtbar, dass Saizew aufschrie und erwachte.
Schwarze Schwüle lastete auf seiner Brust und würgte in seiner Kehle. Ja... Saizew und Kraiski. Wer von beiden wird den andern besiegen? Sein Herz schlug schneller und schneller. Die ganze Welt um ihn herum versank — er fühlte nur noch Kraiski und seinen riesigen bleischweren Körper.


3

Wuterfüllt und aufgeregt verließ Wekschin die Werkstatt. Noch keiner hatte es bis jetzt gewagt, ihn in Gegenwart von Zeugen zu beleidigen, jeder fürchtete seine giftige Zunge — aber heute, da hatte ihn einer vor der ganzen Abteilung Faulpelz und Bummelant genannt. Jawohl, Bummelant! Und wenn schon? Schließlich darf man ja auch einmal ausruhen! Die Jugend würde sowieso bald vorüber sein. „Einer mit Bildung..." Und was hatte ihm die Schule schon gegeben? Sie hatte nur den Wissensdurst in ihm geweckt, den Drang nach etwas Besserem, etwas Großem, Interessantem. Und alles das machte die Unzufriedenheit mit dem Leben, das ihn nicht befriedigte, nur noch stärker.
Bei dem Andrjuschetschkin zum Beispiel ist das ganz etwas anderes: der wünscht sich nichts weiter, der ist zufrieden mit dem, was ihm die Fabrik gibt; der ist imstande, sein ganzes Leben so hinzubringen und endlose Arbeiten zu übernehmen; der vergisst sogar seine Frau über der Arbeit und hat nichts dagegen, sie für die Rote-Hilfe-Zelle einzutauschen... Hübsches Weib, die Maria Sergejewna... Ob er nicht doch mal versucht, sie dem Kerl abspenstig zu machen? Das wäre doch mal eine Sache... Zitternd vor hämischer Schadenfreude beschleunigte er die Schritte.
Es ist Sonnabend heute. Ob man ins Kino geht? Aber Wekschin hat soeben, als er am Kino vorbeiging, eine lange Schlange vor der Kasse stehen sehen. Nein — schade um die Zeit. Rechts, hinter dem Lichtspieltheater, erheben sich die weißen Mauern des „Kulturpalastes", die noch von hohen Brettergerüsten umkleidet sind. Wie kleine schwarze Ameisen klettern die Maurer auf dem Gerüst hin und her. Sergej denkt erfreut: „Zum Herbst wird er fertig sein!" Aber wo soll er jetzt hin? Vielleicht Fußball spielen? Da fällt ihm ein, dass das Stadion kürzlich verlegt worden ist, auf einen Platz zwei Kilometer außerhalb der Stadt; da, wo es früher war, hat die Fabrikdirektion ihre Holzlager eingerichtet. Ach, das wäre fein, jetzt so mit einem Stoß einen Ball durch das Tor des Gegners zu jagen, unter dem schallenden Beifall der Zuschauer! Sergej fühlte den starken Wunsch, sich Bewegung zu machen, die Muskeln anzuspannen, zu ringen, irgend jemand zu besiegen und das Bewusstsein seines körperlichen Übergewichts zu genießen.
Vielleicht konnte er mit Freunden in den Wald gehen, eine Flasche Wodka leeren und eine bisschen Unsinn machen?
Walja wartet gewiss. Sollte er zu ihr gehen oder nicht? „Also: wenn vor dem Haustor jemand sitzt, dann geh' ich zu ihr..." Sergej ist fest davon überzeugt, dass niemand vor der Haustür sitzen würde. Aber plötzlich sieht er schon von weitem, dass es doch der Fall war.
Wer konnte das sein?
Ein Mensch saß auf dem Geländer, den Kopf über ein Buch gebeugt. Sein Gesicht war nicht zu sehen, nur die dichten Haare schienen Sergej irgendwie bekannt.
„Senka! Du bist's?"
„Jawohl, ich! Ich hab' dich gar nicht kommen sehen... Guten Tag!"
Senka musterte Sergej mit kleinen, blinzelnden Augen und lächelte.
„Du bist ja ein richtiger Arbeiter — riechst schon von weitem nach der Fabrik. Mensch, was bist du schmierig!"
Platow fuhr mit dem Finger über das rußgeschwärzte Gesicht Sergejs und wischte die Hand an seiner Bluse ab.
„Und du bist so blitzsauber, als ob du dein Lebtag keine Fabrik gesehen hättest. Du hast jedenfalls schon vergessen, wie man ein Rad formt, was? Na, komm mal ins Zimmer, Genosse ,Ingenieur'... Erzähl' uns Ungebildeten und Schmutzigen etwas von deinem kultivierten Leben."
Unangenehm berührt von dem feindseligen Ton Sergejs hörte Senka auf zu lächeln und folgte ihm ins Haus.
Ohne sich zu waschen, setzte sich Sergej an den Tisch.
„So setzt du dich zu Tisch? Wasch dir doch wenigstens die Hände... " bemerkte Platow.
Sergej klapperte gereizt mit dem Löffel.
„Ich will fressen... hungrig bin ich, wie ein Wolf. Wenn man sich müde geschuftet hat, da denkt man nicht an Sauberkeit, da will man sich satt fressen ... "
Er ergriff mit den schmutzigen Händen demonstrativ das Brot und schnitt Scheiben davon ab. Platow sah verwundert sein böses verzerrtes Gesicht und die absichtlich groben Bewegungen, aber er verstand immer noch nicht den Sinn dieses ganzen Benehmens. Sergejs Mutter brachte mit gesenkten Augen Geschirr und Essen herein und deckte mit geübten, geschickten Bewegungen den Tisch.
„Nun, wie steht's in der Fabrik?" fragte Platow, bemüht, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben.
„So, dass wir unsern Lohn nicht gekriegt haben. So ist's immer: Plakate, Aufrufe, Vorträge... aber wenn's heißt, Lohn auszahlen, dann ist kein Geld da. Der reine Hohn!... Dabei bekommt man nichts weiter zu hören, wie ,Bummelant', ,Faulenzer'! Bin ich vielleicht 'ne Maschine? Schließlich will ich ja auch wie ein Mensch leben. Oder dürfen das bloß die Ingenieure und wir Arbeiter nicht? Für die Arbeiter wird nur mit Worten gesorgt, in Wirklichkeit aber — prost Mahlzeit! Nur Brot sollen sie fressen, und auch das gibt's nicht einmal genug!..."
Sergej sprach abgerissen und böse, dabei stopfte er sich hastig den Mund mit Bratkartoffeln voll.
„Aber das Schlimmste ist, dass unter uns Arbeitern selbst Leute sind, die unsre Interessen verraten. Kriecher, Streber, Karrieristen! Besinnst du dich auf den Andrjuschetschkin?"
„So ein Plumper, mit dickem Kopf?"
„Ja, der! Den solltest du jetzt mal sehen! A—k—t—i—vist ist er geworden! Der hält solche Moralpredigten in der Abteilung, dass einem schlecht werden kann."
„Na, den kennt man ja, den Quengler! Er ist nie zufrieden, dabei weiß er selbst nicht, was er will."
„Von den Alten halte ich mehr!... Nimm zum Beispiel den Antonytsch Borezki. Der versteht was, mein Lieber", rief Sergej begeistert. „Der wird auch vor niemandem kriechen. Weißt du was, Senka, komm heute auch mit mir zu ihm... Wirst auch die Walja sehn, vielleicht organisieren wir einen kleinen Bummel, was?"
Platow widersprach nicht, da er sah, dass sich Wekschins Augen belebten.
Nach dem Mittagessen rasierten sie sich und begaben sich — auch Sergej sauber gekleidet — zu Borezki.
„Walka! Der Ingenieur ist angekommen... Erlauben Sie, dass ich vorstelle ... " Sergej machte eine spöttische Verbeugung und schlug die Hacken zusammen.
„Oh, sieh mal, wie du dich verändert hast!... Ein ganz anderer Kerl bist du geworden!" bemerkte Walja und musterte Platow aufmerksam.
„Gleich wird er noch seine Hornbrille aufsetzen, dann sieht er vollständig wie ein amerikanischer Affe aus. Teufel — ich hasse diese Brillenschlangen!" Sergej schaltete das Radio ein — zuerst ein Zischen und Knarren, dann folgte eine schnelle Tonfolge auf einem Klavier, die mit einem lauten Akkord abschloss, und eine hohe Geigenstimme sang klagend ein bekanntes Motiv. Sergej warf schwärmerisch den Kopf zurück und sang mit vibrierender Tenorstimme:
„Du le—bst n—och, mein al—tes Mütterchen Auch ich, i—ich le—be, und i—ich denke dei—n. Mög' ü—ü—ber deinem kleinen Hü—ttenda—ach Erglänzen he—e—Her Abendschein."
Platow betrachtete die Fotografien an den Wand.
Auf einer alten, verblichenen Fotografie standen in zwei Reihen hintereinander dicke Werkmeister mit langen Bärten; in der Mitte des Bildes stand ein Mann mit einer Technikermütze, die rechte Hand lose zwischen die Uniformknöpfe seines Rocks gesteckt, während die behandschuhte Linke mit zwei Fingern eine Aktentasche hielt. In einer Ecke des Bildes stand die Jahreszahl 1904. Unter den Meistern erkannte Platow Antonytsch an seiner untersetzten Figur und an seiner Habichtnase.
„Weißt du, Senka", rief Wekschin, „dieses Motiv verfolgt mich geradezu. Sogar während der Arbeit summt es mir in den Ohren. Am liebsten würde ich es laut heraussingen! Wie viel Gefühl, wieviel Schwermut liegt in dieser Musik! Hör mal:
Sie schreiben m—i—r, dass du in heißen Schme—erzen dich nach m—i—ir sehnst, Voll Ku—mmer und voll Gra—am...
Ach, zum Teufel! Es greift einem direkt ans Herz! Man hat danach überhaupt keine Lust mehr, an das verfluchte Krachen und Poltern, an den Ruß, an das. Heulen der Sirene in der Fabrik zu denken!
Dass du im A—a—bendlicht trittst an die Pfo—o—orte
Platow zog eine Grimasse. Er wollte seine Hornbrille aufsetzen, um die Gesichter auf dem Bild genauer zu betrachten, aber die gehässige Bemerkung Sergejs über die „Brillenschlangen" kam ihm in den Sinn, und er ließ die Brille im Futteral stecken. Die kleinen Augen zusammenkneifend, sah er aufmerksam die Bilder an. Überall von den Wänden schauten ehrwürdige, bärtige Werkmeister auf ihn herab, Männer mit Technikermützen auf dem Kopfe, die sich in Gruppen, mit der Fabrik als Hintergrund oder neben einer Lokomotive oder im Fabrikkontor hatten fotografieren lassen. In dem Mann mit der Aktentasche erkannte er Akatujew, und ein Schatten zog über sein Gesicht. Aus den tremolierenden Klängen der Geige glaubte er eine bekannte Stimme herauszuhören. Aber Wera war ja in Moskau, und es lohnte nicht, die alten Dinge wieder hervorzukramen — alles war lange vorbei.
Platow ließ seine Augen im Zimmer umherschweifen — er suchte Spuren eines neuen Lebens... Ah, hier... das Radio. Aber was sollte das bedeuten — er sah verwundert an den Wimpern Sergejs Tränen hängen.
„Ach, Senka, ich kann nicht mehr... ich will mich betrinken, dass alles rund herum Kopf steht!... "
„Wir wollen in den Wald gehen, Senka! Wir nehmen den Papa mit, im Wald lagern wir uns, machen ein Feuerchen... Das wird fein!" Walja sprang freudig auf und eilte geschäftig hin und her, packte Geschirr, Essen, allerhand Flaschen usw. in einen Korb.
Es lag etwas Aufreizendes in der Ruhe dieses Hauses, in den Blumen vor den Fenstern, die dem Sonnenlicht den Eintritt wehrten, in den Fotografien, die hartnäckig längst vergangene Jahre festhielten; und Platow fühlte, dass die alte Welt aufs neue in sein Leben trat, die er fast vergessen hatte, die in den heißen, schweren Tagen seines Studiums im Lärm und in all dem Neuen der Moskauer Straßen versunken war.
Er war doch gern hierher zurückgekehrt, hatte sich darauf gefreut, seine alte Werkstatt, seine Freunde wieder zu sehen. Aber nun, da er Sergej und Walja ansah, da er die mit Fotografien und Ansichtskarten bedeckten Wände betrachtete, fühlte er sich hier überflüssig...
Die Jahre auf der Hochschule hatten Platow sehr verändert:
seine Beziehungen zu dem früheren Freundes- und Bekanntenkreis hatten sich gelockert, er bemerkte an den Menschen neue Züge, die er früher nicht gesehen hatte, die Welt gestaltete sich um, und neue, unerwartete Umrisse traten zutage. Und als er jetzt wieder mit den Menschen in Berührung kam, mit denen er Freud und Leid der Kinderjahre geteilt, mit denen er zusammen in der Fabrik gearbeitet hatte, — da hatte er das unbestimmte Gefühl einer Entfremdung.
Die Vergangenheit... Sie sah ihn aus den verblichenen Fotografien an der Wand an, tönte aus dem schmelzenden Gesang Sergejs, lag in dem Staub auf den Blättern der welken, verblichenen Geranientöpfe.
„Warum bist du so nachdenklich, Senka?" Walja setzte sich neben Platow und schlug kokett die Augen zu ihm auf.
Platow schüttelte seine Gedanken ab. Es sah die flinken blanken Augen Waljas vor sich, die ihn durchdringend musterten, und die beweglichen Nüstern ihres drolligen Stupsnäschens. „Ich bin wohl müde von der Reise... Und du, Walja, bringst du immer noch die jungen Burschen um den Verstand?" lächelte Platow.
Walja schüttelte ihre kupferroten Haare, dass sie aufflammten wie eine Feuergarbe.
„Ich bringe sie nicht um den Verstand, Senja, sie verlieren ihn von selber! Was kann ich dafür?" Sie lachte mit dem ganzen Körper: die Augen funkelten übermütig, das Näschen hüpfte vergnügt, ihr ganzer Körper, schlank und geschmeidig wie der einer Katze, erzitterte, und die Beine, die in glänzenden rosa Seidenstrümpfen steckten, tanzten umher, wobei sie Platows Füße berührten. Herausfordernd blinzelte sie mit den Augen, als wollte sie sagen: Na, dich soll ich wohl auch um den Verstand bringen?!"
Walja, die voller Mutwillen und Lebensfreude war und Platow neugierig zu prüfen schien, gefiel ihm. Er fühlte sich von der Fröhlichkeit, die sie ausströmte, angesteckt und wurde heiterer, und schließlich lachten beide laut und erinnerten sich aller ihrer Streiche während langer abendlicher Spaziergänge. Sie unterhielten sich sehr vergnügt, und Walja übertönte das Radio mit ihrem hellen, sorglosen Lachen. Sergej blickte ununterbrochen finster zu ihnen hinüber und knüllte wütend seine Mütze zusammen.
Da trat Antonytsch ins Zimmer. Er drückte kräftig Platows dargebotene Rechte, musterte ihn zufrieden von Kopf bis Fuß und schlug ihm mit der Hand auf die Schulter.
„So, so... Willst uns alte Leute nun wohl aus dem Feld schlagen, was? Ja, ja, wird Zeit, dass wir uns pensionieren lassen... Aber immerhin — sowie es sich um irgend etwas Ernstes handelt, kommt ihr doch zu uns... Die Gedärme sind noch zu dünn bei euch Jungen..." Antonytsch zerrte an seinem Schal, und das Blut strömte in das trockene Gesicht mit den dicken, hervortretenden Adern — man wusste nicht, geschah das, weil er den Schal so zusammenzog oder vor innerer Erregung.
Platow hörte aus der Begrüßung Antonytschs denselben Ton heraus wie aus den giftigen Worten Sergejs, und zurückhaltend bemerkte er:
„Ihr empfangt mich ja, als ob ich wirklich ein absonderliches Tier wäre. Dabei haben wir doch jahrelang miteinander die Formen gestampft. Der einzige Unterschied ist, dass ich eben mein Gehirn etwas in Ordnung gebracht habe, sonst bin ich ja doch der gleiche Senka Platow", und mit einer altgewohnten Bewegung strich er die Hosen glatt.
„Der gleiche und doch nicht der gleiche... Du wirst ja jetzt deine fünfhundert Rubel einhamstern und mit den Spezialisten an einem Strang ziehen... Wir kennen euch ja!" Und Sergej zog wütend den Stecker heraus, so dass das Radio plötzlich verstummte.
„Na los, gehen wir!" unterbrach ihn Antonytsch. „Jahrelang habt ihr euch nicht gesehen, und gleich geht's los! Diese Jugend! Also marsch!"
Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne drangen durch die Kiefern und färbten die Stämme blutigrot. Sie ließen sich auf einem trockenen, sandigen Abhang in der Nähe des Eisenbahndamms nieder. Walja breitete ein Handtuch aus und begann die Essvorräte hervorzuholen. Antonytsch rieb sich mit der Handfläche ächzend die kurzen Bartstoppeln und holte eine Flasche aus der Tasche.
„Das ist fein, Antonytsch!" rief Sergej erfreut. „Na, Senka, woll'n wir eins auf dein Wohl, auf dein neues Leben trinken!" krächzte Antonytsch versöhnt. Sie stießen an.
„Für welchen Posten hat man dich denn hierher in die Fabrik geschickt?" erkundigte sich Antonytsch, während er das Glas dem Munde näherte.
„In eure Abteilung... Als stellvertretender Leiter." „Als stellvertretender Leiter? In die Martinabteilung?"... Antonytsch hatte sich verschluckt und spuckte hustend aus. „So, so... Also direkt mein Vorgesetzter! Das ist eine Nummer! Das sind ja schöne Zeiten!" Er wurde dunkelrot im Gesicht, wandte sich ab und schwieg. Zwischen den Kiefern flogen zirpend bunte Meisen. Sergej, dem der Alkohol schon zu Kopf gestiegen war, wälzte sich singend im Gras:
„An einem regnerischen S--a—a—msta—ag... " flötete er im höchsten Tenor.
Walja blickte verträumt zum Himmel auf, über den rosige Abendwolken zogen. Aus dem Wald tauchte auf einmal Mochow auf, umringt von seiner Familie. Man hörte schon von weitem, wie er gute Lehren an seine Kinder austeilte, die müde und verschlafen neben ihm herzottelten.
„Pionier bist du, Saschka... Gut — ich hab' nichts dagegen. Bind' meinetwegen das rote Halstuch um — eine Schraube soll dir aus dem Mund wachsen!... Ich sehe, es ist nicht zum Schaden, sozusagen bringt es sogar Nutzen. Bloß eins sag' ich dir, Saschka... Saschka... — hörst du zu? Deinem Vater musst du gehorchen... unbedingt! Eine Schraube soll dir aus dem Mund... "
Saschka stolperte vor Müdigkeit. Sein rotes Pionierhalstuch war zur Seite gerutscht; zierliche Haselnusszweige wiegten sich rhythmisch über seinen Schultern, als wollten sie den müden kleinen Körper zur Erde niederdrücken.
„Saschka! Saschka! Gehorche deinem Vater, ohne Widerrede. Sasch — eine Schraube soll dir aus dem Mund wachsen! Du musst wissen, auf welcher Lebensstufe du stehst, und . . , keinen Widerspruch! Hörst du?"
„So ist's richtig! Das sind weise Worte!" krächzte Antonytsch.
Alle schwiegen.
Plötzlich kam noch ein Mann aus dem Gebüsch. Mit den Händen herumfuchtelnd, blieb er auf der Lichtung stehen. Er war von kleinem Wuchs und mager, sein gelbes Gesicht erinnerte an einen überreifen, wurmstichigen Apfel.
Der Mann sah zum Himmel empor und knöpfte die Hosen ab.
Walja wandte sich errötend ab; Sergej schrie:
„He! Sharow! Du kannst wohl keinen besseren Platz finden! Geh weiter weg, in die Büsche..."
Sharow wandte sich auf den Anruf hin nach ihnen um, knöpfte ruhig die Hosen wieder an und trat schwankend näher. Die zerrissenen Hosen rutschten beinahe von seinem mageren Körper, durch die Löcher sah man die blasse Haut. Sein rosa Hemd war schmutzig und so durchlöchert, dass der spitze, knochige Ellbogen herausragte und das Loch in dem morschen Kattun immer weiter aufriss. Die brauenlosen, sozusagen nackten Augen schauten trübselig drein.
„Gebt einem verbitterten Menschen einen Schluck zu trinken!"
Borezki reichte ihm die Flasche, in der noch etwas Wodka war.
„Hier, Sharow, trink, und scher' dich."
Sharow nahm die Flasche und stülpte sie in den Mund, den er so weit aufriss, dass sie beinahe bis zu dem grünen Etikett darin verschwand.
„Zu wenig! Ich bin furchtbar zornig, Brüder! Ich werde heute noch einem den Garaus machen ,.. Weil mir das Herz übervoll ist!" Er stieß einen trüben Seufzer aus und verschwand im Gebüsch.
In einem gewissen Abstand nebeneinander hergehend, erschienen Andrjuschetschkin und Marussja auf der Waldwiese.
„Grischa! Du Aufwiegler! Komm her zu uns!" Sergej winkte den beiden mit seiner Mütze zu.
Andrjuschetschkin sah von weitem den Korb mit den Ess-vorräten und die herumliegenden Flaschen und beschleunigte seine Schritte.
„Es ist schon spät — Zeit, nach Hause zu gehen." Er warf einen Blick auf Marussja und merkte, dass sie ärgerlich die Brauen runzelte.
„Na komm doch, trink ein Glas mit", sagte Sergej überredend; er war zu Andrjuschetschkin herangetreten und versuchte, ihn am Ärmel zu der kleinen Gesellschaft hinüberzuziehen. „Komm! Maria Sergejewna, leisten Sie uns Gesellschaft."
„Lass mich, Sergej", wehrte Andrjuschetschkin. „Du weißt ja, ich trinke überhaupt nicht..."
„Jeder Mensch muss trinken. Muss trinken!" schrie Sharow, aus den Büschen hervortretend.
„Du willst nicht trinken?" Sharow näherte sich schnell Andrjuschetschkin, wobei er Marussja anrempelte und sie mit stinkendem Speichel bespritzte.
Aufmerksam musterte Andrjuschetschkin Sharow, seine traurig herabhängenden Mundwinkel, und schwieg.
„Was stierst du denn so, Grischa! Er rempelt mich an, und du stehst dabei und guckst ruhig zu!" sprudelte Marussja aufgeregt hervor.
„Genosse! Du bist sinnlos betrunken. Geh nach Hause.
Remple die Menschen nicht an! Benimm dich nicht wie ein Strolch!" sagte Andrjuschetschkin ruhig und überredend.
„Ich bin nicht von Wodka betrunken! Von Kummer! Ich bin ein armer, nackter Mensch! Mein ganzes Leben ist nackt und arm. Ein elendes, vernichtetes Leben! Ich bin leer in meinem Innern! Ich verwese... Und du nennst mich einen Strolch! Warum denn?" Er schwankte, und da er das Gleichgewicht zu verlieren drohte, griff er wieder nach Marussja, um sich an ihr festzuhalten.
Marussja sprang mit einem Aufschrei zur Seite. Sharow verlor das Gleichgewicht und schlug lang hin.
„Genosse! Pass auf! Lass die Rüpeleien!" sagte Andrjuschetschkin warnend.
Sharow stand schnell auf und zog ein schartiges Messer. Andrjuschetschkin trat rasch beiseite, und Sharow fiel wieder hin. Sergej sprang wie eine Katze hinzu und drückte ihn zur Erde nieder, wobei er ihm das Messer entwand. Borezki und Walja liefen ebenfalls an die Stelle, wo die beiden miteinander rangen.
Sergej fing einen sekundenlangen dankbaren Blick Marussjas auf und presste rachsüchtig Sharows Kehle zusammen. Sharow entwand sich seiner Umschlingung, drehte sich mit einem Ruck um und biss ihn in die Hand. Da rannte ihm Sergej, rasend vor Wut, das Messer in die Seite.
Sharow stieß einen wilden, tierischen Schrei aus. Er sprang auf und lief davon, fast verlor er dabei die zerrissenen Hosen. Der Wald hallte wider von seinem wilden Gebrüll:
„Au! Au! Man hat mich erstochen! Zu H—i—i—lfe!"
„Was hast du angerichtet?" Blass und zitternd stand Andrjuschetschkin vor Sergej.
Ruhig betrachtete Sergej das blutige Messer und warf es dann ins Gebüsch.
„Damit er sobald keine Frau wieder belästigt. Du bist schlimmer als ein Weib, Andrjuschetschkin... Kommst da mit deiner Agitation... ,Genosse Sharow! Benehmen Sie sich anständig!' Eine richtige Memme! Kannst nicht mal deine eigene Frau beschützen."
Marussja umfasste die Gestalt Sergejs mit einem langen Blick; ihr Mann schien ihr neben ihm klein und unscheinbar. Walja, die der ganze Vorgang sehr erregt hatte, kniff die Augen zusammen und drückte sich an Platow.
Den Vorfall lebhaft erörternd, machten sich alle auf den Heimweg. Platow ging schweigend voran. Er hatte alles, was sich auf der Wiese so überraschend abgespielt hatte, als Unbeteiligter beobachtet. Als er das Messer in Sharows Hand blinken sah, war er aufgesprungen um hinzuzulaufen, hatte aber sofort wieder Halt gemacht. Vor seinen Augen erschienen Bilder aus der Vergangenheit, die er schon für ganz entrückt gehalten hatte. Raufereien, Blut. Damals hatte er sich, ohne viel nachzudenken, in die wildeste Rauferei gestürzt, den Raufbolden das Messer aus der Hand gewunden. Heute aber würde ein Gerücht durch die ganze Fabrik gehen: „Der rote Ingenieur Platow hat mit Wekschin zusammen Sharow erstochen"... Er war zu seinem Platz unter der Kiefer zurückgekehrt und hatte sich matt wieder aufs Gras gesetzt.
Platow fühlte jetzt einen schweren, vorwurfsvollen Blick auf sich. Sergej schimpfte empört:
„Fauler Intellektueller! Hat Angst, sich die Hände schmutzig zu machen..."
Platow hörte aus diesen Schimpfereien einen gerechten Vorwurf. Er schaute zu Marussja hinüber, die angeregt und vergnügt ausschritt, und er schämte sich seiner Handlungsweise. Von irgendwoher kamen die Klänge einer Harmonika, zu der jemand ausgelassen Tschastuschki (Anm.: vierzeilige Stegreimverse) sang; der Wald antwortete mit lautem Echo. An der Biegung des Schienenstrangs tauchte ein Zug auf, der mit seinem lauten Rattern die Klänge der Harmonika, den Gesang und das Zwitschern der Meisen übertönte.


4

Ingenieur Kraiski kam aus der Abteilung zurück und warf mit einer müden Bewegung seine Mütze auf den Tisch. Es war schwül. Zum offenen Fenster drang der widerliche Geruch verbrennender Kohle herein. Kraiski knöpfte den Kragen seiner Bluse auf und machte die fleischige Brust frei, die mit dichten schwarzen Haaren bewachsen war. Der scharfe, heiße Dunst, den sein Körper ausströmte, erinnerte an die Fabrikbadeanstalt, und Kraiski rümpfte voller Ekel die Nase.
Das Telefon klingelte. Matt hob Kraiski den Hörer ab.
„Ja. Das Befinden Andrej Nikolajewitschs? Unverändert. Und für mich allein ist es zuviel, Benjamin Pawlowitsch — ich habe Ihnen das schon oft genug gesagt. — Nein, nein! Ich werde schon irgendwie allein fertig werden, danke. Wie? Ist angekommen? Interessant!" Kraiski stand vom Stuhl auf. „Interessant, sehr interessant!"
Sein herabhängender Schnurrbart bewegte sich unruhig hin und her — Kraiski erinnerte mit seinem dicken kurzen Körper und den herabhängenden Bartenden an ein in Aufregung geratenes Walross. Er schien irgend etwas zu überlegen — dann hob er den Hörer wieder ans Ohr.
„2-45. Alja, bist du's? Gut... Bitte, sorge für ein gutes Mittagessen. Mein neuer Stellvertreter ist angekommen... Soeben, diesen Augenblick... Weiß ich nicht. Weiter weiß ich gar nichts. Nun also, ich bitte darum!... Leb wohl..."
In der Tür stand Borezki. Er trat ins Zimmer und streckte Kraiski seine raue Hand entgegen:
„Eine fürchterliche Hitze, Stanislaw Antonytsch. Wie können Sie bloß im Jackett arbeiten!"
„Alles Gewohnheit, Wladimir Palytsch... Dampf zerbricht die Knochen nicht."
Borezki betrachtete zerstreut die großen Tintenflecke auf dem blauen Papier. Sie schienen ihm sonderbar, fehl am Platz, und er fühlte beinahe den Wunsch, sie mit irgend etwas zu verdecken. „Ich komme in folgender Sache, Wladimir Palytsch. Die Order auf Material für die Schmiede ist eingegangen. Über Schmelzung 2220 wissen Sie Bescheid, Wladimir Palytsch. Es bestehen Zweifel. Eine Achse ist schließlich keine Kleinigkeit... Welche Verfügungen wird man treffen?" Borezki presste die Lippen aufeinander.
„Stanislaw Antonytsch! Sie kennen den Befehl des Direktors. Das Programm muss erfüllt werden. Was die Schmelzung 2220 anbetrifft, so können nicht die geringsten Zweifel bestehen. Nicht die geringsten! Das Urteil des Laboratoriums, Stanislaw Antonytsch, das ist die Hauptsache. Verstanden?"
Zwei Tintenflecke, die durch einen Klecks verbunden waren, erinnerten Borezki an die Räder eines Fahrrads und an Waljas bittende Augen. Er nahm den Löscher und deckte die Flecke damit zu.
„Ich habe verstanden, Wladimir Palytsch. Wie steht es mit Akatujew?"
„Sie wissen, was Sie zu tun haben. Akatujew wird die Einzelteile abnehmen... Er kann sie nicht zurückweisen... Haben Sie verstanden, Stanislaw Antonytsch?"
„Jawohl, Wladimir Palytsch... Ich wollte bloß noch einmal wegen Nossow... Er verlangt Urlaub. Hustet Blut. Er muss einem leid tun, der Mensch, Wladimir Palytsch."
„Auf keinen Fall! Sind Sie denn verrückt geworden? Nossow kann keinen Urlaub kriegen. Auf kei—nen Fa—a—ll!"
Kraiski zog sein Taschentuch und wischte seine schweißigen Hände ab.
„Versprechen Sie ihm Entschädigung und so weiter. Aber Urlaub kann er jetzt nicht bekommen. Es würde uns alles hochgehen... Verstehen Sie, Stanislaw Antonytsch, alles würde missglücken! Können Sie sich denn überhaupt vorstellen, wer ihn vertreten soll? Nun??" Kraiski riss seine erregten Augen weit auf.
„Nein, Wladimir Palytsch — keine Ahnung..." Borezki wandte sich zur Tür und öffnete sie. Im selben Augenblick erschien im Türrahmen die behände Figur eines Menschen, der schnell über die Schwelle trat.
Ohne eine Aufforderung abzuwarten, setzte er sich auf einen Stuhl am Schreibtisch und musterte Kraiski mit kleinen, glänzenden Augen. Sein fester, elastischer Körper, der eng von einem Netzhemd umspannt wurde, machte den Eindruck eines glänzenden Hechts, der sich im Netz gefangen hatte.
„Da bin ich, Genosse Kraiski... Sie kennen mich nicht wieder? Das heißt, stimmt — wie sollten Sie sich wohl meiner erinnern!"
„Ich stehe Ihnen zu Diensten. Um was handelt es sich?" Kraiski erhob sich und griff nach seiner Aktentasche. „Bloß etwas schnell, wenn ich bitten darf."
„Ich habe vor fünf Jahren in der Martinabteilung gearbeitet... Dann bin ich auf die Hochschule gegangen — zum Studieren. Nun bin ich fertig mit dem Studium."
Kraiski wurde ungeduldig. Die Worte dieses Menschen schienen irgendeinen besonderen Sinn zu haben. Er warf die Aktentasche auf den Tisch zurück und betrachtete aufmerksam das Gesicht seines Gegenübers, das ihm plötzlich bekannt vorkam.
„Also erlauben Sie, dass ich mich Ihnen vorstelle, wenn Sie mich völlig vergessen haben. Ingenieur Platow. Hier ist auch meine Überweisung in Ihre Abteilung."
Kraiski erkannte die listigen Schnörkel der Unterschrift des Direktors auf dem Papier, die Buchstaben tanzten vor seinen Augen, und die Zeilen verschwammen ineinander:
Vom Trust ernannt...
Stellvertretender Leiter der Martinabteilung...
Dir... KORTSCH...
„Entschuldigen Sie mal, aber wohin soll denn Andrej Nikolajewitsch?" fragte Kraiski verwirrt.
„Was für ein Andrej Nikolajewitsch?" fragte Platow verwundert zurück.
„Nein, nein — ich meine ganz etwas anderes... Wissen Sie, man wird vollkommen übermüdet im Laufe des Tages. Also Sie sind das... der... ?"
„Jawohl, ich bin das — der Platow, der als Former bei Ihnen gearbeitet hat... Und jetzt komme ich in die Fabrik zurück."
Platow wandte beim Sprechen keinen Blick seiner kleinen, schwarzen, spöttisch blitzenden Augen, die überreifen Kirschen glichen, vom Gesicht des Ingenieurs, und auf einmal erkannte Kraiski diese etwas groben, holzgeschnitzten Züge und die spöttischen Augen.
„So, so... sehr angenehm, Genosse Platow. Wie interessant das ist, und wie schnell diese fünf Jahre vergangen sind, was? Sind Sie tatsächlich jener Platow, der, wissen Sie noch..?"
„Ja, ja, ich weiß es noch ganz genau, Genosse Kraiski. Ich war mit dem Formen eines Rades beschäftigt. Sie standen daneben und gaben mir Anweisungen. Ich hörte nicht auf Sie. Sie fingen an zu schimpfen. Ich — auch. Sie nannten mich einen dreckigen Bauer. Sie erhielten dann einen öffentlichen Verweis..."
„Nun, wozu das Alte wieder aufwärmen!" unterbrach ihn Kraiski hastig. „Ich habe das alles schon vergessen... Was wollte ich denn gleich sagen?... Ja! Was soll das denn aber heißen, Andrej Nikolajewitsch? Hier ist gar nichts gesagt über..." nervös zerknitterte er das Papier mit der Ernennung.
Mit dünnem, durchdringendem Pfiff kroch unten am Fenster eine Lokomotive vorüber, dicke Dampfwolken ausstoßend. Die Puffer stießen quietschend aufeinander. Irgend jemand schrie:
„Stell' die Weiche um... Die W—ei—ch—e!" Kraiski nahm schnell den Hörer vom Telefon und rief: „2-45. Alja?!" „Die W-ei-ch-e, zum Teu-fel!"
„Alja, ich bin's... ja. Nein — es ist nichts nötig, gar nichts!"
Der Hörer, von Kraiski heftig hingeworfen, fiel hinunter; er schwankte an der Schnur hin und her, die Sprechmuschel sprang ab und rollte über den Boden wie eine Maus.
Platow hob sie auf und befestigte sie wieder am Hörer. Als er sich nach dem Tisch umwandte, war Kraiski schon nicht mehr im Zimmer.
Unten auf dem Fabrikhof schienen die menschlichen Stimmen und die Lokomotive miteinander zu streiten.
„Die W—ei—ch—e! Stell die W—ei—ch—e um... "
Huuu... u-uu... huuuuu... uu...
Das Schreien der Lokomotive und das heisere Pfeifen des auspuffenden Dampfs schienen Kraiski anzutreiben: mit hastigen Schritten rannte er ächzend und pustend über die Schwellen der Schienen. Die Hitze, die in den schmalen Schächten zwischen den einzelnen Abteilungen lagerte, umgab ihn mit ihren drückenden Wellen, dörrte die Kehle aus und weckte ein Sausen und Klingen in den Ohren.
„Nein — das geht auf keinen Fall! Man muss ihnen beweisen, dass sie einen schweren Fehler begehen... Das ist ja geradezu toll! Diesen da zu ernennen... wie heißt er nur gleich? Nicht einmal den Namen kann man behalten. So etwas Graues, Farbloses, wie der Staub da unter den Füßen... "
Er versucht, sich das Gesicht seines neuen Gehilfen ins Gedächtnis zurückzurufen, aber alle Züge verschwimmen ineinander, bis auf die grobe breite Nase; und Kraiski muss sich unwillkürlich vorstellen, wie dieser Mensch zwei Finger an die breiten Nasenlöcher drückt und sich schnäuzt — lange und laut... Und das soll ein Ingenieur sein?! Kraiski verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen und riss die Tür auf, an der ein Schild mit Goldbuchstaben angebracht war:
Technischer Direktor Benjamin Pawlowitsch Turtschaninow „Nun?!" Kraiski sah Turtschaninow unverwandt an. Man hörte in der Stille das Ticken der Armbanduhr, die um das fette linke Handgelenk gepresst war. Turtschaninow beobachtete Kraiski schweigend. Der am Fenster sitzende Deutsche Bruck starrte auf einen Fleck in den Hosen, mitten auf dem Knie.
„Nun, warum schweigen Sie, Benjamin Pawlowitsch?!" Kraiski biss auf seinen harten, herabhängenden Schnurrbart, als wolle er ihn sich in den Mund stopfen, um seine Erregung zu verbergen.
„Ihrer Meinung nach müsste ich also nervös werden? Sehr dumm!"
„Aber so etwas darf man doch keinesfalls zulassen!" „Wir müssen uns unterwerfen." „Sie... Sie scherzen, was?" „Keineswegs: wir müssen uns unterwerfen." „Ich bin auch für unterwerfen",... warf Bruck ein, mit den Fingernägeln den Fleck abkratzend.
„Ausgezeichnet! Adam Adamytsch hat mit seinem mangelhaften Russisch sehr charakteristisch meine Meinung getroffen!" lachte Turtschaninow. „Sich unterwerfen und unterwerfen ! Das ist mein Weidmannsprinzip. Ich kann zum Beispiel keinen Schmutz ertragen, aber neulich auf dem Anstand nach Auerhähnen bin ich auf allen vieren gekrochen, die Nase im stinkenden Sumpf: ich habe mich der Notwendigkeit unterworfen, bis an die Ohren bin ich im Dreck versunken. Aber dafür habe ich den Auerhahn abgeschossen, auf dreißig Schritt, ohne zu fehlen — ich habe den Auerhahn meinem Schrot unterworfen!"
„Ich auch großer Vorliebe für Rebhuhnjagd!" sagte Bruck mit einem tiefen, sehnsüchtigen Seufzer.
Nebenan, im Zimmer des Direktors hörte man die Stimme Kortschenkos.
„Kraiski! Sie haben den Auerhahn vorm Schuss... Kriechen Sie!..." befahl Turtschaninow in spöttischem Befehlston.
Kraiski hatte niemals auf Auerhähne Jagd gemacht. Er kannte sich in den listigen Schlichen Benjamin Pawlowitschs nicht aus. Und warum sollte man kriechen, wenn man ebenso gut stolz und aufrecht über den gelben Linoleumläufer in das Zimmer Kortschenkos hineingehen konnte?
Das eine Ohr mit dem Finger zupressend, schrie Kortschenko ins Telefon:
„Ich sage: wir schaffen es! Hallo! Hallo! Moskau! Wieder getrennt, zum Teufel! Hallo! Ptizyn? Ich sage: wir schaffen es! Unsinn! Irgendwas müssen ja schließlich die Zeitungen schreiben. Wie steht's mit dem Fabrikneubau? Forcieren? Wird gemacht. Die Pläne sind fertig gestellt. Nun, also Schluss!... Teufel noch mal, Holzhacken ist leichter, als mit Moskau zu telefonieren..." Er wischte sich mit einem Taschentuch die feuchte Stirn ab und ließ den Blick seiner selbstzufriedenen Augen auf Kraiski ruhen. „Sie kommen gerade recht, Wladimir Pawlowitsch. Morgen müssen wir mit dem Bau der neuen Fabrik beginnen. Endlich haben wir es erreicht! Es ist ein Feiertag für mich!"
Kraiski ist kein Jäger — er weiß nicht, wie man auf den Anstand kriechen muss; aber er hat irgendwo gelesen, dass man ein Tier auch ganz einfach totschlagen kann wie eine Fliege — man muss sich nur auf den Weg setzen, der zur Tränke führt.
„Ich habe Ihnen etwas zu sagen, Pjotr Petrowitsch... Obgleich es mir sehr schwer wird, die Fabrik zu verlassen, bleibt mir doch nichts anderes übrig. Ich kündige hiermit meine Stellung zum 1. Juli."
„Warum?! Was ist passiert?" Der Blick Kortschenkos verfinsterte sich.
„Unter den neu geschaffenen Verhältnissen bin ich nicht imstande, die Verantwortung für die Martinabteilung weiter zu übernehmen. Die Ernennung meines neuen Stellvertreters ist von Ihnen unterzeichnet. Wahrscheinlich halten Sie diese Maßnahme für zweckmäßig. Ich meinerseits bin fest davon überzeugt, dass dies ein Irrtum ist. Die Martinabteilung braucht gegenwärtig erfahrene Leiter: wir müssen unseren Rückstand einholen, dazu sind kolossale Anstrengungen, sind große Kenntnisse erforderlich. Platow ist kein geeigneter Gehilfe für mich. Fertigen Sie die Verfügung über meine Entlassung aus."
„Erlauben Sie mal... Wie soll ich das verstehen? In diesem schwierigen Moment soll ich der Martinabteilung ihren Leiter nehmen? Das ist eine Unmöglichkeit. Die Martinabteilung ist unser wundester Punkt. Sie haben es ausgezeichnet verstanden, die Produktion wieder in Gang zu bringen. Der Ausschuß sinkt. Nein, das ist ganz unmöglich." Aufgeregt erhob sich Kortschenko.
„Alles das ist richtig; aber ich kann unter solchen Verhältnissen nicht weiter arbeiten."
„Woher soll ich denn innerhalb einer so kurzen Frist einen Ersatz für Sie hernehmen? Wir haben ja in Wirklichkeit schon den Bau der neuen Fabrik begonnen. Und kein andrer als Sie ist es, der den Bau der Gießerei und der Schmiede leiten soll..."
„Leider wird es nun doch ein anderer sein... " Nur undeutlich kamen diese Worte von den Lippen, die an dem borstigen Schnurrbart herumkauten.
Kortschenko öffnete und schloss voller Nervosität seine Aktentasche. Er sah den unbeugsamen Willen in Kraiskis Augen. Nein, gehen lassen darf er ihn nicht... Soll er nachgeben? Die Ernennung Platows zurücknehmen? Aber sie erfolgte ja gemäß der Anweisung Wartanjans. Wartanjan ist auch ein eigensinniger Mensch, er wird nicht damit einverstanden sein, den Beschluss des Raikom einer Revision zu unterziehen. Aber dann wird Kraiski gehen. Der Bau der neuen Fabrik wird sich verzögern...
Der Gesichtsausdruck Kortschenkos wechselte fortwährend von Ungeduld und Unsicherheit zu Ärger und stiller Wut. Tiefe Furchen gruben sich in seine Stirn, die Augen flackerten unstet. „So geht ein verdurstendes Tier zur Tränke", dachte Kraiski.
„Ich kann nur unter zwei Bedingungen in der Fabrik bleiben. Erstens: Platow arbeitet innerhalb der Grenzen, die ich ihm ziehen werde; zweitens: Andrej Nikolajewitsch muss in der Fabrikleitung bleiben, ich kann seine Hilfe nicht entbehren."
Kortschenko seufzte erleichtert auf:
„Das hätten Sie doch gleich sagen können! Damit bin ich durchaus einverstanden. Platow muss lange und eingehend bei Ihnen als einem alten, erfahrenen Spezialisten lernen. Das unterliegt nicht dem geringsten Zweifel! Es freut mich sehr, dass wir uns einig sind."
Kraiski ging hinaus, vergnügt strich er sich den borstigen Schnurrbart. An der Tür zu Turtschaninows Zimmer lachte er ironisch auf:
„Jäger!"


5

Der Feuerwehrturm warf nur einen schwachen Lichtschein, gleich der verlöschenden Mondsichel, als Platow nach der Martinabteilung ging. Die Räume waren in ein unbestimmtes Halbdunkel gehüllt, das die Umrisse der Gegenstände verwischte; nur von den Öfen her kam ein flackernder rötlicher Feuerschein, der die zum Guss bereitstehenden Formkästen aus der Dunkelheit auftauchen ließ und grell beleuchtete.
Aus der zwölf Tonnen fassenden Gusspfanne, die vor dem Gießen erhitzt werden musste, stiegen dichte, funkendurch-sprühte Rauchwolken auf. Weiter hinten in der Werkstatt war alles ruhig und unbeweglich.
Platow sah sich in der Abteilung um, die er vor fünf Jahren verlassen hatte. Nichts hatte sich geändert, alles war noch genau so wie damals. Ihm war, als hätte er noch gestern diese riesigen Kräne, die strengen Säulen und hohen Stapel der Formkästen gesehen. Er ging in die Tiefe der Werkstatt, wo er früher Lokomotivteile geformt hatte. Während der Nachtschicht ruht die Arbeit in der Abteilung; erst morgen früh wird sie wieder angefüllt sein von donnerndem Lärm, von den lauten Rufen der Menschen und dem durchdringenden Pfeifen der Kräne. Und morgen früh wird Platow hierher kommen, um die Arbeiter anzuleiten, sie zu lehren, schneller und besser zu arbeiten. Morgen früh wird er denen gegenüberstehen, für die der Ingenieur Platow gestern noch der Former Senka war. „War... Vielleicht bin ich es auch geblieben? Und wäre das gut oder schlecht?"
Plötzlich bemerkte er an dem alten Platz, den er so gut kannte, eine gebückte Gestalt. Mit einer Handlampe kroch ein alter Arbeiter um die Form herum: der Stichel in seiner Hand blitzte auf, wenn der Lichtschein auf ihn fiel.
„Titytsch, du? Was machst du denn hier mitten in der Nacht?"
„Ah — Senja?! Du bist wieder da? Hab's schon gehört, hab's gehört... Und ich — siehst du, ich krieche immer noch auf allen vieren herum. Borezki hat gebeten, die Nacht zu arbeiten, es sind nicht genug Triebräder da... Wie kann man's ihm abschlagen? Da bin ich eben gekommen. Siehst du, so ist das Leben!"
Titytsch hängte die Lampe an einen Nagel, wischte sich sorgfältig an der Schürze die Hände ab und reichte Platow die Hand zur Begrüßung.
„Na, du kannst wohl nun die ganze deutsche Wissenschaft auswendig, was?"
Er strich mit dem Handrücken seinen dünnen Bart glatt und musterte prüfend seinen ehemaligen Gehilfen in der Formerbrigade, ob er wohl eine Veränderung wahrnehmen könnte. Doch genau wie früher standen die dichten Haare über der hohen Stirn, und die etwas kurzsichtig zusammengekniffenen, schwarzen Augen funkelten bald auf, bald verschwanden sie unter den dichten Wimpern. Die breite, platt gedrückte Nase erinnerte Titytsch an irgend etwas Komisches und verstärkte die Überzeugung in ihm, dass sich Platow überhaupt nicht verändert hatte.
„Sieh mal, die Nase ist immer noch dieselbe Kartoffelnase... "
„Immer noch dieselbe, Titytsch!" Platow stieß einen komischen Seufzer aus: „Die ist mir fürs ganze Leben angeklebt! Da im Ausland ist so eine Nase ungefähr dasselbe, wie ein Pass aus dem Barbarenlande. Na, mir war's egal. Schließlich machen wir ja die Lokomotiven nicht mit der Nase, sondern
mit dem Kopf."
„Dein Köpfchen ist ganz gut, das sitzt auf dem rechten
Fleck!"
„Einiges habe ich ihnen abgeguckt, aber nicht alles. Manches zeigen sie uns nicht, die Schlauköpfe. Aber man kann schon etwas von ihnen lernen, Titytsch! Ich hab' meine Praktikantenzeit in der Lokomotivfabrik von Borsig absolviert. Eine ganz alte Fabrik, sehr interessant. Wir machen hier in unserem „Krassny Proletari" mit Müh' und Not hundertfünfzig Lokomotiven im Jahr, die bei Borsig dagegen tausend."
„Nu natürlich — die Deutschen!" unterbrach ihn Titytsch, und aus seiner Stimme klangen Achtung und Neid zugleich.
Semjon Platow lachte:
„Was heißt — die Deutschen! Unseren Lokomotivbau hier leitet Bruck, auch ein Deutscher, und trotzdem wird's immer noch nichts Richtiges. Eins musst du wissen, Titytsch: die Arbeitsproduktivität ist in den deutschen Maschinenfabriken doppelt so hoch wie bei uns. Nimm zum Beispiel nur einmal unsere Abteilung: Tausende von Rubeln fliegen bei uns zum Schornstein hinaus; der hohe Prozentsatz von Ausschuß und die Schlamperei sind unser Verderben. Bei uns bringt ein Former eine Stunde damit zu, einen Spaten zu suchen... "
„Richtig, Senja, richtig... Der Ausschuß frisst uns die Haare vom Kopf. Der Hauptgrund ist: der Bauer hält seinen Einzug in die Fabrik! Einer mit Bastschuhen an den Füßen kann doch kein richtiger Former sein?" Titytsch machte eine verächtliche Handbewegung.
„So darfst du nicht denken, Titytsch! Du und ich, wir kommen doch auch aus dem Dorf. Woher sollen wir denn sonst die Arbeiter nehmen? Und wir können mit diesen Bauern immerhin besser und mehr arbeiten als die Deutschen."
„Ach, was kannst du mit denen schon groß arbeiten!... Übel wird einem, wenn man's mit ansieht! Gestern haben sie mir den Sharow als Gehilfen geschickt; ich rufe ihm zu: ,Deck' den Formkasten zu!' — er aber fängt, betrunken wie er war, an, mit dem Stampfer auf die Formen loszuklopfen. Ich hab ihn zum Teufel geschickt... Siehst du, Senja, so ist das Leben!"
Platow musste plötzlich an das wutverzerrte Gesicht Sergejs denken, an Sharow, an das blutbespritzte Messer, an Marussja, Borezki... Von der Stille der schweigenden Fabrik umfangen, stand er da und dachte über die Zweifel Titytschs nach; „Ja — vieles um uns herum entstammt noch der Vergangenheit, und auch dem Arbeiter haftet ihr Schmutz noch an. Überall kocht und brodelt das wilde, unbändige Blut, das sich in Jahrhunderten in den Adern des Volks angestaut hat, das durch Unbill und Not verbittert worden ist. Und hier und da drängt es an die Oberfläche; wie der Eiter aus einem Geschwür, so spritzt es aus den Adern, das aufrührerische, ungezügelte Blut... Wie viel von diesem Blut fließt noch in den Adern der Bauern! Da erscheint dann so ein junger, verlotterter Bursche wie Sharow auf den Bauplätzen der neuen Städte und Fabriken, zieht den heiseren Balg seiner Harmonika auseinander, heult sein johlendes, betrunkenes: Juch-hu!' und stimmt mit lang gezogener Stimme ein dummes, sentimentales Lied an. Und der Bursche wird in ungeschicktem Tanz umhertaumeln, trunken von dem ungewohnten Geruch von Erdöl, Benzin und Kohle, und schließlich wird er, in Wut geraten, dem Freund ein Messer in die Seite stoßen, wie dies heute Wekschin getan ... "
Alle diese Gedanken lösten einander in seinem Kopfe ab und machten ihn schwankend; sollte Titytsch recht haben? Aber die Tatsache, dass er, der ehemalige Former Senka, jetzt als Ingenieur vor Titytsch stand und morgen als Vorgesetzter von diesem Sharow, von Titytsch, Borezki und allen den andern, von Hunderten, die Abteilung betreten würde, diese Tatsache gab ihm wieder Zuversicht. Auch er war ja ebenso gewesen wie alle die andern: hatte grob geschimpft, die Sonntage vertrunken und durchbummelt, war am Montag dann verschlafen zur Arbeit getaumelt. Aber das Leben hatte ihn abgeschliffen. Die Jahre zogen noch einmal an ihm vorüber, sein ganzes Leben, das einem Stück Stahl glich, das sich auf der Drehbank drehte: grob und unansehnlich zuerst, und beim Drehen rinnen Rost und Staub unter dem Drehstahl hervor. Schon das erste Abschleifen fördert den Glanz des Stahls zutage; aber noch bedecken zahlreiche Schrammen und Risse die Oberfläche — der Stahl muss tiefer greifen, und beim zweiten Abdrehen kommt der starke, gute Kern zum Vorschein. Wie viel Mühe hat man doch mit einem solchen Stück Metall! Es muss geglüht, abgedreht, geschliffen werden! Und so war auch Senkas Leben: nach Jahren schwerer Arbeit an den Maschinen, Jahren im Kommunistischen Jugendverband und in der Partei, nach vielen schlaflosen Nächten, über Bücher gebeugt, war der Former Senka nun Ingenieur geworden. Und in den langen Jahren, die so an ihm vorüberzogen, sah er sich selbst und Titysch, Wekschin, Sharow — sah er seine Klasse, sein Land, das den Rost von sich riss.
Und als Antwort auf die Zweifel Titytschs rief Senka
freudig:
„Macht nichts, Titytsch — wir werden sie abschleifen! Wir werden die Sache schon machen, Alter."
Und Titytsch, angesteckt von der Zuversicht, die Senkas Gesicht ausströmte, bestätigte:
„Wir werden's schaffen... Wer kann daran zweifeln? Das Schlimmste haben wir ja schon hinter uns, nun ist nicht mehr viel zu schaffen übrig!... "
„Nicht mehr viel, Titytsch — aber schwitzen werden wir doch! Macht nichts, wir werden uns anstrengen, und das erwarten auch die deutschen Arbeiter von uns... Du kannst dir nicht vorstellen, Titytsch, welche Aufregung mich immer packte, wenn ich hörte, wie sie über uns urteilen, welche Hoffnungen sie in uns setzen! Sie werden bald anfangen, Titytsch! Bald wird Deutschland erzittern! Dann, Europa, nimm dich in acht! Ich erinnere mich... "
Platow ging erregt um den Formkasten herum und blieb auf einem Sandhaufen stehen. Seine Augen funkelten wie schwarze Emaille.
„...Ich stand ,Unter den Linden' und las den ,Vorwärts' — das ist eine dortige menschewistische Zeitung. Sie erging sich in wüsten Schimpfereien über die Sowjetunion — man hatte nämlich kurz zuvor hier bei uns zwei deutsche Ingenieure als Schädlinge verhaftet.
Die Faschisten mobilisierten ihre Kräfte, veranstalteten Demonstrationen, drohten mit Stöcken, Fäusten...
Und vor dem Gebäude unserer Botschaft hatte eine Bande Faschisten Aufstellung genommen, sie heulten und tobten wie tolle Hunde. Faule Äpfel und stinkende Eier wurden an die Fenster der Botschaft geworfen und wütende Rufe ertönten: ,Nieder mit dem Kommunismus!' Raus mit den Moskauer Agenten!' Zum ersten Mal in meinem Leben hab' ich ein derartig wüstes Bild gesehen! Wir denken so selten an das, was im Ausland geschieht, Titytsch...
Und plötzlich kamen von links her, vom Tiergarten — das ist so ein großer Park in Berlin — rote Fahnen herangezogen. Sie überfluteten die ganze Straße, und das wütende Johlen der Faschisten ging unter in dem lauten Ruf: ,Heil Moskau! Heil!" Dann knallte ein Revolverschuss, und nun entstand ein fürchterlicher Wirrwarr. Die roten Fahnen und die Transparente schwankten über den Köpfen der Menge hin und her wie die Bäume im Walde beim Sturm. Sie wurden hin und her geworfen, hinuntergerissen, und dann schwebten sie wieder hoch über den Köpfen... ,Heil Moskau!' "
„Was quatschst du da für unverständliche Worte, du Deutscher! ,Cheil!' Red' unsere Sprache!" Titysch zog Platow aufgeregt und bittend am Ärmel.
„In unserer Sprache bedeutet das, Titytsch, bedeutet das — die Weltrevolution ... "
Platow fuhr sich mit der Hand durch die Haare und schwieg. Von irgendwoher wehte ein frischet Luftzug durch die Halle, und der Windhauch machte die Flamme der Lampe erzittern.
Von draußen kam das dumpfe Rollen eines Donners, es schien, als liefe irgend jemand über das eiserne Dach.
Platow warf einen Blick auf die Uhr und wandte sich zum. Gehen:
„Später, als sich die Menge verlaufen hatte, lag ein Mann in« Arbeitskleidung auf dem Pflaster, um ihn herum rote Stofffetzen... Da musste ich an Wolodja Pylajew denken. Ach, Titytsch! Auf unserer Erde wird gemäht..." Platow setzte seine Mütze auf.
Titytsch beobachtete ihn mit unruhigen Blicken. Er sah das ihm so vertraute Gesicht Senkas vor sich, jedoch die tiefe Erregung, die Platow das Blut in die Wangen getrieben hatte, war ungewöhnlich und ansteckend.
Platow verließ die Abteilung, und Titytsch, der ihm mit den Blicken folgte, stieß einen tiefen Seufzer aus:
„Siehst du, so ist das Leben!"
Ganz anders sah er nun dieses Leben vor sich. Die rauchgeschwärzten Wände der Martinabteilung schienen sich zu erweitern, in der grenzenlosen Ferne zu verschwinden; und das, was gestern noch fern und unerreichbar schien, war greifbar nahe gerückt. Titytsch sah vor seinen Augen eine zahllose Menge, von allen Seiten strömten die Menschen heran, sie vereinigten sich zu einem unendlichen Meer von Köpfen, über dem die zornig erhobenen Fäuste wie weiß schäumende Wogenhin und her schwankten. „Heil Moskau!"
Titytsch sah sich um. Im Hintergrund heulten die Ölbrenner, rotflackernde Flammen hochspritzend, und plötzlich kam von dem einem Ofen her ein warnendes Klingelzeichen. Mit donnerähnlichem Krachen erwachte der elektrische Kran und bereitete sich darauf vor, die Last von zwanzig Tonnen Stahl in Empfang zu nehmen. Aus dem Ofen Nr. 2 strömte flüssiges Feuer, ein Funkenregen fiel nieder, der das Dachgebälk erleuchtete und wie bei Sonnenaufgang alle Dinge mit grellem, durchdringendem Licht überschüttete. Der Guss begann. Vom Himmel aber strömte so heftiger Regen, als wollte er die Flammen im Martinofen löschen. Um Mitternacht ging Platow im strömenden Regen durch die Straßen der Stadt.

6

Die Stadt geht schlafen...
Eins nach dem andern erlöschen die Lichter in den Häusern: sie versinken im Dunkel, und nur an den Straßenkreuzungen schwanken knarrend die elektrischen Bogenlampen. Der Wind kommt immer mehr auf und erfüllt die Straßen mit seinem Sausen, er jagt eine Wolke Blätter vor sich her und rüttelt an den Eisendächern, Die Bogenlampe tanzt, der helle Widerschein, den sie auf das Pflaster wirft, wirbelt umher, springt in die Höhe und beleuchtet die rostigen Dächer und das Straßenschild an der Ecke.
„Pylajewstraße"...
Hin und her schleudert der Wind die Lampe und spritzt Lichtfunken auf den Fahrdamm, auf das neue, holzgepflasterte Trottoir, auf die schlafenden Fenster der kleinen Häuser. Der Wind reißt und zerrt an den alten Gittern und Fensterläden, macht die Scheiben erklirren, wirbelt auf den ungefegten Straßen einen Haufen von Schmutz und Blättern zusammen, bis an die nächste Ecke hin, um im Schein der Laterne seine Beute zu untersuchen.
Hier, an der Straßenkreuzung, treibt er den Schmutz, alle die Strohhalme und Papierfetzen wirbelnd in die Höhe, dass sie aufflattern wie Nachtschmetterlinge, die der Lichtschein anzieht...
Der Regen prasselt auf die Eisendächer nieder. Zahllose Drähte ziehen sich von allen Seiten her nach der hohen Telegrafenstange, um, im Lichte gleißend, wieder nach allen Richtungen hin auseinanderzurinnen und im Dunkel der Nacht zu verschwinden. Die Wange an den regennassen, rauen Pfosten gedrückt, steht eine Frau da.
Der Telegrafenpfosten wächst aus der schwarzen Erde hervor und überragt hoch ihre Gestalt; die Drähte reißen ihn nach allen Seiten; er neigt sich schon nach rechts hinüber und wird von hölzernen Seitenpfählen gestützt.
Die Frauengestalt lehnt bewegungslos an der Stange; die Hände hängen leblos an den Seiten herab, aber hin und wieder blitzt Leben aus ihren Augen — oder ist es nur der Lichtschein, der helle Funken über ihr Gesicht huschen lässt, das vom Regen nass ist? Und vielleicht sind es auch gar keine Regentropfen, die an ihren Wimpern hängen?
Der Regen schlägt in schweren Tropfen die Blätter zur Erde und prasselt wie Maschinengewehrfeuer auf die Eisendächer nieder. Der Donner dröhnt, als ob die Stadt von schweren Geschützen beschossen würde. Wie Hunderte von Scheinwerfern huschen grelle Blitze über sie hin.
Der Wind trägt die unruhigen Rufe einer Lokomotive und abgerissenes Hundegebell herüber. Die Straße wird von grellem Blitzschein erhellt, um gleich wieder in tiefstes Dunkel zu
versinken.
Platow kommt aus einer dunklen Seitengasse und gerät in den hellen Lichtkreis der Bogenlampe.. Durch das Netz des Regens vor seinen Augen sieht er die dunkle Gestalt an der Telegrafenstange. „Jedenfalls ein Dreher, der vom Bummel kommt, oder ein Verliebter, der im strömenden Regen zur verabredeten Stunde heroisch auf die Geliebte wartet", lachte Platow vor sich hin. Plötzlich riss sich die Gestalt von der Telegrafenstange los und barg sich in der Dunkelheit; aber das elektrische Licht sprang ihr nach, und Platow erkannte in der fliehenden Gestalt eine Frau. Irgendeine Erinnerung tauchte in seinem Gedächtnis auf, er blieb stehen, betrachtete die Telegrafenstange, las den Straßennamen, blickte auf die tropfenden Porzellanisolatoren, und seufzte tief auf. Der Wind zerriss die dunklen Wolken und trieb sie auseinander, so dass sie in Fetzen über den Himmel flogen. Dann legte sich der Sturm, und nur hin und wieder noch hallten schwache Donnerschläge, wie eine aus weiter Ferne kommende Kanonade.
Ein gleichmäßiger Lichtschein ging von der Bogenlampe aus und erzeugte matte Reflexe auf dem Straßenpflaster. Und Semjon Platow sah sich, wie er vor vielen Jahren als fünfzehnjähriger Junge durch die Straßen der Stadt lief...
Sie sind angefüllt von einer vielköpfigen Menge, über deren Häuptern rote Fahnen in allen Schattierungen wehen. Eine Kapelle zieht die Menge mit schweren Schritten hinter sich her. Aus der Ferne hört man Kanonenschüsse — da werden die gestrigen Herren der Stadt vertrieben, die Denikinleute, und vor dem Anmarsch der Rotarmisten flieht der gestrige, blutbesudelte Tag. Man könnte diesen Tag vergessen, wenn nicht die vielen zerschossenen Häuser an ihn erinnerten, wenn seine Leiden nicht so tiefe Furchen in den Gesichtern der Menschen zurückgelassen hätten, wenn... Die Kapelle zieht die Menge hinter sich her, und sie schleppt ihren Kummer durch die Straßen der Stadt, hasserfüllt. Die Arbeiter tragen Wolodja Pylajew zu Grabe.
Senka versucht, die Kolonnen zu überholen und an die Spitze des Zuges zu kommen, dorthin, wo das schwere Lastauto faucht, das den in Georginen und Feldblumen versinkenden Sarg Wolodja Pylajews trägt. Und er sieht das weiße Gesicht des Drehers Wolodja mit dem schwarzen Schnurrbart, und das kleine Mädchen im rosa Kleid, das verwirrt und bekümmert neben dem Chauffeur sitzt. Dann begreift er, dass das Olga ist, die Tochter Wolodja Pylajews, und er freut sich für sie, dass sie nicht neben allen anderen durch den schweren Sand zu stapfen braucht. Hinter dem Sarge schleppt sich, gestützt auf die Arme der Nachbarn, die Mutter Wolodjas her, die „alte Pylaicha"...
Und wo ist jetzt diese Olga? Und warum steht er, Semjon Platow, der „rote Spezialist" um Mitternacht hier an der Kreuzung der Straßen, von denen die eine mit ihrem Namen die Vergangenheit wieder aufleben lässt?
Er schüttelt die Regentropfen von seiner Mütze und überquert mit schnellen, kleinen Schritten die Straße. Ja, das war die Pylaicha, die den Schatten der Nacht aufsucht, um ihren Irrsinn vor den Menschen zu verbergen. Das war die Pylaicha, die in der Nacht an diese von Telegrafendrähten überspannte Straßenkreuzung kommt, die einzig und allein in ihrem erlöschenden Bewusstsein lebt; die Pylaicha, die hier in der Nacht an der Kreuzung steht, unter der morschen Telegrafenstange, wie ein lebendiges Denkmal jener Tage, die in der Vergangenheit versunken sind...
Ein Monteur schnallt die Riemen fest, prüft mit der Hand, ob sie halten und tritt langsam an den Pfosten heran. Die scharfen eisernen Krallen in das Holz einschlagend, klettert er ungelenk an der Stange hinauf.
Immer weiter entfernt er sich von der Straße unter ihm, und die noch feuchten, buckligen, in der Sonne schwach glänzenden Pflastersteine ähneln entblößten Köpfen einer zahllosen Menge. Immer tiefer unter sich sieht er die verrosteten Dächer der Häuser, wie die Rücken großer Tiere sehen sie aus; schon sieht er in die schwarzen Kehlen der Schornsteine, aus denen der Morgenrauch in dünnen Säulen aufsteigt.
Eine zweite Stadt liegt vor seinen Blicken, eine Stadt, die diejenigen, die unten gehen, niemals zu sehen bekommen: das ist die Stadt hunderter rauchgeschwärzter Schornsteine, der schwarzen und roten, rostzerfressenen und geflickten Dächerrücken, der grünen Flecken der kleinen Gärtchen, der trockenen, sandigen Zeilen der Straßen, die die Stadt in bunte Abschnitte zerlegen. In die Enge der altersgrauen Viertel schieben sich schon neue, weißglänzende Häuserkolosse hinein; sie sind vorläufig noch spärlich über die Stadt verstreut, aber es scheint, als ob sich die alten kleinen Häuser noch dichter an die Erde drückten, als ob sie versuchten, sich zurückzuziehen auf die Felder; aber auch dort hat sich der Ring der neuen Gebäude schon geschlossen. Dahin fährt der „Kuckuck"..— die Fabriklokomotive, deren Schienenweg mitten durch die Stadt geht, mit den langen Reihen der Güterwagen, die mit Eisen und Ziegelsteinen beladen sind.
Von allen Seiten eilen Arbeiter vorbei, von der Fabriksirene gerufen. Sie heben die Köpfe, um den über ihnen am Telegrafenpfosten hängenden Menschen besser zu sehen. Lachend ruft der Monteur einem alten Arbeiter, der mit offenem Munde zu ihm heraufstarrt, zu:
„He, Großvater, mach' den Mund zu, sonst falle ich dir hinein und du musst mich schlucken!"
Die unten lachen. Der Alte verschwindet in der Menge, aber andere treten an seine Stelle und starren unverwandt hinauf.
Die kühlen weißen Porzellanköpfe der Isolatoren sitzen wie komische Früchte da und halten mit ihren Schultern die singenden Drähte fest.
Der Monteur schneidet mit einer Schere die Drähte ab, die in Spiralen zur Erde fallen, wo sie zusammengerollt liegen bleiben und noch lange zittern. Leicht, wie ein fauler Zahn, lässt sich der Isolatorhaken aus dem Holz herausziehen.
„Oh — alles verfault..."
Der Monteur klettert noch höher hinauf, betastet mit den Fingern die Spitze der Stange und bricht morsche Holzstücke ab. Sie fallen auf die Erde hinunter und zerspringen beim Aufschlagen in tausend kleine Splitter.
„Die Spitze ist ganz morsch!" ruft er hinunter, und der Wind greift seine Stimme auf und treibt sie über die Dächer der Stadt.
Und plötzlich tönt von unten, von der Straße her, ein durchdringender, zorniger Schrei hinauf. Worte sind nicht zu verstehen, aber sie klingen voll herausfordernder Kraft. Der Monteur blickt hinunter auf die Straße und sieht, wie die Menschen Ameisen gleich von allen Seiten her auf die Stange zuströmen und sie mit einem bunten Ring umgeben.
„Sicherlich ist jemand ein Stück Holz auf den Kopf gefallen", denkt der Monteur und klettert schnell hinunter.
„Ich hab's doch gesagt, dass Reparaturarbeiten ausgeführt werden! Zur Seite treten... "
Aber die Menge wächst und umdrängt den Pfahl immer dichter, angelockt von dem durchdringenden Geschrei einer Frauenstimme:
„Nein! Ich geb' ihn nicht her! Ich geb' ihn nicht!"
Auf der Straße herrscht tiefe Stille. Gespannt lauscht die Menge auf die heisere Stimme der Frau.
Der Monteur, der die Menschen zurücktreiben will, ist dicht von ihnen umringt. Mit brennenden, leeren Augen starrt ihn die Pylaicha an. Das Taschentuch in ihrer Hand zerreißt unter ihrem zerrenden Griff, und sie schreit völlig außer sich:
„Ich geb' ihn nicht her! Ich gebe ihn nicht, ich gebe ihn nicht!"
Der Wind peitscht ihre dünnen Haare, die wie grauer Rauch um das schmerzverbrannte Gesicht hängen. Ihre magere gebückte Gestalt sprüht vor Zorn. Mit gekrümmten Fingern weist sie nach oben, wo die Morgensonne auf den weißen Isolatorköpfen glänzt, und ihre heisere Stimme ringt mit dem Atem:
„Er gehört — mir! Mir!... Und ich gebe ihn nicht her!" Und als ob ihre Stimme zerbrochen wäre, sinkt sie schließlich zu einem kaum verständlichen Flüstern herab: „Ach — ich flehe euch an... "
Die Pylaicha starrt die zunächst Stehenden an, als suche sie Mitleid in ihren Gesichtern. Für einen Augenblick scheint klares Bewusstsein aus ihren von Irrsinn entstellten Augen aufzuleuchten.
„Hier an dieser Telegrafenstange haben die Weißen ihren Sohn gehenkt", sagt irgend jemand in der Menge.
Feierlich hebt die Pylaicha ihre knochigen Hände in die Höhe und blickt mit starren, trockenen Augen nach der Spitze, als ob sie dort etwas sähe, das den Blicken der anderen verborgen blieb.
Die Menschen folgen unwillkürlich ihren Blicken — oben auf der Stange schaukelt sich irgend etwas im Winde.
„Das ist doch mein Arbeitskittel!" lacht der Monteur. „Es war mir zu heiß, da hab' ich ihn ausgezogen."
Sein Lachen findet kein Echo.
Alle sehen, dass sich dort oben ein ganz gewöhnlicher Arbeitskittel im Winde schaukelt, aber jedem, der an vergangene Tage denkt, läuft eine Schauder über den Rücken, als sähen seine Augen ein anderes Bild.
Der „Chef", der auch in der Menge steht, erschüttert von den Schmerzensschreien der Pylaicha, hebt ebenso wie die anderen den Blick zu der Stelle empor, wo sich die Telegrafendrähte kreuzen. Weißglänzend liegt die Sonne auf den Porzellanköpfen der Isolatoren.
Die plötzlich wieder aufgetauchte Vergangenheit steht vor den Augen der Arbeiter und legt sich wie ein grauer, schwerer Schatten auf ihre Gesichter. Der „Chef" blickt auf die Menge: unter finster zusammengezogenen Brauen funkeln die Augen, funkeln gleich Hunderten von Porzellanisolatoren, von den Strahlen der Sonne entfacht. Und Tage, die fast ausgelöscht waren im Gedächtnis, leben in ihrer ganzen Furchtbarkeit in der Erinnerung auf und erfüllen auch das unruhige Heute mit der Furcht für den morgenden Tag.
Die Stimme der Alten wird immer leiser, und ihr ganzer gebrechlicher Körper scheint von einer unerträglichen Last zur Erde niedergedrückt.
Plötzlich aber teilt sie die Menge und läuft zu der Telegrafenstange und umklammert sie fest mit ihren nackten, mageren Armen, während sie mit Aufbietung aller Kräfte schreit:
„Ich geb' ihn nicht her — und ich gebe ihn nicht her — ich gebe ihn nicht!!"
Entschlossenheit und Kraft strahlen aus ihren Augen.
Ein Mann, den der Monteur manchmal auf Versammlungen gesehen hat, tritt aus der Menge und sagt mit erregter Stimme:
„Genosse! Diese Telegrafenstange rühr' vorläufig nicht an!"
In der Nacht legte sich der Wind. Vom klaren Himmel sahen unzählige Sterne mit ihren hellen Augen auf die alte, morsche, schwankende Telegrafenstange herab.

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